Edward Bulwer
Die letzten Tage von Pompeji
Edward Bulwer

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37.

Die Nacht, welche den wilden Spielen im Amphitheater vorherging, war vorüber, und es trat die Morgendämmerung des letzten Tages von Pompejiein! Die Luft war ungewöhnlich ruhig und schwül – ein leichter, dunstiger Nebel schwebte über den kampanischen Tälern und Feldern. Mit Erstaunen aber bemerkte der früh an sein Tagewerk gehende Fischer, daß, trotz der außerordentlichen Windstille, die Wogen des Meeres unruhig waren, als versuchten sie, sich von dem Ufer gewaltsam zurückzuziehen, während längs des bläulichen Sarnus ein hohles Gemurmel vernehmbar war. Über den Nebeln erhoben sich die alten Türme der Stadt – die mit roten Ziegeln bedeckten Dächer der größeren Gebäude, die schlanken Säulen so vieler Tempel und die mit Statuen besetzten Portale des Forums und des Triumphbogens. In der Entfernung stiegen die blauen Hügel und Berge aus den Dünsten, und auf ihnen verweilte das Farbenspiel des anbrechenden Morgens.

Die Wolke, welche seit einiger Zeit über dem Vesuv schwebte, war plötzlich verschwunden, und der kahle Gipfel des Berges lag ruhig in der blauen, heiteren Luft.

Die Tore der Stadt waren, ungeachtet es noch so früh am Tage war, geöffnet. Das Gewühl der Reiter und Wagen war groß, und die Stimmen unzähliger Fußgänger in festlichen Kleidern erhoben sich in munteren und lebendigen Tönen. Die Straßen waren erfüllt mit Bürgern und Fremden aus der bevölkerten Umgegend von Pompeji, lärmend strömten die Menschenmassen nach dem schrecklichen Schauspiel.

Trotz der Größe des Amphitheaters, welche darauf berechnet schien, die ganze Einwohnerzahl Pompejis aufzunehmen, war der Andrang des Volkes aus allen Gegenden Kampaniens bei außerordentlichen Gelegenheiten so bedeutend, daß der Raum vor dem Amphitheater gewöhnlich schon mehrere Stunden vor dem Anfang der Kampfspiele durch diejenigen Personen angefüllt war, welche durch ihren Stand auf keine bestimmten Plätze Anspruch machen konnten. An diesem Tage aber war die Neugierde durch die Verurteilung zweier Verbrecher um so mehr gespannt, und es hatten sich mehr Menschen versammelt, als jemals seit undenklichen Zeiten.

Während das kampanische Volk lärmend und jauchzend umherwogte, aber dennoch eine bewundernswerte Ordnung und gute Laune behauptete, war eine seltsame Gestalt auf dem Wege nach dem abgelegenen Hause des Arbaces begriffen. Bei dem Anblick ihrer sonderbaren und altertümlichen Tracht und ihres unbeholfenen Ganges und Benehmens stießen sich die Wanderer, welche ihr begegneten, an und lachten. Sobald sie aber in das Gesicht sahen, war die Lustigkeit vorüber, denn das Antlitz war wie das einer Leiche, und dieses sowie die unheimlichen Züge und das zerrissene Gewand der Fremden ließen sie wie eine aus der Schattenwelt in das Leben Zurückgekehrte erscheinen. Jede Gruppe machte ihr schweigend und ängstlich Platz, als sie vorbeikam, und sie erreichte bald die Wohnung des Ägypters.

Der schwarze Türsteher, der heute schon zu so ungewöhnlicher Zeit auf dem Posten war, fuhr erschrocken zurück, als er auf ihr Klopfen die Tür öffnete.

Der Ägypter hatte in der Nacht sich eines festen Schlafes erfreut, gegen den Morgen jedoch beängstigten ihn seltsame und unruhige Träume, die ihn um so mehr aufregten, als sie mit der Philosophie, zu der er sich bekannte, in Verbindung standen.

Es schien ihm, als befinde er sich mitten in der Erde und stehe allein in einer weiten Höhle, die durch ungeheure Pfeiler von rötlichem Felsen getragen wurde, welche in unermeßlicher Höhe sich in einer Finsternis verloren, durch die noch kein Strahl der Sonne gedrungen sein mochte. In dem Räume zwischen diesen Säulen waren große Räder verteilt, die mit gewaltigem Gerausch in unaufhörlicher Bewegung sich wälzten und drehten. Bloß zu der rechten und linken Seite der Höhle war der Raum zwischen den Pfeilern frei, und man sah lange Galerien, die nicht ganz finster, aber nur schwach durch hin- und herziehende, Irrlichtern ähnliche Flammen erhellt waren, die bald längs des feuchten und unebenen Bodens sich wie Schlangen wanden, bald in wilden Sätzen durch das Dunkel hüpften. Und als Arbaces nach der Galerie zur Linken blickte, zogen luftige, nebelhafte Gestalten langsam nach der Halle zu, und wenn sie dieselbe erreicht hatten, schienen sie sich zu erheben und wie Rauch in der unermeßlichen Höhe zu verschwinden.

Er sah beängstigt nach der rechten Seite – und sieh, aus dem Dunkel der Höhle stiegen ähnliche Schatten hernieder, die schnell nach der Galerie zur Rechten schwebten, als würden sie unwillkürlich durch die Gewalt eines unsichtbaren Luftstroms getrieben. Sie schwebten so schnell und unausgesetzt vorbei, daß der Ägypter zuletzt von dem Anblick schwindlig wurde. Er wendete sich nach einer anderen Seite, und in einer Vertiefung der Höhle sah er hier eine gewaltige Riesin auf einem großen Haufen von Schädeln sitzen. Ihre Hände waren beschäftigt mit einem Gewebe, welches mit den unzähligen Rädern in Verbindung stand, als ob es dieselben in Gang erhalte. Ein innerer Antrieb zwang ihn, sich der Riesin zu nähern, bis er ihr gegenüberstand. Ihre Züge hatten einen feierlichen, erhabenen und heiteren Ausdruck. Ihr Antlitz war dem einer kolossalen Sphinx seines Stammlandes ähnlich. Keine menschliche Leidenschaft trübte die runzellose, nachdenkende Stirn; man las in ihrem Gesicht weder Freude, noch Traurigkeit, noch Hoffnung. Und Arbaces fragte sie: »Wer bist du, und was ist dein Beruf?«

»Ich bin das, was du anerkannt hast«, erwiderte das gewaltige Phantom, ohne in seiner Arbeit nachzulassen. »Ich bin die Natur! Dieses sind die Räder der Welt, und meine Hände erhalten in ihnen das Leben aller Dinge.«

»Und welchen Zweck«, sagte die Stimme Arbaces, »haben jene Galerien, die so seltsam beleuchtet sich hinabziehen in den Abgrund und die Finsternis?«

»Die Galerie zur Linken«, antwortete die Riesin, »ist die der Ungeborenen. Die Schatten, welche in die Höhe schweben, sind die Geister, welche aus der Ewigkeit des Daseins ihre bestimmte Wanderschaft auf der Erde antreten. Die Galerie zur Rechten, in welche die Schatten von oben herab niederschweben, ist die des Todes!«

»Und weshalb«, sagte die Stimme des Arbaces, »bin ich hier?«

»Du wirst hier fühlen, was deinem Geiste bevorsteht – du wirst den Schatten deines Schicksals jenseits der Erde sehen, wie er sich in der Ewigkeit verliert.«

Bevor Arbaces antworten konnte, fühlte er einen gewaltigen Wind durch die Höhle rauschen. In die Höhe gezogen, und wie ein Blatt in den Herbststürmen emporgewirbelt, sah er sich plötzlich mitten unter den Schatten der Toten und wurde mit ihnen fortgerissen in die Finsternis. Als er vergeblich ankämpfte gegen die Gewalt, die ihn erfaßt hatte, glaubte er den Wind eine Art von Gestalt annehmen zu sehen, die gespenstische Form der Flügel und Klauen eines Adlers, mit undeutlich und weit in der Luft vorschwebenden Gliedern, nur die glänzenden Augen starrten finster und unbeweglich in die seinigen.

»Wer bist du?« fragte wieder die Summe des Ägypters. »Ich bin das, was du anerkannt hast«, und das Gespenst lachte laut. »Mein Name ist die Notwendigkeit!«

»Wohin trägst du mich?« »Zum Unbekannten!«

»Zur Seligkeit oder zur Verdammnis?«

»Wie du gesäet hast, so wirst du ernten!«

Plötzlich änderte sich die Szene. Arbaces befand sich unter menschlichen Gebeinen, und in der Mitte derselben stand ein Schädel, und der Schädel verwandelte sich in der Verwirrung des Traumes nach und nach in den Kopf des Apäcides, und aus den grinsenden Kinnladen, die noch nicht mit Fleisch bedeckt waren, kroch ein kleiner Wurm auf die Füße des Arbaces zu. Er bemühte sich, ihn zu zertreten, aber der Wurm wurde immer länger und dicker. Er dehnte sich aus und schwoll an, bis es eine große Schlange war. Diese umwand die Glieder des Arbaces, zerdrückte seine Knochen und erhob ihre funkelnden Augen und ihr giftiges Gebiß zu seinem Antlitz empor. Vergebens war sein Sträuben, er fühlte sich vernichtet unter dem Einfluß des verpesteten Atems. Und das Haupt der Schlange verwandelte sich wieder in das des Apäcides, und es ertönte aus dem Munde eine Stimme: »Dein Opfer ist dein Richter! Der Wurm, den du zertreten wolltest, wird die Schlange, welche dich vernichtet!«

Arbaces erwachte mit einem Schrei des Entsetzens und des verzweifelten Widerstandes. Seine Haare sträubten sich noch empor, und auf seiner Stirn standen die kalten Schweißtropfen. Doch sein Bewußtsein kehrte nach und nach zurück, und er dankte den Göttern, an die er nicht glaubte, daß er nur geträumt habe. Er sah die Dämmerung durch sein hohes Fenster dringen, er freute sich, daß er bald wieder das Tageslicht erblicken werde, und als er wieder im Zimmer sich umschaute, sah er sich gegenüber das Leichenantlitz, die leblosen Augen, die welken Lippen –- der Hexe des Vesuvs! »Ha!« rief er, indem er sich das Gesicht mit den Händen bedeckte. »Träume ich noch? Bin ich noch unter den Toten?«

»Mächtiger Hermes! Nein! Du siehst eine dem Tode Verwandte, aber keine Tote vor dir. Erkenne deine Freundin und Sklavin.«

Es trat ein langes Stillschweigen ein. Nach und nach legten sich die krampfhaften Zuckungen, welche die Glieder des Ägypters noch durchbebten, bis er sich endlich wieder ganz erholt hatte.

»Es war also ein Traum«, sagte er. »Weib, wie kamst du hierher, und weshalb?«

»Ich kam, um dich zu warnen!« sprach die Hexe mit feierlicher Stimme.

»Mich zu warnen! Also hat der Traum nicht gelogen? Vor welcher Gefahr?«

»Fliehe von hier, es schwebt irgendein Verhängnis über dieser Stadt. Fliehe, solange es noch Zeit ist! Du weißt, daß ich in einer Höhle jenes Berges wohne, unter dem nach der alten Sage die Feuer des Flusses Phlegethon noch brennen, und seit kurzem bemerkte ich in einem tiefen Abgrunde meiner Höhle einen rötlichen Strom sich langsam hinziehen. Auch hörte ich in der Tiefe ein dumpfes und polterndes Geräusch. Als ich aber in der letzten Nacht hinunterschaute, war der Strom glänzend und feurig, und da ich noch über diese merkwürdige Erscheinung nachdachte, stieß das Tier, welches in meiner Höhle mit mir lebte und sich an mich geschmiegt hatte, einen gellenden Schrei aus, fiel nieder und starb, und der Geifer und Schaum stand ihm vor den Lippen. Ich schlich zurück nach meinem Lager, doch fühlte ich deutlich während der ganzen Nacht den Felsen zittern und sich bewegen, und obgleich die Luft außerhalb ruhig und still war, hörte ich doch unter mir ein Geräusch wie von brausenden Winden und von rollenden Rädern. Als ich heute morgen aufstand, trat ich hinaus und stieg auf die Spitze des Berges. Dort erblickte ich eine tiefe Höhlung, aus der ein dichter, giftiger Dampf emporstieg. Ich kehrte zurück, nahm mein Geld und meine Tränke aus der Höhle und verließ diesen meinen Aufenthalt so vieler Jahre; denn ich erinnerte mich der etruskischen Prophezeiung, welche sagt: ›Wenn der Berg sich eröffnet, so wird die Stadt untergehen – wenn der Rauch über den Hügeln der verbrannten Felder schwebt, dann werden die Kinder der See wehklagen und trauern.‹ Bevor ich mich zu einem entfernten Ufer flüchte, komme ich zu dir, furchtbarer Meister. Ein furchtbares Unheil steht bevor. Höre auf meine Warnung und fliehe!«

»Ich danke dir für diese Mitteilung«, sagte Arbaces. »Auf jenem Tische steht ein goldener Becher. Nimm ihn, er ist dein. Ich ließ mir nicht träumen, daß eine, die nicht zu der Priesterschaft der Isis gehört, Arbaces vom Untergang retten könne. Die Zeichen, welche du in dem Krater des erloschenen Vulkans gesehen hast,« fuhr der Ägypter nachdenkend fort, »deuten sicher eine bevorstehende Gefahr für die Stadt an, vielleicht ein noch heftigeres Erdbeben als das letzte. Dem sei wie ihm wolle, so ist ein neuer Grund für mich vorhanden, diese Mauern bald zu verlassen. Morgen will ich alle Anstalten zu meiner Abreise treffen. Tochter Etruriens, wohin wendest du dich?«

»Ich werde heute nach Herkulanum gehen und dann längs der Küste wandern, um mir einen neuen Aufenthalt zu suchen. Ich habe keine Freunde mehr. Meine beiden Gesellschafter, der Fuchs und die Schlange, sind tot! Großer Hermes, du hast mir zugesagt, daß ich noch zwanzig Jahre leben werde.«

»Ja,« sagte der Ägypter, »ich habe es dir versprochen. Aber sage mir, Weib,« fügte er hinzu, indem er sich auf den Arm stützte und ihr neugierig in das Gesicht sah, »weshalb willst du noch länger leben? Welchen Genuß hat das Dasein für dich?«

»Das Leben ist nicht süß, aber der Tod ist schrecklich«, erwiderte die Hexe mit einem scharfen, bedeutungsvollen Tone, der den eitlen Sternseher tief bewegte. Dann verbarg sie das kostbare Geschenk zwischen den weiten Falten ihres Gewandes und verließ das Zimmer.

Es war gebräuchlich, den Feierlichkeiten im Amphitheater in festlichen Gewändern beizuwohnen, und Arbaces kleidete sich an diesem Tag mit besonderer Sorgfalt. Unter den Taschenspielerkünsten, die ihm sein priesterlicher Genius eingab, vernachlässigte er bei wichtigen Gelegenheiten niemals den Glanz und die Pracht, welche die Menge verblenden und Ehrfurcht bei ihr erwecken. Und so schien er an diesem Tage, der ihn durch den Tod des Glaukus für immer von einem Nebenbuhler befreien und die Entdeckung seines Verbrechens unmöglich machen sollte, sich für einen Triumphzug oder für ein Hochzeitsfest herausgeputzt zu haben.

Es war auch Sitte für Männer von Stande, zu den Spielen des Amphitheaters durch einen langen Zug ihrer Sklaven und Freigelassenen begleitet zu werden, und die große Schar des Arbaces war bereits aufgestellt, um der Sänfte ihres Herrn zu folgen. Zu ihrem Verdruß waren die Sklaven, welche Jone beaufsichtigten und bedienten, und der würdige Sofia, der Gefangenenwärter der Nydia, verurteilt, zu Haufe zu bleiben. »Kallias,« sagte Arbaces heimlich zu seinem Freigelassenen, der ihm den Gürtel befestigte, »es gefällt mir nicht mehr in Pompeji. Ich beabsichtige, wenn der Wind günstig ist, es in drei Tagen zu verlassen. Du kennst das Schiff, welches im Hafen liegt und dem Narses aus Alexandria gehört, ich habe es von ihm gekauft. Übermorgen wollen wir anfangen, meine Sachen dorthin zu bringen.«

»So bald? Wie du befiehlst! Und deine Mündel Jone?«

»Begleitet mich. Genug davon! Ist das Wetter schön?«

»Etwas schwül und drückend; es wird wahrscheinlich sehr heiß werden.«

»Die armen Gladiatoren und die noch unglücklicheren Verbrecher! Geh hinaus und bringe den Zug der Sklaven in Ordnung.«

Als Arbaces allein war, trat er in sein Studierzimmer und von da in den Säulengang. Er sah die dichten Volksmassen dem Amphitheater zueilen und hörte das Geschrei der Gehilfen und das Knarren des Tauwerks, als die große Zeltdecke ausgespannt wurde, unter der die Bürger, geschützt vor dem brennenden Strahl der Sonne, in behaglicher Ruhe die Todesqualen ihrer Mitgeschöpfe ansehen wollten. Plötzlich ertönte ein wilder, seltsamer Laut, der gleich wieder erstarb, es war das Brüllen des Löwen. Für einen Augenblick schwieg das entfernte Geräusch des versammelten Volkes, aber bald erschallte wieder ein fröhliches Gelächter. Man machte sich lustig über die hungrige Ungeduld des königlichen Tieres. »Ihr Bestien!« sagte Arbaces unwillig. »Seid ihr weniger Mörder als ich? Ich morde bloß der Selbstverteidigung wegen, euch aber ist der Mord ein Spiel.«


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