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– Luce non grata fruor
Trepidante semper corde, non mortis metu
Sed –
Senec. Octavia. Act. I.
Die beiden männlichen Bedienten des Hauses blieben die übrige Nacht hindurch auf; aber schon war der Morgen weit über die gewöhnliche Aufstehenszeit in Grünthals frischen Schatten vorgeschritten, als Madeline und Ellinor endlich sichtbar wurden. Selbst Lester verließ sein Bett eine Stunde später als sonst; wie er jedoch an Arams Thür pochte, fand er den Gelehrten bereits ausgegangen, während man deutlich sah, daß sein Lager die ganze Nacht über nicht berührt worden. Der Squire stieg in den Garten hinab, wo Peter Dahltrup und eine Abteilung der Wache zu ihm stieß, die, wie der gesunde Menschenverstand und Lester im voraus verkündigt hatten, wirklich zu sehr früher Stunde heimgeschlichen waren. Sie zogen sich jetzt ihre Unmännlichkeit sehr ernstlich zu Gemüt, suchten dieselbe so gut als möglich mit ihrer bisher gehabten Überzeugung, daß in Grünthal nie ein Mensch beraubt werden könne, wegzureden, und versprachen mit aufrichtiger Reue, sie wollten für die Zukunft trefflich Wache stehen. Peter besonders war ganz auf den Kopf gefallen und konnte nur ein unzusammenhängendes Gemurmel zu seiner Verteidigung vorbringen, wovon sich der Squire ungeduldig abwandte, als er lauter als das übrige die Worte vernahm: »siebenundsiebzigsten Psalm, siebzehnten Vers:
Aus dem Gewölle dick und schwarz
Fiel Regen eimerweis.«
Wir übergeben den Squire den erbaulichen Betrachtungen des frommen Gastwirts, und folgen den Schritten Arams, der mit der frühen Morgendämmerung das Zimmer, in dem er die Nacht schlaflos zugebracht, verlassen hatte, und obwohl das Gewölk noch immer in nebeligem, schwerem Geriesel herabsank, fortwanderte, ohne sich zu kümmern, wo ihn der Weg hinführe. Im Augenblick, von dem wir sprechen, stürmte er mit unverminderter Eile, obwohl ohne Zweck und Ziel, bereits über den Bergrücken, der die lieblichen grünen Thaler abschloß, innerhalb welcher sein Haus lag. »Ja,« sprach er, indem er zuletzt plötzlich stehen blieb, den Entschluß der Verzweiflung auf seinen Zügen; »ja, so soll es beschlossen sein. Fühle ich nach dieser Zusammenkunft, daß ich Hausman ein ewiges Stillschweigen nicht abnötigen kann, so will ich Madeline rasch entsagen. Sie hat mich edel und vertrauensvoll geliebt – ich will ihr Leben nicht an einen Menschen knüpfen, der zu irgend einer Stunde von ihr gerufen werden kann, um furchtbare Rechenschaft abzulegen. Auch Lesters graue Haare sollen nicht aus Kummer über meine Schande in ein entehrtes vorzeitiges Grab sinken. Und darf ich nach dem Gewaltstreich der vorigen Nacht, nach einer so verwegenen Gewaltthat, nur noch einen Tag lang auf Sicherheit rechnen? Obwohl Hausman nicht dabei war, obwohl ich kaum glauben kann, daß er von dem Unternehmen gewußt, wenigstens nicht, daß er dazu angetrieben habe, so gehörten sie doch gewiß zu seiner Bande. Wäre einer von ihnen ergriffen worden, so hätte dies leicht zu Hausmans eigener Festnehmung führen können, und ist er einmal festgenommen, was hab' ich alles zu befürchten! Nein, Madeline! Nein, solange dieses Schwert über mir hängt, sollst du nicht von mir dazu erniedrigt werden, die Schrecken meines Schicksals zu teilen.«
Sobald Aram zu diesem Entschluß gekommen, der bei allem Edelmut vielleicht doch nicht mehr als billig war, verbannte er auf einmal mit jener Kraft der Selbsterhebung, die mächtigen Gemütern zu Gebot steht, all die schwachen und schwankenden Gedanken, die seinen Willen hätten erschüttern können. Er schien leichter zu atmen und die gespenstische Blässe seiner Stirn verlor wenigstens die tiefen Falten, welche noch einen Augenblick zuvor ihre gewohnte Ruhe zur Wildheit des Wahnsinns verzerrt hatten.
Er verfolgte seinen planlosen Weg jetzt mit festeren Schritten.
»Welch eine Nacht,« hob er an, indem er wieder in das leise Murmeln verfiel, worin er Zwiesprach mit sich selber zu halten pflegte. »Wäre Hausman einer von den Räubern gewesen, so hätte mich ein Schuß für immer, und ohne Verbrechen, befreien können! Bis das Licht auf ihre Gesichter fiel, glaubte ich wirklich, der kleinere von beiden gleiche ihm. – Ha! hinab, verlockender Gedanke, hinab mit dir!« rief er, mit dem Fuß stampfend, laut aus; sofort aber durch die eigene Heftigkeit zu sich selbst gebracht, warf er einen argwöhnischen, hastigen Blick rund um sich, obwohl er in diesem Moment auf dem höchsten Gipfel des Höhenzuges stand, wo selbst der einsame Hirt nie, es müßte denn ein kühnerer Weitgänger aus seiner Herde sich hierher verlaufen haben, den Tau von dem rauhen aber würzigen Boden streifte. »Ja,« sagte er mit leiserer Stimme, und wieder in die düstern Tiefen seiner Träumereien versinkend, »es ist ein verlockender, ein wundervoll verlockender Gedanke! Und wie ein Blitz durchfuhr mich's, als diese Hand an seiner Kehle war – ein festeres Zusammenfassen, ein Augenblick länger und Eugen Aram hätte keinen Feind mehr, keinen Zeugen gegen sich in der Welt gehabt. Ha! Sind die Toten denn keine Feinde, sind die Toten keine Zeugen?« Hier ward er ganz still, aber das wilde Spiel seiner Gebärden dauerte fort und seine Augen liefen mit blutstrotzendem, unruhigem Funkeln umher. »Genug,« sagte er endlich ruhig, in der Weise eines Menschen, dem ein Stein, vom Herzen gewälzt ist, »genug! So will ich mich nicht besudeln, wenn mir noch irgend ein anderer Weg zur Selbsterhaltung übrig bleibt. Und warum verzweifeln? Der Plan den ich mir ausgedacht, scheint gut angelegt, weise, in jeder Beziehung befriedigend. Betracht' ich ihn noch einmal: – Verfallen im Augenblick, wo er England betritt – nicht ausgefolgt, bis er dasselbe verlassen hat – ratenweise zu solchem Betrag, bezahlt, daß es ihn vor Verbrechen schützt und ihm die Möglichkeit benimmt, mir mehr abzupressen: all dies lautet gut; ist es aber schließlich nicht ausführbar, wohlan, dann lebe wohl, Madeline! dann ist es an mir, dieses Land auf ewig zu verlassen. Treffe mich, was da will – der Tod in seiner schmählichsten Gestalt – wenn nur der Streich nicht auf ihre Brust fällt. Sollte sich's jedoch fügen,« fuhr er fort, und sein Gesicht leuchtete auf, »sollte sich's fügen, wie es immer noch möglich ist, daß ich diesen Höllenhund anketten kann, ja, so will ich auch dann, sobald Madeline mein ist, diese Gegend fliehen; ich will einen noch dunkleren, entlegeneren Winkel der Erde aufsuchen; ich will einen andern Namen annehmen – ich Thor! warum hab' ich das nicht früher gethan? Doch was liegt schließlich daran? Was da oben geschrieben ist, bleibt geschrieben. Wer kann mit der unsichtbaren Riesenhand kämpfen, von welcher die Welt selbst in Bewegung gesetzt wurde und nach deren Vorausbestimmung wir die dunkle Gabe des Lebens und des Todes empfangen?«
Erst gegen Abend fand sich Aram völlig erschöpft und abgemattet wieder in der Umgegend von Lesters Hause. Die Sonne war erst vor ihrem Untergang durch das Gewölk gebrochen, schimmerte jetzt aus dem umglühten Westen über die triefenden Hecken und warf einen kurzen, aber zauberhaften Glanz auf die üppige Landschaft umher – auf die bunten Wälder, in die tausend Farben des Herbstes gekleidet; die zerstreuten friedlichen Hütten, mit den langen, aufwärts schlängelnden Rauchsäulen; die grauen, ehrwürdigen Mauern des Herrenhauses mit der Kirche daneben und der zierlichen Turmspitze, die, in den blauen Himmel hineinragend, als das rührendste und feierlichste Bild des Glaubens erscheint, dem sie geweiht ist! Es war Sonntag Abend, und Aram konnte von seinem Standorte aus unterscheiden, wie die Landleute da und dort in langsamen Zügen die grüne Dorfgasse gegen das Gotteshaus herauf kamen. Und die tiefe Glocke, die zur letzten Feier des Tages rief, schwang ihre Stimme weithin über den sonnigen, stillen Schauplatz.
Aber nicht die untergehende Sonne, noch die herbstliche Landschaft, noch der Klang des frommen Geläutes war es, was Arams Schritt jetzt anhielt. In geringer Entfernung von ihm, über ein Pförtchen gelehnt und dem Anschein nach wartend, bis das Aufhören des Geläutes die Zeit zum Eintritt in die heilige Stätte anzeigen würde, bemerkte er die Gestalt von Madeline Lester. Ihr Kopf war in diesem Augenblick von ihm abgewandt, als sähe sie nach Ellinor und dem Vater, die auf dem Kirchhof unter einer kleinen Gruppe ihrer Nachbarn standen. Noch war er halb unentschlossen, ob er ihre Gegenwart vermeiden solle, als sie sich plötzlich umwandte und bei seinem Anblick einen Freudenschrei ausstieß. Jetzt war es zu spät zum Ausweichen, und so nahte er denn, jene Gewalt über seine Züge zu Hilfe rufend, die im gewöhnlichen Zustand wenige Menschen in höherem Grade als er besaßen, der schönen Geliebten mit ebenso heiterem, wenn auch nicht ebenso strahlendem Lächeln, wie das, welches um ihren eigenen Mund schwebte. Sie aber hatte das Thürchen bereits geöffnet und kam ihm auf halbem Wege entgegen.
»Ha, Herumschwärmer,« rief sie, »den ganzen Tag über abwesend, ohne vorher anzufragen oder lebewohl zu sagen! Wann soll ich jetzt noch glauben, daß du mich wirklich liebst?«
»Aber,« fuhr sie fort, indem sie auf sein Gesicht schaute, das in der nunmehrigen Abgespanntheit die wilden Bewegungen andeutete, die noch eben in seinem Innern getobt hatten, »aber Himmel! Geliebter, wie blaß du aussiehst; du bist ermüdet, gieb mir deine Hand, Eugen – sie ist trocken und dürr. Komm ins Haus; – du mußt der Ruhe und Erfrischung bedürfen!«
»Ich bin besser hier, meine Madeline – Luft und Sonne beleben mich wieder. Laß uns dort an dem Geländer niedersitzen. Doch du wolltest in die Kirche? Das Geläut ist zu Ende«
»Ich fürchte, ich könnte jetzt dem Gottesdienst wenig Aufmerksamkeit widmen,« erwiderte Madeline, »du müßtest dich denn wohl genug fühlen, mit mir in die Kirche zu gehen.«
»In die Kirche!« rief Aram mit halbem Schauder, »nein; meine Gedanken sind jetzt nicht fürs Gebet gestimmt.«
»Dann gieb deine Gedanken mir, und ich will dagegen für dich beten, ehe ich mich zur Ruhe lege.«
Mit diesen Worten schlang sie, mit der gewohnten unschuldigen Natürlichkeit ihres Benehmens, den Arm um den seinigen und beide gingen zu dem von Aram bezeichneten Geländer. Es war ein kleines ländliches Pfahlwerk mit herabhängenden Kastanienbäumen auf jeder Seite. Noch auf den heutigen Tag steht es, und es gereichte mir zu nicht geringem Vergnügen, Walter Lesters und Madelines Anfangsbuchstaben nebst dem Jahresdatum, wahrscheinlich von der Hand des erstern, in halbverwischten Zügen in das Holz eingegraben, zu finden.
Hier ruhten sie jetzt. Alles um sie her war still und einsam; die Gruppen der Landleute hatten sich nach der Kirche begeben, und nichts Lebendiges, als die Rinder, die auf dem entfernten Anger grasten, oder etwa eine Drossel, die aus dem nahen Gebüsch emporfuhr, war sichtbar. Der Wind hatte sich gänzlich gelegt, und obwohl ein herbstliches Frösteln durch die Luft wehte, brachte es der ermatteten Stirn und dem fieberhaften Blut des Gelehrten nur eine angenehme Kühlung; – Madeline – sie fühlte nichts als seine Gegenwart! Es war so recht, was wir uns unter einem Sonntagabend denken – eine unbeschreibliche Heiterkeit und Ruhe, die eben von dem schwermütigen Anstrich des scheidenden Jahres einen besonders feierlichen, aber ebenso milden Ausdruck annahm.
Es giebt Momente, oft in den dunkelsten und sturmvollsten Abschnitten unseres Lebens, wo uns, wir wissen nicht warum, Erinnerungen aus unserer frühesten Kindheit plötzlich außer uns selbst setzen. Etwas berührt die elektrische Kette, und siehe da: ein Heer von fernen süßen Erinnerungen beschleicht uns. Das Rad steht still, das Ruder ist gehemmt; der Mühe und Arbeit der Gegenwart plötzlich entrissen, werden wir neugeboren und leben von neuem. Wie jene Geheimschrift ihre dem Anschein nach auf ewig erloschenen Buchstaben wieder hervortreten läßt, wenn man darauf haucht, so kann das Gedächtnis Bilder, die jahrelang unsichtbar geblieben sind, wieder ins Leben rufen; aber während wir noch darauf schauen, weicht der Hauch von der Oberfläche, und was noch eben so lebendig war, ist im nächsten Augenblick abermals zum leeren Blatt geworden!
»Sonderbar,« hob Aram an, »so oft ich an diesem Fleck saß und hinaussah auf die Landschaft, kam mir doch früher nie eine Ähnlichkeit mit dem Schauplatz meiner Kinderjahre in den Sinn, die mir jetzt auf einmal in ihr zu liegen scheint. Ja, dort in jener Hütte mit den Maulbeerbäumen vorn und dem Obstgarten, der sich nach hinten zu ausdehnt, bis seine Grenze, so wie wir jetzt stehen, ins Gehölz überzugehen scheint, könnte ich mir vorstellen, das Haus meines Vaters vor mir zu haben. Die Baumgruppe dort zur Rechten könnte mich unschwer zum Glauben verführen, als schaute ich auf das kleine Dickicht, in welchem ich, von der ersten Leidenschaft der Lernbegierde ergriffen, die langen Sommertage hindurch über dem dreimal durchlesenen Buch zu liegen pflegte; – ein Knabe – ein nachdenklicher Knabe; und doch wie glücklich! Welche Welten schienen sich mir auf jeder Seite meiner Bücher zu öffnen! Wie unerschöpflich hielt ich die Schätze und Hoffnungen des Lebens! Reizend dünkte mir damals auf den Gipfeln der Berge der Weg zum Wissen; ich ahnte nichts von all dem, was die grübelnde, einsame Leidenschaft, die ich nährte, über mich verhängen würde. Dort in den Schluchten des Thales, auf den Höhen der Hügel, am duftigen Bette des Baches, begann ich schon dem Kraut und der Blume ihre Geschichte abzugewinnen; nichts sah ich, dessen Geheimnis ich nicht zu enthüllen wünschte. Alles, was die Erde hervorbrachte, diente mir zu einem Wunsch – und wo hätte sich etwas Niedriges oder Unreines mit diesem Wunsch verbunden? Der kleinliche Geiz, die gemeine Ehrsucht, die entwürdigende Liebe, ja selbst die Glut, der Zorn, der Leichtsinn, die Launenhaftigkeit, die andern Menschen gewöhnlich sind, reizten sie, entlockten sie meine Natur jener steilen einsamen Warte? Ich lebte bloß, um meinen Geist zu nähren; Wissen war mein Durst, mein Traum, meine Nahrung, die einzige Quelle, der einzige Träger meines Lebens. Aber hab' ich nicht Wind gesät und Sturm geerntet? Der Glanz meiner Jugend ist dahin, mein Blut fiebert, meine Gestalt ist gebeugt, mein Herz von Sorgen zernagt, meine Nerven schlaff wie ein losgespannter Bogen: und was bei all dem ist mein Gewinn? O Gott! Was ist mein Gewinn?«
»Eugen, lieber, teurer Eugen!« lispelte Madeline besänftigend, mit ihren Thränen ringend, »ist nicht dein Gewinn groß? Ist es kein Triumph, daß du, noch so jung, in Bezug auf den Erfolg all deiner Bestrebungen fast ohnegleichen in der Welt dastehst?«
»Und was,« rief Aram, sie heftig unterbrechend, aus, »was ist diese Welt, die wir durchforschen, als ein ungeheures Beinhaus? Frage nach dem Ursprung selbst des Lieblichsten – es ist Verwesung! Wenn wir die Natur plündern und Weisheit zusammenscharren, sind wir nicht wie die Hexen der Vorzeit, die Arzneien aus dem gährenden Grab aussuchten und Zaubermittel aus verfaulten Totengebeinen zogen? Aus Moder ist jedes Ding um uns her erzeugt, aus Moder wird es befruchtet und zu Moder kehrt es endlich zurück. Moder ist der Mutterschoß und das Grab der Natur und die Schönheit, auf die wir blicken, an der wir hangen – die Wolke, der Baum, die lebenwimmelnden Gewässer – sie alle sind ein einziges ungeheures Bild des Todes! Aber nicht immer schien es mir so, und selbst jetzt spreche ich mit erhitztem Blut und schwindelndem Gehirn. Komm, Madeline, gehen wir auf etwas Anderes über.«
Und mit einem Mal aus seiner Sprache, ja sofort vielleicht auch aus seiner Stimmung das bisherige Dunkel soweit abschüttelnd, daß nur ebensoviel zurückblieb, um die Süßigkeit der Erinnerung in zarte Schatten zu hüllen, nicht um sie zu verbittern, erzählte jetzt Aram mit jener Lebendigkeit der Darstellung, die, so wenig wir in der unsrigen ihrer Wirkung gleichkommen können, ein bezeichnendes Merkmal seiner Gesprächsweise war, und allen seinen Äußerungen gewissermaßen ein dichterisches Interesse aufdrückte – erzählte er von jenen Erinnerungen an die Kindheit, die wir aus dem Mund eines jeden, den wir lieben, so gern vernehmen.
Während seiner Erzählung wurden die Lichter, welche die tiefere Dämmerung nötig gemacht, in der Kirche sichtbar, strömten weit durch das hohe Bogenfenster und erleuchteten die dunkeln Föhren, welche die Gräber umher beschatteten. Eben in diesem Augenblick griff die Orgel (ein Geschenk eines reichen Pfarrherrn und der Stolz der ganzen Umgegend) mit ihrem hohen feierlichen Ton in die Stille ein. Im Klange dieser plötzlichen Musik lag etwas so Verwandtes mit der heiligen Ruhe des Schauplatzes, etwas, das so sehr zu den Saiten stimmte, die jetzt in Arams Seele zitterten, daß es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt befiel. Er brach schnell ab, »als ob ein Engel spräche!« Keiner, der je gesündigt oder je getrauert hat, kann in einem unerwarteten Augenblick diesen Ton hören, der so eigentümlich zum Ausdruck frommer, überirdischer Empfindungen paßt, ohne daß ein Gefühl der Demut, der Erhebung oder der Furcht ihn anwandelt. Er aber – er war wieder zum Knaben geworden! – Wieder stand er in der Kirche seines Geburtsdorfes; sein Vater in seinem Silberhaar neben ihm! Hier seine Mutter, wie sie ihm den Vers des Gesanges zeigt; hier das halb schelmische, halb andächtige Gesichtchen seiner kleinen Schwester (sie starb jung!); – hier das aufwärts geschlagene Auge und die stillen Züge des Predigers, der seinen Geist zuerst zur Wißbegier erhoben und ihm die erste Nahrung gegeben hatte: – alles, alles lebte, ging, atmete wieder vor ihm, alles wie damals, als er jung und schuldlos und im Frieden mit sich war, – als Hoffnung und Zukunft noch ein Wort schienen.
Tiefer und tiefer beugte er das Haupt; die Härte, die Verstellung des Stolzes, das Gefühl von Gefahr und von Grausen, die, wie sie das Gemüt des entschlossenen vorbedachten Mannes bewegten, es auch stets gespannt erhielten, verließen ihn auf einmal. Madeline fühlte seine Thränen schnell und heiß auf ihre Hand fallen und einen Augenblick darauf legte er, hingerissen von der Linderung dieser Zähren für ein bedrücktes Herz, welches schauderhafte und furchtbare Geheimnisse nicht enthüllen konnte, und für ein Gehirn, das durch eine lange, äußerste Anstrengung all seiner Kräfte erschöpft war, sein Haupt an diese treue Brust und weinte laut.