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Neunter Abschnitt.


Erstes Kapitel

Und mein Vater schob seine Bücher bei Seite.

O junger Leser, wer Du auch sein magst – oder Du wenigstens, der Du jung gewesen bist – kannst Du Dich nicht einer Zeit erinnern, da Du mit zerrissenem, sorgenschwerem Herzen zurückkehrtest aus jener harten, grausamen Welt, welche sich Dir aufthut, sobald Dein Fuß die Schwelle der Heimath überschreitet – zurückkehrtest in die vier ruhigen Mauern, wo Deine Eltern im Frieden saßen – und eine Art schmerzlichen Staunens beim Anblick dieser ungestörten Ruhe sich Deiner bemächtigte? Wie unendlich weit erscheint die Kluft zwischen Deiner stürmischen Jugend und der Generation, die Dir vorangegangen auf dem Pfade der Leidenschaften, der Generation Deiner Eltern, welche Dich, obschon vielleicht nicht so viele Jahre dazwischen liegen mögen, an die Stille des classischen Alterthums, an die antiken Statuen der Griechen erinnert. Jene ruhige Einförmigkeit in der Lebensweise Deiner Eltern, die Beschäftigungen, welche sie als genügend für ihr häusliches Glück erfunden – für Jedes ein Lehnstuhl am warmen Kamine – o, welch' ein seltsamer Gegensatz zu Deiner eigenen fieberhaften Aufregung! Und sie machen Platz für Dich, heißen Dich willkommen und kehren wieder zu den alten Gewohnheiten zurück, als ob nichts vorgefallen wäre! Nichts vorgefallen – während vielleicht in Deinem Herzen die ganze Welt aus ihrer Achse gewichen und alle Elemente in Aufruhr gerathen zu sein scheinen! Und Du setzest Dich nieder,erdrückt von dem stillen Glück, das Du nicht länger mehr theilen kannst; Du lächelst mechanisch, blickst in das Feuer und sprichst kein Wort, bis die Zeit des Schlafengehens kömmt, und Du Dein Licht aufnimmst, um Dich unglücklich auf Dein einsames Zimmer zu schleichen.

Wenn im tiefen Winter drei Reisende warm, und behaglich in einer Postkutsche sitzen, und ein vierter beschneit und erfroren seinen Außenplatz verläßt und zu ihnen einsteigt, so rücken die drei Reisenden sogleich zusammen, ziehen unruhig ihre Mantelkrägen in die Höhe und empfinden mit Unmuth und Entrüstung einen bedeutenden Verlust an Wärmestoff – der Eindringling hat wenigstens Aufsehen gemacht. Wenn Du aber allen Schnee der Alpen in Deinem Herzen hättest, so könntest Du unbeachtet einsteigen; Du darfst Dich nur in Acht nehmen, Deinem gegenübersitzenden Nachbar nicht auf die Zehen zu treten, und keine Seele wird sich um Dich bekümmern, keine Hand Deinetwegen sich rühren!

Ich hatte keinen Augenblick geschlafen – ich hatte mich nicht einmal niedergelegt in jener Nacht, da ich Fanny. Trevanion Lebewohl gesagt; und am andern Morgen, sobald die Sonne aufgegangen, wanderte ich fort – wohin, weiß ich nicht. Doch habe ich eine dunkle Erinnerung von langen, grauem einsamen Straßen – von dem Flusse, der in düsterm Schweigen weiter und immer weiter in eine unsichtbare Ewigkeit zu strömen schien – von Bäumen und Wiesen und fröhlichen Kinderstimmen. Ich hatte wohl das große Babel von einem Ende zum andern durchschritten, kam jedoch erst wieder zu klarem und deutlichem Bewußtsein, als ich gegen Mittag an der Thüre meines väterlichen Hauses klopfte, schweren Trittes die Treppe hinanstieg und in das Wohnzimmer trat, welches der Sammelplatz der kleinen Familie geworden; denn, seitdem wir in London lebten, hatte mein Vater aufgehört, sein eigenes Studirzimmer zu haben, und begnügte sich mit einer sogenannten »Ecke«, welche allerdings Raum genug enthielt für zwei Tische, einen Drehtisch und verschiedene Stühle, alles mit Büchern bedeckt. Dieser umfassenden Ecke gegenüber saß mein Onkel, der nun beinahe ganz wieder hergestellt und eben damit beschäftigt war, in seiner steifen militärischen Handschrift gewisse Zahlen in ein kleines rothes Rechnungsbuch einzutragen, denn Onkel Roland war bekanntlich in seinen Ausgaben der pünktlichste Mann von der Welt.

Meines Vaters Antlitz war milder, als gewöhnlich, denn vor ihm lag ein Probebogen – der erste Probebogen seines ersten Werkes – seines einzigen Werkes – des großen Buches! Ja, es hatte in der That eine Presse gefunden! Und der erste Druckbogen eines ersten Werkes – nur ein Schriftsteller weiß, was das ist! Meine Mutter war mit der treuen Mrs. Primmins ausgegangen, um, wie ich vermuthe, auf dem Markte oder in den Läden Einkäufe zu machen, und so war es denn natürlich, daß mein Eintreten bei den in genannter Weise beschäftigten Brüdern kein so großes Aufsehen erregte, als wenn ich eine Bombe gewesen wäre, oder ein Sänger, oder ein Donnerschlag, oder die letzte »große Novelle der Saison«, oder irgend etwas Anderes, das in jenen Tagen Aufsehen erregte. Heut' zu Tage freilich, was ist da noch im Stande, Aufsehen zu erregen? Heute, wo das Erstaunlichste von allem die ruhige Gleichgültigkeit ist, mit welcher wir erstaunliche Dinge hinnehmen – wo wir in aller Gemüthsruhe sagen: »In Paris ist wieder eine Revolution ausgebrochen«, oder: »In Wien ist der Teufel los«, – wo der Prinz von Joinville in den Teichen von Claremont Fische fängt und wir uns kaum umwenden, um auf dem Hafendamm von Brighton nach dem Fürsten von Metternich zu sehen!

Mein Onkel nickte und murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin; mein Vater –

»Schob seine Bücher bei Seite – das wissen wir bereits.«

Du irrst Dich sehr, lieber Leser! nicht jetzt schob mein Vater seine Bücher bei Seite, denn er war gar nicht mit denselben beschäftigt – er las seinen Probebogen. Und er lächelte und deutete pathetisch und mit einer Art Humor darauf hin (auf den Probebogen meine ich), als wollte er sagen – »Was kannst Du erwarten, Pisistratus? – Du siehst hier mein Neugeborenes!«

Ich rückte meinen Stuhl zwischen die beiden Brüder, blickte zuerst auf den einen, dann auf den andern und – der Himmel vergebe mir! – fühlte einen rebellischen, undankbaren Groll gegen beide. Die Bitterkeit meiner Seele muß in der That groß gewesen sein, daß sie in dieser Richtung überströmen konnte; aber es war wirklich so – ein Beleg für die traurige Wahrheit, daß der Schmerz der Jugend abscheulich selbstsüchtig ist. Ich stand auf und trat an das geöffnete Fenster, an welchem Mrs. Primmins Kanarienvogel in seinem Käfig hing. Die Londoner Luft sagte ihm zu – er sang ein munteres Liedchen; als er mich jedoch seinem Käfig gegenüber erblickte, wie ich ihn ernsthaft und ohne Zweifel mit sehr finsterer Miene betrachtete, hielt er plötzlich inne, neigte das Köpfchen auf die Seite und sah mich argwöhnisch an. Bald aber fand das Thierchen, daß ich ihm nichts zu leide that, und wagte nun einige abgebrochene, schüchterne, gleichsam fragende Töne; und endlich, als ich noch immer ruhig stehen blieb, überwand es alle Zweifel und kam augenscheinlich zu der Ansicht, daß ich mehr zu bemitleiden, als zu fürchten sei – denn es ging allmälig in eine so sanfte und klangreiche Melodie über, daß ich wahrhaftig glaube, es wollte mich damit trösten – mich, seinen alten Freund, den es ungerecht beargwöhnt hatte. Niemals war mir eine Musik so sehr zu Herzen gedrungen, wie diese lange, klagende Cadenz. Als der Vogel schwieg, kam er dicht an die Stäbchen seines Käfigs heran und betrachtete mich aufmerksam aus seinen klugen, glänzenden Augen. Ich fühlte, daß Thränen in die meinigen traten, wandte mich um und blieb in der Mitte des Zimmers stehen, unschlüssig, was ich thun, wohin ich gehen sollte. Mein Vater war mit seinem Druckbogen fertig und bereits wieder in seine Folianten vertieft. Roland hatte sein rothes Rechnungsbuch geschlossen und in die Tasche gesteckt, seine Feder sorgfältig ausgewischt und beobachtete mich nun unter seinen buschigen Brauen hervor. Plötzlich erhob er sich, stampfte mit seinem Korkbein auf den Boden und rief: »Blick auf von Deinen verwünschten Büchern, Bruder Austin! Was sieht in dem Gesichte dieses Jungen? Deute mir das, wenn Du kannst!«


Zweites Kapitel.

Und mein Vater schob seine Bücher bei Seite und stand hastig auf. Er nahm seine Brille ab und rieb sie mechanisch, sprach aber nicht, worauf mein Onkel, nachdem er ihn, erstaunt über sein Schweigen, mit großen Augen angesehen, in die Worte ausbrach –

»O, ich sehe – er ist in eine Klemme gerathen, und Du bist böse! Pfui! junges Blut muß sich austoben, Austin – es muß in der That. Ich tadle es nicht – nur, wenn – komm' her, Sisty! Alle Wetter, Junge, komm' her!«

Mein Vater streifte sanft die Hand des Capitäns ab, näherte sich mir und öffnete seine Arme. Im nächsten Augenblick lag ich schluchzend an seiner Brust.

»Aber, was ist denn das?« rief Capitän Roland. »Will mit Niemand sagen, was vorgefallen ist? Geld, vermuthlich Geld – Du verwünschter junger Schlingel! toller Verschwender! Glücklicher Weise hast Du einen Onkel, der mehr besitzt, als er auszugeben weiß, Wie viel? – fünfzig? – hundert? – zweihundert? Wie kann ich die Anweisung schreiben, wenn Du nicht sprechen willst?«

»Nicht doch, Bruder! Diese Sache kann kein Geld zurecht bringen. Mein armer Junge! Habe ich die Wahrheit errathen? Hatte ich Recht, als ich neulich –«

»Ja, Vater – ja! O, ich war so unglücklich! Doch, es ist mir besser jetzt – ich kann Dir alles sagen.«

Mein Onkel ging langsam auf die Thüre zu; sein feines Zartgefühl ließ ihn befürchten, er möchte störend zwischen Sohn und Vater stehen.

»Nein, Onkel,« sagte ich, ihm meine Hand entgegenhaltend, »Du mußt bleiben; auch Du kannst mir rathen – mich ermuthigen. Ich habe meine Ehre bis jetzt bewahrt – hilf mir, sie auch ferner zu bewahren.«

Als Capitän Roland das Wort Ehre vernahm, blieb er schweigend stehen und hob rasch den Kopf in die Höhe.

So erzählte ich denn alles, von Anfang unzusammenhängend genug, im weiteren Verlaufe aber klar und männlich. Nun weiß ich wohl, daß Liebende nicht ihre Väter und Onkels zu ihren Vertrauten zu machen pflegen. Nach jenen Lebensspiegeln, Schauspielen und Romanen, zu urtheilen, treffen sie bessere Wahlen – Diener und Kammerzofen – Freunde, welche sie von der Straße aufgelesen – wie ich meinen armen Francis Vivian von der Straße aufgelesen – gegen diese schütten sie das sorgenschwere Herz aus. Gegen Väter und Onkels jedoch sind sie verschlossen, undurchdringlich, »bis an's Kinn zugeknöpft.« Die Caxtons aber waren eine excentrische Familie und thaten, nie etwas, wie andere Leute.

Nachdem ich geendet, erhob ich meine Augen und fragte flehentlich; »Nun sagt mir, gibt es keine Hoffnung für mich? keine?«

»Und warum nicht?« rief Capitän, Roland hastig. »Die De Caxtons sind eine eben so gute Familie als die Trevanions; und was Dich selbst betrifft, so will ich nicht mehr sagen, als daß die junge Dame, wenn sie ihr Glück im Auge hat, schlechter wählen könnte.«

Ich drückte meinem Onkel die Hand und wandte mich in banger Furcht meinem Vater zu, denn ich wußte, daß trotz seiner zurückgezogenen Lebensweise wenige Menschen ein gesünderes Urtheil über weltliche Dinge hatten, als er, wenn er sich wirklich veranlaßt sah, dieselben in's Auge zu fassen. Es ist etwas Wunderbares um jene schlichte Weisheit, welche Dichter und Gelehrte so oft für Andere besitzen, obgleich sie selten für sich selbst Gebrauch davon machen. Und wie in aller Welt gelangen sie dazu? Ich blickte auf meinen Vater, und die unbestimmte Hoffnung, welche Roland geweckt hatte, begann wieder zu schwinden.

»Bruder,« sagte er langsam, indem er den Kopf schüttelte, »die Welt, welche Gesetze vorschreibt und Gesetzbücher gibt, kümmert sich wenig nur einen Stammbaum, wenn nicht ein rechtlicher Anspruch auf Besitzungen damit verbunden ist.«

»Trevanion war bei seiner Vermählung mit Lady Ellinor nicht reichen als Pisistratus,« versetzte mein Onkel.

»Allerdings; aber Lady Ellinor war damals noch keine Erbin; und ihres Vaters Ansichten über diese Dinge würde vielleicht kein anderer Pair in England theilen. Was Trevanion selbst betrifft, so ist er gewiß ohne alle Vorurtheile in Bezug auf Rang und Stellung; allein er besitzt viel gesunden Menschenverstand und thut sich etwas darauf zu gut, ein praktischer Mann zu sein. Es wäre Thorheit, ihm von Liebe, von der Leidenschaft der Jugend sprechen zu wollen. Er würde in dem Sohne Austin Caxton's, dessen Hülfsmittel sich auf die Zinsen aus fünfzehn- oder sechzehntausend Pfund beschränken, keinen Gatten für seine Tochter erblicken, den ein kluger Mann in seiner Stellung billigen könnte. Und Lady Ellinor –«

»Sie ist sehr in unserer Schuld, Austin!« rief Roland, während ein düsterer Schatten über seine Züge flog.

»Lady Ellinor ist nun, was – hätten wir sie besser verstanden – sie immer zu werden versprach: die ehrgeizige, glänzende, Pläne machende Weltfrau. Ist es nicht so, Pisistratus?«

Ich konnte nicht antworten – die Gefühle waren zu mächtig in mir.

»Und ist Dir das Mädchen gewogen? – doch, das scheint mir außer allem Zweifel zu sein!« rief Roland. »O Schicksal – Schicksal; welch' eine verhängnißvolle Familie für uns! Alle Wetter, Austin, Du trägst die Schuld daran. Warum ließest Du ihn hingehen?«

»Mein Sohn ist kein Kind mehr – er ist ein Mann, wenigstens dem Herzen, wenn, auch nicht den Jahren nach. Kann der Mann vor Gefahr und Versuchung geschützt werden? Selbst in dem alten Pfarrhaus entging ich ihnen nicht, Bruder!« sagte mein Vater mild.

Mein Onkel ging oder vielmehr humpelte dreimal im Zimmer auf und ab, blieb dann plötzlich stehen, kreuzte die Arme und kam zu einer Entscheidung.

»Wenn Dir das Mädchen gewogen ist, so ist Deine Pflicht doppelt klar – Du darfst keinen Vortheil daraus ziehen. Ich kann Deinen Entschluß nur billigen, das Haus zu verlassen, denn die Versuchung könnte zu mächtig werden.«

»Was soll ich aber Mr. Trevanion als Grund angeben?« frug ich mit matter Stimme. »Was für ein Mährchen kann ich erfinden? So unbekümmert er ist, so lange er vertraut, so scharf sieht er, sobald er Argwohn schöpft; er wird alle meine Ausflüchte durchschauen, und – und –«

»Die Sache ist so klar, wie ein Lanzenschaft,« unterbrach mich mein Onkel rasch, »und es bedarf keiner Ausflüchte dabei. ›Ich muß Sie verlassen, Mr. Trevanion.‹ – ›Weßhalb?‹ sagt er. – ›Fragen Sie mich nicht.‹ – Er besteht darauf. – ›Nun denn, wenn Sie es wissen müssen, ich liebe Ihre Tochter. Ich habe nichts, sie ist eine reiche Erbin. Sie werden diese Liebe mißbilligen, und deßhalb verlasse ich Sie.‹ – Dies ist die Handlungsweise, die einem englischen Gentleman ziemt – eh, Austin?«

»Du hast niemals Unrecht, wenn Du Deinen Instinct sprechen lässest, Roland,« erwiederte mein Vater. »Kannst Du Trevanion dies sagen, Pisistratus, oder soll ich es für Dich thun?«

»Laß' ihn für sich selbst sprechen«, sagte Roland, »und er mag sich alsdann ein Urtheil aus der Antwort bilden. Er ist jung, gewandt und kann sein Glück in der Welt machen. Vielleicht erwiederte Trevanion: ›Erringe den Lorbeer und dann gewinne die Dame, wie die alten Ritter zu thun pflegten.‹ Jedenfalls wirst Du das Schlimmste hören.«

»Ich will gehen,« entgegnete ich fest, nahm meinen Hut und verließ das Zimmer.

Als ich auf die Treppe kam, schlich sich ein leichter Tritt die oberen Stufen herunter, und eine kleine Hand ergriff die meinige. Ich wandte mich schnell um und begegnete den dunkeln, ernsten und doch so sanften Augen meiner Cousine Blanche,

»Geh' noch nicht fort; Sisty«, sagte sie schmeichelnd. »Ich habe auf Dich, gewartet, denn ich hörte Deine Stimme und wollte nicht in das Zimmer kommen, um Dich nicht zu stören.«

»Und warum hast Du auf mich gewartet, meine kleine Blanche?«

»Warum? Nur, um Dich zu sehen. Aber Deine Augen sind roth. O, Vetter!«

Und, ehe ich ihrer kindlichen Regung gewahr wurde, hatte sie ihre kleinen Arme um meinen Hals geschlungen und mich geküßt. Nun war aber Blanche nicht freigebig, wie die meisten Kinder, sondern sehr sparsam mit ihren Liebkosungen, und so kam denn dieser Kuß aus der Tiefe eines theilnehmenden Herzens. Ich küßte sie schweigend wieder, setzte sie sanft zu Boden, sprang die Treppe hinab und war auf der Straße. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte gemacht, als ich meines Vaters Stimme hörte; er war mir nachgefolgt und sagte nun, seinen Arm in den meinigen legend

»Laß' uns beisammen bleiben – leiden wir nicht beide?«

Ich drückte seinen Arm, und wir gingen schweigend weiter. Als wir uns jedoch Trevanion's Hause näherten, bemerkte ich zögernd:

»Wäre es nicht besser, Vater, Du ließest mich allein gehen? Wenn eine Erklärung zwischen Mr. Trevanion und mir stattfinden soll, könnte es nicht den Anschein gewinnen, als ob Deine Gegenwart eine Bitte enthielte, welche uns beide erniedrigen würde, oder aber einen Zweifel gegen mich, daß –«

»Natürlich gehst Du allein. Ich werde auf Dich warten.«

»Aber nicht auf der-Straße – o nein, Vater!« rief ich in unbeschreiblicher Rührung; denn alles dieses widersprach so ganz meines Vaters Gewohnheiten, daß ich es bereute, in solcher Weise meinen jugendlichen Schmerz der ruhigen Würde seines heiteren Lebens mitgetheilt zu haben.

»Mein Sohn, Du weißt nicht, wie sehr ich Dich liebe. Ich selbst bin mir dessen seit Kurzem erst recht bewußt geworden. Siehst Du, ich lebe in Dir, meinem Erstgeborenen – nicht in meinem andern Sohn, dem großen Buche. So laß' mir meinen Willen und gehe hinein – dies ist die Thüre nicht wahr?«

Ich preßte die Hand meines Vaters und fühlte, daß selbst mit dem Verlust Fanny Trevanion's nicht alles in der Welt für mich verloren wäre, so lange jene Hand den Druck der meinigen erwiederte. Es kann unserm Leben niemals an einem Zwecke fehlen, so lange wir unsere Eltern besitzen. Wie viel haben wir nicht zu erstreben und zu hoffen! Welch' ein Beweggrund für die Bekämpfung unserer Schmerzen liegt nicht in dem Wunsche, ihnen Leid zu ersparen!


Drittes Kapitel.

Ich trat in Trevanion's Studirzimmer. Er war selten zu dieser Stunde zu Hause; ich hatte jedoch daran nicht gedacht und sah nun auch ohne Verwunderung, daß er ganz gegen seine Gewohnheit in seinem Lehnstuhle saß und in einem seiner Lieblings-Classiker las, statt in irgend einem Comitézimmer des Unterhauses zu sein.

»Ein hübscher Secretär,« sagte er, von seinem Buche aufsehend, »der den ganzen Morgen wegbleibt – ohne Grund und Entschuldigung! Und meine Commissionssitzung ist verschoben – der Vorsitzende krank – Leute, die krank werden, sollten nicht im Unterhause sitzen. So bin ich nun hier und studire den Properz; Parr Samuel Parr (1747-1825), englischer Schriftsteller, Politiker und Rechtsgelehrter. hat Recht, er ist kein so eleganter Schriftsteller, wie Tibull Properz und Tibull: römische Lyriker der letzten Hälfte des ersten Jh. v.u.Z.. Aber was zum Henker treiben Sie denn? Warum setzen Sie sich nicht? Hm! Sie machen ein ernstes Gesicht. Sie haben etwas zu sagen – sprechen Sie!«

Trevanion legte den Properz nieder, und seine Züge nahmen augenblicklich einen aufmerksamen Ausdruck an.

»Mein theurer Mr. Trevanion,« begann ich mit so fester Stimme, als ich vermochte, »Sie haben mir stets die größte Güte erzeigt, und außer meiner Familie besitzt Niemand meine Achtung und mein Vertrauen in gleichem Grade.«

Trevanion. – »Hm! Was soll dies? – (Für sich.) Soll mir etwa eine Falle gelegt werden?«

Pisistratus. – »Halten Sie mich daher nicht für undankbar, wenn ich Ihnen sage, daß ich komme, um meine Stelle niederzulegen und das Haus zu verlassen, in welchem ich so glücklich war.«

Trevanion. – »Das Haus verlassen? – Pah! – Ich habe Ihnen zu viel aufgebürdet. In Zukunft werde ich barmherziger sein, Sie müssen einem National-Oeconomen verzeihen – wir begehen allerdings den Fehler, die Menschen als Maschinen zu betrachten.«

Pisistratus (mit einem matten Lächeln).«O nein, in der That – das ist es nicht! Ich habe mich über nichts zu beklagen – wüßte nichts, was ich geändert wünschte – wenn ich bleiben könnte.«

Trevanion (mich gedankenvoll betrachtend). – »Und ist Ihr Vater mit Ihrem Entschluß einverstanden?«

Pisistratus. – »Ja, vollkommen.«

Trevanion (nach einigem Nachsinnen). – »Ich sehe, er möchte Sie auf die Universität schicken und einen Bücherwurm aus Ihnen machen, wie er selbst einer ist. Pah! das geht nicht – Sie werden niemals ganz ein Mann der Bücher werden – es liegt nicht in Ihnen. Junger Mann, ich mag vielleicht gleichgültig und achtlos erscheinen; glauben Sie mir aber, ich kann, wenn ich will, schnell genug einen Charakter durchschauen. Sie thun Unrecht, mich zu verlassen; Sie sind für die große Welt geschaffen – ich kann Ihnen eine ehrenvolle Laufbahn eröffnen – ich wünsche, es zu thun! Lady Ellinor wünscht es ebenfalls – ja, sie besteht darauf – um Ihres Vaters, wie um Ihrer selbst willen. Ich habe niemals einen Minister um eine Gunst gebeten, und werde es nie thun; aber – (Trevanion erhob sich bei diesen Worten plötzlich und fuhr mit aufrechter Haltung und einer raschen Bewegung seines Armes fort) aber ein Minister selbst kann begünstigen, wen er will. Es ist zwar noch ein Geheimniß, allein ich vertraue Ihrer Ehrenhaftigkeit und sage Ihnen, daß, noch ehe das Jahr aus ist, ich im Kabinet sein muß. Bleiben Sie Bleiben Sie bei mir – ich bürge für Ihr Glück. Vor drei Monaten würde ich noch nicht so gesprochen haben. Mit der Zeit will ich Ihnen die Thüren des Parlaments öffnen – Sie sind noch nicht volljährig – arbeiten Sie bis dorthin. Und nun setzen Sie sich und schreiben Sie meine Briefe – welch' einmaliger Rückstand!«

»Mein bester, theurer Mr. Trevanion!« erwiederte ich in so großer Bewegung, daß ich kaum sprechen konnte, während ich zugleich seine Hand ergriff und fest zwischen der meinigen drückte – »ich will nicht versuchen, Ihnen zu danken – ja vermag es nicht! Allein Sie kennen mein Herz nicht – es ist nicht Ehrgeiz. Nein, ich wäre zufrieden, dürfte ich unter denselben Bedingungen für immer hier bleiben – hier – (und ich blickte wehmüthig nach der Stelle hin, wo Fanny den Abend vorher gestanden hatte) – doch, es ist unmöglich! Wenn Sie alle wüßten, wären Sie der Erste, der mich gehen hieße!«

»Sie haben Schulden« sagte der Weltmann kalt. »Schlimm, sehr schlimm – indeß –«

»Nein, gnädiger Herr, nein! Schlimmer noch!«

»Es kann kaum schlimmer sein, junger Mann – kaum schlimmer! Doch wie Sie wollen. Sie wünschen mich zu verlassen, ohne zu sagen, weßhalb – so leben Sie wohl! Warum zögern Sie? Reichen Sie mir die Hand, und gehen Sie!«

»Ich kann Sie so nicht verlassen, gnädiger Herr! Ich – ich –Sie sollen die Wahrheit erfahren! Ich bin thöricht und wahnsinnig genug, Miß Trevanion nicht sehen zu können, ohne zu vergessen, daß ich arm bin, und –«

»Ha!« unterbrach mich Trevanion in sanftem Tone, während seine Wangen erblaßten, »dieß ist in der That ein Unglück! Und ich, der ich mir einbildete, Charaktere zu durchschauen! Ja, ja, wir wollen praktische Männer sein und sind Thoren – eitle Thoren! Und Sie haben meiner Tochter Ihre Liebe erklärt?«

»Gnädiger Herr! Mr. Trevanion! – nein – nie, niemals hätte ich so schlecht sein können! In Ihrem Hause, im Besitze Ihres Vertrauens – wie konnten Sie daran denken? Ich wagte es vielleicht, Miß Trevanion zu lieben – jedenfalls fühlte, daß ich nicht unempfindlich gegen eine Versuchung bleiben konnte, die zu stark für mich war. Aber Ihrer Tochter von Liebe zu sprechen, sie um Gegenliebe zu bitten – ebenso gut hätte ich Ihren Pult erbrechen mögen! Offen sage ich Ihnen meine Thorheit – es ist eine Thorheit, aber keine Unehrenhaftigkeit!«

Trevanion trat plötzlich auf mich zu, während ich mich an den Bücherschrank lehnte, faßte mit aufrichtiger Herzlichkeit meine Hand und sagte: »Vergeben Sie mir! Sie haben gehandelt, wie es dem Sohne Ihres Vaters ziemte – ich beneide ihn um einen solchen Sohn! Und nun hören Sie mich – ich kann Ihnen meine Tochter nicht geben –«

»Glauben Sie mir, gnädiger Herr, niemals –«

»Stille! hören Sie mich an! Ich kann Ihnen meine Tochter nicht geben. Von Ungleichheit sage ich nichts – alle Gentlemen sind gleich, und wäre es nicht so, so würde in einem solchen Falle jede ungebührliche Anmaßung von Ueberlegenheit Demjenigen schlecht anstehen, welcher selbst sein Vermögen seiner Frau verdankt! Allein, wie die Dinge nun stehen, habe ich mir mein Ziel in der Welt gesteckt, welches nicht durch Vermögen, sondern nur durch die Arbeit eines ganzen Lebens, durch die Verläugnung meines halben Wesens erreicht werden kann. Was einst den Ruhm und die Freude meiner Jugend ausgemacht, mußte unterdrückt, bekämpft und gezügelt werden, um das harte, nüchterne Geschöpf der Thatsachen aus mir zu machen, welches die englische Welt, unter einem Staatsmann versteht! Allmälig hat nun auch meine Stellung ihre natürliche Folge nach sich gezogen – die Macht! Wie ich Ihnen bereits gesagt – bald werde ich einen hohen Posten in der Staatsverwaltung bekleideten; ich hoffe, England bedeutende Dienste zu leisten – denn, was auch der Pöbel und die Presse von uns sagen mögen, wir englische Politiker sind keine selbstsüchtigen Stellenjäger. Vor zehn Jahren schon schlug ich ein Amt aus, so hoch, als dasjenige, welchem ich jetzt entgegensehe. Wir glauben an unsere Meinungen begrüßen mit Freuden die Macht, welche ihnen Geltung zu verschaffen im Stande ist. Ich werde Feinde in diesem Kabinet haben. O, glauben Sie nicht, daß wir an den Thoren von Downing Street die Eifersucht hinter uns lassen! Ich werde zu der Minorität gehören; ich weiß sehr wohl, was geschehen muß; gleich allen Gewalthabern muß ich mich noch durch andere Köpfe und Hände kräftigen. Durch meine Tochter muß ich mich mit demjenigen Hause in England verbinden, welches mir am nöthigsten ist. Mein Leben fällt in sich selbst zusammen, gleich der Kartenpyramide eines Kindes, wenn ich das Kräftigungsmittel, welches mir in der Hand Fanny Trevanion's zu Gebote steht, – ich will nicht sagen, an Sie, sondern an Männer von zehnmal größerem Vermögen, als das Ihrige (wie groß dieses auch sei) verschwende. Dieses Ziel habe ich vor Augen gehabt – auf dieses Ziel allein gehen alle Pläne, welche ihre Mutter entworfen; denn dergleichen häusliche Angelegenheiten liegen zwar in den Hoffnungen des Mannes, gehören aber der Politik der Frau an. So viel, was uns betrifft. Ihnen aber, mein lieber, offener und hohherziger junger Freund, würde ich, wenn ich nicht Fanny's Vater, sondern Ihr nächster Verwandter wäre, und Fanny mit all' ihrer fürstlichen Mitgift (denn sie ist fürstlich) auf eine einfache Anfrage hin die Ihrige werden könnte – Ihnen würde ich sagen: ›Fliehen Sie eine Last, die sich wie ein Bleigewicht auf Herz, Geist, Stolz und Thatkraft legt, die unter zehntausend Männern kaum einer ertragen kann; fliehen Sie vor dem Fluche, alles einer Frau zu verdanken!‹ Es ist etwas vollkommen Widernatürliches, ein Schlag, der alles, was mannhaft ist, in uns ertödtet. Sie wissen nicht, was es ist, ich aber weiß es! Das Vermögen meiner Gattin fiel ihr erst nach unserer Verheirathung zu – so weit war alles gut, mein Ruf blieb frei von dem Verdachte, ein Glücksjäger zu sein. Dennoch aber kann ich Sie offen und ehrlich versichern, daß ich ein stolzerer, größerer und glücklicherer Mann sein würde, wenn jenes Vermögen ganz ausgeblieben wäre; es ist mir trotz all' seiner Vortheile zu einem Mühlstein an meinem Halse geworden. Und doch kam niemals ein Wort von Ellinor's Lippen, das meinen Stolz hätte verwunden können. Würde ihre Tochter eben so schonungsvoll sein? So sehr ich Fanny liebe, so zweifle ich doch, ob sie das große Herz ihrer Mutter besitzt. Sie scheinen ungläubig – natürlich! Oh Sie glauben, ich wolle das Glück meines Kindes dem politischen Ehrgeiz opfern!Thorheit der Jugend! Fanny würde unglücklich mit Ihnen werden. Jetzt vielleicht würde sie nicht so denken, in fünf Jahren aber ganz gewiß! Fanny wird eine bewunderungswürdige Herzogin, Gräfin oder sonstige große Dame sein; aber die Gattin eines Mannes, der ihr alles zu danken hat? – nein, nein, daran ist nicht zu denken! Ich werde ihr Glück nicht zum Opfer bringen, verlassen Sie sich darauf! – Schlicht und ungekünstelt, wie der Mann zu denn Manne – der Mann der Welt zu dem Neuling, an den Pforten derselben – habe ich zu Ihnen gesprochen. Was erwiedern Sie mir?«

»Ich will nachdenken über alles, was Sie mir gesagt haben. Ich, weiß, daß Sie so edelmüthig zu mir gesprochen, wie ein Vater gethan haben würde. Und nun lassen Sie mich gehen – möge Gott Sie und die Ihrigen beschützen!«

»Gehen Sie – ich erwiedere Ihren Segenswunsch – gehen Sie! Ich will Sie jetzt nicht dadurch, beleidigen, daß ich Ihnen meine Dienste anbiete, allein vergessen Sie nicht, daß Sie ein Recht haben, zu jeder Zeit .und in, jeder Weise dieselben in Anspruch zu nehmen. Halt! – nehmen Sie diesen Trost mit nach Hause – jetzt zwar ein geringer, später aber ein großer Trost. In einer Lage, welche Aerger, Verachtung und Mitleid hätte erregen können, haben Sie das ausgetrocknete Herz eines Mannes gezwungen, Sie zu ehren und zu bewundern. Sie, ein Knabe, haben mich mit meinen grauen Haaren veranlaßt, besser von der ganzen Welt zu denken! Sagen Sie dies Ihrem Vater.«

Ich schloß die Thüre und schlich leise hinaus. Als ich jedoch in der Halle anlangte, öffnete Fanny plötzlich die Thüre des Frühstückszimmers und schien mich durch Blick und Geberde zum Eintreten einzuladen. Ihr Antlitz war sehr blaß, und an den schweren Augenlidern ließen sich Spuren von Thränen erkennen.

Einen Augenblick stand ich still, während mir das Herz heftig pochte. Dann murmelte ich einige undeutliche Worte, machte eine tiefe Verbeugung und eilte auf die Thüre zu.

Ich glaubte – doch, meine Ohren mögen mich getäuscht haben – meinen Namen zu hören; glücklicher Weise aber war der Portier bereits von seinem Lehnstuhl und seiner Zeitung aufgesprungen und hatte die Hausthüre geöffnet. Im nächsten Augenblick war ich an meines Vaters Seite.

»Es ist alles vorüber,« sagte ich mit einem entschlossenen Lächeln. »Und nun, mein lieber Vater, fühle ich, wie vielen Dank ich Dir schuldig bin für allen, was mich Dein Unterricht und Dein Leben gelehrt hat; denn, glaube mir, ich bin nicht unglücklich!«


Viertes Kapitel.

Wir kehrten nach meinem väterlichen Hause zurück und begegneten auf der Treppe meiner Mutter, welche durch Roland's ernstes Aussehen und ihres Austin's befremdende Abwesenheit beunruhigt worden war. Mein Vater ging ruhig in das kleine Zimmer voran, das meine Mutter für sich und Blanche eingerichtet hatte, legte dort meine Hand in diejenige, welche seine eigenen Schritte vom steinenen Pfade in die ruhigen Thäler des Lebens geleitet hatte, und verließ uns mit den Worten – »Die Natur gibt Dir hier die beste Trösterin.«

Und in der That, o meine Mutter hatte die Natur tiefe Quellen des Trostes in Deine einfache, liebende Brust gelegt. Bei den Männern suchen wir Weltweisheit – bei den Frauen Trost und Beruhigung. Und die tausend Schwächen und Widerwärtigkeiten – die scharfen Sandkörner der kleinsten Einzelheiten, welche zusammen den Schmerz ausmachen – alles, was ich keinem Manne, selbst nicht dem theuersten und liebevollsten aller Männer, anzuvertrauen vermocht hätte, enthüllte ich ohne Scheu vor Dir! Und Deine Thränen, die auf meine Wangen fielen, waren wie der Balsam Arabiens und das wilde, ungestüme Pochen meines Herzens legte sich endlich unter dem Einfluß Deiner feuchten, sanften Augen.

Ich überwand mich und nahm bei Tische meinen Platz in dem kleinen Kreise ein. Dankbar erkannte ich es, daß kein gewaltsamer Versuch gemacht wurde, mich aufzumuntern und zu zerstreuen – daß ich nur liebevoller Freundlichkeit begegnete, die sich noch sanfter und ruhiger äußerte, als sonst. Sogar die kleine Blanche hörte, gleichsam aus instinctartiger Theilnahme auf, zu plaudern und schien leiser aufzutreten, als sie an meine Seite schlich. Nach Tische jedoch, nachdem wir uns wieder in dem Wohnzimmer versammelt hatten, die Lichter hell brannten und die Vorhänge zugezogen waren – und nur das rasche Rollen eines vorüberfahrenden Wagens uns an das Dasein einer äußern Welt erinnerte – begann mein Vater zu sprechen. Er hatte alle Arbeit bei Seite gelegt; das jüngere, aber weniger vergängliche Kind war vergessen!

»Es ist,« begann er gedankenvoll, »eine wohlbekannte Thatsache, daß der Körper je nach seinen besonderen Krankheiten besonderer Arzneien oder Kräuter bedarf. Wenn wir uns unwohl fühlen, so öffnen wir nicht unsern Medicamentenkasten auf's Gerathewohl und nehmen irgend ein Pulver oder Fläschchen heraus, das uns zunächst unter die Hände kömmt. Ein geschickter Arzt wird immer die Art und die Stärke seines Mittels nach der betreffenden Krankheit einrichten.«

»Dies kann keinem Zweifel unterliegen,« erwiederte Onkel Roland. »Ich erinnere mich eines denkwürdigen Beispiels von der Richtigkeit dessen, was Du sagst. Als ich in Spanien war, erkrankte ich zu gleicher Zeit mit meinem Pferd; wir erhielten beide Arznei, und durch ein höllisches Versehen schluckte ich die Roßmedizin, und mein Pferd, das arme Thier, schluckte die meinige!«

»Und was war die Folge davon?« frug mein Vater.

»Das Pferd starb!« antwortete Roland traurig – »ein werthvolles Thier – Fuchs mit einem Stern!«

»Und Du?«

»Nun, der Arzt sagte, ich hätte den Tod davon haben sollen; allein es bedurfte mehr, als einer armseligen Flasche Arznei, um einen Mann von meinem Regiment zu tödten.«

»Nichtsdestoweniger kommen wir zu dem gleichen Schluß« fuhr mein Vater fort, – »ich mit meiner Theorie und Du mit Deiner Erfahrung – daß nämlich die Wahl der Arznei nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, und daß ein Versehen in den Flaschen ein Pferd umbringen kann. Wenn es sich aber um die Arznei für, den Geist handelt, wie wenig bedenken wir alsdann die goldene Regel, welche der gewöhnliche Menschenverstand auf den Körper anwendet.«

»Wie?« entgegnete der Capitän, »welche Arznei sollte es für den Geist geben? Shakespeare sagt etwas über diesen Gegenstand, wenn ich mich recht erinnere, des Inhalts, daß einem kranken Geiste »nicht zu helfen sei.«

»Ich glaube nicht, Bruder; er sagt nur, Arzneien (d. h. Pillen und Tränkchen) werden nichts fruchten. Und Shakespeare wäre gewiß der Letzte gewesen, seine eigene Kunst zu verurtheilen, denn er war in der That ein großer Arzt für den Geist.«

»Ah, nun verstehe ich Dich, Bruder – Bücher! wieder Bücher! Du glaubst also, wenn einem Manne das Herz bricht oder wenn er sein Vermögen verliert, oder seine Tochter – (Blanche, mein Kind, komm' her zu mir) – so brauchtest Du nur ein Pflaster von Druckpapier auf die wunde Stelle zu legen, und damit wäre alles wieder gut. Ich wünschte, Du fändest mir ein solches Heilmittel.«

»Willst Du es versuchen?«

»Wenn es nicht Griechisch ist,« erwiederte mein Onkel.


Fünftes Kapitel.

Meines Vaters Ansicht über die Heilkraft der Bücher.

Wenn wir,« begann mein Vater – und seine Hand steckte dabei tief in der Weste, »wenn wir die Autorität Diodor's Diodoros, antiker griechischer Geschichtsschreiber des späten Hellenismus, in der ersten Hälfte des 1. Jh. v.u.Z. in Betreff der Inschrift an der großen ägyptischen Bibliothek anerkennen – und ich wüßte nicht, weßhalb Diodor der Wahrheit nicht eben so nahe gekommen sein sollte, als irgend ein Anderer?« setzte er fragend hinzu, indem er sich umwandte.

Meine Mutter glaubte die Frage an sie gerichtet und nickte der Autorität Diodor's ihren gnädigen Beifall zu, worauf mein Vater; dessen Ansicht dadurch bekräftigt worden, fortfuhr –

»Wenn wir, sage ich die Autorität Diodor's anerkennen, so lautete die Inschrift, an der ägyptischen Bibliothek: ›Die Arznei des Geistes.‹ Diese Phrase ist nun bekanntlich vollständig abgenutzt, und die Leute sprechen es gedankenlos nach, daß die Bücher Arznei für den Geist seien. Ja – aber die rechte Arznei anzuwenden, das ist die Hauptsache.«

»Du hast uns dies wenigstens schon zweimal gesagt, Bruder,« bemerkte mürrisch der Capitän. »Und was Diodor damit zu thun haben soll, weiß ich so wenig, als der Mann im Monde.«

»Auf diese Weise kann ich niemals weiter kommen,« entgegnete mein Vater in einem halb vorwurfsvollen, halb bittenden Tone.

»Seid gute Kinder, Roland und Blanche!« rief meine Mutter, indem sie in ihrer Arbeit inne hielt, drohend die Nadel erhob und in der That der Schulter des Capitäns einen leichten Stich versetzte.

» Rem acu tetigisti, meine Liebe,« sagte mein Vatex, Cicero's Wortspiel entlehnend Cicero's Scherz über einen Senator, welcher der Sohn eines Schneiders war – »Du hast die Sache scharf berührt« (oder mit der Nadel – acu). [ Anm.d.Verf. – Die Formulierung findet sich in Wahrheit bei Plautus in seinem Drama » Rudens«, Vers 1306.]. »Und nun werden wir auf Sammt gehen. Ich sage also, daß Bücher, ohne Unterschied aufgegriffen, nichts gegen Krankheiten und Leiden des Geistes vermögen. Es gehört eine Welt von Wissen dazu, die rechte Wahl zu treffen. Ich habe Leute gekannt, welche in, einem großen Kummer ihre Zuflucht zu einem Roman oder irgend einer leichten Modelektüre nahmen. Ebensogut könnte man Rosenwasser gegen die Pest einnehmen! Leichte Lectüre taugt nichts, wenn das Herz wirklich schwer ist. Man sagt, Göthe habe, als er seinen Sohn verloren, das Studium einer Wissenschaft aufgenommen, die ihm neu war. Ah! Göthe war ein Arzt, der wußte, was er that. In einem großen Schmerz, gleich diesem, kann man den Geist nicht kitzeln und zerstreuen; man muß ihn mit Gewalt losreißen, abziehen, versenken – in einen Abgrund begraben, in ein Labyrinth verstricken. Für den unheilbaren Kummer des mittleren und höheren Alters empfehle ich daher als Gegenreiz ernste wissenschaftliche Studien und Betrachtungen. Das Gehirn soll durch seine Thätigkeit auf das Herz zurückwirken. Wer die Wissenschaft seinen Neigungen zu wenig entsprechend findet (denn wir haben nicht Alle mathematische Köpfe), der wähle etwas, das im Bereiche des bescheidensten Verstandes liegt, aber auch den höchsten hinreichend zu beschäftigen vermag – etwa eine neue Sprache – griechisch, arabisch, skandinavisch oder chinesisch. Bei einem Vermögensverlust sollte die Dosis weniger unmittelbar dem Verstand angepaßt werden – ich würde in diesem Falle etwas Elegantes und Herzstärkendes anwenden. Denn wie bei einem Verluste, welcher uns eines unserer Lieben entreißt, das Herz gebeugt und zerrissen ist, so leidet und schmerzt bei Geldverlusten hauptsächlich der Kopf. Hier nun erweist sich die höhere Klasse von Dichtern als ein sehr schätzbares Heilmittel. Denn es ist wohl zu beachten, daß wirklich geniale Dichter zwei gesonderte, ganz von einander verschiedene Menschen in sich vereinigen – den Phantasiemenschen und den praktischen Menschen; und diese glückliche Mischung ist es eben, welche für jene Krankheiten des Geistes paßt, die halb mit der Einbildungskraft und halb mit der Erfahrung zusammenhängen; Homer z. B. verliert sich bald unter den Göttern, bald ist er bei den Niedrigsten zu Hause, ›der wahre Dichter für alle Verhältnisse,‹ wie Gray Thomas Gray (1716-1771), engl. Dichter und Gelehrter. ihn sehr treffend genannt hat; dabei ist seine Phantasie mächtig genug, um auch den Schwerfälligsten für eine Zeitlang jene kleine Stelle an seinem Pulte vergessen zu lassen, welche das Notizbuch eines Wechslers bedecken kann. Auch Virgil, obgleich er tief unter Homer steht Im Original folgt hier noch der vom Übersetzer fortgelassene Zusatz: »› Virgil the wise, Whose verse walks highest, but not flies,‹ as Cowley expresses it«., ist genial genug, um den Doppelmenschen in sich darzustellen; er führt uns hinaus auf die Fluren, nicht nur um den Tönen der Hirtenflöte und dem Summen der Bienen zu lauschen, sondern um uns zu zeigen, wie wir den meisten Nutzen aus dem Erdboden und dem Weinstock ziehen können. Horaz, dieser liebenswürdige Weltmann, welcher keineswegs die Güter dieser Welt unterschätzt, wird theilnehmend mit uns den Verlust unseres Vermögens beklagen, gleichwohl aber auch uns zeigen, daß der Mensch ebenso gut mit einem vile modicum oder parva rura Mit einem bescheidenen Vermögen und kleinen Feldern. glücklich sein könne. In Shakespeare endlich spricht sich vor allen Andern der geheimnißvolle Dualismus von trocknem Verstand und feuriger Phantasie aus. Und so könnte ich noch eine große Menge Dichter nennen, welche, wenn wir uns ruhig und gelassen mit ihnen beschäftigen, nicht den bloßen Philosophen und unvernünftigen Stoikern gleichen, die uns einfach sagen, daß wir nichts verloren haben – sondern welche uns dieser Welt voll Sorgen und Verlusten unvermerkt entrücken und, ehe wir wissen, wo wir sind, in eine andere versetzen – in eine Welt, wo wir nicht weniger willkommen sind, wenn wir auch nur so viel Erde von unsern Aeckern und Feldern mitbringen, als an unsern Schuhsohlen hängen geblieben. Gegen Hypochondrie und Lebensüberdruß – was könnte es da Besseres geben, als frische, an Abwechslungen reiche Reisebeschreibungen? hauptsächlich wunderbare und legendenhafte Reiseabenteuer aus frühen Zeiten und fernen Ländern! Wie wird dadurch unser Geist erfrischt und aus dem schläfrigen Zustand, in dem er sich befindet, herausgerissen! Wir sehen mit Herodot Herodot von Halikarnassos (um 490/480-424 v.u.Z.), antiker griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler; von Cicero als »Vater der Geschichtsschreibung« bezeichnet. das junge Griechenland zum Leben erwachen und die alte orientalische Welt in riesenhaftem Verfall zusammenstürzen, oder begeben uns mit Carpini und Rubruquis Giovanni da Pian del Carpine (um 1185-1252) und Willem van Ruysbroek (um 1215-1270), beide Franziskaner-Mönche, bereisten (getrennt und nacheinander) das mongolische Herrschaftsgebiet. in die Tartarei, wo ›die mit Häusern beladenen Wagen der Zagathay Teilgebiet der Tartarei, beherrscht vom gleichnamigen Sohn des Dschingis Khan. uns begegnen, und wir glauben, eine große Stadt an uns zukommen zu sehen‹ Rubruquis, sect. XII. [ Anm.d.Verf. – Bulwer zitiert diese Passage allerdings aus dem Werk von Robert Kerr, der ab 1811 in 17 Bänden alte Reiseberichte zusammengestellt und übersetzt hatte.]. Wir blicken auf dieses wilde, unermeßliche Reich der Tartaren, wo die Nachkommen von Dschingis-Khan ›sich vermehren und zerstreuen über die endlose, öde Wüste, unbegrenzt, wie der Ocean‹. Wir segeln mit den ersten Entdeckern des Nordens und dringen in das Herz des Winters ein unter Seeschlangen, Eisbären und scharfzahnigen Seepferden mit Menschenangesichtern. Was soll ich ferner sagen von Columbus, von dem unbeugsamen Geiste eines Cortes, von dem Königreich Mexico Hernán Cortés eroberte 1519-21 das Aztekenreich in Mexiko. und der seltsamen Goldstadt der Peruaner mit ihrem wilden, verwegenen Pizarro Der Glaube an ein »El Dorado« beflügelte Francisco Pizarro González bei der Eroberung des Inkareiches in Südamerika bis 1533.? von den Polynesiern (welche auf ein Haar den alten Briten gleichen). den amerikanischen Indianern und den Südseeinsulanern? Wie kühn und verwegen, wie jung, und fröhlich muß ein Hypochondrist bei solcher Behandlung werden! Und nun jenes Gebrechen des Geistes, welches ich Sectirerei nenne – jedoch nicht in dem religiösen Sinne des Wortes – ich meine vielmehr die kleinlichen, engherzigen Vorurtheile, die uns veranlassen, unsern nächsten Nachbar zu hassen, weil er seine Eier gebacken verzehrt, während wir die unsrigen sieden; das Klatschen und Spähen in anderer Leute Angelegenheit; die Verläumdungssucht und die Angst, Himmel und Erde möchten zusammenstürzen, wenn ein Besen das Spinngewebe berührt, welches sich über der Schwelle unseres Gehirns ausgebreitet hat – was kann hier bessere Dienste leisten, als ein großartiger, edelaufgefaßter, mild abführender (ich bitte um Entschuldigung, meine Liebe!) historischer Cursus? Wie zerfließen da alle Dünste des Kopfes – weit besser, als durch die Nieswurz, mit welcher die Doctoren des Mittelalters das kleine Gehirn purgirten! Hier, in dem großen Strudel und Sturmbad Bulwer benutzt das deutsche Wort im englischen Original als Fremdwort. der Kaiser- und Königreiche, der Völker und Jahrhunderte erhebt sich unser Geist über jene kleinliche, fieberhafte Gehässigkeit gegen John Styles und wird von der unglücklichen Einbildung geheilt, daß die ganze Welt Interesse an unsern Beschwerden gegen Tom Stokes John Styles und Tom Stokes: im Sinne von ›Peter Schmitz‹ und ›Heinz Müller‹. und seine Frau nehmen müsse!

Ihr seht, ich kann nur einige Ingredienzien dieser herrlichen Apotheke berühren – ihre Hülfsmittel sind unerschöpflich, erfordern jedoch die größte Vorsicht und Besonnenheit. Ich erinnere mich, einen trostlosen Wittwer, welcher jede andere Arznei eigensinnig zurückwies. – durch die Geologie geheilt zu haben. Ich tauchte ihn tief in Gneiß und Glimmerschiefer; mitten in der ersten Schichte ließ ich die wässerige Action auf kühlenden, crystallisirten Massen sich erschöpfen, und als ich ihn endlich in die tertiäre Periode, zu Uebergangskalk von Mastricht und dem Muschelkalk von Gosau gebracht hatte, war er bereit, eine zweite Frau zu nehmen. (Kitty, meine Liebe, die Sache ist nicht lächerlich!) Eine nicht minder bedeutende Kur gelang mir mit einem jungen Studenten in Cambridge, welcher für die Kirche bestimmt war und plötzlich von dem alten Fieber des Freidenkens mit heftigen Frosten befallen wurde, weil er sich in den Tiefen des Spinoza Baruch de Spinoza (1632-77), niederländischer Philosoph und Sohn portugiesischer Immigranten sephardischer Herkunft und portugiesischer Muttersprache; wird dem Rationalismus zugeordnet und gilt als einer der Begründer der modernen Bibel- und Religionskritik. verloren hatte. Keiner der Theologen, mit denen ich zuerst einen Versuch machte, hatte auch nur den geringsten guten Erfolg; so schlug ich ein neues Blatt auf und nahm die Kapitel des Glaubens in Abraham Tucker's Buch Abraham Tucker (1705-74), engl. Landelmann, der sich philosophischen Studien verschrieb. The Light of Nature Pursued erschien 1768-78 in sieben Bänden unter dem Pseudonym Edward Search. (Du solltest es lesen, Sisty!) zu Hülfe; alsdann wandte ich starke Dosen aus Fichte Johann Gottlieb Fichte (1762-1818), Philosoph des deutschen Idealismus. an, machte hierauf meinen Patienten mit den schottischen Mataphysikern bekannt, nebst einigen Sturzbädern in gewisse deutsche Transcendentalisten, und, nachdem ich ihn überzeugt, daß der Glaube kein unphilosophischer Geisteszustand sein, und er denselben getrost ergreifen könne, ohne seinem Verstand eine Blöße zu geben – denn in dieser Beziehung war er gewaltig eingebildet – machte ich einen zweiten Versuch mit meinen Gottesgelehrten, welche er nun zu verdauen im Stande war. Seitdem ist seine theologische Constitution so kräftig geworden, daß er bereits zwei Pfarreien und eine Decanei verschlungen hat! In der That, ich habe einen Plan zu einer Bibliothek im Kopfe, deren einzelne Abtheilungen, statt der Aufschriften ›Philologie, Naturwissenschaft, Dichtkunst‹ &c., mit den Namen der Krankheiten des Körpers und des Geistes versehen werden sollten, zu deren Heilung die betreffenden Bücher sich dienstbar erweisen – von einer großen Trübsal, oder den Qualen der Gicht abwärts bis zu einem Anfall von Spleen oder einem unbedeutenden Catarrh. In diese letzte Reihe käme die leichte Lectüre zu stehen, welche mit Molken und Gerstenwasser den gleichen Rang einnimmt. Wenn aber,« fuhr mein Vater ernster fort, »ein großer Schmerz, der noch geheilt werden kann, Deinen Geist gleich einer Monomanie ergreift – wenn Dir Dein Leben zweck- und werthlos erscheint, weil der Himmel Dir dieses oder jenes versagte, woran Du Dein Herz gesetzt – dann halte Dich an die Biographien – an die Biographien guter und großer Männer. Siehe, welch' einen kleinen Raum ein einzelner Kummer im Leben einnimmt. Vielleicht kaum eine Seite ist einem Schmerze, dem Deinigen ähnlich, gewidmet, und wie triumphirend schreitet das Leben darüber hinweg! Du glaubtest die Schwinge gebrochen! Allein – es war nur eine geknickte Feder! Siehe, was das Leben zurückläßt, wenn alles vorüber ist – eine Summe von wirklichen Thatsachen, welche sich mit dem Wesen der Welt verketten und weit außer dem Bereiche des Kummers und des Leides liegen. Ja, hier ist die Biographie die rechte Arznei! Roland, Du sagtest, Du wollest das Mittel versuchen, das ich Dir verordne – hier ist es.«

Mein Vater ergriff bei diesen Worten ein Buch und gab es dem Capitän. Dieser blätterte darin – es war das Leben des ehrwürdigen Robert Hall.

»Bruder, er war ein Dissenter; ich aber bin, dem Himmel sei Dank, ein treuer Anhänger der Staatskirche!«

»Robert Hall war ein edler Mann und ein tapferer Soldat unter dem großen Befehlshaber,« sagte mein Vater mit feiner List.

Der Capitän legte in respektvoller militärischer Begrüßung des Buches den Zeigefinger an seine Stirne.

»Ich habe ein anderes Exemplar für Dich, Pisistratus – jenes, welches ich Roland geliehen, ist das meinige. Dieses kaufte ich heute für Dich. Du sollst es behalten.«

»Ich danke Dir, Vater,« erwiederte ich gleichgültig, denn ich vermochte nicht einzusehen, inwiefern mir das Leben Robert Hall's gut thun sollte, oder weßhalb dieselbe Arznei für den verwitterten alten Onkel und für den noch nicht zwanzigjährigen Neffen passen könnte.

»Ich habe nichts gesagt,« begann mein Vater mit einer leichten Verbeugung wieder, »von dem Buch der Bücher, denn dieses ist das lignum vitae Anspielung auf Guajak, aus Südamerika Anfang des 16. Jh. unter dem Namen lignum vitae (wegen seiner angeblich heilenden und lebensverlängernden Eigenschaften) nach Europa gelangt., die Cardinal-Medicin für Alle. Die andern sind nur Hülfstruppen; denn, wie Du Dich erinnern wirst, meine liebe Kitty, daß ich schon früher gesagt – das System kann niemals vollständig in Ordnung erhalten werden, man lege denn gerade auf den Mittelpunkt des großen Nervenknotens, von wo aus der Einfluß sich ruhig und mild durch den ganzen Körper fortpflanzt – den Saffransack


Sechstes Kapitel.

Am andern Morgen nach dem Frühstück nahm ich meinen Hut, um auszugehen, als mein Vater, dessen Blicke auf mir geruht, und welchem mein Aussehen verrathen haben mochte, daß ich nicht geschlafen hatte, sanft zu mir sagte –

»Mein lieber Pisistratus, Du hast noch keinen Versuch mit meiner Arznei gemacht.«

»Mit welcher Arznei, Vater?«

»Robert Hall.«

»Nein, in der That, noch nicht,« entgegnete ich lächelnd.

»So thue es, mein Sohn, ehe Du ausgehst; verlasse Dich darauf, Du wirst Dich alsdann Deines Spazierganges weit mehr erfreuen.«

Ich gestehe, daß ich mit einigem Widerstreben gehorchte. Auf mein Zimmer zurückgekehrt, setzte ich mich entschlossen zu meiner Aufgabe nieder. Ist wohl unter meinen Lesern Einer, welchem das Leben Robert Hall's nicht bekannt sein sollte? Wäre dies der Fall, so sage ich mit den Worten des großen Capitän Cuttle Hier bezieht sich Bulwer auf eine fiktive Figur, nämlich aus dem Roman »Dombey and Son« von Charles Dickens, der 1847/48 in Fortsetzungen erschienen war.: »Wenn Du's gefunden hast, biege ein Ohr ein.« Gleichviel, welcher theologischen Richtung Du auch angehören magst – Episcopale, Presbyterianer, Baptist, Pädobaptist, Independent, Quäker, Unitarier, Philosophe oder Freidenker – versäume nicht, Robert Hall zu lesen! Ja; wenn es auf Erden noch Anhänger jener Erzketzereien geben sollte, welche zu ihrer Zeit so großen Lärm gemacht – Menschen, welche mit Saturninus glauben, daß die Welt von sieben Engeln geschaffen worden; oder mit Basilides, daß es so viele Himmel, als Tage im Jahre gebe; oder mit den Nikolaiten, daß die Männer ihre Frauen gemeinschaftlich haben sollten (welche Secte noch zahlreich genug ist, namentlich in der Rothen Republik!); oder welche mit ihren Nachfolgern, den Gnostikern, an Jaldaboath glauben; oder die Ansicht der Karpokratianer theilen, daß der Teufel die Welt geschaffen habe; oder diejenige der Cerinthianer, Ebioniten und Nazariten (welch' Letztere die Entdeckung machten, daß Noäs Weib Ouria geheißen und die Arche in Brand gesteckt habe); oder aber Menschen, wie die Valentinianer, welche lehrten, daß es dreißig Aeonen, Zeitalter oder Welten gebe; Kinder der »Tiefe« (Bathos) und des »Schweigens«; oder wie die Marciten, Colarbasier und Heracleomiten, welche an dem Unsinn von den Aeonen und deren Eltern »Tiefe« und »Schweigen« festhielten; oder wie die Ophiten, welche die Schlange angebetet haben sollen; oder wie die Cainiten, welche Judas aus dem sinnreichen Grunde verehrten; weil er das Heil voraussah, welches der Menschheit aus seinem Verrath an dem Erlöser erwachsen würde; oder wie die Sethiten, welche Seth zu einem Theil des göttlichen Wesens machten; oder wie die Archontiken, Ascothypten, Cerdonianer, Marcioniten und die Schüler des Apelles und Severus (dieser war ein Wassertrinker und behauptete, der Satan habe den Weinstock erzeugt!), oder des Tation, welcher alle Nachkommen Adam's, sich und seine Anhänger ausgenommen, für unwiderruflich verdammt erklärte (solche Tatianer gibt es sicherlich noch genug!); oder wie die Cataphrygier, auch Tascodrapiten genannt; weil sie zum Zeichen ihrer Andacht die Zeigefinger in die Nasenlöcher steckten; oder wie die Pepuzianer, Quintilianer und Artothriten; oder – doch genug! Wollte ich alle Thorheiten der Menschen in ihrem Suchen nach Wahrheit durchgehen; so würde ich niemals an das Ende meines Kapitels gelangen oder auf Robert Hall zurückkommen. Wer oder was Du nun also auch sein magst, orthodox oder heterodox, mache Dich mit Robert Hall bekannt. Es ist das Leben eines Mannes, dessen Betrachtung der Menschheit gut thun muß!

Ich hatte die nicht sehr lange Biographie zu Ende gelesen und sann noch immer darüber nach; als ich das Korkbein des Capitäns auf der Treppe hörte. Ich öffnete die Thüre und sah ihn mit seinem Buche in der Hand in mein Zimmer treten, in welchem ich ebenfalls mit dem Buche in der Hand bereit stand; ihn zu empfangen.

»Nun, Neffe,« sagte Roland, einen Stuhl nehmend, »hat Dir die Arznei gut gethan?«

»Ja, Onkel – sehr gut!«

»Und mir auch. Beim Jupiter, Sisty, dieser Hall war ein herrlicher Mensch! Ich möchte wissen; ob die Medicin bei uns beiden durch die nämlichen Kanäle eingedrungen ist? Sage mir zuerst, welchen Eindruck sie auf Dich gemacht hat.«

» Inprimis, mein lieber Onkel, glaube ich, daß ein solches Buch einen guten Einfluß auf alle Diejenigen ausüben muß, welche nach der gewöhnlichen Weise in der Welt leben, indem es uns in einen Lebenskreis einführt, an den wir, wie ich vermuthe, nur wenig denken. Wir sehen hier einen Mann, der sich unmittelbar ein himmlisches Ziel vorsteckt und zu dessen Erreichung bedeutende Fähigkeiten entwickelt; er sucht seine Seele nach Kräften zu vervollkommnen, um auf Erden möglichst viel Gutes zu wirken und im Himmel ein höheres Dasein zu erlangen. Eine erhabene, heilige Pflicht schwebt ihm stets vor Augen – ja, er lebt gleichsam nur in derselben! dabei erfüllt ihn das Bewußtsein der Unsterblichkeit so ganz und gar, und das Gefühl der Gemeinschaft zwischen ihm und seinem Gott ist so mächtig in ihm, daß er ohne unempfindlich gegen Schmerz und Leiden zu sein – im Gegentheil mochte ihn sein reizbares Temperament dieselben um so schärfer fühlen lassen – dennoch ein davon ganz unabhängiges Glück genießt. Es ist unmöglich, jene feierliche Hingabe seiner selbst an Gott zu lesen, ohne von einer Bewunderung durchdrungen zu werden, welche uns zugleich erhebt und mit hehrer Scheu erfüllt. Diese Unterwerfung von Seele und Leib, Zeit, Gesundheit, Ruf und Talenten unter das göttliche und unsichtbare Princip des Guten läßt uns plötzlich das Selbstsüchtige unserer Ansichten und Hoffnungen erkennen und weckt uns aus dem Egoismus, der alles verlangt und auf nichts verzichtet.

Am kräftigsten wurden jedoch die Saiten meines Herzens von jenem Charakterzug in unserm Buche berührt, welchen, wie mein Vater andeutete, allen Biographien eigen ist. Wir lernen hier ein Leben kennen von merkwürdiger Fülle – reich an Studium, voll großer Gedanken und edler Handlungen; und doch,« fuhr ich erröthend fort, »welch' kleinen Raum nehmen jene Gefühle, welche mich so vollständig beherrschten und alles um mich her in eine Oede verwandelten, in diesem Leben ein! Nicht, als ob er ein kalter, harter Ascet wäre; er besitzt im Gegentheil nicht nur ein auffallend warmes und liebevolles Herz, sondern auch den starken Eigenwillen und die Leidenschaftlichkeit aller kräftigen Naturen. Ja, nun verstehe ich besser, welcher Art das Dasein eines wahren Mannes sein soll.«

»Das ist alles recht gut gesagt,« erwiederte der Capitän, »machte jedoch nicht diesen Eindruck auf mich. Was aus diesen, Buche zu mir gesprochen; ist Muth. Hier krümmt sich ein armes Geschöpf unter martervollen Schmerzen am Boden, von der Kindheit bis zum Tode von einer geheimnißvollen, unheilbaren Krankheit gepeinigt – einer Krankheit, welche uns als ›ein innerlicher Folter-Apparat‹ beschrieben wird. Dieser Mann aber erträgt nicht nur heldenmüthig seine Qualen; sondern benimmt ihnen auch die Macht, auf ihn einzuwirken; und ›obgleich (so lautet die Stelle) unaufhörliche Schmerzen bei Tag und bei Nacht seine Bestimmung zu sein schienen, so war doch dessenungeachtet hohe Freude das Gesetz seines Lebens.‹ Robert Hall gibt mir eine Lehre – mir, einem alten Soldaten, der sich über alles Lernen erhaben glaubte – wenigstens, was den Muth betrifft. Und als ich an jene Stelle kam, da er in den bittern Todesqualen sagt: ›Ich habe mich nicht beklagt, und ich will mich nicht beklagen‹ – als ich an diese Stelle kam; sprang ich auf und rief: ›Roland de Caxton, Du bist ein Feigling gewesen! und wäre Dir nach Verdienst gelohnt worden; so hättest Du längst kassirt und aus dem Regiment gestoßen werden müssen‹!«

»So hatte denn mein Vater nicht Unrecht – er stellte sein Geschütz richtig auf und that einen guten Schuß.«

»Er muß unter einem Winkel von sechs bis neun Graden über dem Kamm der Böschung erfolgt sein,« sagte mein Onkel gedankenvoll, »was ich für die beste Elevation zur Bestreichung eines Werkes in gerader Linie, sowohl für Kanonenkugeln, als für Bomben, halte.«

»Was nun, Capitän? Die Tornister genommen; und vorwärts Marsch!«

»Rechts umkehrt – Euch!« rief mein Onkel so aufrecht, wie eine Säule.

»Keine Rückblicke, wenn wir's ändern können!«

»Voll in die Front des Feindes! – ›Auf, Ihr Garden, und d'ran!‹«

»›England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht thue.‹«

»Cypresse oder Lorbeer!« rief mein Onkel, das Buch über seinem Kopfe schwenkend.


Siebentes Kapitel.

Ich ging aus, um Francis Vivian aufzusuchen; denn, indem ich Mr. Trevanion verließ, hegte ich einige Besorgniß in Bezug auf meines neuen Freundes künftige Versorgung. Vivian war jedoch nicht zu Hause, und so wanderte ich von seiner Wohnung in die Vorstädte auf der andern Seite des Flusses und begann ernstlich über den besten Weg nachzudenken, den ich nun einschlagen konnte. Indem ich aus meinen bisherigen Verhältnissen heraustrat, verzichtete ich auf weit glänzendere Aussichten und viel schneller erreichbare Glücksumstände; als ich jemals auf irgend einer andern Laufbahn verwirklicht zu sehen hoffen durfte. Allein ich fühlte, wie nothwendig für meine Gemüthsstimmung eine ernste, anhaltende und männliche Beschäftigung sei. Meine Gedanken kehrten zu der Universität zurück, und die Ruhe und Stille ihrer Klöster, welche ich mir freudlos und einförmig gedacht, bis ich von dem grellen Schimmer der Londoner Welt schmerzhaft geblendet worden und der Kummer die Schärfe meiner feurigen Wünsche und Hoffnungen einigermaßen abgestumpft hatte, erschien mir nun in einem einladenden Lichte. Dort mußte ich finden was ich am meisten bedurfte – einen neuen Schauplatz, eine neue Arena und eine theilweise Rückkehr in die Knabenzeit! Ruhe für die vor der Zeit geweckten Leidenschaften und Thätigkeit für den Verstand in einer neuen Richtung. Meine Zeit in London war keine verlorene gewesen; ich hatte meine allgemeine Fassungsgabe geschärft, meine Hülfsquellen erweitert und wenigstens die Gewohnheit des Arbeitens beibehalten, wenn mir auch die rein classischen Studien ziemlich fremd geworden waren. Nach Hause zurückgekehrt, beschloß ich denn, mit meinem Vater zu sprechen. Dieser war mir jedoch schon zuvorgekommen, und bei meinem Eintreten nahm mich meine Mutter mit einem Lächeln, welches sich an dem meinigen erwärmte, in ihr Zimmer und theilte mir mit, daß es nach ihrer und ihres Austin's Ansicht das Beste wäre, wenn ich London so bald als möglich verließe; daß mein Vater eben jetzt die Bibliothek des Museums auf einige Monate entbehren könne; daß die Zeit, für welche sie ihre Wohnung gemiethet, in wenigen Tagen abgelaufen, der Sommer weit vorgerückt, die Stadt unerträglich und das Land so schön, mit Einem Wort, daß unsere Rückkehr nach Hause beschlossen sei. Dort konnte ich mich bis zum Schlusse der langen Ferien für Cambridge vorbereiten. Zögernd und mit einer vorausgeschickten Warnung, meine Gesundheit zu schonen, fügte meine Mutter hinzu, daß es meinem Vater bei seinem nicht großen Einkommen schwer falle, die zu meinen academischen Studien erforderliche Summe zu erübrigen, und er deßhalb darauf rechne, ich werde ihm diese Last bald durch Erringung eines Stipendiums erleichtern. Mit innigem Danke und aufrichtiger Freude erkannte ich die vorsorgliche Liebe, welche in all' diesem lag – selbst in der Hinweisung auf das Stipendium, wodurch meine Geisteskräfte ermuntert und ich mit Hülfe des angedeuteten Beweggrundes zu neuem Ehrgeiz angespornt werden sollte.

»Aber der arme Roland,« sagte ich; »und die kleine Blanche, werden sie mit uns gehen?«

»Ich fürchte, nein,« erwiederte meine Mutter; »denn Roland wünscht sehnlich, in seinen alten Thurm zurückzukehren und wird wohl in einigen Tagen so weit hergestellt sein, um die Uebersiedelung dorthin vornehmen zu können.«

»Glaubst Du nicht, liebe Mutter, daß Roland's Krankheit in irgend einer Weise mit jenem verlornen Sohne zusammenhing, und daß er nicht nur körperlich, sondern auch geistig krank war?«

»Ohne allen Zweifel, Sisty. Wie schwarz und schlecht muß doch das Herz dieses Jünglings sein!«

»Roland scheint alle Hoffnung aufgegeben zu haben; ihm in London auf die Spur zu kommen, sonst hätten wir ihn gewiß trotz seines leidenden Zustandes nicht zu Hause halten können. Nun geht er also in seinen alten Thurm zurück? Der arme Mann – wie öde und langweilig muß es dort sein! Wir müssen ihn wirklich dort besuchen. Spricht Blanche je von ihrem Bruder?«

»Nein; es scheint, sie wurden nicht zusammen erzogen – jedenfalls erinnert sie sich seiner nicht. Wie lieblich sie ist! Ihre Mutter muß gewiß sehr schön gewesen sein.«

»Sie ist allerdings ein hübsches Kind, obgleich eine eigenthümliche Art von Schönheit – so ungeheuer große Augen! Aber sie hat ein liebevolles Herz und hängt an Roland, wie es sich gehört.«

Und damit war unsere Unterredung zu Ende.

In Folge unserer neuen Pläne war es nöthig, daß ich Vivian ohne Zeitverlust aufsuchte, um irgend welche Vorkehrungen für seine Zukunft zu treffen. Sein Benehmen hatte so viel von der früheren Schroffheit verloren, daß ich es wagen zu können glaubte, ihn Trevanion persönlich zu empfehlen, um so mehr, als ich wußte, daß nach dem, was vorgefallen, letzterer mir gerne eine Gefälligkeit erweisen würde. Ich beschloß, meinen Vater darüber zu Rathe zu ziehen. Bis jetzt war er so beschäftigt gewesen, daß ich eine Gelegenheit, über die Sache mit ihm zu reden, weder gesucht noch gefunden hatte; und überdies wäre ich, eingedenk der cynischen Einwendungen von Seiten Vivian's, um eine Antwort verlegen gewesen, hätte mir mein Vater den Vorschlag gemacht, meinen neuen Freund bei ihm einzuführen. Diese letztere Rücksicht verlor nun aber durch unsere bevorstehende Abreise ihre Bedeutung, und was die erstere betraf, so war der Gelehrte noch nicht wieder vollständig zu seinen Büchern zurückgekehrt. Ich ersah daher die Zeit, da sich mein Vater nach dem Museum begab, legte meinen Arm in den seinigen und erzählte ihm unterwegs in möglichster Kürze, auf welche Weise ich diese seltsame Bekanntschaft gemacht, und in welcher Lage ich mich nun befand. Mein Vater zeigte kein so großes Interesse, als ich erwartet hatte, und schien die Verworrenheit in Vivian's Charakter nicht zu verstehen – wie wäre dies auch möglich gewesen? – denn er erwiederte kurz –

»Ich sollte denken, daß Trevanion einem jungen Manne ohne alle Mittel, und dessen Erziehung so unvollkommen gewesen zu sein scheint, nur sehr vorübergehende und ungewisse Hülfsquellen eröffnen könnte. Sprich mit Onkel Jack darüber – ich zweifle nicht, daß er einen Platz für ihn finden kann – vielleicht als Corrector in einer Druckerei oder als Berichterstatter für irgend ein Journal, falls er sich hinzu eignen sollte. Jedenfalls muß seine Beschäftigung eine regelmäßige sein, wenn Du willst, daß er Festigkeit erlange.«

Damit ließ mein Vater den Gegenstand fallen und verschwand durch die Thore des Museums. Corrector bei einem Buchdrucker oder Berichterstatter eines Journals – das waren keine Stellen für einen jungen Gentleman von Francis Vivian's stolzen Ansichten und anmaßender Eitelkeit, dessen Ehrgeiz bereits weit über Glacéhandschuhe und ein Cabriolet hinausging. Der Gedanke war hoffnungslos, und verwirrt und unschlüssig begab ich mich nach Vivian's Wohnung. Dieses Mal traf ich ihn zu Hause; er stand unbeschäftigt und mit gekreuzten Armen so tief in seine Träumereien versunken am Fenster, daß er mein Eintreten nicht bemerkte, bis ich seine Schulter berührte.

»Ha!« sagte er dann mit einem seiner kurzen, raschen, ungeduldigen Seufzer, »ich glaubte, Ihr hättet mich aufgegeben und vergessen – doch, Ihr seht blaß und erschöpft aus. Ich könnte mir beinahe einbilden, Ihr wäret in den letzten Tagen schmächtiger geworden.«

»O, kümmert Euch nicht um mich, Vivian. Ich bin gekommen, um Euretwegen mit Euch zu sprechen. Ihr müßt wissen, daß ich Trevanion verlassen habe und die Universität beziehen werde – in einigen Tagen reisen wir Alle ab.«

»In einigen Tagen! – Alle! – Wer sind diese Alle?«

»Meine Familie – Vater, Mutter, Onkel, Cousine und ich. Doch, mein lieber Freund, wir müssen jetzt ernstlich darüber nachdenken, was sich am besten für Euch thun läßt. Ich kann Euch Trevanion vorstellen.«

»Ha!«

»Allein Trevanion ist ein strenger, obgleich ein vortrefflicher Mann, und da er überdies die Gegenstände, welche ihn beschäftigen, fortwährend wechselt, so könnte es sehr leicht sein, daß er vielleicht in einem Monat oder so nichts mehr für Euch zu thun hätte. Ihr sagtet, Ihr wolltet arbeiten – wenn aber die Arbeit nicht in Glacéhandschuhen verrichtet werden könnte, würdet Ihr dennoch ohne Murren Eurem Vorsatz treu bleiben? Junge Männer, welche hoch in der Welt gestiegen sind, haben bekanntlich als Referenten der Presse begonnen. Die Stellung ist eine achtbare und sehr gesuchte, daher, wie ich glaube, nicht leicht zu erhalten; dennoch –«

Vivian unterbrach mich hastig –

»Ich danke Euch tausendmal! allein was Ihr gesagt, bestätigt mich in dem Entschluß, den ich gefaßt, ehe Ihr kamt. Ich will mich mit meiner Familie aussöhnen und nach Hause zurückkehren.«

»O, das freut mich in der That – das ist klug von Euch!«

Vivian wandte rasch den Kopf zur Seite.

»Ihr seht;« sagte er; »Eure Schilderungen von häuslichem Frieden und Familienleben haben verlockender auf mich gewirkt, als Ihr geglaubt. Wann verlaßt Ihr London?«

»Anfangs der nächsten Woche, denke ich.«

»So bald schon!« erwiederte Vivian nachdenklich. »Nun, vielleicht werde ich Euch doch noch bitten, mich Mr. Trevanion vorzustellen, denn – wer weiß? – ich könnte mit meiner Familie wieder in Zwiespalt gerathen. Jedenfalls will ich es mir überlegen. Sagtet Ihr nicht, dieser Mr. Trevanion sei ein sehr alter Freund Eures Vaters oder Eures Onkels?«

»Er, oder vielmehr Lady Ellinor ist von alten Zeiten her mit Beiden befreundet.«

»Und deßhalb würde Eurer Empfehlung Gehör geschenkt werden. Doch, vielleicht bedarf ich ihrer nicht. Ihr habt also freiwillig Eure Stelle aufgegeben – und doch sollte ich denken, sie müßte angenehmer sein, als der Collegiensaal! Aufgegeben – warum habt Ihr sie aufgegeben?«

Und Vivian heftete seine glänzenden Augen voll und durchdringend auf die meinigen.

»Ich war nur für einige Zeit – zur Probe – dort,« erwiederte ich ausweichend – »gleichsam in der Pflege; bis mir die Alma mater ihre Arme öffnen würde; alma Gütig, nährend. sollte sie in der That für den Sohn meines Vaters sein.«

Vivian schien von meiner Erklärung nicht befriedigt, drang jedoch nicht mit weiteren Fragen in mich. Vielmehr war er der Erste, welcher das Gespräch auf einen andern Gegenstand lenkte, und zwar mit mehr Herzlichkeit, als ihm sonst eigen war. Er erkundigte sich nach unsern Plänen im Allgemeinen, nach der Wahrscheinlichkeit unserer Rückkehr in die Stadt und entlockte mir eine Beschreibung unseres ländlichen Tusculum's Stadt in Latium, südöstlich von Rom in den Albaner Bergen, in deren Umgebung in der Antike reiche Römer wohnten; Ciceros philosophische »Gespräche in Tusculum«, in seinem dortigen Landsitz entstanden, kreisen um das Thema ›Bewältigung des Schmerzes‹.. Ruhig und gelassen hörte er auf meine Worte; ein- oder zweimal glaubte ich, seine funkelnden Augen feucht werden zu sehen. Wir trennten uns mit weniger Zurückhaltung und mehr Innigkeit wenigstens von meiner Seite und scheinbar auch von der seinigen – als bisher unsere seltsame Freundschaft erwärmt hatte; denn das Bindemittel rückhaltsloser Offenherzigkeit hatte einem Verkehr gefehlt, in welchem der eine Theil alles Vertrauen verweigerte, während der andere bei dem lebhaftesten Interesse und mitleidsvoller Bewunderung nicht frei von Furcht und Mißtrauen geblieben war.

An jenem Abend, ehe die Lichter hereingebracht wurden, wandte sich mein Vater plötzlich mit der Frage an mich, ob ich meinen Freund gesehen habe, und was er zu thun gesonnen sei.

»Er beabsichtigt, zu seiner Familie zurückzukehren.« erwiederte ich.

Roland, welcher zu schlummern geschienen hatte, machte eine unruhige Bewegung.

»Wer kehrt zu seiner Familie zurück?« frug der Capitän.

»Du mußt wissen,« entgegnete mein Vater, »daß Sisty einen Freund aufgefischt hat, über welchen er keine Auskunft geben kann, die einen Polizeimann befriedigen würde, dessen Schicksal zu überwachen er sich jedoch berufen fühlt. Du darfst von Glück sagen, daß er Dir Deine Taschen nicht geleert hat, Sisty; doch, ich vermuthe, er hat es wohl gethan? Wie heißt er?«

»Vivian,« erwiederte ich – »Francis Vivian.«

»Ein guter Name, aus Cornwallis stammend,« sagte mein Vater. »Die Einen leiten ihn von den Römern ab – Vivianus, die Andern von einem celtischen Wort, welches –«

»Vivian!« unterbrach Roland meinen Vater – »Vivian! Ich möchte wissen, ob es der Sohn des Oberst Vivian ist.«

»Der Sohn eines Gentleman ist er ganz gewiß,« sagte ich; »er sprach jedoch nie über seine Familie mit mir.«

»Vivian,« wiederholte mein Onkel – »der arme Oberst Vivian. Der junge Mann kehrt also zu seinem Vater zurück? Ich zweifle nicht, daß es derselbe ist. Ah!«

»Was weißt Du von Oberst Vivian oder von seinem Sohne?« frug ich. »Bitte, sage es mir; ich interessire mich so sehr für diesen jungen Mann.«

»Ich weiß nichts weiter von ihnen, als was mir vom Hörensagen bekannt wurde,« erwiederte mein Onkel traurig. »Oberst Vivian, ein Ehrenmann und trefflicher Offizier, soll in – in (Rolands Stimme zitterte) – in großen Kummer durch seinen Sohn versetzt worden sein, welchen er, als dieser noch ein bloßer Knabe war, von einer unpassenden Heirath abhielt, und der ihn deßhalb verließ und, wie man vermuthete, nach Amerika durchging. Die Geschichte machte damals Eindruck auf mich,« setzte mein Onkel hinzu, indem er sich bemühte, ruhig zu sprechen.

Wir schwiegen Alle, denn wir fühlten, warum Roland so ergriffen war, und weßhalb der Kummer Oberst Vivian's ihn so nahe berührt hatte. Gleichartigkeit der Leiden verbrüdert uns auch mit Unbekannten.

»Du sagst, er kehre zu seiner Familie zurück – ich freue mich aufrichtig darüber!« bemerkte, das bittere Gefühl in seinem Herzen tapfer bekämpfend, der alte Soldat.

Die Lichter wurden nun gebracht, und zwei Minuten später saß ich an Roland's Seite und las über seine Schulter hinweg – schweigend deutete er mit dem Finger auf jene Stelle, welche so tiefen Eindruck auf ihn gemacht – »Ich habe mich nicht beklagt, und ich will mich nicht beklagen!«



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