Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gefaßt auf jedes Schicksal.
Rede Eugen Arams.
Ein Gedanke kommt oft über uns mitten im Laufe unserer Vergnügungen oder dem unruhigen Aufruhr ehrsüchtiger Bestrebungen; ein Gedanke gleich einer Wolke, daß um uns und über uns Tod – Schande – Frevel – Verzweiflung geschäftig seien. Ich habe irgendwo von einem bezauberten Lande gelesen, dessen Bewohner durch herrliche Garten und prächtige Paläste wandelten, und Musik hörten und fröhlich unter einander waren, während neben und in dem Lande tiefe Höhlen, Aufenthaltsorte von Gnomen und bösen Geistern, lagen. Oft stieg ihr Stöhnen und Lachen und der Ton ihrer geheimnisvollen Arbeit oder ihres gespenstischen Jubels aus dem Boden herauf und vermischte sich furchtbar seltsam mit der sommerlichen Festlichkeit und dem lärmenden Getreibe da droben. Dies ist ein Bild des Menschenlebens! So düster dergleichen Betrachtungen über die wirren Disharmonien der Welt erscheinen, sind sie gleichwohl heilsam.
»Sie hüllen unser Denken
Bei Festgelagen in ein Leichentuch;«Young
und selten werden wir trüber gestimmt, ohne zugleich weiser zu werden!
Sonnig, still und klar brach der 3. August 1759 an; es war der Morgen der Gerichtsverhandlung. Als sich Ellinor in der Schwester Zimmer schlich, fand sie Madeline vor dem Spiegel, mit sichtbarer Sorgfalt die reichen Locken ordnend.
»Ich wollte,« sprach sie, »Du hättest dich mir zuliebe wie zu einem Festtag geschmückt. Sieh, ich will das Kleid anziehen worin ich ihm angetraut werden sollte.«
Ellinor schauderte. Was ist grauenhafter, als ein Zeichen der Freude bei einer bittern, unbarmherzigen Wirklichkeit zu erblicken?
»Ja,« fuhr Madeline mit einem Lächeln voll unaussprechlicher Milde fort, »ein wenig Nachdenken wird dir selbst zeigen, daß dieser Tag nicht als Tag der Trauer betrachtet werden darf. Nur die Ungewißheit war's, was unsere Herzen so ausdörrte. Wird er losgesprochen, wie wir alle glauben und hoffen, so ist ja eine äußerliche Schaustellung unseres Jubels ganz am rechten Platz! Wird er's nicht, nun so werd' ich ihm in Hochzeitskleidern vorangehen in unser Hochzeitsland. Ach,« fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, und ihr Ausdruck in Stimme und Miene ward ernster, gesammelter und tiefer: – »ach, erinnerst du dich noch wie Eugen uns einst erzählte, daß wenn wir mittags auf den Grund einer tiefen Grube hinabstiegen, wir die Sterne sehen würden, die oben auf der Erde nicht sichtbar sind?Eine Bemerkung, die schon bei Aristoteles vorkommt. Buffon führt dieselbe mit seinem gewohnten Talent der Darstellung, wie ich glaube im ersten Band seines großen Werkes, an. Ebenso sehen wir erst aus der Tiefe des Jammers – zerknickt, elend, versengt, sterbend – daß die segensvollen Erscheinungen und Zeichen des Himmels für unser Auge aufgehen. Und ich weiß – ich hab' gesehen – ich fühle hier« – die Hand ans Herz drückend – »daß meine Bahn vollendet ist. Nur noch wenige Sandkörner sind übrig in dem Stundenglas. Lassen wir sie mutig verrinnen. Da, Ellinor, sieh diese armen verwelkten Rosenblätter; Eugen gab sie mir am Tage vor – vor demjenigen, der zu unserer Hochzeit bestimmt war. Ich will sie heute tragen, wie ich sie am Hochzeitstage getragen haben würde. Als er die arme Blume pflückte, wie frisch war sie da; ich küßte den Tau von ihr weg: sieh sie jetzt! Aber komm, komm; das sind Kleinigkeiten; wir dürfen uns nicht verspäten. Hilf mir, Lorchen, hilf mir; komm, tummle dich, schnell, schnell! O, nimm's nicht nur so obenhin; ich sag' dir, ich will mich heute sorgfältig kleiden.«
Das Gewand hing, als sie angekleidet war, lose und in weiten Falten über der zusammengeschrumpften Gestalt: wie sie aber jetzt aufgerichtet dastand und ihr Bild im Spiegel mit einem Lächeln betrachtete, das Ellinor schmerzlicher in die Seele ging, als Thränen, hatte sich ihre Schönheit vielleicht nie in ergreifendern, erhabenern Zügen ausgesprochen; – sie glich wirklich einer Braut, aber nicht irdisch konnte man sich ihr Hochzeitsfest denken. In diesem Augenblick vernahm man unentschlossene zitternde Tritte vor der Thür: Lester klopfte und fragte draußen, ob sie bereit wären.
»Kommen Sie herein, Vater,« rief Madeline mit ruhiger, ja heiterer Stimme. Und der alte Mann trat herein.
Er warf einen schweigenden Blick auf Madelines weißes Gewand, und dann auf sein eigenes, das tiefe Trauer war. Kein Buch hätte gesagt, was dieser Blick, und kein Wort von einem der drei schwächte seinen Sinn.
»Ja, Vater.« sprach Madeline, die Stille brechend, »wir sind fertig. Ist der Wagen vor?«
»Er hält vor dem Hause, mein Kind.«
»So komm denn, Ellinor, komm!« – und auf der Schwester Arm gestützt, trat Madeline gegen die Thür. An die Schwelle gekommen, blieb sie noch einmal stehen und sah im Zimmer umher.
»Fehlt dir noch was?« fragte Ellinor.
»Ich habe nur allem hier lebewohl gesagt,« erwiderte Madeline mit sanfter, rührender Stimme. »Und nun, ehe wir das Haus verlassen, Vater, Schwester, ein Wort mit euch. Ihr seid immer voll, voll Liebe gegen mich gewesen, und am meisten in dieser bittern Prüfung, wo ich eure Geduld so schwer in Anspruch genommen haben muß; – denn ich weiß, alles ist hier nicht richtig« (an die Stirn greifend) – »ich kann jetzt nicht gehen, ohne euch zu danken. Ellinor, meine teuerste Freundin, – meine geliebte Schwester – meine Gespielin in guten Stunden – meine Trösterin im Gram – meine Wärterin in der Krankheit: – seit wir kleine Kinder waren, haben wir zusammen geplaudert, zusammen gelacht und geweint; keinen Gedanken hielten wir vor einander verborgen, aber nie stießen wir auf einen, den wir vor Gott hätten verheimlichen müssen. Jetzt sollen wir von einander scheiden. Halt mich nicht zurück, es muß so geschehen, ich weiß es. Aber nach kurzer Zeit wirst du wieder glücklich sein; nicht mehr so ganz lebensfroh wie du sonst warst, das ist nicht mehr möglich, aber immer noch glücklich! –Du bist für die Liebe und die Häuslichkeit gemacht, und für die Bande, die wie du einst glaubtest, mich umschlingen sollten. Gebe Gott, daß ich für uns beide gelitten habe, und daß, wenn wir wieder zusammenkommen, du mir sagst, du seiest glücklich gewesen hienieden!«
»Aber Sie, Vater,« fuhr Madeline fort, indem sie sich vom Nacken der weinenden Schwester losriß und vor Lester auf die Knie sank, der sich in krampfhafter Qual an die Wand lehnte und das Gesicht mit den Händen bedeckte; »aber Sie – was kann ich Ihnen sagen? – Sie, der nie – selbst in meiner frühesten Kindheit nie – ein einziges hartes Wort zu mir gesprochen hat; – der die ganze Gewalt eines Vaters in die Liebe eines Vaters versenkte, – wie kann ich alles, was ich für Sie fühle – alle die überfließenden, schmerzlich süßen Erinnerungen meines Dankes, die auf mich eindrängen, mir den Atem nehmen, wie kann ich sie ausdrücken? – Die Zeit wird kommen, wo Ellinor und Ellinors Kinder Ihnen alles sein müssen; – wo von Ihrer armen Madeline nichts übrig sein wird als ein Andenken. Jene aber werden über Sie wachen und Sie pflegen und Ihre grauen Haare vor Kummer schützen, wie ich's auch mir vom Schicksal bestimmt glaubte.«
»Mein Kind! Mein Kind! Du brichst mein Herz!« stammelte endlich der zitternde Greis hervor, der bisher vergebens zu sprechen versucht hatte.
»Geben Sie mir Ihren Segen, teurer Vater,« sagte Madeline, selbst von ihren Empfindungen überwältigt. »Legen Sie mir die Hand aufs Haupt und segnen Sie mich – und sagen Sie, daß, wenn ich Ihnen je unbewußt einen augenblicklichen Kummer verursacht habe, – dieser mir vergeben ist!«
»Vergeben!« wiederholte Lester, die Tochter mit schwachen, zitternden Armen aufhebend, und seine Thränen fielen dicht auf ihre Wangen; – »nie fühlte ich so wie jetzt, welch ein Engel in meinem Hause war! – Aber tröste dich, ermutige dich. Wie, wenn der Himmel sein lohnendes Erbarmen auf diesen Tag aufgespart hätte und Eugen noch vor Abend frei, losgesprochen, siegreich unter uns stände?«
Ha!« entgegnete Madeline, wie durch diesen Gedanken plötzlich zu neuem Leben aufblühend: – – »ha! eilen wir, Ihre Worte bald wahr zu finden. Ja! ja! – Wenn's so ginge – wenn so. Und,« – fügte sie mit hohler Stimme, die Begeisterung wieder zurückdrängend, hinzu: – »wären meine Träume nicht, so könnt' ich wirklich glauben, es werde so gehen. – Aber – kommt – ich bin fertig!«
Langsam fuhr der Wagen durch die Menge, welche das Gerücht von der bevorstehenden Gerichtsverhandlung auf den Straßen angesammelt hatte; aber die Vorhänge waren herabgelassen, und Vater und Tochter retteten sich vor der härtesten aller Qualen, dem neugierigen Angaffen von Menschen, denen unser Jammer fremd ist. Im Saal waren Plätze für sie freigehalten worden. Als sie aus dem Wagen stiegen und den verhängnisvollen Ort betraten, zog Lesters ehrwürdiges Haupt neben den zitternden, verschleierten Gestalten, die sich an ihn klammerten, aller Augen auf sich. Mühsam gelangten sie zu ihren Sitzen. Bald wandte eine neue Aufregung im Saal die Blicke wieder von ihnen. Ein Gesumme, ein Gemurmel, eine Bewegung und dann eine ängstliche Stille! Hausman wurde zuerst wegen der früher gegen ihn erhobenen Anschuldigung vorgefordert, losgesprochen und als Zeuge gegen Aram zugelassen, der sofort hereingeführt ward. Der Gefangene stand vor den Schranken! Madeline rang nach Luft und klammerte sich mit einer konvulsivischen Bewegung an den Arm ihrer Schwester. Aber unmittelbar darauf gewann sie mit einem langen Seufzer ihre Selbstbeherrschung wieder und saß still und ruhig, das Auge auf Arams Gesicht geheftet; und wirklich war dieses Gesicht wohl geeignet, ihren Mut aufrecht zu halten, und sie bei aller Angst, aller Schärfe des gefolterten Mitgefühls mit einer Art triumphierenden Stolzes zu erfüllen. Wohl sprach sich etwas von dem was er gelitten in den Zügen des Angeklagten aus; die Linien um den Mund her, worin Bekümmernis des Gemüts ihre Furchen am tiefsten zu ziehen pflegt, waren ausgeprägt und tief; graue Haare schimmerten hie und da aus dem üppigen Reichtum der dunkelbraunen Locken hervor, und wie er vor seiner Einkerkerung bedeutend jünger geschienen, als er war, so hatte die Zeit nunmehr die frühere Säumnis ausgeglichen, und es konnte scheinen, er zähle mehr Jahre als wirklich über sein Haupt hingegangen. Aber der ausgezeichnete Glanz Und die Schönheit seines Auges erschienen, wie immer, ungetrübt; und immer noch zeigte die breite Stirn ihre faltenlose Wölbung und den ergreifenden Ausdruck von Ruhe und Hoheit. Stolz, gesammelt, heiter und unverwirrt blickte er um sich auf die Menge, den Schauplatz, den Richter. Sogar denen, welche Hn schuldig glaubten, nötigte eine unwillkürliche, unwiderstehliche Ehrfurcht, wie sie moralische Festigkeit stets auf das Gemüt ausübt, zu ihrer Überraschung Teilnahme am Schicksal des Gefangenen, ja selbst eine geheime Hoffnung seiner Freisprechung ab.
Hausman ward aufgerufen. Niemand könnte sein Gesicht ohne ein gewisses Mißtrauen, ohne innerlichen Schauder betrachten. Schon häufig hat man die Bemerkung gemacht, daß in der Physiognomie blutdürstiger Menschen ein tierischer Ausdruck auffallend hervortritt. Nicht selten ähneln sich der Mörder und der Lüstling in ihrem körperlichen Bau. Der Stierhals – die dicken Lippen – die zurücktretende Stirn – das wilde, unruhige Auge, das, wie einige sagen, an den Büffel erinnert, im Moment ehe er gefährlich wird – sind die äußerlichen Zeichen des tierischen Wesens, das ungezähmt, unerleuchtet, ungemildert nur den unmittelbaren Trieben seiner Natur folgt, was nun die Leidenschaft (Wollust oder Rache) sein mag, nach welcher dieselben ihren Zug nehmen. Dieser Ausdruck von Tierheit, der Beleg eines entsprechenden Charakters; war besonders ausgemeißelt, wenn wir uns dieses Wortes bedienen dürfen, in Hausmans gefurchten, rauhen Zügen, die in diesem Augenblick durch ein Gemisch von Verstocktheit und Verzagtheit noch hervortretender wurden. Die Gewißheit, daß sein eigenes Leben gerettet sei, konnte nicht verhindern, daß er sich nicht Vorwürfe über den an dem Gefährten begangenen Verrat machte – eine Art von dunklem Ehrgefühl, das sich in Bösewichtern noch am ehesten ausspricht, wenn jede andere Empfindung von Rechtlichkeit sie verlassen hat.
Mit leiser, gedrückter und mitunter zitternder Stimme gab Hausman an, »er sei in der Nacht vom 7. auf den 8. Februar 1744, etwas vor elf Uhr, in Arams Haus gekommen; – habe sich mit ihm über verschiedene Gegenstände unterhalten, – sei etwa eine Stunde dort geblieben; – sei etwa drei Stunden nachher in Gesellschaft Clarkes wieder an Arams Hause vorbeigekommen, wo Aram vor der Thür gestanden, als ob er eben heimkehrte; – Aram habe sie beide eingeladen hereinzukommen; – sie hätten es gethan; – als Clarke, dessen Absicht dahin gegangen, die Stadt vor Tagesanbruch zu verlassen, um, wie ihnen bekannt gewesen, sich mit gewissen Kostbarkeiten, in deren Besitz er sich gesetzt, aus dem Staube zu machen, im Begriff war, das Haus zu verlassen, habe Aram vorgeschlagen, ihn vor die Stadt hinaus zu begleiten! – Er (Aram) und Hausman seien nun mit Clarke weggegangen; als sie aufs freie Feld in die Gegend von der St. Robertshöhle gekommen, seien Aram und Clarke über die Hecke gestiegen und in die Höhle hineingegangen, und als sie auf etwa zwölf bis achtzehn Fuß darin gewesen, habe er wahrgenommen, daß sie miteinander in Streit gerieten; – habe bemerkt, wie Aram den Clarke mehrmals geschlagen, worauf Clarke niedergestürzt sei, und er ihn nicht wieder habe aufstehen sehen; – er habe nicht bemerkt, daß Aram irgend ein Instrument bei sich gehabt, und wisse auch nicht, daß er ein solches überhaupt mitgeführt; – er habe sich sofort ohne Einmischung oder Lärm entfernt und sei heimgekehrt; – am folgenden Morgen sei er in Arams Wohnung gegangen und habe gefragt, was er vorige Nacht mit Clarke gehabt und was er mit ihm angefangen? Aram habe auf diese Frage nicht geantwortet, ihm aber, falls er etwas davon ausplaudern werde, daß er diese Nacht mit Clarke zusammen gewesen, gedroht und beteuert, er werde sich entweder in eigener Person oder durch einen dritten schwer an ihm rächen, wenn er irgend etwas über die Sache erwähne.« – Dies war das Wesentliche von Hausmans Aussage.
Darauf wurde ein gewisser Beckwith vorgerufen. Dieser gab an, man habe infolge eines unbestimmten Gerüchts, als sei Aram an der Betrügerei Clarkes beteiligt gewesen, in dem Garten des ersteren Nachforschungen vorgenommen; wirklich seien daselbst einige Fetzen von einer Kleidung und auch einige Stücke Batist gefunden worden, die er kurz zuvor an Clarke verkauft habe.
Der dritte Zeuge war der Nachtwächter Thomas Barnet. Dieser sagte aus, er habe vor Mitternacht (es möge etwas nach elf Uhr gewesen sein) einen Mann aus Arams Haus kommen sehen, der einen weißen Mantel um und die Mantellappe über den Kopf gezogen gehabt, und, wie es ihm geschienen, ihm gern ausgewichen wäre; auf dies hin sei er auf ihn zugegangen, habe ihm die Kappe seines großen Mantels abgezogen und sich sofort überzeugt, daß es Richard Hausman war. Er habe sich begnügt, ihm eine gute Nacht zu wünschen.
Die Gerichtsdiener, welche den Verhaftsbefehl gegen Aram in Vollzug gesetzt hatten, legten nun ihr Zeugnis über seine Festnehmung ab. Sie führten einige Worte an, welche dem Gefangenen vor seiner Ankunft in Knaresborough entfallen waren. Diese wurden jedoch als gänzlich unwichtig befunden.
Nach diesem Verhör folgte eine kurze Pause. Dann ging ein Schauder, jenes Zurückprallen und Zittern, welches die Menschen bei der Ausstellung von Totenresten überkommt, durch den Saal; denn der nächste Zeuge war stumm – es war der Schädel des Verstorbenen! Auf dessen linker Seite befand sich ein Bruch, der seiner Natur nach, wie es schien, nur durch den Schlag eines stumpfen Instruments hervorgebracht sein konnte. Das entsprechende Stück war hineingeschlagen und konnte nur von innen heraus wieder an seine Stelle gesetzt werden.
Der Wundarzt Locock, der den Schädel vorzeigte, gab seine Meinung dahin ab, daß eine solche Beschädigung nicht durch natürliche Verwesung entstehen könne, und daß es ebensowenig ein Bruch aus erst neuerer Zeit sei, etwa durch das Werkzeug entstanden, womit das Gerippe vielleicht aufgegraben worden, sondern daß die Fraktur schon vor vielen Jahren erfolgt sein müsse.
Dies machte den wesentlichen Teil der gegen Aram abgelegten Zeugnisse aus. Die unbedeutendern Punkte haben wir weggelassen: ebenso diejenigen, welche, wie die Aussage von Arams Hauswirtin, nur eine Wiederholung dessen gewesen sein würden, was der Leser bereits weiß.
Somit war das Zeugenverhör geschlossen und es erging nunmehr an den Gefangenen jene erschütternde, angstvolle Frage: was er zu seinen Gunsten anzuführen habe? Bis jetzt hatte Aram weder Stellung noch Miene geändert; – sein dunkles durchdringendes Auge hatte sich jedesmal einen Moment auf den gegen ihn vortretenden Zeugen geheftet und sich dann auf den Boden gesenkt. Jetzt aber flog ein schwaches, hektisches Rot über seine Wangen; er schien sich zu fassen und zur Verteidigung zusammenzunehmen. Sein Blick durchlief den Gerichtssaal, als wollte er sehen, was für ein Eindruck gegen ihn hervorgebracht worden und ruhte dann auf den greisen Locken Rowland Lesters, der, das Gesicht mit den Händen bedeckt, auf den Boden starrte. An diese ehrwürdige Gestalt lehnte sich das stille Marmorangesicht Madelines. Selbst in weiter Entfernung konnte Aram bemerken, mit welcher Gewalt sie ihre gespannten Gefühle niederkämpfte. Als ihre Auge aber das seinige traf, das selbst in solchem Moment unaussprechliche Liebe, Mitleid und Schmerz um ihretwillen in sich trug, brach ein wildes, krampfhaftes Lächeln der Ermutigung, des vorempfundenen Triumphs die Ruhe ihrer bleichen Züge. Schnell starb es wieder hinweg; aber die Lippen blieben geöffnet mit jenem Ausdruck, welchen die großen Meister des Altertums, der Natur getreu, dem Hoffnungskampf wie dem Stillstand des Schreckens geben.
»Mein Lord,« begann Aram jene noch jetzt vorhandene merkwürdige Verteidigung, die noch immer als völlig unerreicht im Mund eines Menschen dasteht, der seine eigene und solch eine Sache führt: – »mein Lord, ich weiß nicht, ob es ein Recht ist, oder ob es durch Nachsicht Eurer Herrlichkeit geschieht, daß man mir, dem Unfähigen und Ununterrichteten in öffentlicher Sprechweise, vor diesen Schranken und in diesem Augenblick die Freiheit gestattet, die eigene Verteidigung zu versuchen. Denn da so viele Augen, eine so zahlreiche, beängstigende Menge mit Aufmerksamkeit, mit mir unbekannten Erwartungen an mir hängt, so kämpfe ich, mein Lord, nicht mit einer Schuld, wohl aber mit Befangenheit. Früher nie Zeuge einer Gerichtsverhandlung, völlig unbekannt mit dem Gesetz, dem Gerichtsgebrauch und dem ganzen richterlichen Verfahren, dürfte ich so wenig geeignet sein, mich in gehöriger Art auszudrücken, daß man wohl mit Grund annehmen kann, es übertreffe schon meine Hoffnung, wenn ich zur Sprache nur überhaupt fähig bin.
Ich habe, mein Lord, die Anklage verlesen hören, worin mir das höchste menschliche Verbrechen zur Last gelegt wird. So wollen Sie mir denn Nachsicht widerfahren lassen, wenn, ich, einzeln und ungewandt, ohne Hilfe eines Freundes, ohne Beistand eines Anwaltes, eine Art logischer Beweisführung zu meiner Verteidigung versuche. Was ich zu sagen habe, wird nur kurz, und diese Kürze das beste daran sein.
Mein Lord, der Inhalt meines Lebens widerspricht dieser Anschuldigung. Wer kann auf das, was aus meinen frühern Jahren bekannt ist, zurückblicken und mich eines einzigen Lasters – eines einzigen Vergehens bezichtigen? Nein! nie entwarf ich Anschläge auf Betrug –, sann nie auf Gewaltthat – griff nie das Eigentum oder die Person von irgend jemand an. Meine Tage verflossen in ehrlicher Arbeit, meine Nächte in angestrengten Studien. Dieses mir selbst erteilte Lob ist nicht anmaßend – ist nicht unbillig. Welcher Mensch stürzte je aus einem nüchternen Lehen, aus einer Folgereihe geordneten Denkens und Handelns, worin sich auch keine einzige Abweichung von einem geregelten, Maß haltenden Benehmen nachweisen läßt, kopfüber und auf einmal in die Tiefe des Verbrechens hinab? Die Menschen werden nicht in einem einzigen Nu verderbt. Nur gradweise wird man schlecht. Wir weichen vom Rechten nicht plötzlich, sondern Schritt für Schritt ab.
Widerspricht mein Leben im allgemeinen jener Anschuldigung, so widerspricht ihr mein Gesundheitszustand, besonders in jenen Tagen, noch mehr. Kurz vorher war ich ans Bett gefesselt gewesen, hatte eine lange, heftige Krankheit zu bestehen gehabt. Nur langsam und teilweise wich die Verstimmung meiner Nerven wieder von mir. Weit entfernt, daß ich zur Zeit, in welcher mir jene That zur Last gelegt wird, gesund gewesen wäre, hab' ich mich bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig erholt. Konnte ein Mensch unter solchen Verhältnissen eine Gewaltthat gegen einen andern ausüben? Konnte ich's, der Schwache, Kränkliche, dem der Reiz, der ihn zu solchem Schritt hätte anlocken können, die Fähigkeit ihn zu unternehmen, die Waffe ihn durchzusetzen, abging; dem Interesse, Kraft, Beweggründe, Mittel dazu fehlten?
Mein Lord, Clarke verschwand. Ganz recht; ist dies aber ein Beweis seines Todes? Die Unsicherheit aller Schlußfolgerungen solcher Art und aus solch einem Umstand liegt zu sehr auf der Hand, als daß es noch der Anführung von Beispielen bedürfte. Ein Beispiel liegt vor Ihnen; dies Schloß selbst beut es dar.
Im Juni 1757 entfloh William Thompson an hellem Tage und doppelt geschlossen, trotz der sorgfältigsten Überwachung, aus diesem Gebäude. Ungeachtet der unmittelbar nachher aufgebotenen Nachforschung, ungeachtet aller öffentlichen Anzeichen, alles Suchens, hat man seitdem nie wieder etwas von ihm gehört noch gesehen. Entkam dieser Mensch, ohne gesehen zu werden, durch all diese Hindernisse, um wie viel leichter mußte solches für Clarke sein, welchem keine Hemmnisse entgegenstanden! Und was würde man gleichwohl von einem gerichtlichen Einschreiten gegen denjenigen denken, der zuletzt mit Thompson gesehen worden wäre?
Diese Gebeine wurden aufgefunden! Wo? Läßt sich, wenn man nicht gerade den Kirchhof selbst nehmen will, irgend ein Ort denken, wo man sich mit soviel Zuversicht darauf verlassen kann, menschliche Gebeine zu finden als eine Einsiedelei? In frühern Zeiten war die Einsiedelei nicht nur Ort frommer Abgeschiedenheit, sondern auch Begräbnisplatz. Kaum oder nie hat man von einem der jetzt bekannten Eremitensitze gehört, der nicht solche Menschenreste, bald teilweise, bald ganz, enthielte oder enthalten hätte! Sei es mir erlaubt, Eure Herrlichkeit zu erinnern, daß hier die Stätte einsamer Heiligkeit war: daß der Eremit, der Anachoret nach ihrem Tode hier dieselbe Ruhe für ihre Gebeine hofften, die ihre Seele während des Lebens daselbst genossen hatte. Lassen Sie mich einen Blick auf einige wenige unter den vielen Beispielen werfen, wonach diese Siedeleien zu Ruhestätten der Verstorbenen dienten; mich einige wenige von den vielen Höhlen anführen, die gleichen Ursprung wie die St. Roberts Höhle hatten, und worin ebenfalls Menschengebeine gefunden wurden.« – Hier zählte der Gefangene mit bemerkenswertem Glück mehrere Orte her, wo unter ähnlichen Umständen und an Stellen, welche der in Frage stehenden entsprachen, Gebeine aufgefunden worden waren.Man sehe seine im Druck erschienene Verteidigung. Der Leser, der sich jenes obersten gesetzlichen Grundsatzes erinnern wird, wonach niemand eines Mordes wegen verdammt werden kann, so lange der Leichnam des Gemordeten nicht nachgewiesen ist. wird damit sogleich fühlen, wie wichtig eben berührter Punkt zur Verteidigung des Angeklagten Iwar. Nachdem derselbe die Reihe der angeführten Beispiele mit zwei Fallen beschlossen hatte, in welchen Gerippe in der Umgegend von Knaresborough selbst gefunden worden, rief er aus:
»Hat man etwa die Auffindung dieser Gebeine vergessen oder absichtlich verhehlt, damit der in Frage stehende Fund um so außerordentlicher erscheine? Außerordentlich – und doch welch ein alltägliches Ereignis! Jeder Ort birgt dergleichen Überreste. In Feldern, Hügeln, auf den Seiten der Landstraßen – auf Triften – auf Gemeindeweiden findet man häufig Gebeine, ohne daß dies irgendwie verdächtig erscheint! Zudem bedenke man noch, daß vielleicht kein Beispiel vorkommt, wonach mehr als ein Gerippe in einer Einsiedelei gefunden worden wäre. Auch hier findet sich nur ein einziges, ganz angemessen der Beschaffenheit jedes in Britannien bekannten Einsiedlersitzes. Hätte man zwei Gerippe entdeckt, dann erst hätte der Fall verdächtig und ungewöhnlich erscheinen dürfen! Was! haben wir die Schwierigkeiten vergessen, die schon vorgekommen sind, um selbst die Identität lebender Personen zu erweisen, wie im Fall Perkin Warbecks und Lambert Symnells und wollen nun gar Gebeinen eine Persönlichkeit zuschreiben – Gebeinen, die so gut dem einen als dem andern Geschlecht zukommen können? Woher wißt ihr, daß dieses gerade das Gerippe eines Mannes ist? Ja. wurde nicht ein anderes Skelett durch Feldarbeiter entdeckt und mit derselben Zuversichtlichkeit für dasjenige von Clarke ausgeschrien wie das später aufgefundene?
Mylord. Mylord – sollen Lebende für all die Knochen verantwortlich gemacht werden, welche die Erde barg und ein Zufall an den Tag brachte? Ärztlich ist erklärt worden, der vorgewiesene Schädel sei eingeschlagen. Wer aber kann mit Gewißheit sagen, ob dies Ursache oder Folge des Todes war? Als im Mai 1732 die Überreste von Wilhelm, Lord Erzbischof dieser Grafschaft, mit Erlaubnis der Regierung in der Hauptkirche aufgegraben wurden, fand man einen ganz ähnlichen Bruch der Schädelplatten vor. Und doch starb jener durch keine Gewaltthat: starb nicht infolge eines Schlages, der den Knochen zerbrochen haben könnte. Erinnern wir uns, nie viele Möglichkeiten sich für den Bruch an dem vorgezeigten Schädel nachweisen lassen! Als die Klöster aufgehoben wurden, griff die Wut der Zeit die Toten wie die Lebenden an. Die Spürer nach eingebildeten Schätzen brachen Särge, Gruben, Gräber und Gewölbe auf, zerstörten Denkmäler, zertrümmerten Reliquienkästen, so daß endlich sogar das Parlament aufgerufen wurde, diesen Entweihungen ein Ziel zu setzen. Sollen die Plünderungen, die Greuel jener Tage in den unsrigen gezüchtigt werden? In Knaresborough endlich wurde, noch über all dies, die Burg hart belagert; jeder Fleck in der Umgegend war Schauplatz eines Ausfalls, eines Gefechts, einer Flucht, einer Verfolgung. Wo die Erschlagenen fielen, da wurden sie auch beerdigt. Welcher Ort würde im Kriege nicht zum Grab? Wie viele Gebeine müssen in der Nachbarschaft dieser einst belagerten Burg noch verborgen liegen und werden in Zukunft aufgefunden werden! Wollten Sie also unter so vielen wahrscheinlichen Umständen gerade den unwahrscheinlichsten herauswälzen? Können Sie einem Lebenden aufbürden, was der Fanatismus in seiner Wut vollbracht haben mag: was vielleicht die Natur weggeräumt hat und Frömmigkeit begrub, oder was endlich der Krieg für sich allein zerstört, allein auf die Seite geworfen haben mag?
Und jetzt blicken Sie auf die vor Gericht Angegebenen Nebenumstände – wie schwach, wie unhaltbar! Fast acht' ich's unter meiner Würde, auf dieselben hinzudeuten; bei denselben zu verweilen will ich mich nicht herablassen. Das Zeugnis eines einzigen, in eigener Person angeschuldigten Menschen! Ist hier keine Möglichkeit, daß dieser Mensch, um sein eigenes Leben zu retten, gegen das meinige sich verschwört? – keine Möglichkeit, daß, wenn ein Mord wirklich begangen wurde, er denselben begangen hat? daß sein Gewissen ihn in seinem ersten Ausruf verriet? daß ihm sofort Arglist eingab, eine Schuld auf mich zu wälzen, um welche zu wissen er gegen seinen Willen eingestanden hatte? Er erklärt, er habe mich auf Clarke zuschlagen, habe diesen fallen sehen; und doch stößt er darüber keinen Schrei, keinen Tadel aus; er ruft nicht um Hilfe, sondern geht ruhig nach Hause. Er erklärt, er wisse nicht, was aus dem Körper geworden und gab doch früher an, wo der Körper liege. Er erklärt, er sei geradeswegs und allein heimgekehrt, während die Frau, bei welcher ich wohnte, angiebt, Hausman und ich seien miteinander in Gesellschaft zurückgekommen. Was für ein Zeugnis ist dies und von wem geht es aus? – Fragen Sie sich selbst. Was die übrigen gegen mich abgegebenen Aussagen betrifft, was wollen sie sagen? Der Nachtwächter steht, daß Hausman meine Wohnung im Dunkeln verläßt. Was ist glaublicher als so etwas? Aber was hat auch weniger mit der wirklichen oder angenommenen Ermordung Clarkes zu thun? In meinem Garten findet man einige Kleiderfetzen. Aber wie kann erwiesen werden, daß dieselben Clarke angehörten? Wer kann darauf schwören, wer kann etwas so ganz Ungewisses beweisen? und selbst wenn sie dort gefunden wurden, selbst wenn sie Clarke angehörten: geht daraus hervor, daß sie von mir dort verscharrt wurden? Wie wahrscheinlich ist es vielmehr, daß der wirkliche Verbrecher eher jeden andern Ort als gerade den vor seinem eigenen Hause gewählt haben dürfte, um im Dunkel der Nacht die Spuren seines Verbrechens zu verbergen!
Wie unwirksam ist ein solches Zeugnis! Und wie dürftig, wie schwankend bleibt stets der stärkste Beweis, der bloß aus Nebenumständen abgeleitet wird! Möge er bis zur Wahrscheinlichkeit, bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit steigen, so bleibt er doch immer bloß Wahrscheinlichkeit. Erinnern sie sich des von Dr. Howell berichteten Falls der beiden Harrisons: beide wurden hingerichtet infolge eines aus Nebenumständen abgeleiteten Beweises über das Verschwinden eines Mannes, der, wie Clarke, Schulden machte, Geld borgte und heimlich davonging. Dieser Mann kehrte mehrere Jahre nach der Hinrichtung zurück. Wozu Sie an Jacques du Moulin unter der Regierung Karls II erinnern? – Wozu an den unglücklichen Coleman, der des Verbrechens überwiesen, nachher aber unschuldig befunden wurde und dessen Kinder Hungers starben, weil die Welt den Vater für schuldig gehalten hatte? Wozu soll ich noch den Meineid Smiths anführen, der als königlicher ZeugeDieser eigentümliche Ausdruck bezeichnet in der englischen Rechtssprache denjenigen, welcher in einer gerichtlichen Verhandlung gegen seine Mitschuldigen zeugt. Der Übersetzer. zugelassen, sich selbst dadurch in Sicherheit brachte, daß er Fainloth und Loveday des Mordes an Dunn anklagte? Der erste wurde hingerichtet, der zweite war eben daran, dasselbe Schicksal zu erleiden, als die Lüge Smiths sich unwidersprechlich erwies.
Und nun, mein Lord, nachdem ich zu zeigen gesucht, daß diese ganze Anklage jedem Teil meines Lebens widerspricht: daß sie sich mit meinem damaligen Gesundheitszustand nicht verträgt; daß kein vernünftiger Beweis für den Tod eines Menschen aus seinem Verschwinden hergeleitet werden kann daß Einsiedeleien jederzeit die Orte waren, wo die Gebeine des Einsiedlers beigesetzt wurden; daß die Beweise hierfür mit Urkunden belegt sind; daß die Umwälzung im Kirchenglauben oder Vorfälle des Krieges den Leichnam verstümmelt oder begraben haben können, daß der stärkste aus Nebenumständen hergeleitete Beweis oft beklagenswert trügerisch, in meinem Fall aber dieser Beweis, weit entfernt stark zu sein, vielmehr schwach, unzusammenhängend, widersprechend ist: was bleibt übrig? Eine Schlußfolgerung, der vielleicht mit ebensoviel gutem Grund als mit Sehnsucht entgegengeharrt wird. Ich wenigstens vertraue mich nach einer beinahe jahrlangen Einkerkerung, gefaßt auf jedes Schicksal, der Redlichkeit, der Gerechtigkeit, der Humanität Eurer Herrlichkeit und der Ihrigen, meine Landsleute, Herren Geschworene.«
Der Gefangene schwieg und peinliche, erstickende Empfindungen des Mitleids, des Erbarmens, des Bedauerns, der Bewunderung, die alle zusammen in eine ängstliche Hoffnung auf seine Lossprechung verschmolzen, machten sich im vollgedrängten Saale fühlbar.
Nur in zwei Menschen blieb ein unbefriedigtes Gefühl zurück – ein Gefühl, daß der Angeklagte das nicht vollständig geleistet habe, was sie von ihm hätten fordern mögen. Der eine war Lester: – er hatte eine wärmere, mehr aus dem Herzen kommende, wenn auch vielleicht weniger scharfsinnige und kunstvolle Verteidigung erwartet. Er hatte erwartet, Aram würde weit länger auf der Unwahrscheinlichkeit und den Widersprüchen in Hausmans Aussage verweilen und vor allem, er werde über all das genügenden Aufschluß geben, was hinsichtlich seiner Bekanntschaft mit Clarke (wie wir den Verstorbenen immer noch nennen wollen) fortwährend unerklärt blieb, sowie über die Behauptung, daß er in der verhängnisvollen Nacht, worin letzterer verschwand, mit demselben ausgegangen sei. Bei jedem Wort in der Verteidigungsrede des Gefangenen hatte er fast atemlos geharrt, als müsse der nächste Satz den Anfang einer Erläuterung oder Widerlegung enthalten; und als Aram endlich schwieg, blieb eine Angst, eine Niedergeschlagenheit, ein Gefühl getäuschter Hoffnung unbestimmt in seinem Gemüt zurück. Gleichwohl war Aram der unmittelbaren Zeugenaussage mit so hellem, hoheitsvollem Geist entgegengetreten, daß sein Stillschweigen über jenen Punkt nur Folge einer Verachtung sein mochte, die seinem ruhigen, stolzen Charakter wesentlich entsprach. – Die andere der beiden vorerwähnten Personen, jemand, der in Arams Verteidigung nicht in demselben Grade die Glaubhaftigkeit finden konnte, in welchem er sie ihres Scharfsinns wegen bewunderte, war ein Mensch, der bei der Entscheidung über das Schicksal des Gefangenen bei weitem mehr zu sagen hatte: – es war der Richter.
Aber Madeline – großer Gott! Wie hoffnungsvoll ist das Herz eines Weibes, wenn es sich um die Unschuld, um das Schicksal des Geliebten handelt! – Eine strahlende Röte ergoß sich über das vorher so bleiche Gesicht, und mit einem Ausdruck des Jubels, mit schimmerndem Auge, mit stolzer Stirn wandte sie sich zu Ellinor. drückte ihr schweigend die Hand und heftete dann noch einmal ihre ganze Seele in lautloser Spannung auf den furchtbaren Gang des Gerichts.
Jetzt begann der Richter. – Es ist höchlich zu bedauern, daß wir keine umständliche und ins Einzelne gehende Denkschrift über diese Verhandlung haben, als eben nur die Verteidigung des Gefangenen. Das Resumé des Richters ward damals für beinahe ebenso merkwürdig angesehen als die Rede des Angeklagten. Mit besonderer Sorgfalt und sehr ausführlich legte er den Thatbestand der Aussagen vor den Geschworenen dar. Er bemerkte, wie das Zeugnis der übrigen Vorgeforderten Hausmans Angabe bestätige, und machte, indem er demnächst auf die Widersprüche des letzteren überging, begreiflich, wie naturgemäß, wie unvermeidlich dergleichen Widersprüche bei einem Menschen seien, der nicht nur gegen einen andern Zeugnis abzulegen, sondern zugleich zu sorgen habe, daß er selbst keiner Schuld überwiesen werde. Es könne kein Zweifel obwalten, daß Hausman selbst in das Verbrechen verflochten sei, und alles Unwahrscheinliche, wie, daß er nach Vollzug der That keinen Lärm gemacht u. s. w., u. s. w., werde dadurch sehr natürlich, und vertrage sich gar wohl mit den übrigen Teilen seiner Aussage. Dann verbreitete er sich über die Verteidigung des Gefangenen, der, als verachte er jede andere Stütze als den eigenen Geist und die eigene Unschuld, ebensowenig einen Zeugen als einen Anwalt für sich in Anspruch genommen hatte. Eben durch das Lob, das er Arams Beredsamkeit und Kunst zollte, hob er endlich die Wirkung derselben auf, indem er die Geschworenen vor dem Eindruck warnte, welchen Beredsamkeit und Kunst einer einfachen Thatsache gegenüber hervorrufen, und den Satz ausstellte, daß Aram gleichwohl nichts ausgeführt habe, was die eigentliche Anschuldigung entkräfte.
Oft habe ich von Männern, die gerichtlichen Verhandlungen häufig beiwohnen, gehört, wie nichts wunderbarer sei, als der plötzliche Wechsel, den die schließliche Zusammenstellung des Richters im Gemüt der Geschworenen hervorzubringen vermag: und im gegenwärtigen Fall wirkte das Resumé allerdings wie ein Zauber. Die Gebieter über Leben und Tod des Gefangenen sahen sich, als der Richter schwieg, mit jenem verhängnisvollen Blick gemeinsamen Verständnisses, gemeinsamer Zustimmung an. Sie fanden den Gefangenen schuldig. Der Richter setzte die schwarze Mütze auf. Aram vernahm sein Urteil mit vollkommener Fassung. Ehe er von den Schranken schied, richtete er sich zu seiner ganzen Höhe auf und warf mit jener erschütternden, fast erhabenen Unbeweglichkeit des Ausdrucks, die unter allen Menschen ihm allein eigen war – einen langen Blick im Saal umher, der durch ein leichtes Lächeln noch ausdrucksvoller wurde, ein Lächeln, das mehr sagte, als die beredtesten Worte. – Es war keine erzwungene, krampfhafte Anstrengung, mit welcher sich Entsetzen oder Schmerz vergebens zu maskieren suchen; kein Spielen mit sich selbst, das eine theatralische Verachtung der andern durch eine über kleinliche Bitterkeit gleichsam erhabene Majestät darstellen möchte; – eher mannhafte Unterwerfung unter das Schicksal als ein Trotz gegen das Urteil anderer. Eher ein Einhüllen in die Unabhängigkeit eines ruhigen, als in die Verachtung eines verzweifelten Herzens.