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Zehnter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Meines Onkels Vermuthung über Francis Vivian's Herkunft war für mich eine förmliche Entdeckung. Nichts schien mir wahrscheinlicher, als daß dieser eigenwillige Knabe eine heftige Leidenschaft, welche kein Vater gut heißen konnte, gefaßt und sich alsdann, durch das Scheitern seiner Plane erbittert und gereizt, der Welt in die Arme geworfen hatte. Eine solche Auslegung war mir um so willkommener, als dadurch alles, was mir in dem Geheimniß, welches Vivian umgab, unehrenhaft vorgekommen war, aufgeklärt wurde. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er irgend eine gemeine oder verbrecherische That begangen habe, obwohl ich ihn übereilter und strafbarer Handlungen fähig hielt. Es war natürlich, daß der freundlose Wanderer in eine Gesellschaft gerieth, deren zweideutiger Charakter auf seinen kühnen und wißbegierigen Geist einen abschreckenden Eindruck zu machen verfehlte; eben so natürlich war es aber auch, daß die edleren Sitten und Gewohnheiten, welche ihm vermöge seiner Geburt eingepflanzt waren, sowie jene stillschweigende Erziehung, die der englische Gentleman gewöhnlich schon von der Wiege an genießt, seine Ehre wenigstens unbefleckt erhalten hatte. Jedenfalls waren der Stolz und die Einbildung, diese Fehler einer vornehmen Geburt, in voller Kraft geblieben – warum nicht auch die besseren Eigenschaften, wenn sie gleich für den Augenblick erstickt schienen? Ich war dankbar, dem Gedanken Raum geben zu dürfen, daß Vivian zu einem Element zurückkehre, in welchem er seinen Geist wieder läutern und sich der Sphäre, welcher er angehörte, wieder anpassen konnte; – dankbar, daß wir uns wiedersehen würden, um vielleicht unsere dermalige halbe Vertraulichkeit zu einer gesunden Freundschaft heranreifen zu lassen.

Mit solchen Gedanken nahm ich am andern Morgen meinen Hut, um Vivian aufzusuchen und in Erfahrung zu bringen, ob wir auf die rechte Spur gekommen, als wir durch das Klopfen des Briefträgers – eine große Seltenheit an unserer Thüre – aufgeschreckt wurden. Mein Vater war in dem Museum und meine Mutter hielt ernste Berathungen mit Mrs. Primmins oder traf eifrige Vorbereitungen für unsere nahe Abreise, so daß Roland, Blanche und ich uns im alleinigen Besitze des Zimmers befanden.

»Der Brief ist nicht für mich,« sagte ich;

»Für mich sicherlich ebensowenig,« bemerkte der Capitän, als der Diener eintrat und seine Behauptung widerlegte – denn der Brief war an ihn. Verwundert und argwöhnisch nahm er ihn auf, wie Glumdaclitch In Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« ist dieses Mädchen in Buch II, im Land der Riesen, Gullivers ›Kindermädchen‹. den Gulliver, oder wie ein Naturforscher ein ihm unbekanntes Geschöpf, von welchem er nicht sicher ist, ob es ihn nicht beißen oder stechen werde. Ah, es hat Dich in der That gebissen oder gestochen, Capitän Roland! denn Du fährst zusammen und wechselst die Farbe – Du unterdrückst einen Schrei, indem Du das Siegel erbrichst – Du athmest schwer während des Lesens. Der Brief scheint kurz zu sein – dennoch liesest Du lange daran, denn Du fängst immer und immer wieder von vorne an. Dann legst Du ihn zusammen – zerknitterst ihn – steckst ihn in Deine Brusttasche – und siehst Dich um, wie Jemand, der aus einem Traum erwacht. Ist es ein schmerzlicher oder ein freudiger Traum? Fürwahr, ich kann es nicht errathen, denn in diesem Adlergesicht spricht sich weder Schmerz, noch Freude, wohl aber Furcht, Aufregung und Verwirrung aus. Gleichwohl sind die Augen klar, und ein Lächeln spielt um die eherne Lippe.

Mein Onkel blickte umher, sagte ich, rief hastig nach Stock und Hut und begann den Rock über der breiten Brust zuzuknöpfen, obgleich der Tag heiß genug war, um in den Tropen jede Brust zu entblößen.

»Du willst doch nicht ausgehen. Onkel?«

»Ja, ja.«

»Bist Du aber schon kräftig genug dazu? Laß' mich mit Dir gehen!«

»Nein, Neffe, nein. Blanche, komm' hierher.«

Er nahm das Kind in seine Arme, betrachtete es aufmerksam und küßte es.

»Du hast mir niemals Schmerz bereitet, Blanche. Sprich: ›Gott segne Dich und stehe Dir bei, Vater!‹«

»Gott segne meinen lieben, lieben Papa und stehe ihm bei!« sagte Blanche, ihre kleinen Händchen wie zum Gebete faltend.

»So – das muß mir Glück bringen, Blanche!« rief der Capitän heiter und ließ sie wieder niedergleiten. Hierauf nahm er seinen Stock aus den Händen des Dieners, setzte mit entschlossener Miene seinen Hut auf und machte sich kühn und muthig auf den Weg. Ich sah ihn vom Fenster aus so munter und fröhlich durch die Straßen schreiten, als gälte es die Belagerung von Badajoz Eine der blutigsten Belagerungen während der Napoleonischen Kriege (1812); die englisch-portugiesische Armee unter Arthur Wellesley entriss am Ende die spanische Stadt Badajoz ihrer französischen Besatzung. Nach der Erstürmung plünderten die Sieger sie mutwillig, 4000 Spanier wurden dabei massakriert..

»Gott stehe Dir bei!« wiederholte ich unwillkührlich.

Und Blanche ergriff meine Hand und sagte in ihrer niedlichsten Weise (sie hatte gar viele niedliche Weisen!) –

»Ich wollte, Du würdest mit uns kommen, Vetter Sisty, und mir helfen, meinen Papa zu lieben. Armer Papa! er braucht uns beide – er braucht alle Liebe, die wir ihm geben können!«

»Ja wohl, meine kleine Blanche, und ich halte es für einen großen Fehler, daß wir nicht Alle beisammen bleiben. Dein Papa sollte, statt in seinen alten Thurm am Ende der Welt, in unser hübsches, bequemes Haus kommen, mit dem schönen Blumengarten, darin Du die Maikönigin wärst – vom Mai bis zum November! von der Ente gar nicht zu sprechen, welche noch viel klüger ist, als die Thiere in dem Fabelbuch, das ich Dir neulich gegeben.«

Blanche lachte und schlug ihre Händchen zusammen – »O, das wäre so hübsch! Aber,« – sie hielt plötzlich inne und fuhr dann ernsthaft fort – »aber dann, siehst Du, wäre der Thurm nicht da, den Papa so sehr lieb hat, und der ihn deßhalb gewiß auch wieder sehr lieb haben muß.«

Die Reihe des Lachens war nun an mir. »Ich merke, was Du willst, Du kleine Hexe,« sagte ich; »Du möchtest uns beschwatzen, bei Euch und den Eulen zu wohnen! Von Herzen gerne, was mich betrifft.«

»Sisty,« sagte Blanche mit einer erschreckenden Feierlichkeit in ihrem Gesichte, »weißt Du, was ich gedacht habe?«

»Nein, mein kleines Fräulein! – Nun? – Es muß wohl etwas sehr Tiefes sein – ich fürchte sogar, etwas Entsetzliches, nach Deinem ernsthaften Aussehen zu schließen.«

»Ich habe gedacht,« fuhr Blanche fort, ohne eine Muskel zu verziehen oder im geringsten zu erröthen – »ich habe gedacht, daß ich Deine kleine Frau sein wolle; und dann würden wir natürlich Alle beisammen wohnen.«

Blanche erröthete nicht, mir aber stieg das Blut in die Wangen. »Sage mir das zehn Jahre später, wenn Du es wagst, Du dreistes kleines Ding! Und nun gehe zu Mrs. Primmins und sage ihr, sie solle Acht auf Dich geben, denn ich muß Dir jetzt guten Morgen wünschen.«

Allein Blanche ging nicht fort und schien sich durch die Art, wie ich ihren beunruhigenden Vorschlag aufgenommen hatte, sehr beleidigt zu fühlen, denn sie zog sich schmollend in eine Ecke zurück und setzte sich mit großer Würde nieder. Dort verließ ich sie und trat meinen Weg zu Vivian an. Er war ausgegangen; da ich jedoch Bücher auf seinem Tische liegen sah und nichts zu thun hatte, beschloß ich, seine Rückkehr abzuwarten. Ich hatte genug von meinem Vater in mir, um sogleich in den Büchern Gesellschaft zu finden, und neben einigen ernsteren Werken, welche ich Vivian empfohlen, kamen mir gewisse französische Novellen unter die Hände, welche er sich aus einer Lesebibliothek verschafft hatte. Die Neugierde reizte mich, diese letzteren zu durchblättern, denn außer den alten classischen Romanen war mir dieser gewaltige Zweig der volksthümlichen französischen Literatur damals ganz fremd. Mein Interesse ward bald gefesselt – aber welch' ein Interesse! das Interesse, welches etwa ein Alp erregen könnte, wenn man wachend von ihm heimgesucht würde und sich alsdann die Aufgabe stellte, seine Natur zu untersuchen. Neben einem blendenden Scharfsinn und einer tiefen Kenntniß aller jener Höhlen und Winkel in der menschlichen Natur, welche Göthe im Auge gehabt haben muß, als er irgendwo sagte (wenn ich mich nämlich recht erinnere und nicht falsch citire, wofür ich nicht stehen will): ›Es liegt etwas in dem Herzen eines jeden Menschen, was uns, wenn wir davon wüßten, veranlassen würde, ihn zu hassen‹, – neben all' diesem und noch vielem Anderen, was von wunderbarer Kühnheit und Kraft des Verstandes zeugte, welche seltsame Uebertreibung – welche Nachäffung des Adels der Gesinnung – welch' unbegreifliche Verkehrtheit des Urtheils – welche verdammenswerthe Unsittlichkeit! Der wahre Künstler wird nothwendiger Weise oft unser Interesse für einen lasterhaften oder verbrecherischen Charakter in Anspruch nehmen, nichtsdestoweniger aber die Verdammung des Lasters oder des Verbrechens selbst uns freistellen. Hier jedoch fand ich mich aufgefordert, nicht nur für den Bösewicht lebhafte Theilnahme zu empfinden (was vollkommen zulässig wäre – ich interessire mich außerordentlich für Macbeth und Lovelace Der Bösewicht in »Clarissa« (1748), dem Briefroman des englischen Schriftstellers Samuel Richardson, der mit »Pamela« und »Clarissa« die Literatur der Empfindsamkeit begründete.), sondern der Schlechtigkeit selbst meine Bewunderung und mein Mitgefühl nicht zu versagen. Auch war es nicht die Verwirrung von Recht und Unrecht in den einzelnen Charakteren, was mich am meisten anwiderte, sondern vielmehr das Bild der Gesellschaft überhaupt, in so grauenhaften Farben gemalt, daß, wenn es der Wahrheit getreu gewesen wäre, statt einer Revolution eine Sündfluth hätte kommen müssen; es war der sorgfältig eingeflößte Haß des Armen gegen den Reichen – das sichtliche Bestreben, den Krieg zwischen den verschiedenen Klassen anzufachen – der Neid und die Eifersucht auf alles Bessere und Edlere, welche sich darin zu zeigen liebt, daß sie die Tugend nur einer Blouse zugesteht und die Behauptung aufstellt, ein Mann müsse ein Spitzbube sein, wenn er jenen Kreisen der Gesellschaft angehört, in welchen doch schon um der sorgfältigen Erziehung und des nothwendigen Einflusses der Verhältnisse willen Schlechtigkeit am wenigsten wahrscheinlich oder natürlich ist. Alles dieses und noch tausendmal schlimmere Dinge versetzten meinen Kopf in eine vollständige Verwirrung, als Stunde um Stunde verging und meine Blicke noch immer wie festgebannt an diesen Chimären und Typhonen Gestalt der griechischen Mythologie; Sohn der Gaia und des Tartaros; gilt als unbeschreiblich grässliches Ungeheuer., diesen Symbolen des zerstörenden Princips, hingen. »Armer Vivian!« sagte ich, als ich endlich aufstand, »wenn Du diese Bücher liesest, sei es aus Vergnügen daran oder aus Gewohnheit, so wundert es mich nicht, daß Du so abgestumpft gegen Recht und Unrecht bist, und Dein Gehirn eine große Vertiefung an der Stelle zu haben scheint, an welcher die Beule der ›Gewissenhaftigkeit‹ scharf hervorspringen sollte!«

Um übrigens diesen Teufelswerken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich bemerken, daß mir unter ihrer verpesteten Beihülfe die Zeit sehr rasch entschwunden war, und ich bei einem Blick auf meine Uhr zu meinem nicht geringen Erstaunen gewahrte, wie spät es geworden. Ich hatte eben beschlossen, einige Worte für Vivian zurückzulassen, welche eine Verabredung für den folgenden Tag enthalten sollten, und mich alsdann zu entfernen, als ich sein Klopfen an der Hausthüre vernahm – ein Klopfen, in welchem sehr viel Charakter lag – stolz, ungeduldig, unregelmäßig; kein zierliches, gleichmäßiges, wohlklingendes, anspruchsloses Klopfen, sondern ein Klopfen, welches das ganze Haus und die Straße herauszufordern schien – lärmend, prahlerisch, anstößig und beleidigend – » impiger« und » iracundus« Rastlos und jähzornig..

Der Tritt jedoch, den ich nun auf der Treppe hörte, paßte nicht zu dem Klopfen; er war leicht und zugleich fest, langsam, aber elastisch.

Das Dienstmädchen, welches die Thüre geöffnet, hatte Vivian ohne Zweifel von meiner Anwesenheit in Kenntniß gesetzt, denn er schien nicht überrascht, mich hier zu treffen, dagegen warf er jenen hastigen, argwöhnischen Blick im Zimmer umher, mit welchem wir uns umzusehen geneigt sind, wenn wir unsere Papiere offen liegen ließen und bei unserer Nachhausekunft irgend einen Müßiggänger, der in keiner Weise unser volles Vertrauen besitzt, inmitten der unbewachten Geheimnisse sitzend finden. Der Blick war nicht schmeichelhaft; allein mein Gewissen machte mir so wenig einen Vorwurf, daß ich alle Schuld auf Vivian's argwöhnischen Charakter im Allgemeinen schob.

»Drei Stunden wenigstens bin ich schon hier!« sagte ich boshaft.

»Drei Stunden!« – Abermals jener Blick.

»Und dies ist das schlimmste Geheimniß, das ich entdeckt habe!« – Dabei deutete ich auf die literarischen Manichäer Sekte im 3. Jh. im Stil eines Geheimbundes..

»O,« erwiederte er gleichgültig, »französische Romane! Da wundert es mich nicht, daß Ihr so lange geblieben. Eure englischen Romane kann ich nicht lesen – sie sind fad und abgeschmackt. Hier ist Wahrheit und Leben!«

»Wahrheit und Leben?« wiederholte ich, während sich jedes Haar auf meinem Haupte vor Erstaunen sträubte. »Dann lobe ich mir Lüge und Tod!«

»Sie gefallen Euch nicht – der Geschmack ist verschieden und läßt sich nicht erklären.«

»Ich bitte um Vergebung – der Eurige ist mir vollkommen erklärlich, wenn Ihr wirklich solche Ungeheuer von Schändlichkeit und Lasterhaftigkeit für Wahrheit und Leben haltet. Um des Himmels willen, mein lieber Freund, glaubt doch nicht, daß irgend ein Mann in England weiter kommen – überhaupt anderswohin kommen könne, als nach Old Bailey oder Norfolk Island Old Bailey: Krongericht in London, zuständig für Kapitalverbrechen – Norfolk Island: Insel etwa 1500 Kilometer östlich des australischen Kontinents, damals ein Sträflingslager für Verbrecher., wenn er solche verkehrte Weltansichten, wie ich sie hier finde, zur Richtschnur seines Lebens macht.«

»Wie viele Jahre seid Ihr älter, als ich,« frug Vivian spöttisch, »daß Ihr den Mentor spielen und mich die Welt kennen lehren wollt?«

»Vivian, es ist weder das Alter, noch die Erfahrung, welche hier sprechen, sondern etwas Weiseres, als diese – die Stimme des Herzens und die Stimme der Ehre.«

»Schon gut,« entgegnete Vivian mißmuthig, »laßt nur die armen Bücher in Ruhe; Ihr kennt ja mein Glaubensbekenntniß – daß Bücher wenig auf uns einwirken, weder in der einen, noch in der andern Weise.«

»Bei der großen ägyptischen Bibliothek und der Seele des Diodor, ich wünschte, Ihr könntet meinen Vater über diesen Punkt hören! Kommt,« fuhr ich mit aufrichtigem Mitleid fort –»kommt, es ist noch nicht zu spät – laßt' mich Euch mit meinem Vater bekannt machen. Ich will mich verpflichten, mein ganzes Leben lang französische Romane zu lesen, wenn Ihr nicht nach einer einzigen Unterredung mit Austin Caxton leichteren Herzens und mit einem fröhlicheren Antlitz nach Hause zurückkehrt. Kommt mit mir und seid heute unser Gast bei Tische!«

»Ich kann nicht,« versetzte Vivian in einiger Verlegenheit – »ich kann nicht, denn ich bleibe heute nicht in London. Ein andermal vielleicht – denn,« setzte er, jedoch ohne Herzlichkeit, hinzu, »ich denke, wir werden uns wohl wiedersehen.«

»Ich hoffe es,« sagte ich, ihm die Hand drückend, »und zweifle um so weniger daran, als ich Euch zum Trotze Euer Geheimniß – Eure Geburt und Abkunft – errathen habe.«

»Wie!« rief Vivian, indem er erblaßte und sich in die Lippen biß – »was wollt Ihr damit sagen? Sprecht!«

»Nun denn, seid Ihr nicht der verlorene Sohn des Obersten Vivian? Kommt, seid offen gegen mich – laßt uns Vertraute sein.«

Vivian seufzte mehrmals in seiner abgebrochenen Weise, setzte sich als dann und beugte sein Gesicht über den Tisch, ohne Zweifel in Verwirrung darüber, sich entdeckt zu sehen.

»Ihr seid der Wahrheit nahe gekommen,« sagte er endlich, »aber fragt mich jetzt nicht weiter. Eines Tages,« rief er mit Heftigkeit und plötzlich wieder aufspringend –« eines Tages sollt Ihr alles erfahren. Ja, eines Tages, so ich es erlebe, wenn jener Name hochstehen wird in der Welt! ja, wenn die Welt zu meinen Füßen liegt!«

Er streckte seine rechte Hand aus, als wolle er den leeren Raum erfassen; dabei erglühte sein Antlitz von einer wilden Begeisterung. Nach und nach verschwand dieselbe wieder, und mit einer leichten Rückkehr seines verächtlichen Lächelns sagte er – »Bis jetzt nur Träume – Träume! Und nun seht dieses Papier an.«

Er zog ein Blatt hervor, das mit Zahlen bedeckt war.

»Dies ist, glaube ich, der Betrag meiner Geldschuld an Euch; in einigen Tagen werde ich sie berichtigen. Gebt mir Eure Adresse.«

»O!« versetzte ich gekränkt, »wie könnt Ihr mir jetzt von Geld sprechen, Vivian?«

»Es ist einer jener Instinkte der Ehre, auf welche Ihr mich so oft hingewiesen habt,« antwortete er erröthend. »Vergebt mir!«

»Hier ist meine Adresse,« sagte ich, indem ich mich zum Schreiben niederbeugte, um meine verletzten Gefühle zu verbergen. »Ich hoffe. Ihr werdet oft Gebrauch von ihr machen und mir sagen, daß Ihr wohl und glücklich seid.«

»Wenn ich glücklich bin, so sollt Ihr es erfahren.«

»Ihr wünscht nicht, bei Trevanion eingeführt zu werden?«

Vivian zögerte. – »Nein, ich glaube nicht. Sollte ich je in den Fall kommen, so würde ich schreiben und Euch um einen Empfehlungsbrief bitten.«

Ich nahm meinen Hut und wollte gehen, denn ich fühlte mich noch immer kalt und schmerzlich berührt, als Vivian, wie in Folge eines unwiderstehlichen Antriebs, hastig auf mich zukam, seine Arme um meinen Nacken schlang und mich küßte, wie ein Knabe seinen Bruder küßt.

»Habt Geduld mit mir!« rief er mit unsicherer Stimme. »Ich dachte nicht, daß ich irgend Jemand so lieben könnte, wie Ihr mich gezwungen habt, Euch zu lieben – wenn auch noch so sehr gegen meinen Willen. Wenn Ihr nicht mein guter Engel seid, so ist es nur deßhalb, weil Natur und Gewohnheit zu mächtige Gegner für Euch sind. Ganz gewiß werden wir uns eines Tages wiedersehen. Inzwischen habe ich Zeit, mich zu überzeugen, ob wirklich die Welt ›meine Auster ist, die ich mit dem Schwerte öffnen kann.‹ Mein Wahlspruch ist: » Aut Caesar, aut nihilDiese auf einer Büste des Gajus Julius Caesar angebrachte Inschrift (»Entweder Kaiser oder gar nichts«) erkor sich der italienische Renaissancefürst Cesare Borgia (1475-1507) zur Maxime. (Das wird wohl all' mein Latein sein, was ich zu citiren vermöchte!) Wenn › Caesar‹, so werden mir die Menschen alle Mittel vergeben, die mich zu meinem Ziele führten; wenn ›nihil‹, so hat London einen Fluß, und kann ich mir in jeder Straße einen Strick kaufen!«

»Vivian! Vivian!«

»Geht jetzt, mein lieber Freund, so lange mein Herz noch weich ist – geht, ehe Euch der ursprüngliche Adam wieder erschreckt. Geht, geht!«

Und Francis Vivian ergriff sanft meinen Arm, zog mich aus dem Zimmer, kehrte in dasselbe zurück und schloß die Thüre hinter sich zu.

Ah! hätte ich ihm Robert Hall statt jener abscheulichen Thyphone zurücklassen können! Aber würde diese Arznei für seinen Fall gepaßt haben? oder mußte die bittere Erfahrung ernstere Recepte mit ihrer eisernen Hand für ihn aufzeichnen?


Zweites Kapitel.

Roland war noch nicht zurückgekehrt, als ich unmittelbar vor Tische zu Hause anlangte. Spät am Abend endlich erschien er, und unser Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als wir gleichzeitig aufstanden, um ihn zu begrüßen; sein Antlitz jedoch glich einer Maske – es war verschlossen, starr und unleserlich.

Sorgfältig schloß er die Thüre hinter sich, trat an das Kamin, blieb einige Augenblicke aufrecht und ruhig davor stehen und frug sodann –

»Ist Blanche zu Bett gegangen?«

»Ja,« erwiederte meine Mutter, »sicherlich aber schläft sie noch nicht. Ich mußte ihr versprechen, sie von Deiner Rückkehr in Kenntniß zu setzen.«

Roland's Stirne glättete sich.

»Willst Du so gut sein, Schwester,« sagte er, langsam, »morgen die nöthige Trauerkleidung für sie zu besorgen? Mein Sohn ist todt.«

»Todt!« riefen wir mit Einer Stimme und umringten ihn wie aus einem gemeinschaftlichen Antriebe.

»Todt! Unmöglich – Du könntest es nicht so ruhig aussprechen. Todt! Woher weißt Du es? Du bist vielleicht getäuscht worden. Wer theilte Dir die Nachricht mit? Wie kannst Du daran glauben?«

»Ich habe seine Ueberreste gesehen!« erwiederte mein Onkel mit derselben düstern Ruhe. »Wir wollen Alle Trauer um ihn anlegen, Pisistratus. Du bist nun der Erbe meines Namens wie Du der Erbe desjenigen Deines Vaters bist. Gute Nacht; entschuldigt mich, Ihr Lieben Alle, die Ihr so gut und freundlich gegen mich seid! Ich bin matt und erschöpft.«

Roland zündete sein Licht an und verließ das Zimmer, in welchem wir wie vom Donner gerührt zurückblieben; gleich darauf trat er jedoch wieder ein, schaute sich um, nahm sein Buch, das bei jener Lieblingsstelle aufgeschlagen war, nickte uns abermals zu und verschwand. Wir blickten uns an, als hätten wir ein Gespenst gesehen. Dann erhob sich mein Vater und folgte Roland auf sein Zimmer, woselbst er blieb, bis die Nacht beinahe vorüber war. Meine Mutter und ich gingen nicht zu Bette, bis er zurückkehrte. Sein mildes Antlitz drückte tiefe Trauer aus.

»Wie ist es, Vater? Kannst Du uns mehr sagen?«

Mein Vater schüttelte den Kopf.

»Roland bittet, Ihr möchtet dieselbe Schonung gegen ihn beobachten, wie bisher, und seines Sohnes Namen niemals in seiner Gegenwart erwähnen. Friede sei mit den Lebenden, wie mit den Todten! Kitty, dies verändert unsern Plan; wir müssen Alle nach Cumberland gehen – wir können Roland jetzt nicht verlassen!«

»Armer, armer Roland!« sagte meine Mutter unter Thränen. »Und denken zu müssen, daß Vater und Sohn nicht ausgesöhnt waren! Aber Roland verzeiht ihm jetzt – o, ja – jetzt!«

»Es ist nicht Roland, den wir tadeln dürfen,« versetzte mein Vater beinahe heftig, »es ist – doch genug. Wir müssen so sehr, als möglich eilen, die Stadt zu verlassen; in der heimathlichen Luft seiner alten Ruinen wird Roland wieder genesen.«

Traurig gingen wir zu Bette. »Und so endet die eine große Aufgabe meines Lebens!« dachte ich bei mir. »Wie hatte ich gehofft, diese Beiden wieder zusammen zu bringen! Aber ach, das Grab ist der beste Friedensstifter!«


Drittes Kapitel.

Mein Onkel verließ drei Tage lang sein Zimmer nicht und war während dieser Zeit viel mit einem Advokaten eingeschlossen; einige Worte, welche mein Vater fallen ließ, schienen anzudeuten, daß der Verstorbene Schulden hinterlassen, und der arme Capitän in Folge davon sein kleines Vermögen angreifen müsse. Da Roland gesagt hatte, er habe die Ueberreste seines Sohnes gesehen, so nahm ich es anfänglich als ausgemacht an, daß wir der Beerdigung beiwohnen würden; mit keinem Worte wurde dieselbe jedoch erwähnt. Am vierten Tage bestieg Roland in tiefer Trauer und von dem Advokaten begleitet eine Miethkutsche; seine Abwesenheit dauerte etwa zwei Stunden, und ich zweifelte nicht, daß er in aller Stille seinem Sohne den letzten traurigen Dienst erwiesen. Nah seiner Rückkehr schloß er sich für den Rest des Tages wieder ein und wollte nicht einmal meinen Vater sehen; am andern Morgen aber nahm er wie gewöhnlich seinen Platz in unserm kleinen Kreise wieder ein und erschien mir sogar heiterer, als ich ihn je früher gesehen. Ob er uns nun täuschen wollte oder ob das Schlimmste nun vorüber und das Grab weniger grausam, als die Ungewißheit war – vermochte ich nicht zu entscheiden. Am folgenden Tage brachen wir Alle nach Cumberland auf.

In der Zwischenzeit war Onkel Jack fast immer bei uns gewesen und schien – ich muß ihm diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – lebhafte und ungeheuchelte Theilnahme an dem Unglück zu nehmen, welches Roland befallen hatte. Es fehlte Onkel Jack in der That nicht an Güte des Herzens, wenn man geradeaus auf das letztere losging; dagegen war es schwer zu finden, wenn man den Umweg durch die Taschen wählte. Der würdige Spekulant hatte mancherlei Geschäfte mit meinem Vater zu bereinigen, ehe wir die Stadt verließen. Die Anti-Buchhändler-Gesellschaft war in's Leben getreten, und durch die hebärztliche Beihülfe dieser Genossenschaft sollte das große Buch in die Welt eingeführt werden. Das neue Journal, die Literarische Times, war ebenfalls weit vorgerückt, jedoch noch nicht ausgegeben. Es fanden Vorbereitungen für sein Erscheinen in großartigem Maßstabe statt, und zwei oder drei schwarz gekleidete Herrn – von denen der Eine wie ein Advokat, der Andere wie ein Buchdrucker und der Dritte ganz und gar wie ein Jude aussah – kamen zweimal mit Papieren von beinahe schreckenerregendem Aussehen in unser Haus. Nachdem alle diese Einleitungen getroffen worden, klopfte Onkel Jack meinem Vater auf den Rücken mit den Worten –

»Ruhm und Vermögen sind nun gesichert! – Du kannst ruhig schlafen gehen, denn Du lässest mich mit weit geöffneten Augen zurück. Jack Tibbets schläft nie!«

Es war mir aufgefallen, daß seit meinem plötzlichen Austritt aus Mr. Trevanion's Hause weder dieser, noch Lady Ellinor uns irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt hatte. An dem letzten Abende vor unserer Abreise jedoch erhielt ich ein sehr freundliches Billet von Mr. Trevanion, welches von seinem Lieblings-Landsitze aus datirt und von einigen seltenen Büchern – als Geschenk für meinen Vater – begleitet war. Er theilte mir in wenigen Worten mit, daß ein Krankheitsfall in seiner Familie eingetreten sei und ihn genöthigt habe, um einer Luftveränderung willen die Stadt zu verlassen, daß Lady Ellinor jedoch hoffe, meine Mutter in der nächsten Woche besuchen zu können. Unter seinen Büchern habe er einige seltene Werke aus dem Mittelalter gefunden, unter andern eine vollständige Ausgabe des Cardan Siehe Anm. 77., welche, wie er wisse, meinem Vater Freude machen werde, und die er ihm deßhalb sende. Das Billet enthielt nicht die leiseste Anspielung auf das, was zwischen uns vorgefallen war.

In meinem Antwortschreiben drückte ich den Dank meines Vaters – welcher den Cardan (Lyoner Ausgabe, 1663, zehn Foliobände) wie der Seidenwurm ein Maulbeerblatt verschlang – sowie unser gemeinsames Bedauern aus, daß wir nicht mehr hoffen dürften, Lady Ellinor zu sehen, indem wir im Begriffe stünden, London zu verlassen. Ich wollte einige Worte über den Verlust, der meinen Onkel betroffen, hinzusetzen, allein mein Vater war der Ansicht, da Roland jede Erwähnung seines Sohnes selbst von Seiten seiner nächsten Verwandten so ängstlich vermieden zu sehen wünsche, so werde er natürlicher Weise seinen Schmerz noch weniger außerhalb dieses Kreises zur Schau tragen wollen.

Ein Krankheitsfall war also in Trevanion's Familie eingetreten! Wer aber mochte wohl erkrankt sein? Ich konnte mich mit diesem unbestimmten Ausdruck nicht zufrieden geben und trug meine Antwort selbst in Trevanion's Haus, anstatt sie durch die Post zu senden. Auf mein Befragen erfuhr ich denn von dem Portier, daß die ganze Familie Ende der Woche zurückerwartet werde, und daß, so viel er gehört, Lady Ellinor und Miß Trevanion ziemlich unwohl gewesen, beide aber sich jetzt wieder besser befänden. Ich übergab mein Schreiben zu weiterer Besorgung und entfernte mich, während meine Wunde von Neuem blutete.

Wir hatten auf unserer Reise die Kutsche ganz für uns, und zwar war es eine sehr schweigsame Fahrt, bis wir eine kleine Stadt, etwa drei Stunden von meines Onkels Wohnort entfernt, erreichten, von wo aus wir einen Nebenweg einschlagen mußten. Mein Onkel bestand darauf, noch an demselben Abend allein weiter zu reisen; denn, obgleich er geschrieben und seinen alten Diener auf unsere Ankunft vorbereitet hatte, so war er doch unruhig und ängstlich, der alte Thurm möchte sich nicht in seinem besten Lichte zeigen. So reiste er uns denn voraus, und wir blieben die Nacht in dem Gasthof.

Den folgenden Tag mietheten wir bei Zeit eine Eilkutsche – ein gewöhnlicher Wagen würde nicht Raum genug für uns und meines Vaters Bücher geboten haben – und holperten durch ein Labyrinth von elenden, schmalen Straßen und Wegen, deren ursprünglicher chaotischer Zustand niemals von einem Marshall Wade George Wade (1673-1748), britischer Feldmarschall; wurde 1724 von Georg I. als Inspekteur nach Schottland gesandt; empfahl den Bau von Kasernen, Brücken und stabilen Straßen, um die Herrschaft in dieser Region zu erleichtern. Zwischen 1725 und 1737 überwachte Wade den Bau von 400 Kilometer Straßen und 40 Brücken. verbessert worden war. Die arme Mrs. Primmins und der Kanarienvogel schienen jedoch allein die Stöße zu empfinden. Die Erstere, welche uns gegenüber saß und zwischen eine Unzahl von Gepäckstücken eingekeilt war, die sämmtlich die Aufschrift trugen »Darf nicht umgedreht werden« (weßhalb, weiß ich nicht, denn es waren lauter Bücher, deren Werth wohl derselbe blieb, ob sie oben oder unten lagen) – die Erstere, sage ich, breitete ihre Arme über jene disjecta membra Versprengte Glieder (nach Horaz, Satiren I, 4, V. 62). aus und hielt sich mit beiden Händen an den Wagenfenstern fest, so daß sie dasaß, wie der Doppeladler des östreichischen Kaiserreichs – es wäre in der That zu wünschen, jener Doppeladler möchte heut' zu Tage eben so fest und sicher sitzen Anspielung auf die Erschütterungen Österreichs durch die Revolution von 1848. » The Caxtons« erschien 1849., wie Mrs. Primmins! Was den Kanarienvogel betraf, so versäumte er nie, durch ein erstauntes Zwitschern die verschiedenen Ausrufungen, wie »Barmherziger Himmel!« und »Gott steh' uns bei!« zu beantworten, welche bei jedem neuen Stoß mit dem ganzen emphatischen Schmerz des »??, ??!« in einem griechischen Chor von Mrs. Primmins Lippen brachen.

Während dieser Zeit war mein Vater, den breiten Hut in die Stirne gedrückt, in tiefe Gedanken versunken. Die Scenen seiner Jugend tauchten vor ihm auf, und seine Erinnerung trug ihn, wie mit Geisterschwingen, unberührt über Stock und Stein. Meine Mutter, welche ihm zur Seite saß, hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt und beobachtete eifersüchtig den Ausdruck seiner Züge. Glaubte sie wohl, in diesem gedankenvollen Antlitz spreche sich Schmerz und Sehnsucht nach der alten Liebe aus? Blanche, die sehr betrübt gewesen und viel geweint hatte, seitdem man ihr die Trauerkleidung angelegt und ihr gesagt hatte, sie habe keinen Bruder mehr (obgleich sie sich seiner gar nicht erinnerte), begann nun, kindische Neugierde und großen Eifer zu zeigen, ihres Vaters geliebten Thurm zuerst zu entdecken. Ich hatte sie auf meine Knie gesetzt und theilte ihre Ungeduld. Endlich zeigte sich ein Kirchthurm – eine Kirche – daneben ein einfaches, viereckiges Gebäude, das Pfarrhaus (meines Vaters alte Heimath) – eine lang gestreckte Straße, wo Bauernhütten mit ärmlichen Kramläden und hin und wieder mit einem besser aussehenden Hause abwechselten – und im Hintergrunde eine graue, formlose Masse von Gemäuer und Ruinen auf einer jener Anhöhen, auf welchen die Dänen ihre Lager aufzuschlagen oder Befestigungswerke anzulegen liebten; ein hoher, kunstloser anglonormannischer Thurm ragte inmitten der Ruinen empor. Wenige Bäume umgaben dieselben, und zwar mit Ausnahme einer einzigen mächtigen Eiche, welche unbeschädigt geblieben, waren es nur Pappeln oder Forchen Kiefern.. Der Weg führte nun hinter dem Pfarrhaus steil in die Höhe. Und was für ein Weg! – die ganze Dorfgemeinde hätte dafür ausgepeitscht zu werden verdient! Wenn ich seiner Zeit so kühn gewesen wäre, eine solche Straße auch nur auf der Karte Dr. Hermann vorzulegen, so hätte ich mich während einer ganzen Woche nicht beruhigt niedersetzen können!

Plötzlich blieb die Kutsche stehen.

»Wir wollen aussteigen,« rief ich, öffnete den Schlag und sprang, auf die Erde, den Andern mit gutem Beispiel vorangehend.

Blanche folgte, meine verehrten Eltern kamen nach, und Mrs. Primmins war im Begriff, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen.

» Papae!« sagte mein Vater, »ich glaube, Mrs. Primmins, Sie sollten sitzen bleiben, um die Bücher vor dem Fallen zu bewahren.«

»Allmächtiger Himmel!« rief Mrs. Primmins entsetzt.

»Die Entfernung einer solchen Masse oder moles – geschmeidig und elastisch, wie alles Fleisch ist, und die harten Ecken der trägen Materie ausfüllend – eine solche Subtraction, Mrs. Primmins, würde ein vacuum zurücklassen, welches kein natürliches System, sicherlich keine künstliche Organisation auszuhalten vermöchte. Ein förmlicher Tanz von Atomen wäre unvermeidlich, Mrs. Primmins; meine Bücher würden da- und dorthin fliegen, auf den Boden, zum Fenster hinaus!

Corporis officium est quoniam omnia deorsum.‹ Lukrez, De rerum natura, I, 363. Die Aufgabe eines Körpers, gleich dem Ihrigen, Mrs. Primmins, ist es, alle Dinge niederzudrücken – sie fest beisammen zu halten wie Sie eines Tages erfahren werden – das heißt, wenn Sie mir den Gefallen erweisen wollen, den Lucrez zu lesen und sich jene materielle Philosophie zu eigen zu machen, von welcher, wie ich ohne Schmeichelei sagen kann, Sie, Mrs. Primmins, eine lebendige Illustration sind.«

Es waren dies die ersten Worte, welche mein Vater gesprochen, seitdem wir das Wirthshaus verlassen hatten, und sie schienen meiner Mutter die Beruhigung zu geben, daß sie in Bezug auf den Charakter seiner Gedanken keine Besorgniß zu hegen brauchte, denn ihre Stirne klärte sich auf, und sie sagte lachend:

»Betrachte nur die arme Primmins und dann diesen Berg!«

»Meinethalben magst Du die Primmins subtrahiren, wenn Du die Verantwortung für den Rest übernehmen willst, Kitty. Allein ich sage Dir zum Voraus, daß es gegen alle Gesetze der Physik ist.«

Mit diesen Worten eilte er leichten Fußes einige Schritte vorwärts, blieb alsdann, seinen Arm in den meinigen legend, stehen, blickte sich um und athmete tief auf, wie wir mit einer dankbaren und liebevollen Empfindung die heimathliche Luft einzuathmen pflegen.

»Und doch muß man zugeben,« sagte mein Vater, »daß keine häßlichere Gegend außerhalb Cambridgeshire gefunden werden kann« Dies dürfte von Cumberland im Allgemeinen gewiß nicht behauptet werden, denn es ist eine der schönsten Grafschaften Großbritanniens. Der Bezirk jedoch, auf welchen sich Mr. Caxton's Ausruf unmittelbar bezieht, ist allerdings – wenn auch nicht häßlich, doch jedenfalls wild, rauh und öde. [Anm.d.Verf.].

»Nicht doch,« erwiederte ich; »sie ist kühn, großartig und nicht ohne eine eigenthümliche Schönheit. Es liegt unbestreitbar ein gewisser Zauber in der Wildheit und Einsamkeit jener endlosen, wellenförmigen, unbebauten, baumlosen Strecken. Und wie gut sie zu dem Charakter der Ruine passen! Hier erinnert alles an die alten Ritterzeiten – ich verstehe Roland jetzt besser.«

»Wenn doch nur mein Cardan nicht zu Schaden kömmt!« rief mein Vater. »Er ist sehr hübsch gebunden und paßte so gut in den fleischigsten Theil dieser unruhigen Primmins.«

Blanche war uns inzwischen weit vorausgeeilt, und ich suchte sie nun so rasch, als möglich einzuholen. Die Ueberreste jenes tiefen Grabens, welcher die Lieblingsbefestigung aller teutonischen Stämme Bulwer verwendet hier den Begriff »teutonisch« nicht in der Bedeutung »deutsch«, die auch eine falsche Ableitung darstellt, sondern als Bezeichnung jenes germanischen Volkes der Antike, das ursprünglich im heutigen Jütland lebte. ausmachte, umgaben die Ruine auf drei Seiten, während an der vierten ein rauher Hügel sich erhob. An die Stelle der Zugbrücke war jedoch ein auf Backsteinbogen ruhender Uebergangsweg getreten, und das äußere Thor bildete nur noch eine zertrümmerte, malerische Steinmasse. Beim Eintritt in den Hof erblickte man gerade vor sich den alten Schloßdamm, auf welchem vor Alters Recht gesprochen wurde; er war etwas höher, als die ihn umgebenden verfallenen Mauern und theilweise von Gestrüpp überwachsen. Und hier stand nun – in Vergleich mit den andern Ruinen ganz und wohl erhalten – der Thurm oder die Veste, aus deren Portal der alte Veteran hervortrat.

Seine Vorfahren würden uns vielleicht glänzender empfangen haben, sicherlich aber hätten sie uns nicht wärmer begrüßen können. Roland schien in der That auf seinem eigenen Grund und Boden ein ganz anderer Mann zu sein. Seine Steifheit, welche für Diejenigen, die sie nicht verstanden, etwas Abstoßendes hatte, war ganz verschwunden; selbst sein Stolz trat weniger hervor, weil er hier an seinem Platze war. Wie ritterlich bot er – nicht seinen Arm nach unserer modernen Weise – sondern seine rechte Hand meiner Mutter dar; wie vorsichtig führte er sie über Steine und Sträucher durch die niedrige, gewölbte Thüre, wo ein langer Diener, der, wie leicht zu ersehen, Soldat gewesen war – ohne Zweifel genau in der Livree, welche durch die heraldischen Farben geboten wurde (er trug rothe Strümpfe!) – gleich einer Schildwache stand. Der Anblick der Halle überraschte uns nicht wenig, einen so freundlichen, ja heiteren Eindruck machte sie auf uns. In dem großen Kamine brannte ein lustiges Feuer, was, obschon es noch Sommer war, keineswegs überflüssig schien, denn die Wände waren von Stein, das hohe Dach bis zu dem Sparrenwerk offen und die kleinen, schmalen Fenster so hoch oben und so tief in die Mauer eingesenkt, daß man in einem Gewölbe zu sein glaubte. Dennoch war der Raum, wie schon gesagt, freundlich und behaglich, was er hauptsächlich dem Feuer verdankte, theilweise aber auch einer sehr sinnreichen Zusammenstellung von alten Teppichen und Mattenwerk, welche den untern Theil der Wände bedeckten, sowie der übrigen Einrichtung, die dem Geschmack meines Onkels für das Malerische Ehre machte. Nachdem wir alles gehörig betrachtet und bewundert hatten, führte uns Roland nicht eine jener schönen, edlen Treppen, wie man sie in späteren Herrenhäusern findet – sondern eine kleine steinerne Wendeltreppe hinan in die für seine Gäste bestimmten Räume. Zuerst betraten wir ein kleines Gemach, welches er meines Vaters Studirzimmer nannte – und in der That würde es wohl jedem Denker oder Heiligen zugesagt haben, der sich von der Welt abzuschließen wünschte, hätte aber auch für das Innere einer jener Säulen gelten können, welche die Styliten »Säulenheilige«, die zum Zeichen besonderer Askese ab dem 4./5. Jh. ihr Leben auf dem Kapitell einer Säule zubrachten. bewohnten; denn man konnte nur mit Hülfe einer Leiter zu dem kleinen Fenster gelangen, und alsdann mochte vielleicht die Sehkraft eines nicht kurzsichtigen Mannes über den Zwischenraum in der dicken Mauer hinabreichen, in welchem Fall man aber zuletzt doch immer nur den Anblick eines Cumberländer Himmels und etwa zuweilen einer Mandelkrähe gewann. Mein Vater legte jedoch, wie ich schon früher bemerkt zu haben glaube, keinen großen Werth auf schöne Landschaften und sah sich daher mit großer Befriedigung in der ihm angewiesenen Zelle um.

»Die Brettchen für Deine Bücher können wir in kürzester Zeit anbringen,« sagte mein Onkel, sich die Hände reibend.

»Das wäre ein Werk der Barmherzigkeit,« versetzte mein Vater, »denn die armen Dinger haben lange liegen müssen und würden sich jetzt ohne Zweifel sehr gerne ein wenig ausstrecken. Mein lieber Roland, dieses Zimmer ist für Bücher wie geschaffen – so rund und so tief. Ich werde hier sitzen, wie die ›Wahrheit in einem Brunnen‹ Dieser Ausdruck dem antiken Philosophen Kleanthes, aber auch Demokrit zugeschrieben, letzteres bei Cicero, Academica, I, 10.

»Und hier ist ein Zimmer für Dich, Schwester, gerade neben an,« fuhr mein Onkel fort, indem er uns durch eine kleine, niedrige, gefängnißartige Thüre in ein sehr hübsches Gemach führte, dessen Fenster tief herunter ging und mit einem eisernen Balcon versehen war. »Neben diesen kömmt alsdann das Schlafzimmer. Was nun aber Dich betrifft, Pisistratus, mein Junge, so fürchte ich, Du wirst Dich mit einem Soldatenquartier begnügen müssen. Aber laß' Dich dies nicht bekümmern; in ein oder zwei Tagen werden wir es so schön hergestellt haben, daß es würdig wäre, den General Deines berühmten Namens aufzunehmen – denn Pisistratus der Erste war doch wohl ein großer General – nicht wahr, Bruder?«

»Wie alle Tyrannen,« erwiederte mein Vater. »Das Soldatenspiel ist ihnen unentbehrlich«

»O, hier magst Du sagen, was Du willst!« entgegnete Roland in bester Laune, indem er mich die Treppe hinabzog und sich noch immer so ernstlich wegen meines Quartiers entschuldigte, daß ich mich darauf gefaßt machte, in eine oubliette Verlies. versetzt zu werden. Mein Verdacht verminderte sich nicht, als ich sah, daß wir die Veste verlassen und uns einen Weg in einen förmlichen Schutthaufen – ein solcher wenigstens schien es mir zu sein – auf der rechten Seite des Hofes bahnen mußten. Um so angenehmer war dann aber meine Ueberraschung, inmitten dieser Trümmer ein Zimmer mit einem großen, schönen Fenster zu finden, von dem aus man die ganze Gegend überblickte; unmittelbar davor war der Boden in einen Garten umgewandelt. Die Einrichtung des Zimmers, obgleich einfach, ließ nichts zu wünschen übrig. Fußboden und Wände waren gut mit Matten versehen, und so schien es mir denn im Ganzen, als hätte ich nicht besser einquartirt werden können, trotz der Unbequemlichkeit, daß ich, um zum übrigen Hause zu gelangen, über den Hof gehen mußte, und der neumodische Luxus einer Glocke hier nicht anzutreffen war.

»Das ist ja aber ein reizender Aufenthaltsort, mein lieber Onkel! Ich wette, es war dies der Gartensalon der Damen de Caxton – der Himmel habe sie selig!«

»Nein,« entgegnete mein Onkel ernsthaft, »ich vermuthe, es muß das Zimmer des Kaplans gewesen sein, denn zur Rechten davon war die Kapelle. Eine ältere Kapelle befand sich früher in dem Thurm – denn in einer wirklichen Veste dürfen Kapelle, Brunnen und Halle nicht fehlen. Von der ersteren kann ich Dir noch einen Theil des Daches zeigen, und die beiden letzteren sind noch ganz erhalten. Der Brunnen ist sehr künstlich in einer Ecke der Halle in der Mauer angebracht. Zu den Zeiten Karl's des Ersten ließ unser Vorfahre seinen einzigen Sohn in einem Eimer hinunter und hielt ihn so sechs Stunden verborgen, während ein boshafter Pöbel den Thurm stürmte. Ich brauche nicht zu sagen, daß unser Ahnherr selbst es verschmähte, sich vor einem solchen Gesindel zu verbergen, denn er war ein erwachsener Mann. Der Knabe wuchs zu einem traurigen Verschwender heran und gebrauchte den Brunnen, um seinen Wein darin kühl zu erhalten. Mancher Morgen Landes ist seine Kehle hinuntergerollt.«

»An Deiner Stelle würde ich ihn aus dem Stammbaum auskratzen. Aber sage mir, hast Du nicht entdeckt, welches Zimmer der große Sir William bewohnte, in Betreff dessen mein Vater so schmachvolle Zweifel unterhielt?«

»Ich will Dir ein Geheimniß anvertrauen,« erwiederte der Capitän, indem er mir einen gelinden Rippenstoß versetzte; »ich habe Deinen Vater darin einquartirt! Ueber dem Kamin ist die Yorkische Rose angebracht, und in den Spitzen derselben sind die Anfangsbuchstaben W. C. und die Jahreszahl, drei Jahre vor der Schlacht bei Bosworth, eingegraben.«

Ich konnte nicht umhin, in meines Onkels tiefes, grimmiges Lachen über diesen bezeichnenden Scherz einzustimmen, und, nachdem ich ihn über diese so scharfsinnige Art, seinen Beweis zu führen, beglückwünscht hatte, frug ich ihn, wie es ihm möglich gewesen, die Ruine in so guten Stand zu setzen, hauptsächlich, da er nie längere Zeit dort zugebracht hatte, seitdem sie in seinen Besitz übergegangen war.

»Vor einigen Jahren,« versetzte er, »wurde jener arme Bursche, den Du nun als meinen Bedienten siehst, und der zugleich Gärtner, Verwalter, Haushofmeister, Kellermeister und alles ist, wozu Du ihn machen willst, auf die Invalidenliste gesetzt und aus dem Militärdienst entlassen. So stellte ich ihn hier an, und da er ein vortrefflicher Zimmermann ist, sowie eine gute Erziehung genossen hat, so sagte ich ihm, wie ich alles haben wollte, und legte jedes Jahr eine kleine Summe für Ausbesserungen und Einrichtung zurück. Es ist erstaunlich, wie wenig es mich kostete, denn Bolt (so heißt der arme Bursche) hatte den rechten Geist der Sache erfaßt, und den größten Theil der Einrichtung, welche, wie Du siehst, alterthümlich und passend ist, kaufte er in den verschiedenen Meiereien und Pachthöfen der Nachbarschaft zusammen. Wir haben da und dort noch eine ziemliche Anzahl Zimmer, allein –« mein Onkel wechselte leicht die Farbe, indem er hinzusetzte: »es fehlte mir in der letzten Zeit an übrigem Gelde. Doch komm',« fuhr er mit sichtlicher Anstrengung fort – »komm' und sieh' mein Standquartier; es ist auf der andern Seite der Halle und war ohne Zweifel früher die Vorrathskammer.«

Wir erreichten den Hof, als eben unsere Kutsche angekrochen kam; meines Vaters Kopf war bald tief in dieselbe vergraben er sammelte seine Packete und entsandte orakelartig unterschiedliche, halbunterdrückte Verweise und Anathemas gegen Mrs. Primmins und ihr Vacuum, während Erstere daneben stand, ihre Schürze ausgebreitet hielt, um die Packete und die Bannstrahlen gleichzeitig aufzunehmen, dabei ihre Augen mit der Milde eines Engels zum Himmel erhob und etwas von »armen alten Knochen« murmelte. Was jedoch Mrs. Primmins' Knochen betraf, so gehörten diese wohl seit zwanzig Jahren in das Reich der Fabeln, und eben so gut hätte man in dem fetten Boden von Romney Marsch Romney Marsh ist eine dünnbesiedelte Marschlandschaft in den Grafschaften Kent und East Sussex im Südosten Englands. einen Plesiosaurus finden können, als einen Knochen in jenen fleischigen Schichten, in welchen mein armer Vater seinen Cardan so gut aufgehoben geglaubt hatte.

Wir überließen die streitenden Parteien sich selbst und traten durch eine niedere Thüre in Roland's Zimmer. Ja, Bolt hatte in der That den Geist der Sache aufgefaßt! er war selbst bis in das Pathos eingedrungen, das in den Tiefen von Roland's Charakter lag. Buffon sagt: »Der Styl ist der Mensch;« hier aber war das Zimmer der Mensch. Jene nicht zu beschreibende, soldatische, schulgerechte Zierlichkeit und Pünktlichkeit, welche Roland eigen war – sie fiel auch hier zuerst in die Augen und blieb der Haupteindruck des Ganzen. Von den Einzelheiten will ich zuerst die starken, eichenen Gestelle nennen, auf welchen die Bücher standen, über die mein Vater, im Gegensatz zu seinem phantasiereichen Bruder, so gerne spottete – Froissart, Barante, Joinville, »Arthur's Tod«, »Amadis von Gallien«, Spenser's »Feen-Königin«, ein schönes Exemplar von Strutt's »Horda«, Mallet's »Nordische Alterthümer«, Percy's »Reliquien«, Pope's »Homer« Von Froissart bis Spenser (zu diesem siehe Anm. 367) handelt es sich um alte Ritter- und Feenromane; das Werk von Strutt (Joseph Strutt: Horda Angel-cynnan. 1774-76) stellt eine Kulturgeschichte der angelsächsischen Völker Englands bis zu Heinrich VIII. dar; Mallets » Northern Antiquities« war eine englische Übersetzung (1770) eines ursprünglich auf Französisch erschienenen Werkes des Schweizer Autors zur alten skandinavischen Literatur; die » Reliques« waren eine Anthologie von englischen Sagen, Balladen, Straßenliedern, Gedichten und Abenteuergeschichten, die Thomas Percy 1765 herausgegeben hatte; Popes Homerübersetzung, z.T. mit Hilfe von Ko-Autoren verfertigt, erschien zwischen 1715 und 1726 und hat in England eine ähnliche Stellung wie in Deutschland die von Johann Heinrich Voß., Werke über Artillerie, über den Gebrauch des Bogens, über Falkenjagd und Befestigungskunst – altes Ritterthum und moderne Kriegführung, Wange an Wange.

Altes Ritterthum und moderne Kriegführung! – blicken wir nach jenem Turnierhelm mit dem hohen Busch der Caxtons – daneben eine Trophäe, ein französischer Küraß – dort das alte Banner (eines Ritters Fähnlein) – darunter zwei gekreuzte Bajonette. Ueber dem Kamin – blank und rein (ich wette, täglich abgestäubt!) – Roland's eigenes Schwert, seine Holstern und Pistolen, ja, der durchschossene und zerrissene Sattel, aus dem er gestürzt, als – ich rang nach Athem – mit Einem Blick sah ich alles vor mir! Leise schlich ich mich näher, und wäre Roland nicht da gewesen, ich hätte das Schwert mit nicht weniger Ehrfurcht an meine Lippen drücken mögen, als wenn es dasjenige eines Bayard oder Sidney gewesen wäre.

Mein Onkel war zu bescheiden, um meine Bewegung zu errathen; vielmehr glaubte er, ich habe mich abgewandt, um ein Lächeln über seine Eitelkeit zu verbergen, denn er sagte in einem entschuldigenden Tone – »Bolt, der närrische Kerl! – es ist alles sein Werk.«


Viertes Kapitel.

Roland bewirthete uns mit einer Gastfreiheit, welche einen auffallenden Gegensatz zu der sparsamen Lebensweise bildete, die wir in London an ihm gewöhnt waren. Natürlich hatte Bolt den großen Hecht gefangen, mit welchem das Festmahl begann; ebenso hatte Bolt ohne allen Zweifel jene schönen Hühner ab ovo Anspielung auf die Formulierung von Horaz in seiner Ars Poetica, V. 147ff., in der dieser einen idealen epischen Dichter als jemanden beschreibt, »der den Krieg um Troja nicht mit dem Zwillingsei [ ab ovo] beginnt, sondern den Leser gleich mitten ins Geschehen [ in medias res] führt«. Dabei geht es um eines der beiden Eier von Leda und dem als Schwan verwandelten Göttervater Zeus, aus dem Helena schlüpfte. Hätte Leda das Ei nicht gelegt, wäre Helena nicht geboren worden, folglich hätte Paris sie nicht entführt und es hätte den Krieg um Troja nie gegeben. aufziehen helfen; ferner war es ganz gewiß Bolt, aus dessen Händen jener vortreffliche spanische Eierkuchen stammte; und was das Uebrige betraf, so hatten sich wohl die Produkte der Schafweide und des Gartens als freiwillige Hülfstruppen gestellt – sehr verschieden von den feilen Rekruten, durch welche die großstädtischen Condottieri Söldnerführer, die von italienischen Stadtstaaten vom späten Mittelalter bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts beschäftigt wurden., die Fleischer und Gemüsekrämer, sich bemühen, jenes traurige Gemeinwesen, welches man mit dem Namen »gentile Armuth« bezeichnet, vollends zu Grunde zu richten.

Der Abend verfloß in allgemeiner Heiterkeit, und ganz gegen seine Gewohnheit war es Roland, der am meisten sprach. Elf Uhr hatte schon geschlagen, als Bolt mit einer Laterne erschien, um mich über den Hof nach meinem Schlafgemach unter den Ruinen zu geleiten – eine Ceremonie, welche er trotz wiederholter Einsprache jeden Abend pünktlich beobachtete, mochte die Nacht dunkel oder mondhell sein.

Es währte lange, bis ich einschlafen – bis ich glauben konnte, daß so wenige Tage nur verflossen, seit Roland den Tod seines Sohnes erfahren – jenes Sohnes, dessen Schicksal ihn so lange gequält hatte; und doch war mir Roland nie so frei von Kummer erschienen! War es natürlich oder war es erkünstelt? Mehrere Tage vergingen, ehe ich diese Frage – und auch dann nicht zu meiner vollen Befriedigung, beantworten konnte. Roland schien mir – jedenfalls aber nicht ohne Anstrengung – einem festen, systematischen Entschlusse zu folgen. Zuweilen konnte er den Kopf sinken lassen, die Augbrauen zogen sich zusammen, und der ganze Mann schien gebrochen zu sein. Doch, dies waren nur Augenblicke; er raffte sich wieder auf, gleich einem schlummernden Streitroß beim Schall der Trompete, und schüttelte die Last ab, die ihn bedrückte. Immerhin aber – mochte es nun die Kraft seines Entschlusses oder die Folge irgend einer andern Gedankenkette sein – täuschte ich mich nicht darüber, daß Roland's Trauer in Wirklichkeit weniger schwer und bitter war, als sie früher gewesen, oder als man naturgemäß hätte annehmen sollen. Er schien täglich mehr und mehr seine Liebe von dem Todten auf die Lebenden in seiner Umgebung hauptsächlich auf Blanche und mich zu übertragen und ließ es deutlich merken, daß er mich nun als seinen gesetzmäßigen Nachfolger, als den künftigen Träger seines Namens betrachtete. Besondere Freude gewährte es ihm, mir alle seine kleinen Plane anzuvertrauen und mich über dieselben zu Rathe zu ziehen. Er führte mich auf seinem Besitzthum, von welchen, ich später mehr sprechen werde, umher, zeigte mir von jeder Anhöhe aus, welche wir erstiegen, wo die ausgedehnten Ländereien seiner Vorfahren sich bis an den Horizont erstreckt hatten, entfaltete mit zarter Hand den alten, von der Zeit mürbe gewordenen Stammbaum und verweilte zögernd bei den Namen derjenigen seiner Vorfahren, welche kriegerische Posten bekleidet hatten oder auf dem Feld der Ehre geblieben waren. Da fand sich ein Kreuzfahrer eingezeichnet, welcher Richard nach Ascalon gefolgt war, dort ein Ritter, der bei Agincourt gekämpft hatte, hier ein Cavalier (dessen Bild mit schönen Schmachtlocken noch vorhanden war), welcher bei Worcester seinen Tod gefunden – ohne Zweifel derselbe, der seinen Sohn in den Brunnen vertiefte, welch' letzteren jener alsdann mit angenehmeren Erinnerungen in Verbindung brachte. Unter allen diesen Ehrenmännern war jedoch keiner, welchen mein Onkel – vielleicht aus reinem Widerspruchsgeist – so hochstellte, als jenen apokryphischen Sir William. Und weßhalb? – weil, als der abtrünnige Stanley dem Schlachtenglück bei Bosworth eine andere Wendung gab, und der Ruf der Verzweiflung – »Verrath – Verrath!« – von den Lippen des letzten Plantagenet ertönte, dieser tapfere Krieger – »treu erfunden unter den Treulosen« – sein Leben in dem löwenartigen Sturme aushauchte, mit welchen, Richard gegen den Feind anrannte. »Dein Vater sagt, Richard sei ein Mörder und Thronräuber gewesen,« bemerkte mein Onkel. »Das mag wahr sein, oder nicht. Jedenfalls war es nicht auf dem Schlachtfeld, daß seine Anhänger über den Charakter ihres Herrn, welcher ihnen vertraute, Betrachtungen anzustellen hatten, namentlich, wenn eine Legion fremder Miethlinge ihnen gegenüber stand. Ich möchte nicht von jenem Ueberläufer Stanley abstammen, und wenn ich damit Besitzer all' der Ländereien werden könnte, deren sich die Grafen von Derby Thomas Stanley, der während der Schlacht die Seiten gewechselt hatte, wurde 1485 von Heinrich VII. nach der Schlacht von Bosworth Field der Titel Earl of Derby verliehen. zu rühmen haben. Wer treu für seinen Herrn kämpft, streitet und stirbt für ein großartiges Princip, für eine erhabene Leidenschaft. Der wackere Sir William zahlte dem letzten Plantagenet Richard III. aus dem Hause York, der bei Bosworth fiel. die Wohlthaten zurück, die er von dem ersten Heinrich II., englischer König ab 1154. – »Die er empfangen hatte …«: Hierbei steht der Vorfahre William für ganz England. empfangen hatte!«

»Und doch möchte es zweifelhaft sein,« sagte ich boshaft, »ob nicht William Caxton, der Buchdrucker –«

»Die Pest über William Caxton, den Buchdrucker, sammt seiner Erfindung,« rief mein Onkel barbarisch. »So lange es nur wenige Bücher gab, waren diese wenigstens gut; nun es aber deren so viele gibt, wird jedes gesunde Urtheil untergraben, der Verstand verwirrt und die Cultur der guten Bücher mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, während die Neuerungen gleich einer Pflugschar das Land überziehen. Die Frauen werden verführt, die Männer verweichlicht, Staaten, Throne und Kirchen umgestoßen, ein Geschlecht schwatzhafter, eingebildeter Gecken wächst heran, welche zu jeder Zeit Gründe genug in ihren Büchern finden, um die Erfüllung ihrer Pflichten zu umgehen; Unzufriedenheit entsteht unter den Armen, Launen- und Grillenhaftigkeit unter den Reichen, und an die Stelle der alten, mannhaften Tugenden treten in unserer verfeinerten Zeit Witzelei und Sentimentalität! Früher fand alle Phantasie ihren Ausdruck in kühnem Streben und edlem Wirken, in Abenteuern, Unternehmungen und großen Thaten; jetzt aber ist nur Derjenige phantasiereich, welcher in der künstlichen Aufregung von Leidenschaften, die er niemals fühlte, und von Gefahren, die er nie theilte, seine Nahrung sucht und alles, was noch von Leben in ihm übrig ist, in dem erdichteten Liebesleid von Bond Street und St. James vertändelt. Neffe, die Ritterlichkeit hörte auf, als die Presse ihr Haupt erhob! Und von allen Menschen, die je gelebt und gesündigt haben, mir gerade Denjenigen als Ahnherrn aufzubürden, welcher am meisten zur Zerstörung dessen beitrug, was mir als Höchstes galt – der, beim Himmel! mit seiner fluchwürdigen Erfindung die Achtung vor den Ahnen nahezu völlig untergrub – das ist eine Grausamkeit, deren mein Bruder niemals fähig gewesen wäre, wenn der böse Geist jenes Buchdruckers nicht Macht über ihn hätte!«

Daß ein Mann im neunzehnten Jahrhundert der Gnade ein solcher Vandale sein – daß Onkel Roland so kurze Zeit nach meines Vaters wissenschaftlicher und gelehrter Rede über die Heilkraft der Bücher in einer Weise sprechen konnte, deren sich Totila Kein Vandale, sondern Ostgotenkönig Mitte des 6. Jh. selbst geschämt haben würde – dies war genug, um an dem Fortschritt des Geistes und an der Vervollkommnungsfähigkeit unseres Geschlechts Der Glaube an die » perfectibility of our species«, die ›Perfektibilität des Menschengeschlechts‹, war eine der Grundsäulen der Aufklärung gewesen und blieb in der Philosophie des deutschen Idealismus und in der deutschen Klassik weiter wirksam. zu verzweifeln. Und gleichwohl bin ich fest überzeugt, daß sich in den Taschen meines Onkels während dieser ganzen Zeit etliche Bücher befanden, unter welchen Robert Hall gewiß nicht fehlte! Er hatte sich in der That in eine Leidenschaft hineingeredet und wußte nicht, welchen Unsinn er sprach. Aber diese Explosion Capitän Roland's hat den Faden meines Gegenstandes abgerissen – ich muß Athem holen und von Neuem beginnen!

Ja, trotz meiner ungezogenen Neckereien in Betreff William Caxton's, des Buchdruckers, schenkte mir der alte Soldat seine Liebe und sein Vertrauen mehr und mehr. Außer unseren gemeinsam angestellten kritischen Untersuchungen über das frühere Eigenthum und den Stammbaum der Caxtons, führte er mich auf weiten Ausflügen nach entfernten Dörfer, wo vielleicht noch irgend ein Erinnerungszeichen an einen verstorbenen Caxton – ein Wappen oder eine Inschrift auf einem Grabstein – zu sehen war. Ferner mußte ich unterschiedliche topographische Werke und Grafschafts-Chroniken studiren (wobei er gänzlich vergaß, daß er diese glaubwürdigen Quellen alle dem verachteten Drucker verdankte!), um diese und jene Anekdote von seinen geliebten Todten aufzufinden. In Wahrheit zeigte die Grafschaft auf meilenweite Umgebung die vestigia Spuren. jener alten Caxtons, und ihre Handschrift fand sich auf mancher verfallenen Mauer. In Vergleich mit jenem großen Techniker im Sanctuarium von Westminster, an welchem mein Vater mit so großer Zähigkeit festhielt, mochten sie allerdings unbedeutend sein; allein, daß die vergangenen Tage, welche ihnen auf dem Wege zum Tode geleuchtet, kein Streiflicht auf entehrte Wappenschilde geworfen, schien aus der allgemeinen Achtung und traditionellen Anhänglichkeit, welche diesem Namen in Dorf und Hütte bewahrt wurde, klar hervorzugehen. Es war eine Freude, Zeuge der Verehrung zu sein, welche diesem bescheidenen Hidalgo Bezeichnet den niederen spanischen Adel (»Ritter«). mit seinem jährlichen Einkommen von dreihundert Pfund erwiesen wurde, sowie das patriarchalische Wohlwollen zu sehen, mit welchem er sie erwiederte. Roland nahm keinen Anstand, in die geringste Hütte zu treten, sein Korkbein am Herde ausruhen zu lassen und Stunden lang über das zu sprechen, was den Bewohnern zunächst am Herzen lag. Es herrscht ein eigenthümlicher aristokratischer Geist unter den Ackerbauern; sie lieben alte Namen und Familien und identifiziren sich mit den Ehren eines Hauses, als ob dieses ihrem eigenen Stamm angehöre. Reichthum gilt ihnen nicht so viel, als den mittleren Klassen und den Bewohnern der Städte, daher sie auch dem armen Adel eine achtungsvolle Theilnahme bewahren. Und dann konnte Roland – welcher in London in einer Garküche speiste und sich kleine Münze auf seinen Schilling herausgeben ließ, sowie den zu Grunde richtenden Luxus eines Miethcabriolets ängstlich vermied – hier wahrhaft verschwenderisch in seiner Freigebigkeit sein. Er war ein ganz anderes Wesen auf dem Grund und Boden seiner Väter. Der schäbig-gentile Halbsoldcapitän, der sich in dem Strudel von London verlor, schwelgte hier in einer würdevollen Ungezwungenheit, welche selbst Chesterfield Philip Dormer Stanhope, 4. Earl of Chesterfield (1694-1773), britischer Staatsmann und Schriftsteller. bewundert haben würde. Und wenn Beliebtheit ein Zeichen oder die Folge wahrer Höflichkeit ist, so wünschte ich nur, meine Leser hätten die freundlichen Gesichter sehen können, welche Capitän Roland zulächelten, wenn er – nach allen Seiten hin winkend – durch das Dorf schritt.

Eines Tages begegneten wir einer herzhaften, freimüthigen alten Frau, welche meinen Onkel als Knabe gekannt und ihn nun auf meinen Arm sich stützen sah; sie hielt uns an, um, wie sie sich in ihrer ungekünstelten Sprache ausdrückte, »mich einmal recht anzusehen Bulwer lässt die » Cumberland matron« im regionalen Dialekt sprechen: » take a ›geud luik‹«: » Hegh, sir, now you ha' the bra' time before you, you maun e'en try and be as geud as he. And if life last, ye wull too; for there never waur a bad ane of that stock …« usw.

Glücklicher Weise durfte ich es nicht scheuen, auch vor den Augen einer Cumberlander Matrone die Musterung zu passiren, und nach einem ComplimenteComplimente, welches Roland sehr zu freuen schien, fuhr sie fort, indem sie sich gegen mich wandte, dabei aber auf den Capitän deutete –

»Nun, junger Herr, Ihr habt noch eine schöne Zeit vor Euch; Ihr müßt eben versuchen, so brav zu werden, wie er. Und wenn Euch der Himmel das Leben läßt, so wird's auch wohl so kommen – denn es hat nie einen Schlechten gegeben aus diesem Geschlecht. Ihr neigt Euch freundlich herab zu den Niedern und hebt den Kopf mannhaft empor gegen die Hohen – so wart Ihr Alle, seit Ihr aus der Arche kamt. Gott segne den alten Namen – wenn auch wenig Reichthum dabei ist, so hat er doch im Ohr des armen Mannes einen so guten Klang, wie ein Stück reinen Goldes!«

»Siehst Du nun nicht,« sagte Roland, als wir unsern Weg fortsetzten, »was wir einem Namen, was wir unsern Vorvätern verdanken? Siehst Du nicht, weßhalb auch der entfernteste Ahne ein Recht auf unsere Achtung und Verehrung hat? – denn er war ein Vater! ›Ehre Vater und Mutter‹ – das Gebot lautet nicht: ›Ehret Eure Kinder!‹ Wenn ein Kind uns und den Todten Schande macht und die Heiligkeit des Namens – jenes großen Erbes ihrer Tugenden – verletzt; wenn es –« Roland hielt plötzlich inne und fuhr dann heftig fort: »Doch, Du bist jetzt mein Erbe – ich hege keine Furcht! Was liegt auch an dem Kummer eines thörichten alten Mannes? – Dem Himmel sei Dank – der Name, dieses Eigenthum von Generationen – der Name ist gerettet!«

Jetzt war das Räthsel gelöst, und ich begriff, worin bei allem Schmerz um den Verlust eines Sohnes dieser stolze Vater Trost suchte und fand; – er selbst war weniger Vater, als Sohn – Sohn der längst Verstorbenen. Aus jedem Grabe, in welchem ein Vorfahre schlief, hatte er die Stimme eines Vaters vernommen. Er konnte seinen Verlust ertragen, wenn nur die Ahnen nicht entehrt wurden! Roland war mehr als zur Hälfte ein Römer – der Sohn mochte noch immer wurzeln in seiner Liebe, aber die Laren In der altrömischen Religion die Schutzgötter oder Schutzgeister bestimmter Orte und Familien. bildeten einen Theil seiner Religion.


Fünftes Kapitel.

Doch, ich sollte eifrig arbeiten, um mich für Cambridge vorzubereiten. Zum Henker! – wie kann ich? Die Hauptsache, welche mir noch fehlt, ist die griechische Composition. Ich komme zu meinem Vater, der, wie man denken sollte, genugsam hierin zu Hause war. Selten aber in der That findet man einen großen Gelehrten, der zugleich ein guter Lehrer wäre.

Mein lieber Vater! wenn man es versteht, auf Deine eigenthümliche Weise einzugehen, so gab es niemals einen bewunderungswürdigeren Lehrer für das Herz, den Kopf, die Grundsätze oder im Geschmack – sobald Du nämlich entdeckt hast, daß es eine Wunde zu heilen, einem Mangel abzuhelfen gilt, worauf Du Deine Brille abreibst und Deine Hand in jenen Schlupfwinkel zwischen Deinem Busenstreif und Deiner Weste vertiefst. Aber kurz und trocken, eintönig und regelmäßig mit Buch und Heft in der Hand zu Dir zu gehen – die trauervolle Geduld zu sehen, mit welcher Du Dich in den Flitterwochen des Besitzes von jenem großen Bande des Cardan losreißest – und dann zu beobachten, wie Deine milden Augenbrauen sich nach und nach in wirre Diagonalen verziehen über irgend ein falsches Sylbenmaß oder eine barbarische Wortstellung – bis jenes schreckliche » Papae«, ertönt, welches von Deinen Lippen sicherlich mehr besagen will, als es jemals zu jener Zeit besagte, da das Lateinische eine lebende Sprache und » Papae« ein natürlicher, unpedantischer Ausruf war – nein, lieber wollte ich tausendmal allein durch die Finsterniß tappen, als mein Binsenlicht an diesem phlegethonischen Höllisch, nach Phlegethon, jenem mythologischen Höllenfluss, der Feuerflammen statt Wasser mit sich führt. » Papae« anzünden!

Zuletzt pflegte dann mein Vater weise und freundlich, aber wunderbar langsam drei Viertheile meiner, wie ich glaubte, besten Verse auszustreichen und andere dafür einzuschalten, welche, wie ich wohl sah, vortrefflich waren – weßhalb? konnte ich mir jedoch nicht klar machen; und wenn ich dann meinen Vater darüber befrug, so schüttelte er in Verzweiflung den Kopf und sagte: »Das solltest Du doch aber fühlen

Kurz, es ging ihm mit seiner Gelehrsamkeit, wie es mit der Poesie geht, er konnte ebensowenig Unterricht darin ertheilen, als Pindar Griechischer Dichter (um 522-446 v.u.Z.), zählt zum Kanon der ›neun Lyriker‹, die von den Gelehrten des hellenistischen Alexandria für eines kritischen Studiums wert befunden wurden. uns zu lehren vermocht hätte, eine Ode zu machen. Man athmete den Duft, konnte ihn aber so wenig ergreifen und zergliedern, als man den Geruch der Rose mit der Hand erfassen kann. Ich ließ meinen Vater bald in Frieden bei seinem Cardan und dem großen Buche, welches, nebenbei gesagt, nur langsame Fortschritte machte. Onkel Jack hatte nämlich darauf bestanden, daß es in Quart und mit Illustrationen herausgegeben werden solle; die Herstellung der erforderlichen Kupferplatten aber kostete eine außerordentlich lange Zeit und eine außerordentlich große Summe Geldes – doch, das letztere war Sache der Anti-Buchhändler-Gesellschaft.

Wie kann ich aber ruhig an meiner Arbeit bleiben? Kaum bin ich in mein Zimmer getreten – penitus ab orbe divisus Ganz von der Welt abgeschnitten (nach Virgil, Bucolica I, 66)., wie ich voreilig glaube – so höre ich bereits ein Klopfen an meiner Thüre. Das eine Mal ist es meine Mutter, in der wohlwollenden Absicht begriffen, alle Fenster mit Vorhängen zu versehen (eine Kleinigkeit, welche Bolt vergessen oder als überflüssig verschmäht hatte), wobei sie von mir zu wissen wünscht, wie die Draperien bei Mr. Trevanion beschaffen gewesen – ein Vorwand, mich in ihrer Nähe zu haben und mit eigenen Augen zu sehen, daß ich mich nicht abhärme; denn so bald sie hört, ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen, so ist sie überzeugt, daß ich es nur gethan, um meinem Kummer nachzuhängen. Das nächste Mal ist es Bolt, der die Bücherbrettchen für meinen Vater anfertigt und mich jeden Augenblick um Rath zu fragen wünscht, um so mehr, als ich ihm eine gothische Zeichnung gegeben, welche ihm ungemein wohlgefällt. Wieder ein anderes Mal ist es Blanche, der ich in einer bösen Stunde angefangen, Unterricht im Zeichnen zu geben, und die nun auf den Zehen hereingeschlichen kömmt, mir feierlich gelobt, mich nicht stören zu wollen, und so ruhig in ihrer Ecke sitzt, daß ich alle Geduld darüber verliere. Endlich aber, und zwar am öftesten, ist es der Capitän, mit dem ich spazieren gehen, reiten oder fischen soll. Und, beim heiligen Hubertus (dem Schutzpatron der Jagd)! wie schön ist nicht der August – und auf jenen unfruchtbaren Ebenen gibt es Moorwild » Moorgame« bedeutet eigentlich eine Fasanenart, die in der Heide beheimatet ist (engl. » moor« heißt auch »Heide«). in Menge – und mein Onkel hat mir das Gewehr gegeben, mit welchem er als Knabe geschossen – eine Flinte mit einfachem Lauf und Steinschloß – aber Du würdest nicht darüber gelacht haben, lieber Leser, wenn Du die seltsamen Heldenthaten gesehen hättest, die sie in Roland's Händen vollbrachte – während, wenn ich sie in den meinigen hatte, ich immer alle Schuld auf das arme Steinschloß schieben konnte! Kurz, die Zeit schwand schnell dahin; und wenn Roland und ich unsere dunklen Stunden hatten, so jagten wir sie weg, ehe sie sich festsetzen konnten – schossen sie beim Aufflug durch die Schwinge.

Auch darf ich nicht versäumen, zu bemerken, daß, obgleich die unmittelbare Umgebung von meines Onkels Wohnsitz rauh und öde genannt werden mußte, die Landschaft in geringer Entfernung reich an Gegenständen von Interesse – an poetisch großartigen, wie an lieblichen Gegenden war; und hin und wieder, wenn es uns gelang, meinen Vater seinem Cardan zu entreißen, brachten wir ganze Tage an dem Gestade irgend eines herrlichen Sees zu.

Unter den Ausflügen, welche ich allein unternahm, galt einer jenem Hause, in welchem mein Vater das Glück und den Schmerz jener starken ersten Liebe kennen gelernt hatte, deren Wunden in meiner eigenen Erinnerung noch nicht vernarbt waren. Das große, stattliche Gebäude war verschlossen, da die Familie seit Jahren keinen Aufenthalt daselbst genommen, und der Lustpark auf den möglichst kleinen Raum beschränkt. Förmlichen Verfall würde Trevanion nie geduldet haben – aber alles machte den traurigen Eindruck von einer langen Abwesenheit. Mit Hülfe meiner Karte und einer halben Krone drang ich in das Innere des Hauses ein. Ich sah jenes denkwürdige Gemach – ich konnte mir die Stelle vergegenwärtigen, auf welcher mein Vater den Ausspruch vernahm, der seinem Leben eine andere Richtung gegeben. Und als ich nach Hause zurückkehrte, blickte ich mit neuer Zärtlichkeit auf die klare Stirne meines Vaters und segnete von Neuem jene sanfte Gefährtin, deren geduldigen Liebe es gelungen war, jeden Schatten von derselben zu verscheuchen.

Einige Tage nach unserer Ankunft hatte ich einen Brief von Vivian erhalten. Er war der von mir gegebenen Adresse gemäß nach dem Hause meines Vaters gesendet und mir von dort aus nachgeschickt worden. Vivian schrieb kurz, schien aber heiter zu sein und sagte mir, er glaube nun endlich den rechten Weg gefunden zu haben, auf welchem er auch beharren wolle – er stehe auf einem freundschaftlicheren Fuße mit der Welt, als früher – und die einzige Möglichkeit, diese Freundschaft aufrecht zu erhalten, sei, die Welt wie einen gezähmten Tiger zu behandeln, das heißt, die Thüre in der einen Hand, mit der andern die Bestie zu liebkosen. Eine Banknote war dem Schreiben beigeschlossen, deren Betrag Vivian's Schuld an mich um eine kleine Summe überstieg, welche er mir, wie er sagte, eines Tages als Millionär abverlangen werde. Adresse enthielt der Brief keine, trug jedoch den Poststempel von Godalming. Eine ungebührliche Neugierde bewog mich, in einem alten topographischen Werke über Surrey nachzuschlagen, und in einem angehängten Reisehandbuch fand ich die Stelle! »Links von dem Buchenwald, drei Meilen von Godalming entfernt, erblickt man den schönen Landsitz von Francis Vivian, Esq.« Nach der Jahreszahl des Werkes zu urtheilen, mochte der hier genannte Francis Vivian der Großvater meines den gleichen Namen tragenden Freundes sein, und so konnten über die Herkunft dieses verlorenen Sohnes keine Zweifel mehr herrschen.

Die langen Ferien waren nun beinahe zu Ende, und sämmtliche Gäste sollten den armen Capitän verlassen. Wir hatten in der That lange genug auf seine Gastfreundschaft gesündigt, und so wurde denn beschlossen, daß ich meine Eltern zu ihren vernachlässigten Penaten In der altrömischen Religion die Schutzgötter der Vorräte; gehörten zu den privaten Schutzgöttern eines Haushalts. Auch als Synonym für ›Haus und Herd‹ verwendet. begleiten und alsdann nach Cambridge weiter reisen solle.

Der Abschied fiel uns Allen sehr schwer – sogar Mrs. Primmins weinte, als sie Bolt die Hand reichte. Bolt freilich war als alter Soldat, natürlich ein Damenmann. – Die Brüder begnügten sich nicht mit einem bloßen Händedruck – sie umarmten sich innig, wie Brüder heut' zu Tage in der Regel nur noch auf der Bühne zu thun pflegen. Und Blanche, welche einen Arm um den Hals meiner Mutter und den andern um den meinigen geschlungen hatte, sagte mir schluchzend in's Ohr: »Aber ich will Deine kleine Frau werden – gewiß, ich will.« Schließlich nahm uns denn die Eilkutsche abermals auf – nur die kleine Blanche mußten wir diesmal zurücklassen und vermißten sie schmerzlich.


Sechstes Kapitel.

A lma mater! Alma mater! Die neumodischen Leute mit ihren weitgehenden Erziehungs-Ideen mögen an Dir zu tadeln finden. Allein Du bist eine ächt spartanische Mutter – hart und streng, wie die alte Matrone, welche den ersten Stein zur Einmauerung ihres Sohnes Pausanias Heerführer der Spartaner und Sieger bei der entscheidenden Schlacht von Plataiai (479 v.u.Z.) gegen die Perser; nach einer möglichen Verschwörung mit den Heloten und Flucht in den Tempel der Athena Chalkioikos (der Stadtgöttin von Sparta) wurden dessen Eingänge zugemauert, was seinen Tod durch Verhungern (um 467 v.u.Z.) zur Folge hatte. Thukydides, der den Vorgang (I, 134) schildert, weiß allerdings nichts von jener alten Matrone, die ›den ersten Stein zur Einmauerung ihres Sohnes herbeitrug‹. Berichtet wird dies nur – allerdings auch lediglich als Wiedergabe eines Gerüchts – von (dem bedeutend späteren) Cornelius Nepos (Pausanias, V, 3): »Man erzählt, die Mutter des Pausanias habe damals noch gelebt und, schon hochbetagt, habe sie, von den Verbrechen ihres Sohnes unterrichtet, unter den Ersten einen Stein zur Einmauerung ihres Sohnes zum Tempel gebracht.« (Nach der Übers. von Johannes Siebelis, 6. Aufl. Berlin o.J.) herbeitrug – hart und streng, sage ich, gegen den Unwürdigen, aber voll majestätischer Zärtlichkeit gegen den Würdigen.

Für einen jungen Mann, der nach Cambridge geht – von Oxford spreche ich nicht, weil ich es nicht kenne – nur, weil es einmal so üblich ist, und der während der drei Jahre, die er dort zuzubringen hat, dem Müßiggang und der Faulheit fröhnt – für einen solchen kann Oxford Street selbst, welche der unsterbliche Opiumesser Confessions of an English Opium-Eater (1821), autobiographisches Werk des Schriftstellers Thomas De Quincey (1785-1859), das damals großes Aufsehen erregte. so bitter geschmäht hat, keine gleichgültigere und hartherzigere Mutter sein. Wer aber hingeht, um zu lernen und zu arbeiten – wer die dargebotenen seltenen Vortheile benützt und mit Verstand seine Freunde wählt – ja, aus diesem gewaltigen Gährungsstoff jugendlicher Ideen in ihrer üppigen Kraft die guten sich aneignet und die schlechten verwirft – ein solcher findet Gelegenheit genug, seine drei Jahre wohl anzuwenden, sie reich an unverwelklichen Früchten zu machen – selbst wenn er über die ›Eselsbrücke‹ Pons asinorum, Mnemotechnik zum Einprägen von Fakten. Bulwers Anspielung zielt darauf, dass die bloße Anwendung solcher Techniken noch kein Verständnis der Sache selbst bedeutet. gehen muß, um in den ›Tempel der Ehre‹ zu gelangen.

Es sind neuerer Zeit wichtige Veränderungen in dem akademischen System angekündigt worden, und die ehrenvollen Auszeichnungen sollen fortan auch jenen Studirenden zufallen, welche sich in der Moralphilosophie und den Naturwissenschaften Verdienste erwerben. Neben dem alten Throne der Mathesis Hier soviel wie ›wissenschaftliche Methode‹, nach traditioneller Anschauung erwerbbar mit Hilfe der artes liberales, der ›sieben freien Künste‹ (Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik; Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie), deren Rückgrat die Beschäftigung mit den alten Sprachen darstellt. stehen jetzt zwei sehr nützliche fauteuils à la Voltaire Großer Sessel mit zurückgebogener Lehne.. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, allein das beste und Vorzüglichste in diesen drei Jahren des Lebens ist nicht sowohl der erlernte Gegenstand selbst, als vielmehr die ausdauernde Beharrlichkeit im Lernen.

In einer Beziehung war es ein Glück für mich, daß ich die wirkliche Welt – das Leben in der Hauptstadt – ein wenig hatte kennen lernen, ehe ich jene mimische – die klösterliche – betrat. Denn die sogenannten Vergnügungen der letzteren, welche vielleicht ihre Anziehungskraft auf mich ausgeübt haben würden, wäre ich frisch von der Schule gekommen, hatten nun keinen Reiz für mich. Hohes Spiel und starkes Trinken, eine gewisse Mischung von Rohheit und Verschwendung gehörte unter den Müßiggängern zur Tagesordnung, als ich sub consule planco Horaz, Carm. III, 14, 28. Wörtlich: »Während Plancus Konsul war«, d. h. ›in der guten alten Zeit‹. auf der Universität – als Wordsworth Vorstand von Trinity Christopher Wordsworth (1774-1846), der jüngere Bruder des Dichters William Wordsworth, war von 1820 bis 1841 Rektor des › Trinity College of Cambridge‹. war. Jetzt mag es vielleicht anders geworden sein.

In jenen Dingen lag denn keine Versuchung mehr für mich, und so sah ich mich natürlicher Weise aus der Gesellschaft der Müßigen ausgeschlossen und gewissermaßen in diejenige der Fleißigen hineingedrängt.

Um jedoch die Wahrheit zu gestehen, muß ich sagen, daß ich nicht mehr die alte Freude an den Büchern empfand. Hatte meine Bekanntschaft mit der großen Welt die Anziehungskraft knabenhafter Ausschweifungen zu nichte gemacht, so hatte sie zugleich auch den mir innewohnenden Hang zu praktischer Thätigkeit gesteigert. Und ach, trotz Robert Hall und all' des Guten, das ich ihm verdankte, gab es Zeiten, in welchen die Erinnerung schmerzlich auf mich einstürmte, daß mir keine andere Wahl blieb, als aus meinem einsamen Zimmer, in welchem mich gefährlich schöne Phantome umgaukelten, zu fliehen und das Fieber des Herzens durch eine starke körperliche Ermüdung abzukühlen. Das Feuer, welches der frühen Jugend angehört und am besten der Erwerbung von Kenntnissen gewidmet wird, hatte frühzeitig auf weniger streng geheiligten Altären gebrannt. Wenn ich daher auch fleißig war, so hatte ich dabei doch immer in vollem Maße jenes Gefühl der Arbeit, welches (wie ich erst in einer viel späteren Periode meines Lebens erfuhr) der wahre Studirende niemals kennt. Der Gelehrsamkeit – diesem Marmorbild – vermag keine Anstrengung des Meisels, sondern nur die Verehrung des Bildners warmes Leben einzuhauchen. Für den mechanischen Arbeiter ist sie nichts, als ein stummer Stein.

Bei Onkel Roland waren Zeitungen eine seltene Erscheinung gewesen; in Cambridge dagegen wurde ihnen auch von den fleißigsten Studenten die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Es wurde viel über Politik gesprochen, und noch war ich keine drei Tage in Cambridge, als ich schon Trevanion's Namen nennen hörte. Die Journale hatten daher ihren besondern Reiz für mich. Trevanion's Prophezeihung hinsichtlich seiner selbst schien auf dem Punkte, sich zu verwirklichen. Gerüchte von einem Cabinets-Wechsel tauchten auf, und Trevanion's Name wurde gleich einem Federball hin- und her geworfen, bald in die Lüfte erhoben, bald in den Staub heruntergezogen. Noch immer aber trat die erwartete Veränderung nicht ein – noch immer hielt sich das Ministerium. Inzwischen fand ich unter den fashionablen Neuigkeiten der Morning Post kein Wort über Gerüchte, welche mich mehr aufgeregt haben würden, als die Bildung und der Sturz von Kabineten – keine Hindeutung auf »die bevorstehende Vermählung der Tochter und einzigen Erbin eines reichen und ausgezeichneten Unterhausmitgliedes.« Nur hin und wieder bei Aufzählung der glänzenden Gäste in dem Hause irgend eines Parteihauptes schlug mein Herz lauter und heftiger, wenn ich die Namen Lady Ellinor's und Miß Trevanion's erblickte.

Unter all' den fruchtbaren Erzeugnissen der periodischen Presse jedoch, diesen entfernten Sprößlingen meines großen Namensvetters und Vorfahren (denn ich halte fest an meines Vaters Ansicht) – wo blieb die Literarische Times? – was hatte ihre versprochene Blüthe so lange verzögert? Nicht das kleinste Blättchen in Form einer Ankündigung war bis jetzt der Mutter Erde entsprossen. Ich hoffte von Herzen, daß die ganze Sache aufgegeben worden, und hütete mich, in meinen Briefen nach Hause derselben zu erwähnen, um nicht dadurch etwa die Gedanken wieder darauf hinzulenken. In Ermanglung der literarischen Times aber erschien ein anderes neues Journal (und zwar täglich) – ein langer, dünner, magerer Aufschößling mit einem ungeheuern Kopf in der Form eines Prospektes, welcher drei Wochen lang an der Spitze des Leitartikels sich bemerklich machte; mit einem feinen, zierlichen Correspondenzenleib und den kleinsten Beinen von Ankündigungen, auf denen jemals ein armes Blatt gestanden! Und doch hatte dieses schwindsüchtige Journal einen derben, vollblütigen Titel, einen Titel, welcher nach Schildkröten und Wildpret schmeckte, einen aldermanischen Altväterlichen., stattlichen, großartigen, falstaffischen Falstaff, Figur aus den »Lustigen Weibern von Windsor« (Shakespeare); ein wohlbeleibter, trink- und raufsüchtiger Soldat, der zur Selbstüberschätzung neigt. Titel – es hieß Der Kapitalist. Und alle jene feinen, zierlichen Artikel waren mit Recepten, wie man Geld machen könne, gespickt. Es lag ein El Dorado in jedem Satz. Nach diesem Blatt zu urtheilen hätte Niemand bisher seine Pfunde, Schillinge und Pence gehörig umgesetzt. Ueber zwanzig Procent wurde die Nase gerümpft,.Von Irland war viel die Rede – nicht von dem ihm zugefügten Unrecht, dem Himmel sei Dank! sondern von seinen Fischereien. Alsdann kam eine lange Untersuchung über das Schicksal der Perlen, um derenwillen Britannien einst so berühmt gewesen; hierauf eine gelehrte Abhandlung über gewisse verlorene und nun glücklicher Weise wieder entdeckte Goldminen; ferner ein sehr scharfsinniger Vorschlag, durch einen neuen chemischen Prozeß, den Rauch von London in Dünger zu verwandeln; ein Rath an die Armen, die Eier ihrer Hühner gleich den alten Aegyptern im Ofen auszubrüten; landwirthschaftliche Entwürfe, die öden Länderstrecken in England mit Zwiebeln zu bebauen, nach dem bei Bedford üblichen Systeme, welches einen Reinertrag von hundert Pfund auf den Morgen abwerfe. Kurz, nach diesem Blatte hätte jede Ruthe Boden ihren Mann vollständig ernähren und jeder Schilling, wie in Hobson's Geldseckel, »der fruchtbare Vater von hundert andern« Thomas Hobson (1544-1631), der »Kurier von Cambridge«. Sein Postbetrieb und andere Unternehmen machten ihn reich, und von seinem Geld machte er gern für nützliche öffentliche Projekte Gebrauch. – Bulwer zitiert dies auch in seiner Einleitung zu »Der Verstoßene« (1829). werden müssen. Drei Tage lang bildete das neue Journal den Gegenstand des Gesprächs in dem Zeitungszimmer des Unionsklubs; die Einen äußerten sich verwundert, die Andern spöttisch, wieder Andere verächtlich darüber, bis ein boshafter Mathematiker, welcher eben erst seinen Grad gewonnen und nun übrige Zeit hatte, ein langes Schreiben an das Morning-Chronicle einsandte, worin er in einem Artikel, auf den der unglückselige Herausgeber des Kapitalisten ganz besonders die Aufmerksamkeit zu lenken sich bemüht hatte, mehr, als genug Mißgriffe und Fehler nachwies, um damit die ganze Insel Laputa Fiktive Insel in Jonathan Swifts Roman »Gullivers Reisen«. pflastern zu können. Von dieser Zeit an las keine Seele mehr den Kapitalisten. Wie lange er sein Dasein hinschleppte, weiß ich nicht, sicherlich aber starb er nicht an einer maladie de langueur An gebrochenem Herzen..

Ahnungslos stimmte ich ein in das heitere Lachen über den Kapitalisten – ahnungslos, daß ich ihn lieber hätte in Flor und Trauergewand zu Grabe geleiten sollen, gefühlloser Mensch, der ich war! Allein, gleich einem Dichter, o Kapitalist, wurdest Du nicht früher erkannt, geschätzt, gewürdigt und betrauert, als bis Du todt und begraben warst, und die Rechnung für Dein Monument einlief!

Das erste Semester meiner Studienzeit nahte sich eben seinem Ende, als ich einen so aufgeregten, so beunruhigenden und beim ersten Lesen so unverständlichen Brief von meiner Mutter erhielt, daß ich nur daraus ersehen konnte, es müsse uns ein großes Unglück befallen haben. Ich hielt inne und sank auf meine Kniee, um für das Leben und die Gesundheit Derjenigen zu bitten, welche jenes Unglück hauptsächlich zu bedrohen schien. Und dann – und dann – gegen das Ende des letzten, halbverwischten Satzes, welchen ich zwei, und dreimal überlas – konnte ich ausrufen: »Gott sei Dank, Gott sei Dank; es ist nur von Geld die Rede!«



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