Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Fünftes Kapitel.

Eine neue eigentümliche Betrachtung. – Die Straßen von London. – Die Bibliothek eines Großen. – Eine Unterredung zwischen dem Gelehrten und einem Bekannten Lesters. – Deren Ergebnis.

Hier ist ein Staatsmann.

Rollo. Frag' nach deinem Zweck.
Lat. Was ging mich näher an als dies?
Rollo, ein Trauerspiel.

Es war an einem Abend zu Ende des Herbstes im Jahre 1758; eine öffentliche Feierlichkeit hatte stattgefunden und die Menge, die sich in Folge derselben angehäuft, verlief sich allmählich erst jetzt, als die Straßen dunkler wurden. Durch diese Menge ging, wie gewöhnlich in sich selbst verloren – mit ihr, aber nicht ein Teil von ihr – Eugen Aram seinen einsamen Weg. Welch unberechenbares Feld von düstern, furchtbaren Betrachtungen öffnet sich jedem, der, nicht mit dem eigenen Herzen beschäftigt, und mit einem an scharfe Beobachtung seiner Mitmenschen gewöhnten Auge durch die Straßen einer großen Stadt wandelt! Was für eine Welt von dunkeln und verworrenen Geheimnissen im Busen eines jeden, der vorübereilt! Goethe hat irgendwo gesagt, jeder von uns, der Beste wie der Schlimmste, berge in sich irgend etwas – eine Empfindung, eine Erinnerung, durch deren Bekanntwerden er sich unsern Haß zuziehen würde. Die Behauptung ist ohne Zweifel übertrieben; aber gleichwohl, welche dunkle, gewaltige Tiefe in diesem Gedanken! – welch neuen Blick eröffnet er in die Herzen des großen Haufens! – welch eigentümliches Interesse kann er für den niedrigsten, unscheinbarsten Menschen einflößen, der im großen Marktgewühl des Lebens an uns vorüberstreift! Eine der besten Unterhaltungen auf der Welt liegt darin, bei Nacht durch die langen erleuchteten Straßen der ungeheuern Hauptstadt, solange die Menge sich noch in denselben umhertreibt, allein hinzuwandern, Da scheint sich mir, mehr noch als selbst in der Stille der Wälder und Fluren, ein Quell zu endloser, mannigfacher Betrachtung zu erschließen –

Μάτερ εμὰ, τὸ τεὸν, χρύσασπι Θήβα,
Πρα̃γμα καὶ ασχολίασ υπέρτερον
Θήσομαι
                              Pind. Isth. I. i.

Meine Mutter, goldumschildete Thebe,
Mehr als ein lautes Getreibe
Ist mir dein Thun.
Pindar.
                              Anmerk. des Übers.

In Arams Aussehen lag jenes Etwas, das fast unwiderstehlich eine gewisse Aufmerksamkeit gebot. Der Ernst seiner Züge; die Blässe, die auf seine geistige Natur deutete; das lange zurückfallende Haar; der eigentümliche fremdartige Anstrich seiner ganzen Gestalt, verbunden mit einer gewissen Milde des Ausdrucks und jener erhabenen Versunkenheit in sich selbst, die den Menschen andeutet, der über seinem eigenen Herzen brütet – die eigenen Träume erwägt und auslegt: – all das fesselte von Zeit zu Zeit die Vorübergehenden beim zweiten Blick und gab ihnen, so einfach die Kleidung, so anspruchslos das Benehmen des Fremden war, unwillkürlich den Eindruck, daß dieser zweite, lange und teilnehmende Blick aller Wahrscheinlichkeit nach jene Neugier befriedige, womit wir unsere Augen so gern auf einem merkwürdigen Manne ruhen lassen.

Endlich verließ Aram die volkreicheren Straßen und blieb nach kurzer Zeit vor einem der fürstlichsten Häuser in London stehen. Es war von einem geräumigen Hof umgeben; über der Einfahrt sah man das Wappen des Eigentümers, samt der Grafenkrone und den Schildhaltern in Stein ausgehauen.

»Ist Lord ****+ zu Hause?« fragte Aram, als der barsche Thürhüter an der Pforte erschien.

»Der gnädige Herr ist bei Tisch,« erwiderte der Portier und wollte, indem er diese Antwort für vollkommen ausreichend hielt, das Thor vor dem unzeitigen Besuch eben wieder schließen.

»Es freut mich, daß er zu Hause ist,« entgegnete Aram, der gleich hinter dem Diener eintrat und mit einer ruhigen, unbewußt gebietenden Miene durch den Hof nach dem Hauptgebäude zuschritt. Unter der Hausthür, zu welcher man auf einer breiten steinernen Treppe emporstieg, stand, zur Erholung die dumpfige Abendluft einatmend, der Kammerdiener des vornehmen Besitzers – des einzigen Vornehmen, den wir in unsere Geschichte eingeführt und folglich desselben, den wir dem Leser im früheren Abschnitt dieses Werkes vorgestellt haben. – Fein gebildet, klug und scharfblickend wußte Lord ****+ wohl, wie oft die Großen, besonders im öffentlichen Leben, sich durch die Ungeschliffenheit ihrer Leute verhaßt machen, weshalb die seinigen, besonders aber diejenigen, welche zu seiner persönlichen Bedienung gehörten, zur vollkommensten Höflichkeit und Rücksichtnahme gegen den niedrigsten Fremden wie gegen den höchsten Gast eingeschult waren. Auch war dies, so unbedeutend es an sich scheinen mag, ebensowohl ein Beweis von sittlicher Bildung als von Klugheit. Wenige erwägen, welche Qual armen Menschen, die ihren Wert gleichwohl fühlen, durch eine solche Maßregel erspart wird. So antwortete denn der Kammerdiener auf die an ihn gerichtete Frage mit Höflichkeit. Er erinnerte sich an Arams Namen und Ruf, und da der Graf den Umgang mit Gelehrten liebte, und ihnen im allgemeinen den Zugang leicht gestattete, führte er den Ankömmling sogleich nach der Bibliothek, sagte ihm, Seine Herrlichkeit hätte den Speisesaal, wo eben eine große Gesellschaft zur Tafel sei, noch nicht verlassen, und versicherte, der Graf sollte von seinem Besuch unterrichtet werden, sobald man sich vom Tische erhoben habe.

Lord ****+ war noch immer im Amt. Verschiedene Portefeuilles lagen auf dem Boden umher, unzählige Papiere waren über den ungeheuern Lesetisch ausgebreitet; da und dort zeigte sich aber auch ein Buch von anziehenderem Charakter, als diejenigen, welche bloß dem Geschäft angehörten und ein noch kürzlich eingelegtes Zeichen, eine noch frisch mit Bleistift beigeschriebene Bemerkung zeigten häufig die Liebe, womit Männer von gebildetem Geist, auch wenn sie in Staatsämtern stehen, in den augenblicklichen Zwischenräumen ihres dürren, mühevollen Lebens zu dieser minder drückenden Beschäftigung zurückkehren, bei welcher sie in der That vielleicht den größten Genuß finden.

Eines von diesen Büchern, einen Band von Schaftesbury, nahm Aram sorgfältig auf; es öffnete sich von selbst bei jener schönen, tief empfundenen Stelle, die vielleicht den begründetsten Spott enthält, den der geistreiche und anmutige Denker ausgesprochen hat:

»Der eigentliche Faktionsgeist scheint in den meisten Fällen nichts anderes als der Mißbrauch oder die Verirrung jener geselligen Liebe und allgemeinen Zuneigung, welche dem Menschen natürlich ist – denn das Gegenteil der Geselligkeit ist Selbstsucht, und von allen Charakteren ist der vollendete Selbstsüchtling am wenigsten geneigt, Partei zu nehmen. Männer solchen Schlages sind insofern die wahren Repräsentanten der Mäßigung. Sie sind vor ihrem Temperament sicher und zu gut Herren ihrer selbst, als daß sie Gefahr liefen, sich in irgend etwas mit Wärme einzulassen, oder an irgend einer Partei oder Faktion tiefen Anteil zu nehmen.«

Am Rande der Seite stand folgende Bemerkung von der Hand Lord ****+:

»Ein warmes Herz treibt einen Mann in Parteien – Philosophie hält ihn davon entfernt. Der Kaiser Julian sagt in seinem Briefe an Themistius: ›Solltest du nur drei oder vier Philosophen bilden, so würdest du wesentlicher zum Glück der Menschheit beitragen, als viele Könige zusammengenommen.‹ Gleichwohl zweifle ich, ob, wenn alle Menschen Philosophen wären, trotz der hierdurch herbeigeführten größeren Verbreitung der Tugend, noch ebenso viele Beispiele von außerordentlicher Tugend vorkämen. Mächtige Leidenschaften allein bringen solche glänzenden Ausnahmen hervor.«

Noch war der Gelehrte mit dieser Note beschäftigt, als der Graf ins Zimmer trat. Da die Thür, durch welche er kam, jenem im Rücken lag und der Eintretende einen sehr leisen Gang hatte, wurde er von dem Gelehrten nicht bemerkt, bis er neben ihm stand und, über dessen Schulter wegsehend, sagte: »Sie werden die Wahrheit meiner Bemerkung bestreiten, nicht wahr? Völlige Ruhe ist das Element, in das Sie alle Tugenden setzen möchten.«

»Nicht alle, Mylord,« erwiderte Aram, indem er aufstand; damit schüttelte ihm der Graf die Hand und drückte sein Vergnügen aus, ihn wiederzusehen. Obwohl der scharfsinnige Minister nicht so bald den Namen des Gelehrten gehört hatte, als er im Herzen überzeugt war, Aram suche ihn nur auf, um eine Erneuerung der früher zurückgewiesenen Vorschläge zu betreiben, beschloß er doch, seinem Gast die Eröffnung der Sache selbst zu überlassen und schien als feiner Weltmann den Besuch als etwas sich von selbst Verstehendes zu betrachten, das ohne andern Zweck gemacht worden, als die Wiederanknüpfung einer beiden Teilen angenehmen Bekanntschaft.

»Ich besorge, Mylord,« sagte Aram, »Sie sind in Anspruch genommen. Ich kann meine Aufwartung morgen machen, wenn« –

»Wahrhaftig,« unterbrach ihn der Graf und rückte einen Stuhl an den Tisch, »ich bin von nichts in Anspruch genommen, das mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zu entziehen brauchte. Allerdings haben einige Freunde bei mir gespeist, da sie aber jetzt in Gesellschaft von Lady ****+ sind, so werden Sie mich nicht sonderlich vermissen; überdies wird eine gelegentliche Abwesenheit uns glücklichen Staatsmännern leicht verziehen, die wir die Ehre haben, von ganz England um unser prachtvolles Elend beneidet zu werden.«

»Es freut mich, daß Sie selbst soviel zugeben, mein Lord,« entgegnete Aram lächelnd; »ich selbst könnte nicht mehr gesagt haben. Der Staatsdienst schafft sich seine Günstlinge nur, um Undankbare zu machen; – seine höchsten Ehren hat er auf Lord ****+ ausgestreut und man sehe, wie derselbe von solcher Gunstbezeugung spricht!«

»Nun,« erwiderte der Graf, »ich habe mutwillig gesprochen und meine Zurechtweisung erhalten. Ich fühle keinen Grund, über die Laufbahn, die ich erwählt, zu klagen. Der Ehrgeiz bereitet uns, wie jede andere Leidenschaft, hie und da unglückliche Augenblicke, aber er gewährt uns auch ein sehr anregendes Leben. In seinem Verlauf werden die kleineren Übel der Welt nicht gefühlt; kleine Widerwärtigkeiten, kleine Plackereien reichen nicht zu uns herauf. Gleich Nachtwandlern sind wir in einen mächtigen Traum vertieft, und wissen selbst von den Hindernissen auf unserm Wege, von den Gefahren, die uns umgeben, nichts; mit einem Wort, wir haben kein Privatleben. Alles was bloß das Haus angeht, die Angst, die Einbußen, welche andern Menschen so viel zu schaffen machen, wodurch das Glück anderer Menschen verwelkt, werden von uns nicht gefühlt: wir gehören ganz dem Staat an – so daß, wenn wir manches stillere Glück entbehren, wir auch mancher Sorge entgehen.«

Er brach für einen Moment ab. Nachdem er sofort den Gegenstand des Gesprächs geändert, sich nach den Lesters erkundigt und einige allgemeine Bemerkungen über die Familie hingeworfen hatte, machte er absichtlich eine Pause.

Aram brach sie:

»Mylord,« hob er mit leichter Verlegenheit an, die nicht ohne eine gewisse Anmut war, »ich fürchte. Sie haben im Laufe Ihres politischen Lebens oft bemerken müssen, daß der, welcher heute etwas verspricht, morgen an die Erfüllung seiner Zusage erinnert wird. Niemand, der irgend etwas zu geben hat, kann je ungestraft versprechen. Vor einiger Zeit machten Sie mir Vorschläge, die eine mehr erregbare Natur, als die meinige, aus dem Geleise gebracht haben würden und deren Abweisung mir einigen Anspruch auf den Namen eines Philosophen geben dürfte. Ich komme jetzt nicht, eine Erneuerung dieser Anträge zu fordern. Noch jetzt ist das Staatsleben, ist das Jagen der Menschen meinen Bestrebungen so zuwider als je. Aber ich komme offen und freimütig meine Zuflucht zu jener Großmut zu nehmen, die mir damals eine so reiche Gabe bot. Gewisse Umstände haben mir das kleine Einkommen entzogen, das zu meinen Bedürfnissen hinreichte; ich verlange bloß die Möglichkeit, meine ruhige, glanzlose wissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen. – Sie, mein Lord, können mir diese Möglichkeit verschaffen; es ist nicht gegen die Gewohnheit der Regierung, Gelehrten ein kleines Jahrgeld auszuwerfen; – der Einfluß Eurer Herrlichkeit dürfte diese Vergünstigung für mich erreichen. Indessen muß ich beifügen daß ich nichts zur Erwiderung bieten kann! Politische Parteiungen – Faktionsinteressen – sind auf ewig für mich tot; und selbst die Studien, zu welchen mich meine Neigung hinzieht, bringen der Menschheit nur geringen Nutzen – ich weiß das, und wollt' es wär' anders! – Einst hoffte ich, es. würde anders sein, aber« – hier wandte sich Aram mit tötlicher Blässe auf dem Gesicht ab und holte tief Atem; doch bezwang er seine Bewegung und fuhr fort: »Ich habe also keine große Ansprüche an eine solche Mildthätigkeit, als eben diejenigen, die jeder vermögenslose Bearbeiter abstrakter Wissenschaften vorbringen kann. Für ein Land ist es gut. wenn dergleichen Felder des Wissens angebaut werden; sie sind nicht von einer Natur, die ihren Inhabern Gewinn bringt; nicht von einer Natur, die, wie leichtere Litteratur, der freundlichen Gunst des Publikums anheimgestellt werden kann! – sie bedürfen vielleicht mehr, als irgend ein anderer Zweig der Geistesbildung des Schutzes der Regierung; und obwohl diese in mir wohl eine bescheidene Wahl trifft, so würde damit doch wenigstens das Princip aufrecht erhalten werden und mein Beispiel den Vorgang für nachfolgende bessere Bewerber bilden. – Ich habe alles gesagt, Mylord!«

Nichts vielleicht wirkt stärker auf einen Mann, der Gefühl für die Jünger der Wissenschaft hat, als Ansprüche um Unterstützung von seiten eines Menschen, der dieselben mit Recht vorbringen kann und mit Würde vorbringt. Wenn der zum Almosenempfänger aus Gewohnheit herabgesunkene Gelehrte, in seinen Kunstgriffen halb Bettler, halb Schwindler; welcher sich's gefallen läßt, daß man ihm die Thür weist; welcher mit seiner Schmach prahlt; wenn ein solcher das niedrigste, jämmerlichste Ding in der Welt ist und uns durch seinen Anblick herzkrank macht; – was rührt, was überwältigt auf der andern Seite so sehr, als die erste und einzige Bitte eines Mannes, dessen Geist die Würde unseres ganzen Geschlechts erhöht, und welcher diese Bitte bei aller Bescheidenheit mit einem gewissen Stolz vorbringt, weil er, wenn er eine Gunst für sich selbst fordert, nur die Möglichkeit verlangt, die Welt zu erleuchten?

»Sagen Sie nichts weiter, mein Herr,« erwiderte der Graf mit tiefer Bewegung, aus welcher noch seine gewöhnliche Grazie hervorblickte. »Die Sache ist abgemacht, betrachten Sie dieselbe durchaus in diesem Licht. Nennen Sie nur die Summe des Jahrgeldes, welche Sie wünschen.«

Mit einigem Zögern nannte Aram eine so mäßige, so unbedeutende Summe, daß der Minister, gewöhnt an die Gesuche jüngerer Söhne und vornehmer Witwen – an die hungrige Gier verdienstloser Bittsteller, welche Geburt als das einzig begründete Anrecht auf Forderungen ans Publikum betrachten – über den Gegensatz im eigentlichen Sinne zusammenschrak. »Mehr als dies,« fügte Aram hinzu, »verlange ich nicht und würde es, falls man mir's anböte, zurückweisen. Wir haben einiges Recht, von den Verwaltern des Staatsvermögens Fristung unseres Daseins zu beanspruchen – nicht aber Überfluß.«

»Wollte der Himmel,« entgegnete lächelnd der Graf, »alle Supplikanten glichen Ihnen! dann würden die Pensionslisten keine Entrüstung hervorbringen und kein Minister dürfte erröten, wenn er die Gerechtigkeit seiner Gunstbezeugungen zu verteidigen hat. Aber sind Sie noch immer entschieden, eine mehr ins Staatsleben einschlagende Laufbahn mit all ihren verdienten Vorteilen und rechtmäßigen Ehren abzulehnen? Das Anerbieten, das ich Ihnen unlängst machte, erneuere ich, mit erhöhtem Wunsch von meiner Seite.«

»Despicam dites,« erwiderte Aram, »und Dank Ihnen, kann ich nunmehr hinzusetzen: despiciamque famem


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