Casanova
Erinnerungen
Casanova

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Siebentes Kapitel

Ich treffe in Lyon die venetianischen Gesandten und Marcolinas Oheim. – Ich trenne mich von dem reizenden Mädchen und fahre nach Paris. – Verliebte Reise mit Adele.

Da ich nun die Sorgen los war, die Passanos abscheuliche Verleumdung mir verursacht hatte, überließ ich mich dem Liebesglück, das meine schöne Venetianerin mir gewährte, und unterließ nichts, was das Glück des herrlichen Geschöpfes erhöhen konnte. Es war, wie wenn ich ein Vorgefühl gehabt hätte, daß ich mich bald von ihr würde trennen müssen.

Am Tage nach dem Abend, wo wir mit Frau Pernon und Herrn Bono zusammen gespeist hatten, saß ich mit diesen und mit meiner Marcolina zusammen im Theater. Plötzlich bemerkte ich in der gegenüberliegenden Loge Herrn Querini, den Prokurator Morosini, Herrn Memmo und den Professor an der Universität Padua, Grafen Stratico. Ich kannte alle diese Herren. Sie waren auf der Rückreise von London nach ihrer Heimat. Leb wohl, meine liebe Marcolina! sagte ich bei mir selber, das Herz von Kummer zerrissen. Aber ich blieb ruhig und sagte ihr kein Wort. Ich freute mich nur, daß sie, von ihrer Unterhaltung mit Herrn Bono gänzlich in Anspruch genommen, nichts bemerkte. Übrigens kannte sie keinen einzigen von den Herren. Ich sah, daß Herr Memmo mich bemerkt hatte, und daß er mich dem Prokurator zeigte, der mich sehr gut kannte. Ich hielt es daher für unbedingt notwendig, sofort zu ihnen hinüberzugehen und ihnen meine Aufwartung zu machen.

Der Botschafter Querini empfing mich für einen Frommen, wie er es war, sehr höflich, desgleichen Herr Morosini; Memmo war sichtlich aufgeregt, denn er erinnerte sich wohl, welchen Anteil seine Mutter an der Verschwörung gehabt hatte, die mich acht Jahre vorher unter die Bleidächer gebracht hatte.

Ich beglückwünschte die Herren zu ihrer Gesandtschaft, die sie an den Hof Georgs des Dritten geführt hatte, und zu ihrer Rückkehr in die Heimat. Ganz nebenbei empfahl ich mich auch ihrem Schutze und ihrer Fürsprache, um selber eines Tages nach Venedig zurückkehren zu können. Morosini sagte zu mir mit einer Anspielung auf mein glänzendes Auftreten: ich sei glücklicher als er, daß ich der Heimat fernbleiben müsse; denn er kehre dorthin nur zurück, weil die Pflicht ihn rufe. Ich antwortete ihm: »Euer Exzellenz wissen wohl, daß nichts so süß schmeckt wie verbotene Frucht.« Er lächelte und fragte mich, woher ich komme und wohin ich gehe.

»Ich komme von Rom; ich habe dort einige Zeit zugebracht, und der Heilige Vater, dem ich vorgestellt zu werden Gelegenheit hatte, war so gnädig, mich zu seinem Ritter zu machen. Ich gehe nach Paris, wo ich mich jedoch nur kurze Zeit aufhalten werde, da ich die Absicht habe, mich nach London zu begeben.«

»Besuchen Sie mich doch, wenn Sie Zeit haben; ich werde Ihnen eine kleine Besorgung anvertrauen.«

»Ich werde stets Zeit haben, wenn es sich darum handelt. Eurer Exzellenz gefällig zu sein. Werden Sie sich für einige Zeit aufhalten, gnädiger Herr?«

»Drei oder vier Tage.«

Als ich wieder in unsere Loge zurückkam, fragte Marcolina mich, wer die Herren wären, die ich begrüßt hätte. Ich sagte ihr in ruhigem und gleichgültigem Tone, indem ich sie jedoch zugleich beobachtete: »Es sind die venetianischen Gesandten, die von London zurückkehren.«

Sofort wichen ihre schönen Farben einer tödlichen Blässe; sie schlug ihre Augen zum Himmel auf, senkte sie dann wieder und sprach kein Wort mehr. Mir war das Herz gebrochen. Nach einigen Augenblicken fragte sie mich in sanftem Tone, wer von ihnen Herr Querini sei; ich zeigte ihn ihr und bemerkte dann während der ganzen Aufführung, daß sie ihn fortwährend mit verstohlenen Blicken beobachtete. Als der Vorhang gefallen war, gingen wir hinunter. An der Tür begegneten wir den Gesandten, die auf ihren Wagen warteten. Der meinige stand in der Reihe vor den ihren. Während wir warteten, sagte der Botschafter Querini zu mir:

»Sie haben da eine reizende junge Dame bei sich.«

Ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, ergriff Marcolina seine Hand und küßte sie.

Ganz erstaunt dankte Querini ihr und fragte: »Warum denn diese Ehre mir?«

»Weil ich,« antwortete Marcolina ihm auf venetianisch, »die Ehre habe, Ihre Exzellenz Monsignore Querini zu kennen.«

»Was machen Sie hier bei Herrn Casanova?«

»Er ist mein Oheim.«

Da mein Wagen vorgefahren war, verabschiedete ich mich mit einer tiefen Verbeugung, reichte meiner improvisierten Nichte den Arm und stieg mit ihr ein. Dann rief ich: »Nach dem Park!« Dies war der erste Gasthof von Lyon, und es war mir recht angenehm, die Herren wissen zu lassen, daß ich dort wohnte.

Marcolina war in Verzweiflung, denn sie sah voraus, daß unsere Trennung unmittelbar bevorstände. Mit Tränen in den Augen speisten wir zu Abend. »Wir haben noch drei oder vier Tage für uns,« sagte ich zu ihr; »wir werden sehen, wie wir ein Gespräch mit deinem Oheim Mattio zustande bringen können. Daß du Herrn Querini die Hand geküßt hast, gefiel mir sehr, liebes Kind; es war ein Meisterstreich von dir. Ich sehe voraus, daß alles gut gehen wird; aber ich bitte dich: sei fröhlich; denn die Traurigkeit tötet mich!«

Wir saßen noch bei Tisch, als ich im Vorzimmer die Stimme des jungen Memmo hörte, den ich als einen liebenswürdigen und geistreichen Kavalier stets sehr gern gehabt hatte. Schnell bat ich Marcolina, von unseren Angelegenheiten kein Wort zu sagen und recht lustig zu sein, dabei aber Maß zu halten. Der Lohndiener meldete den jungen Herrn. Wir standen auf, um ihn zu begrüßen; er nötigte uns jedoch wieder Platz zu nehmen, setzte sich zu uns und trank mit der größten Freundlichkeit ein Glas Wein. Er erzählte uns ausführlich, daß die Gesandten bei ihrem Abendessen herzlich darüber gelacht hätten, daß eine schöne junge Venetianerin dem frommen, alten Herrn von Querini die Hand geküßt hätte; Querini selber hätte sich trotz seinen sonstigen Gewissensbedenken dadurch lebhaft geschmeichelt gefühlt.

»Dürfte ich mir die Frage erlauben, mein Fräulein, woher Sie Herrn von Querini kennen?«

»Dies, mein Herr, ist ein Geheimnis.«

»Ein Geheimnis! Oh, da werden wir morgen lachen!« Und zu mir sich wendend, fuhr Memmo fort: »Ich soll Sie im Auftrag der Gesandten bitten, morgen mit Ihrer reizenden Nichte bei ihnen zu Mittag zu speisen.«

»Willst du hingehen, Marcolina?«

»Con grandissimo piacere! Wir werden venetianisch sprechen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.«

»Evviva! Es ist mir unmöglich französisch zu lernen.«

»Herrn von Querini geht es gerade so!« sagte Memmo.

Nachdem wir uns eine halbe Stunde sehr lustig unterhalten hatten, entfernte er sich, und Marcolina umarmte mich mit verdoppelter Zärtlichkeit, voller Freude darüber, daß sie auf die Herren einen angenehmen Eindruck gemacht hatte.

Ich sagte zu ihr: »Morgen wirst du dir dein elegantestes Kleid anziehen; vergiß auch deinen Schmuck nicht! Bei Tisch mußt du gegen alle Herren reizend sein; du mußt, jedoch in unauffälliger Weise, so tun, wie wenn du deinen Oheim Mattio nicht sähest. Ich bin überzeugt, daß er bei Tisch bedienen wird.«

»Laß mich nur machen; ich werde deine Ratschläge befolgen.«

»Und ich, meine Liebe, werde die Erkennungsszene auf eine dramatische und interessante Weise herbeiführen; denn ich will es dahin bringen, daß Herr Querini selber dich mit sich nach Venedig nimmt und daß dein Oheim auf seinen Befehl es übernimmt, für dich zu sorgen.«

»Ich bin von diesem Plan entzückt. Wenn er nur gelingt!«

»Dafür werde ich sorgen. Verlaß dich auf meine Geschicklichkeit.«

Am anderen Morgen um neun Uhr verließ ich Marcolina, die noch mit dem Ankleiden beschäftigt war, und begab mich zu Herrn Morosini, um dessen Aufträge in Empfang zu nehmen. Er übergab mir ein versiegeltes Kästchen für Lady Harrington nebst einem Brief; außerdem einen anderen offenen Brief, der nur wenige Zeilen enthielt und folgendermaßen lautete:

»Der Procuratore Morosini ist abgereist und hat sehr bedauert, daß er von Fräulein Charpillon nicht noch einen letzten Abschied hat nehmen können.«

»Wo werde ich die Dame finden?«

»Das weiß ich nicht. Wenn Sie sie finden, geben Sie ihr das Briefchen; wenn nicht, so schadet es auch nichts. Sie haben da, mein lieber Casanova, eine blendende junge Schönheit bei sich.«

»Ich bin auch wirklich von ihr geblendet.«

»Aber woher kennt sie Querini?«

»Sie hat ihn zufällig in Venedig gesehen, aber niemals mit ihm gesprochen.«

»Das glaube ich. Wir haben herzlich gelacht; denn Querini legt diesem Zusammentreffen eine große Bedeutung bei. Aber woher haben Sie denn diese Venetianerin, die offenbar noch gar nicht in der Gesellschaft verkehrt hat? Denn, wie Memmo mir gesagt hat, spricht sie nicht französisch.«

»Das wäre eine lange Geschichte, die schließlich darauf hinauslaufen würde, daß alles der reine Zufall war.«

»Sie ist natürlich nicht Ihre Nichte.«

»Sie ist mehr als das: sie ist meine Königin.«

»Sie müssen sie französisch lernen lassen, denn in London...«

»Ich werde sie nicht dorthin mitnehmen; denn sie will nach Venedig zurückkehren.«

»Wenn Sie sie lieben, so beklage ich Sie. Sie wird doch hoffentlich mit uns speisen?«

»Sie ist entzückt ob dieser Ehre.«

»Und wir sind entzückt, daß eine so schöne Dame unser Mahl beleben wird.«

»Sie werden sie würdig finden, daran teilzunehmen; denn sie ist sehr geistvoll.«

In meinen Gasthof zum Park zurückgekehrt, sagte ich zu Marcolina: »Wenn man während der Mahlzeit oder nachher auf deine Rückkehr nach Venedig zu sprechen kommt, so mußt du erklären, daß auf der ganzen Welt kein Mensch außer Herrn Ouerini dich veranlassen könne, dorthin zurückzukehren; du seist jedoch bereit, nach deinem Vaterlande zu reisen, wenn er dich selbst unter seinen Schutz und dein Vermögen in Verwahrung nehmen wolle. Ich übernehme es, dich aus der Verlegenheit zu ziehen, sobald du dies gesagt hast.«

Marcolina versprach mir, meine Lehren zu befolgen. Sie hatte auch getan, was ich ihr in bezug auf ihren Anzug geraten hatte: in ihrem herrlichen Schmuck strahlte sie von Jugendfrische und Schönheit. Da ich in den Augen meiner stolzen aristokratischen Landsleute glänzen wollte, so kleidete ich mich ebenfalls sehr reich: ich trug einen Rock von aschgrauem geschorenem Samt, mit Gold und Silber gestickt, dazu ein Spitzenhemd, das wenigstens fünfzig Louis wert war. Meine Diamanten, meine Uhren mit ihren brillantenbesetzten Ketten, mein Degen vom schönsten englischen Stahl, meine mit herrlichen Brillanten besetzte Tadakdose, mein Ritterkreuz mit Brillanten und meine Schuhschnallen, die mit den gleichen Edelsteinen besetzt waren – das alles zusammen stellte einen Wert von mehr als hundertfünfzigtausend Franken dar. Dieses Schaugepränge war allerdings an sich kindisch, aber es war durch die Zeit und besonders durch die Umstände begründet: ich wollte, Herr von Bragadino sollte erfahren, daß ich in der Welt keine schlechte Figur spielte; die tyrannischen Oberen, die mich gezwungen hatten, meine Heimat ohne andere Mittel als meinen Geist zu verlassen, sollten wissen, daß ich davon so guten Gebrauch gemacht hatte, um sie auslachen zu können.

In diesem glänzenden Aufzuge begaben wir uns also um halb zwei zum Diner bei den Gesandten.

Die Gesellschaft, die aus lauter Venetianern bestand, empfing Marcolina mit einer Art von Bewunderung. Das junge Mädchen hatte ein natürliches Gefühl für die gesellschaftlichen Formen und bewegte sich mit der Anmut einer Nymphe und mit der ganzen Würde einer französischen Prinzessin. Nachdem sie inmitten dieser glänzenden Gesellschaft zwischen zwei würdigen Senatoren Platz genommen hatte, begann sie das Gespräch mit der Bemerkung, sie sei entzückt, sich als einzige Angehörige ihres Geschlechtes in einer so ausgezeichneten Gesellschaft zu sehen, in der sich kein einziger Franzose befinde.

»Sie lieben also die Franzosen nicht, Signora?« fragte Memmo sie.

»Ich finde sie sehr nett; aber ich kann sie nur nach ihrem Äußeren beurteilen, da ich ihre Sprache nicht verstehe.«

Nachdem sie diese Probe von ihrem Geist gegeben hatte, wußten alle Anwesenden, welchen Ton sie anzuschlagen hatten, und ein jeder fühlte sich behaglich.

Man richtete lachende Bemerkungen an sie, die sie mit dem größten Anstand entgegen nahm; sie gab stets treffende Antworten, stellte niemals eine Frage und trug auf anmutige Weise ihre Beobachtungen über die französischen Sitten vor, die von den venetianischen Bräuchen so verschieden seien.

Bei Tisch fragte Herr von Querini sie, woher sie ihn kenne. Sie antwortete, sie habe ihn hundertmal beim Gottesdienst bemerkt. Diese Worte schienen dem frommen Herrn sehr zu schmeicheln. Herr von Morosini stellte sich, als ob er nicht wüßte, daß sie nach Venedig zurückkehren wollte, und sagte zu ihr, sie müsse sich bemühen, die französische Sprache zu erlernen, die die Sprache aller Nationen sei; sonst werde sie sich in London langweilen, denn dort sei die italienische Sprache sehr wenig in Gebrauch.

»Ich hoffe,« antwortete sie, »Herr von Seingalt wird die Gefälligkeit haben, mich nur mit Personen zusammenzubringen, mit denen ich meine Gedanken austauschen kann, wie er es bis jetzt getan hat; denn wenn ich nur durch Studium französisch lernen soll, so sehe ich voraus, daß dies mir niemals gelingen wird.«

Nachdem wir gespeist hatten, baten die Gesandten mich, ihnen die Geschichte meiner Flucht aus den Bleikammern zu erzählen, und ich war gern bereit, ihren Wunsch zu erfüllen. Meine Erzählung dauerte zwei Stunden ohne Unterbrechung, und da alle bemerkt hatten, daß Marcolina Tränen in den Augen hatte, als ich die gefahrvollen Augenblicke erzählte, so griff man sie scherzhaft an und sagte, für eine Nichte habe sie sich zu gefühlvoll gezeigt.

»Für eine Nichte?« antwortete sie; »das könnte wohl sein, meine Herren, obwohl ich nicht einsehe, warum nicht eine Nichte ihren Oheim zärtlich lieben sollte. Ich, meine Herren, habe – ganz abgesehen von dem Namen, den unser Verhältnis hat – stets nur den Helden der Geschichte geliebt, und ich vermag nicht zu begreifen, was für ein Unterschied zwischen Liebe und Liebe sein kann.«

»Es gibt,« bemerkte Herr von Querini, »fünf Arten von Liebe in der menschlichen Natur: die Liebe zum Nächsten, die Liebe zu Gott, die die höchste von allen ist, die Liebe zum Gatten, die Liebe zur Familie und die Liebe zu sich selber, die als letzte hinter allen andern stehen muß, obgleich viele Leute sie in die erste Reihe stellen.«

Der Senator erklärte hierauf in aller Kürze die verschiedenen Arten von Liebe; als er an die Liebe zu Gott kam, riß ihn die Begeisterung fort, und ich sah mit dem höchsten Erstaunen Marcolina reichliche Tränen vergießen, die sie schnell wieder abtrocknete, wie wenn sie sie dem guten alten Herrn hätte verbergen wollen, in dem der Wein noch mehr als sonst den Theologen erweckt hatte. Marcolina küßte ihm mit gut gespielter Begeisterung die Hand; hiervon fortgerissen, nahm der eitle Greis sie liebevoll beim Kopf, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Poveretta! Sie sind ein Engel!«

Bei diesem Ausruf, woran die Liebe zum Nächsten mehr Anteil hatte als die Liebe zu Gott, bissen wir alle uns auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen; die Spitzbübin aber tat, wie wenn sie tief gerührt wäre.

Erst an diesem Tage lernte ich Marcollna recht kennen; denn als wir wieder in unserem Gasthof waren, gestand sie mir, sie habe sich absichtlich so gerührt gestellt, um das Herz des alten Herrn zu gewinnen; wenn sie ihrer Neigung nachgegeben hätte, würde sie ihm laut ins Gesicht gelacht haben. Das junge Mädchen war dazu geboren, eine Rolle zu spielen, sei es auf einer Bühne, sei es auf einem Throne – was so ziemlich auf das Gleiche hinauskommt. Der Zufall hatte sie in der Dunkelheit der niederen Stände geboren werden lassen, und ihre Erziehung war vernachlässigt worden, wie es eben beim Volk ist; hätte sie eine sorgfältige Erziehung und guten Unterricht empfangen, so wäre sie würdig gewesen, die glänzendste Rolle zu spielen.

Bevor wir die edle Gesellschaft verließen, wurden wir dringend gebeten, am nächsten Tage wieder zum Mittagessen zu kommen.

Da wir das Bedürfnis empfanden, allein beisammen zu sein, so gingen wir an diesem Abend nicht ins Theater. Als wir in unserer Wohnung waren, konnte ich vor Ungeduld nicht einmal so lange warten, bis sie sich ausgekleidet hatte, um sie mit meinen Küssen zu bedecken.

»Liebste Marcolina, so hast du also bis zu den letzten Augenblicken unserer nur allzu süßen Verbindung gewartet, um mir alle deine Vollkommenheiten zu enthüllen, damit ich mein Leben lang bedaure, daß ich dich habe nach Venedig zurückkehren lassen? Heute hast du alle Herzen gefangen genommen.«

»Nun, mein lieber Giacomo, so behalte mich doch, und ich werde alle Tage sein wie heute. Hast du übrigens meinen Oheim gesehen?«

»Ich glaube, ihn gesehen zu haben. Ist es nicht der Alte, der dich bei Tisch die ganze Zeit über bedient hat?«

»Ganz recht. Ich habe ihn an seinem Ring erkannt. Hat er mich angesehen?«

»In einemfort, und zwar mit einem ganz erstaunten Gesicht. Ich habe es vermieden, ihn fest anzusehen, weil seine Blicke fortwährend zwischen dir und mir hin und her schweiften.«

»Ich möchte wohl wissen, was der gute Mann sich denkt! Morgen wirst du etwas Neues erleben, lieber Freund; denn ich bin überzeugt, er wird Herrn Querini gesagt haben, daß ich seine und folglich nicht deine Nichte bin.«

»Das glaube ich auch.«

»Und wenn Herr von Querini morgen mir das sagt, so werde ich es wohl zugeben müssen, glaube ich. Was meinst du dazu?«

»Das ist unbedingt notwendig; aber es muß auf die vornehmste Art geschehen: in ganz herzlicher Weise und ohne irgendwelche Andeutungen, daß du seiner bedürfest, um nach Venedig zurückzukehren. Er ist nicht dein Vater und hat durchaus kein Recht, über deine Freiheit zu verfügen.«

»Oh nein, das hat er gewiß nicht.«

»Gut! Du wirst ferner zugeben, daß ich nicht dein Oheim bin, und daß wir durch das zärtlichste Band miteinander vereinigt sind. Hast du irgend etwas dagegen einzuwenden?«

»Wie kannst du nur so fragen? Ich bin stolz auf das Band, das mich mit dir vereinigt, und es würde mich für mein Leben glücklich machen, wenn unser Verhältnis dauern könnte.«

»Nun, ich werde dir also gar nichts mehr sagen; du bist klug, und ich verlasse mich vollkommen auf dich. Denke daran, daß nur Querini und kein anderer dich nach Venedig bringen darf; er muß dich behandeln, wie wenn du seine Tochter wärest. Unter anderen Bedingungen würdest du nicht mit ihm gehen.«

»Gott gebe es!«

Am anderen Morgen erhielt ich schon in aller Frühe ein Briefchen von Herrn von Querini. Er bat mich, bei ihm vorzusprechen, da er mir eine wichtige Mitteilung zu machen habe. »Die Geschichte ist im Gange!« rief Marcolina. »Ich freue mich, daß es so gekommen ist; denn wenn du wiederkommst, wirst du mir Wort für Wort erzählen, was ihr miteinander gesprochen habt, und ich kann mich dann danach richten.«

Der Einladung folgend, ging ich zu Herrn Querini, bei dem ich auch Morosini fand. Sie gaben mir die Hand, und Querini bat mich Platz zu nehmen, indem er bemerkte, die Anwesenheit seines Freundes bei unserer Zusammenkunft werde nur von Vorteil sein.

Dann fuhr er fort: »Herr Casanova, ich habe Ihnen eine vertrauliche Mitteilung zu machen; zuvor muß ich jedoch eine solche von Ihnen erbitten.«

»Ich habe zu Eurer Exzellenz solches Vertrauen, daß ich kein Geheimnis vor Ihnen haben kann.«

»Ich danke Ihnen; ich verdiene dieses Vertrauen durch die gute Meinung, die ich von Ihnen habe. Ich bitte Sie also, mir aufrichtig zu sagen, ob Sie das junge Mädchen kennen, das bei Ihnen ist? Denn daß es Ihre Nichte ist, glaubt kein Mensch hier.«

»Allerdings ist sie nicht meine Nichte; da ich aber weder ihre Eltern noch ihre Familie kenne, so kann ich nicht behaupten, daß ich sie in dem Sinne kenne, den Eure Exzellenz diesem Wort beilegen. Indessen glaube ich sie geistig wie körperlich vollkommen zu kennen, und glaube, mir Glück wünschen zu dürfen, daß ich eine zärtliche Neigung zu ihr gefaßt habe, die nur mit meinem Tode enden wird.«

»Was Sie da sagen, freut mich. Seit wann haben Sie sie bei sich?«

»Ungefähr seit zwei Monaten.«

»Vortrefflich. Wie ist sie in Ihre Hände gekommen?«

»Das ist ein Punkt, der nur sie allein angeht; gestatten Sie mir, diese Frage unbeantwortet zu lassen.«

»Gut, lassen wir es. Da Sie in sie verliebt sind, so ist es ja wohl möglich, daß Sie nicht so neugierig gewesen sind, sie nach ihren Eltern und Angehörigen zu fragen.«

»Sie hat mir gesagt, daß ihre Eltern ehrliche Leute sind, wenn auch arm; ich bin aber wirklich nicht so neugierig gewesen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Ich kenne nur ihren Taufnamen, der vielleicht nicht einmal ihr richtiger ist; es genügt mir jedoch, sie rufen zu können, und ich habe mich daher mit dem Namen begnügt, den sie mir angegeben hat.«

»Sie hat Ihnen ihren wahren Namen genannt.«

»Eure Exzellenz setzen mich in Erstaunen! Sie kennen sie also?«

»Ja; gestern allerdings nicht, aber heute kenne ich sie. Zwei Monate...Marcolina...Ja, sie ist es wirklich. Jetzt bin ich überzeugt, daß mein Kammerdiener nicht verrückt ist.«

»Ihr Kammerdiener?«

»Ja, sie ist seine Nichte. Er hat in London erfahren, daß sie etwa um Mittfasten aus dem Elternhause entflohen ist. Seine Schwester, Marcolinas Mutter, hat es ihm geschrieben. Als er sie gestern als eine so glänzende Erscheinung sah, hat er es nicht gewagt, sie anzusprechen. Er hat sogar geglaubt, er müsse sich irren; zudem hatte er gefürchtet, mein Mißfallen zu erregen, wenn er mit ihr gesprochen hatte, da sie ja wie eine große Dame an meiner Tafel saß. Sie muß ihn ebenfalls gesehen haben.«

»Das glaube ich nicht; denn sie würde es mir gesagt haben.«

»Allerdings ist er stets hinter ihr gestanden. Doch lassen Sie uns jetzt schlüssig werden! Sagen Sie mir, ob Marcolina Ihre Frau ist oder ob Sie die Absicht haben, sie zu heiraten?«

»Ich liebe sie so innig und zärtlich, wie ein Mann nur lieben kann. Aber ich kann sie nicht zu meiner Frau machen, und dies ist für mich ein tiefer Kummer; die Gründe sind nur ihr und mir bekannt.«

»Ich achte Ihre Gründe; aber werden Sie es dann übel nehmen, wenn ich in meiner Teilnahme für Marcolina so weit gehe, Sie zu bitten, sie mit ihrem Oheim nach Venedig zurückreisen zu lassen?«

»Ich glaube, daß Marcolina bei mir glücklich ist; aber ich würde sie für noch glücklicher halten, wenn es ihr gelungen sein sollte, Ihnen Teilnahme einzuflößen; ich bin sogar überzeugt, es würde ihr, wenn sie unter dem wohlwollenden Schutz Eurer Exzellenz in den Schoß ihrer Familie zurückkehrte, leicht gelingen, den Makel zu tilgen, der durch ihre Flucht auf sie gefallen ist. Fortzugehen kann ich sie nicht verhindern, denn ich bin nicht ihr Herr. Als ihr Liebhaber würde ich sie mit allen meinen Kräften gegen jeden Versuch verteidigen, den man etwa unternehmen würde, um sie gewaltsam meinen Armen zu entreißen; wenn sie mich aber verlassen will, kann ich mich nur ihrem Willen fügen, so schmerzlich mir auch die Trennung von ihr sein mag.«

»Was Sie da sagen, finde ich vollkommen vernünftig; ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich dieses gute Werk durchzuführen versuche. Sie werden begreifen, mein Herr, daß ich ohne Ihre Zustimmung nicht wagen konnte, mich in diese Angelegenheit einzumischen.«

»Ich ehre die Fügungen des Schicksals, wenn sie allem Anschein nach einer so reinen Quelle entströmen. Wenn Eure Exzellenz durch Überredung Marcolina bewegen können, mich zu verlassen, so werde ich Ihnen kein Hindernis bereiten. Ich gestatte mir jedoch, darauf aufmerksam zu machen, daß Sie nur mit sanften Mitteln vorgehen dürfen; denn sie ist klug, liebt mich und ist stolz auf ihre Unabhängigkeit; außerdem vertraut sie auf mich, und mit Recht. Sprechen Sie noch heute unter vier Augen mit ihr; denn meine Gegenwart könnte Ihnen wie ihr lästig sein. Sprechen Sie aber nicht früher mit ihr, als bis wir mit dem Essen fertig sind; denn die Unterredung könnte sich vielleicht in die Länge ziehen.«

»Mein lieber Casanova, Sie sind ein Ehrenmann, und ich schwöre Ihnen, ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

»Sie erweisen mir eine Ehre, die ich tief empfinde. Ich empfehle mich Ihnen, und möchte Ihnen nur noch sagen, daß ich Marcolina nichts erzählen werde.«

In den Gasthof zum Park zurückgekehrt, erstattete ich dem jungen Mädchen einen genauen Bericht über unsere Unterhaltung, indem ich sie darauf aufmerksam machte, daß ich versprochen hätte, ihr nichts zu sagen.

»Du mußt es sehr geschickt anfangen, meine Liebe, um Herrn von Querini zu überzeugen, daß ich nicht gelogen habe, als ich ihm sagte, du habest deinen Oheim nicht gesehen. Sobald du ihn erblickst, stellst du dich höchst überrascht, rufst: Mein lieber Onkel! läufst auf ihn zu und umarmst ihn. Wirst du das tun? Es wird eine prachtvolle Szene sein, und du wirst in den Augen aller anwesenden Herren die größte Ehre damit einlegen.«

»Verlaß dich drauf, mein lieber Freund. Ich werde meine Rolle so spielen, daß du damit zufrieden sein sollst, obgleich mir das Herz sehr traurig ist.«

Zur verabredeten Stunde begaben wir uns zu den Gesandten, wo die Gesellschaft bereits versammelt war und nur noch auf uns wartete. Marcolina war noch fröhlicher und glänzender als am Tage vorher; sie zeichnete Herrn von Querini vor allen anderen aus, war aber gegen alle Anwesenden sehr liebenswürdig. Einige Minuten bevor wir zu Tisch gingen, trat Mattio ein und brachte seinem Herrn auf einer silbernen Platte dessen Brille. Marcolina,, die neben Herrn von Querini saß, unterbrach plötzlich eine Bemerkung, die an die ganze Gesellschaft gerichtet war, sah überrascht den Mann an und rief in fragendem Tone: »Mein Oheim?!«

»Ja, meine liebe Nichte!« Marcolina warf sich mit einer Zärtlichkeit in seine Arme, daß wir alle zu Erstaunen und Bewunderung hingerissen wurden.

»Ich wußte, lieber Oheim, daß Sie von Venedig ins Ausland gereist waren; aber ich wußte nicht, dnß Sie in Diensten Seiner Exzellenz stehen. Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Sie werden meinen Leuten in Venedig Nachricht von mir geben. Wie Sie sehen, bin ich glücklich. Wo waren Sie denn gestern?«

»Hier.«

»Und Sie haben mich nicht gesehen?«

»O doch; aber Ihr anderer Onkel...«

»Nun!« sagte ich lachend zu ihm, »mein lieber Vetter, wir wollen uns gegenseitig anerkennen! Umarmen Sie mich! Marcolina, ich mache dir mein Kompliment, daß du einen so prächtigen Oheim hast!«

»Welch schöner Augenblick!« rief Herr von Querini; und alle andern wiederholten: »Sehr schön! Sehr schön!«

Der neue Oheim Mattio ging hinaus, und wir setzten uns zu Tisch, aber wir waren alle in einer ganz andern Stimmung als am Abend vorher. Auf Marcolinas Zügen lag eine unbeschreibliche Mischung von Trauer und von jenem Glücksgefühl, das in einer schönen Seele die Erinnerung an das Vaterland hervorruft. Herrn von Querinis Züge drückten Bewunderung aus und zugleich jene Zuversicht auf Erfolg, die dem Blick eine heitere Ruhe gibt, in der sich das Gefühl ausspricht, eine gute Handlung zu vollbringen. Herr von Morosini saß als zufriedener Beobachter da. Die anderen waren aufmerksam und neugierig; sie lauschten mit Teilnahme dem Gespräch und verschlangen jedes Wort, das von Marcolinas anmutigen Lippen fiel. Von mir mußten die verschiedenen Anwesenden je nach ihrer Kenntnis der Geschichte und ihres Fortganges eine verschiedene Meinung haben.

Nach dem ersten Gange hatten die Gemüter sich ein wenig beruhigt, und Herr von Morosini sagte zu Marcolina: »Wenn Sie nach Venedig zurückkehren, so können Sie sicher sein, dort einen Gatten zu finden, der Ihrer würdig sein wird.«

»Ob er meiner würdig wäre,« versetzte das entzückende Geschöpf, »könnte nur ich allein beurteilen.«

»Aber man kann sich in dieser Beziehung auch auf das Urteil erfahrener Männer verlassen, die an dem Glück der beiden Parteien aufrichtigen Anteil nehmen.«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihre Ansicht nicht teile. Wenn ich mich jemals vermähle, so muß der Gatte meiner Wahl mir vor der Hochzeit gefallen.«

»Wer hat Ihnen diesen Grundsatz beigebracht?« fragte Querini.

»Mein Oheim Casanova, der in den zwei Monaten, die ich mit ihm zu verleben das Glück hatte, mir die ganze Weisheit der Welt beigebracht hat, wie ich glaube.«

»Ich mache dem Lehrer und der Schülerin mein Kompliment; aber, meine liebe Marcolina, Sie sind alle beide zu jung, um die ganze Weisheit dieser Welt zu kennen. Diese Weisheit ist die Moral, und die kann man in zwei Monaten nicht lernen.«

Ich wandte mich zu Marcolina und sagte: »Was Seine Exzellenz dir gesagt hat, ist sehr wahr. In Heiratsangelegenheiten muß man viel auf das Urteil weiser Freunde geben; denn die meisten von den Heiraten, die nur durch gegenseitiges Gefallen herbeigeführt wurden, sind unglücklich.«

»Dies, meine liebe Marcolina,« nahm wieder Herr von Querini das Wort, »ist eine treffliche und weise Bemerkung. Aber sagen Sie mir doch, welche Eigenschaften wollen Sie nach Ihren Grundsätzen bei dem Gatten Ihrer Wahl finden?«

»Ich wäre in Verlegenheit, wenn ich Ihnen das sagen sollte; aber in dem Augenblick, wo er mir gefiele, würde ich sie alle bei ihm voraussetzen.«

»Und wenn er ein Taugenichts wäre?«

»Dann würde er mir ganz sicherlich nicht gefallen, und dies ist eben der Grund, warum ich entschlossen bin, niemals einen Mann zu heiraten, den ich nicht genau kennen gelernt habe.«

»Und wenn Sie sich täuschten?«

»Dann würde ich schweigend meinen Irrtum beweinen.«

»Und die Armut?«

»Diese kann sie unmöglich befürchten,« fiel ich ein; »denn sie ist sicher, ihr Leben lang monatlich fünfzig Taler zu haben.«

»Ah! Das ändert die Sachlage ganz bedeutend. Wenn dies sich so verhält, meine schöne Freundin, so haben Sie einen großen Vorzug, denn Sie können in Venedig in völliger Unabhängigkeit leben.«

»Ich bin allerdings der Meinung, daß ich, um in Venedig in Ehren zu leben, des Schutzes eines hohen Herrn, wie Eurer Exzellenz, nicht entbehren könnte.«

»Kommen Sie nur nach Venedig, teure Marcolina, und ich gebe Ihnen mein Wort als Ehrenmann, ich werde alles für Sie tun, was in meinen Kräften steht. Aber, erlauben Sie mir diese Frage, inwiefern sind Sie sicher, monatlich diese fünfzig Taler zu haben? Sie lachen?«

»Ich lache, weil ich ein leichtsinniges Mädchen bin, das sich um seine eigenen Angelegenheiten nicht bekümmert. Mein Freund wird Ihnen alles sagen.«

»Es war kein Scherz von Ihnen?« wandte der gute alte Herr sich nun an mich.

Ich antwortete: »Marcolina besitzt nicht nur ein bares Kapital, das ihr, auf Leibrenten angelegt, sogar noch mehr als die genannte Summe einbringen kann, sondern sie besitzt auch eine wertvolle Ausrüstung. Mit vollem Recht, das werden Eure Exzellenz begreifen, hat sie gesagt, sie bedürfe in Venedig des Schutzes Eurer Herrlichkeit; denn es muß dafür gesorgt werden, daß ihre Kapitalien gut angelegt werden. Diese Kapitalien befinden sich in meinen Händen, und wenn meine teure Marcolina es wünscht, kann sie sie binnen zwei Stunden haben.«

»Das genügt. Sie müssen also, meine liebe Tochter, nach Venedig abreisen, und zwar übermorgen. Wie ich sehe, ist Mattio außer sich vor Freude; er ist von Herzen bereit, Sie mitzunehmen.

»Ich liebe meinen Oheim Mattio, ich empfinde die zärtlichste Achtung vor ihm; aber nicht ihm dürfen Euere Exzellenz mich anvertrauen, wenn ich mich zur Reise entschließen soll.«

»Wem denn sonst?«

»Ihnen selber, gnädiger Herr. Eure Exzellenz waren so gütig, mir dreimal den süßen Namen: liebe Tochter zu geben. Geruhen Sie, mich als guter Vater nach Venedig zu bringen, und ich bin bereit, Ihnen zu folgen. Wenn nicht, so erkläre ich mit aller Bestimmtheit: ich werde niemals den Mann verlassen, dem ich alles verdanke, und wir werden übermorgen nach London abreisen!«

Nach diesen Worten, die mich mit Entzücken erfüllten, sahen alle Anwesenden schweigend einander an. Jeder spitzte die Ohren, um die Worte zu vernehmen, die Herr von Querini sprechen würde; alle fühlten, daß er zuweit gegangen war, um noch zurück zu können. Der Greis schwieg jedoch; vielleicht fürchtete er als frommer Mann, sich einem Triebe unschuldiger Wollust zu überlassen oder auch der Welt Veranlassung zu geben, dies zu glauben. So schwiegen denn alle wie er und beschäftigten sich mit ihrem Essen. Mattio verrichtete mit zitternder Hand seine Aufwärterdienste; Marcolina allein zeigte eine entzückende Ruhe. Als der Nachtisch aufgetragen wurde, hatte noch keiner von den Anwesenden den Mund aufgetan. Plötzlich erhob das erstaunliche Mädchen die Stimme und sagte mit demütigem Gesicht, wie wenn sie eine Eingebung hätte, gleichsam zu sich selber: »Man muß die göttliche Vorsehung anbeten, aber erst nach dem Eintritt der Wirkung; denn vorher kann kein Mensch auf dieser Welt beurteilen, ob etwas gut oder böse ist.«

»Aus welchem Anlaß, meine liebe Tochter, stellen Sie diese Betrachtungen an?« sagte Herr von Querini; »und warum küssen Sie mir in diesem Augenblick die Hand?«

»Ich küsse Ihnen die Hand, weil Sie mich soeben zum vierten Male Ihre liebe Tochter genannt haben.«

Diese feine und schlagfertige Antwort rief ein allgemeines beifälliges Lachen hervor und stellte die frühliche Stimmung wieder her. Ouerini hatte jedoch Marcolinas Ausruf über die Vorsehung nicht vergessen und bat sie, eine Erklärung zu geben.

»Es war eine Eingebung, die mich das sagen ließ, und dieser Gedanke war, das Ergebnis einer Selbstprüfung, die ich vorgenommen hatte. Ich befinde mich wohl, ich habe mich zu benehmen gelernt, ich bin erst siebzehn Jahre alt und bin im Laufe von zwei Monaten durch anständige und ehrenhafte Mittel reich geworden. Ich bin glücklich, denn ich fühle mich glücklich. Aber das alles verdanke ich dem schlimmsten Fehltritt, den ein ehrbares Mädchen begehen kann. In allem diesem finde ich zahlreiche Gründe, mich vor der göttlichen Vorsehung zu demütigen und tausendmal ihre Beschlüsse anzubeten.«

»Sie haben recht, mein liebes Kind; aber Sie müssen nichtsdestoweniger den Fehltritt bereuen, den Sie begangen haben.«

»Dies ist eben der Punkt, der mich in Verlegenheit setzt; denn um ihn zu bereuen, muß ich daran denken, und wenn ich daran denke, kann ich keinen Grund der Reue finden. Ich muß zu diesem Zweck irgend einen großen Theologen um Rat fragen.«

»Das ist nicht notwendig, meine Liebe; Sie haben einen klaren Geist und ein gutes Herz. Ich übernehme es, Sie unterwegs darüber zu belehren, wie Sie sich damit abzufinden haben. Wenn man bereut, ist es nicht notwendig, an das Vergnügen zu denken, das der Gegenstand unserer Reue uns bereitet hat.«

Indem er sich zum Apostel machte, wurde der gute Herr von Querini in aller Frömmigkeit in seine schöne Proselytin verliebt. Nach Tisch verschwand er auf einige Augenblicke, und als er wieder hereinkam, sagte er zu Marcolina: »Wenn ich ein junges Mädchen nach Venedig zurückbringen soll, tue ich es nur unter der Bedingung, daß ich sie der Obhut meiner Haushälterin, der Dame Veneranda, anvertraue, einer würdigen Frau, der ich mein volles Vertrauen geschenkt habe. Ich habe soeben mit ihr gesprochen; und wenn Sie unter dieser Bedingung mitkommen wollen, so ist alles in Ordnung. Sie werden bei ihr schlafen, wenn es Ihnen recht ist, und werden mit uns zusammen essen, bis wir in Venedig angekommen sind. Dort werde ich selber, in Gegenwart Ihres Oheims, Sie Ihrer Mutter übergeben. Was sagen Sie zu diesem Plan?«

»Ich finde ihn ausgezeichnet.«

»Kommen Sie mit mir zur Dame Veneranda.«

»Gern.«

»Casanova, kommen Sie mit!«

Ich sah eine Frau von richtigem kanonischen Alter, in die Marcolina sich gewiß nicht nach ihrer Art verlieben konnte; sie sah aber vernünftig aus und hatte ein sehr anständiges Benehmen. Herr von Querini sagte ihr in unserer Gegenwart alles, was er soeben seiner neuen Schutzbefohlenen gesagt hatte, und die Duenna versicherte ihm, sie werde das Fräulein wie eine gute Hausmutter pflegen. Marcolina nannte sie ihr gutes Mütterchen, umarmte sie und stimmte sie dadurch vollkommen zu ihren Gunsten. Wir kehrten hierauf zu den Herren zurück, die um die Wette meiner Freundin ihre Freude aussprachen, sie zur Reisegefährtin zu haben.

»Ich muß,« sagt Herr von Querini, »daran denken, meinen Haushofmeister in einem andern Wagen unterzubringen; denn die Kalesche hat nur zwei Sitze.«

»Eure Exzellenz brauchen nicht daran zu denken; denn Marcolina hat ihren eigenen Wagen, den die Dame Veneranda sehr bequem finden wird. Sie können auf diesen Wagen auch ihre Koffer packen.«

»Du willst also, mein lieber Freund, mir auch noch deinen Wagen schenken,« rief Marcolina. »Das ist wahrlich der Wohltaten viel zu viel!«

Ich konnte ihr vor Rührung nicht antworten. Ich drehte mich um und trat in eine Fensternische, um meine Tränen zu trocknen. Als ich gleich darauf wieder zu den Versammelten trat, sah ich Marcolina nicht mehr. Herr von Morosini, der ebenfalls tief gerührt war, sagte mir, sie sei hinausgegangen, um mit der Dame Veneranda zu sprechen.

Alle waren traurig, und da ich erriet, daß meine Rührung die Ursache dieser Stimmung war, so begann ich von England zu sprechen, wo ich mein Glück zu machen gedachte. Ich hatte nämlich einen Plan, dessen Ausführung nur vom Minister Lord Egremont abhing. Herr von Morosini sagte mir, er würde mir einen Brief für diesen und einen anderen für den Residenten der Republik Venedig, Herrn Zuccata, mitgeben.

»Fürchten Sie nicht,« fragte Querini ihn, »bei den Staatsinquisitoren Anstoß zu erregen, indem Sie Herrn Casanova empfehlen?«

Morosini antwortete ihm kalt, die Inquisitoren hätten ihm nicht mitgeteilt, welchen Verbrechens ich schuldig wäre, und er glaube daher auch nicht, daß ihr Urteil für ihn maßgebend sein müßte. Der kleinliche und sehr beschränkte alte Querini schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr.

In diesem Augenblick trat Marcolina wieder ein, und ein jeder konnte sehen, daß sie geweint hatte. Ich gestehe, daß dieses Zeichen ihres Kummers meiner Eitelkeit ebensosehr schmeichelte wie meiner Liebe; so ist der Mensch, und so ist ohne Zweifel auch der Leser, der mich deshalb vielleicht tadelt.

Das reizende Mädchen, an das ich nach so viel Jahren noch ein lebhaftes Andenken bewahre, trotz dem Alter, das mich vertrocknet haben müßte, wenn das Herz überhaupt altern könnte – das reizende Mädchen eilte auf mich zu und fragte mich zärtlich, ob ich sie nicht nach unserem Gasthof bringen wolle; denn sie müsse ihren Koffer packen. Wir entfernten uns sofort, nachdem wir aber zuvor versprochen hatten, am nächsten Tage wieder zum Essen zu kommen – um vielleicht zum letzten Male miteinander zu speisen, wie unsere Gastgeber freundlich hinzusetzten.

Ich war ganz in Tränen aufgelöst, als wir unsere Wohnung betraten. Ich befahl Clairmont, den Wagen untersuchen zu lassen und ihn für eine lange Reise instand zu setzen; nachdem ich mich hierauf in aller Eile entkleidet und meinen Schlafrock angezogen hatte, warf ich mich auf mein Bett und überließ mich meinen Tränen, wie wenn man mir ein Gut entrissen hätte, das ich nicht imstande gewesen wäre zu verteidigen. Marcolina war tausendmal vernünftiger als ich; sie führte, um mich zu trösten, alle Gründe an, die die Vernunft und die zärtlichste Liebe vorbringen konnten; aber ich empfand ein nicht gut erklärliches Vergnügen daran, mich selber zu peinigen, und ihre Worte vermehrten daher nur meine Verzweiflung.

»Bedenke doch,« sagte das anbetungswürdige Mädchen zu mir, »daß ich dich ja gar nicht verlasse, sondern daß du mich fortschickst, daß es mein Glück wäre, wenn ich mein ganzes Leben bei dir verbringen könnte, und daß du nur ein Wort zu sagen brauchst, um dieser ganzen Komödie ein Ende zu machen.«

Ich fühlte, daß dies alles wahr sei und daß meine Liebe mit ihren Wünschen übereinstimme. Aber mich hat stets eine Neigung beherrscht, mich vom Schicksal leiten zu lassen; vielleicht war es auch Furcht vor einer Verpflichtung, die mich hätte binden können; eine innere Furcht, über die ich mir selber keine Rechenschaft gab, die aber doch auf mich wirkte; und schließlich war es wohl auch die Heuchelei eines Günstlings, der unwillkürlich und aller Überlegung zum Trotz mehr nach Veränderung als nach neuen Genüssen strebte. Mag es gewesen sein, was es wolle, genug, dies alles bewirkte, daß ich bei meinem Beschluß und in meiner Traurigkeit verharrte.

Gegen sechs Uhr kamen die Herren Morosini und Querini auf den Hof; sie blieben stehen, um sich meinen Wagen anzusehen, den der Schmied gerade untersuchte. Sie sagten etwas zu Clairmont und kamen dann zu uns herauf, um uns einen Besuch zu machen. »Großer Gott!« rief Herr Querini, als er die vielen Schachteln sah, die Marcolina auf ihren Wagen packen sollte; als er aber erfuhr, daß dies der Wagen war, den er soeben gesehen hatte, sprach er seine Überraschung aus. Es war in der Tat ein sehr schöner Wagen.

Herr von Morosini sagte Marcolina, wenn sie ihm nach der Ankunft in Venedig den Wagen verkaufen wolle, würde er ihr tausend Dukaten dafür geben. Dies sind dreitausend Franken; denn der venetianische Dukaten gilt nur den vierten Teil des holländischen.

»Sie können ihr das Doppelte dafür geben,« sagte ich zu ihm; »denn er ist dreitausend wert.«

»Wir werden darüber schon einig werden,« sagte er, und Querini fügte hinzu: »Es wird ein hübscher Zuwachs zum Kapital sein.«

Nachdem wir mehrere scherzhafte und höfliche Bemerkungen gewechselt hatten, sagte ich Herrn Querini, ich würde ihm am nächsten Tage einen Wechsel von fünftausend Dukaten übergeben; dieser Betrag und dazu die drei- oder viertausend Dukaten, die sie leicht aus dem Verkauf ihrer verschiedenen wertvollen Sachen lösen könnte, nebst den tausend für den Wagen bildeten ein Kapital von neun- bis zehntausend Dukaten, von dessen Zinsen Marcolina in Ehren leben könnte.

Am nächsten Morgen nahm ich bei Bono einen Wechsel auf Venedig an die Ordre des Herrn von Querini. Vor dem Essen übergab Marcolina diesen ihrem neuen Beschützer, der ihr dafür eine Quittung in aller Form ausstellte. Morosini gab mir die versprochenen Briefe, und die Abreise wurde auf den nächsten Tag um elf Uhr festgesetzt. Wie der Leser sich denken kann, war unser Essen kein Hochzeitsmahl. Marcolina war niedergeschlagen, ich düster wie ein hypochondrischer Engländer, und so teilten wir der ganzen Gesellschaft einen Ton mit, der mehr für eine Beerdigung als für eine freundschaftliche Zusammenkunft paßte.

Ich will nichts davon sagen, welch eine Nacht ich in den Armen dieser Sylphide verbrachte, denn mir würden die Farben fehlen, um sie auszumalen. Unaufhörlich fragte sie mich immer wieder, wie ich mir mein eigenes Glück zerstören könnte, und sie hatte recht; denn ich begriff dies ebensowenig wie sie. Aber wie oft habe ich nicht in meinem Leben etwas getan, was mir zuwider war, oder was ich selber nicht begriff! Ich wurde aber durch eine geheime Kraft angetrieben, der ich absichtlich keinen Widerstand leistete.

Nachdem ich mit meinem Anzug fertig, gestiefelt und gespornt war, und nachdem ich Clairmont gesagt hatte, er möchte sich nicht beunruhigen, wenn er mich am Abend nicht zurückkommen sähe, fuhr ich mit Marcolina zu den Gesandten. Wir frühstückten zusammen. Es ging ziemlich still zu; denn Marcolina hatte die ganze Zeit über Tränen in den Augen, und alle achteten ihre Traurigkeit, die man als berechtigt ansah, denn man würdigte mein edles Verhalten gegenüber diesem entzückenden Geschöpf. Nach dem Frühstück fuhren wir ab. Ich nahm den Vordersitz des Wagens ein, und mir gegenüber saßen Marcolina und die Dame Veneranda, über die ich unter anderen Umstünden herzlich gelacht haben würde, wie sie sich so in einer Karosse blähte, die schöner war als der Wagen der Gesandten. Sie konnte gar nicht müde werden, die Schönheiten und die Bequemlichkeiten des Wagens zu preisen, und ergötzte uns durch ihre wiederholten Versicherungen, ihr Herr habe wirklich recht gehabt, indem er gesagt habe, man werde sie unterwegs für die Frau Botschafterin halten. Trotz dieser komischen Ablenkung waren Marcolina und ich während der ganzen Fahrt sehr traurig. Herr von Querini, der nicht gerne nachts reiste, ließ um neun Uhr abends in Pont-Beauvoisin Halt machen. Nach einem schlechten Abendessen ging ein jeder auf sein Zimmer, um am nächsten Morgen mit Tagesanbruch bereit zu sein.

Marcolina mußte natürlich bei der Dame Veneranda schlafen. Ich begleitete sie. Die gute Dame legte sich ohne Umstände zu Bett, drehte uns den Rücken zu und drückte sich so eng an die Bettkante heran, daß noch für zwei andere Platz übrig blieb. Ich aber setzte mich auf einen Stuhl, sobald Marcolina sich niedergelegt hatte, und legte meinen Kopf neben das schöne Gesicht meiner Freundin; und so verbrachten wir die Nacht damit, unsere Tränen und unsere Seufzer zu mischen.

Veneranda, die fest geschlafen hatte, war sehr überrascht, als ich sie am Morgen rief, und sie mich in derselben Verfassung sah wie am Abend vorher. Sie war sehr fromm, aber bei den Frauen ist das Mitleid leicht stärker als die Frömmigkeit; indem sie sich auf die Seite drückte, hatte sie die Absicht gehabt, mir eine letzte Liebesnacht zu verschaffen, die ich mir aber in meiner Traurigkeit nicht zunutze machen konnte.

Ich hatte am Abend befohlen, daß in dem Augenblick, wo die Herrschaften in ihren Wagen steigen würden, ein Reitpferd für mich bereit sein sollte. Nachdem wir in aller Eile eine Tasse Kaffee getrunken hatten, gingen wir hinunter. Alle waren zur Abfahrt bereit, und wir wünschten uns gegenseitig alles Gute. Nachdem ich Marcolina in ihrem Wagen untergebracht hatte, umarmte ich sie zum letztenmal; ich habe sie erst elf Jahre später wiedergesehen.

Ich stieg zu Pferde, wartete neben ihrem Wagenschlag, bis der Postillon mit der Peitsche knallte, und sprengte dann mit verhängtem Zügel die Straße entlang, die ich am Tage vorher gekommen war. Ich ritt wie ein Verzweifelter; denn mir war zumute, wie wenn ich, um mich zu erleichtern, den Gaul zuschanden reiten und mich selber töten müßte. Aber außer in der Fabel des guten Lafontaine kommt der Tod niemals, wenn ein Unglücklicher ihn herbeisehnt. Ich ritt in sechs Stunden, indem ich nur zum Pferdewechseln anhielt, die achtzehn französischen Meilen von Pont-Beauvoisin nach Lyon. Nachdem ich mich in aller Eile entkleidet hatte, warf ich mich in das unglückselige Bett, worin ich vor dreißig Stunden in allen Wonnen der Liebe geschwelgt hatte. Ich hoffte im Traum eine Wirklichkeit wiederzufinden, deren Verlust ich tief beklagte. Aber ich fand sie nicht, denn ich schlief fest und friedlich und wachte erst um acht Uhr morgens auf. Ich hatte ununterbrochen etwa neunzehn Stunden geschlafen.

Ich klingelte Clairmont, befahl ihm, mir ein Frühstück zu bringen, und schlang ohne Wahl alle Fleischspeisen und Weine hinunter, die er mir vorsetzte. Nachdem ich meinen Magen erfrischt hatte, schlief ich wieder ein. Erst am nächsten Morgen verließ ich das Bett, vollkommen wiederhergestellt und imstande, das Dasein zu ertragen.

Drei Tage nach Marcolinas Abreise kaufte ich einen guten zweirädrigen Wagen, einen sogenannten Amadis. Er ruhte auf guten Federn und war sehr bequem. Meinen Koffer schickte ich mit der Schnellpost nach Paris. Ich hatte in einem Mantelsack nur die notwendigsten Sachen zurückbehalten; denn ich wollte am nächsten Tage in Schlafrock und Nachtmütze abfahren und gedachte meinen einplätzigen Wagen nicht eher zu verlassen, als bis ich die achtundfünfzig Poststationen auf der schönsten Landstraße Europas zurückgelegt hatte. Indem ich allein und im tiefsten Negligé reiste, meinte ich meiner geliebten Marcolina, die ich nicht vergessen konnte, ein Zeichen meiner Ehrfurcht zu erweisen. Aber wie oft habe ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Ich war eben dabei, meine Schmucksachen in meine Kassette zu packen, als Clairmont mir einen Kaufmann und dessen Tochter meldete. Diese war ein hübsches Mädchen, und ich hatte sie bereits bei Tisch flüchtig bemerkt; denn seit der Abreise meiner schönen Venetianerin aß ich an der Gasttafel, um mich zu zerstreuen.

Ich ließ sie eintreten, und während ich meine Kassette zuschloß, richtete der Vater höflich das Wort an mich und sagte: »Mein Herr, ich bitte Sie um eine Gunst, die Ihnen nur eine kleine Unbequemlichkeit kosten, mich aber sowie meine Tochter zum unendlichen Dank verpflichten wird.«

»Was kann ich für Sie tun? Ich reise morgen mit Tagesanbruch ab.«

»Ich weiß es, mein Herr, Sie haben es ja bei Tisch gesagt. Aber wir werden zu jeder Stunde bereit sein. Geruhen Sie, meine Tochter mit in Ihren Wagen zu nehmen! Ich werde selbstverständlich ein drittes Pferd bezahlen, und werde reiten.«

»Sie haben augenscheinlich meinen Wagen nicht gesehen?«

»Ich bitte um Verzeihung, ich habe ihn gesehen. Es ist allerdings ein Einsitzer; aber der Sitz ist sehr tief, und indem Sie sich ein wenig zurücklehnen, kann sie ganz gut auf dem Rande sitzen, denn sie ist ja schmächtig. Ich fühle wohl, daß es eine Belästigung für Sie ist, aber wenn Sie sich vorstellen könnten, welchen Gefallen Sie uns damit tun, so bin ich überzeugt. Sie würden uns diese Bitte nicht abschlagen. Im Eilwagen sind alle Plätze bis zur nächsten Woche besetzt, und wenn ich nicht in sechs Tagen in Paris bin, so verliere ich mein Brot. Wenn ich reich wäre, würde ich die Post nehmen; aber das würde mir vierhundert Franken kosten, und eine solche Ausgabe kann ich nicht machen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als morgen mit dem Eilwagen zu fahren, indem ich mich und meine Tochter auf dem Verdeck festbinden lasse. Sehen Sie, mein Herr, bei dem bloßen Gedanken daran weint sie schon, und ich selber bin nicht viel weniger traurig als sie.«

Ich sah das junge Mädchen aufmerksam an und fand sie zu hübsch, um mich in den Grenzen einfacher Höflichkeit halten zu können, wenn ich allein mit ihr reiste. Meine Seele war traurig, und in der Qual meiner Trennung von Marcolina hatte ich beschlossen, jede Gelegenheit zu vermeiden, die zu neuen Verpflichtungen führen könnte. Dieser Entschluß war nach meiner Meinung notwendig für meine Ruhe. Ich sagte zu mir selber: das Mädchen hat vielleicht zu meinem Unglück solche Reize des Geistes oder des Charakters, daß ich mich in sie verlieben könnte, wenn ich so schwach wäre, der Bitte nachzugeben. Das will ich aber nicht.

Ich wende mich also zum Vater und antworte ihm, ohne das junge Mädchen anzusehen: »Ihre Lage, mein Herr, tut mir sehr leid; aber ich kann nichts daran ändern, denn ich sehe zu viele Unzuträglichkeiten bei Ihrem Vorschlag.«

»Sie glauben vielleicht, ich würde es nicht aushalten können, den ganzen Weg ohne Aufenthalt zu reiten, aber seien Sie unbesorgt!«

»Das Pferd kann stürzen. Sie können sich verletzen, und wenn dieser Fall eintreten sollte, so kenne ich mich: ich würde Halt machen müssen, selbst wenn Sie es nicht wollten. Ich habe es aber ellig. Sollte dieser Grund Ihnen nicht triftig genug erscheinen, so tut es mir leid; in meinen Augen läßt sich nichts dagegen einwenden.«

»Ach, mein Herr, lassen wir es doch auf dieses Wagnis ankommen!«

»Es ist noch ein größeres dabei, das ich Ihnen nicht nennen möchte. Mit einem Wort, mein Herr, es ist unmöglich.«

»Im Namen des Himmels, mein Herr!« rief das Fräulein in einem Tone und mit einem flehenden Blick, die ein Herz von Stein hätten erweichen können; »lassen Sie mich doch nicht auf diesem schrecklichen Verdeck reisen! Ich schaudere bei dem bloßen Gedanken daran; denn obgleich man mich festbinden wird, werde ich eine Todesangst ausstehen; außerdem sieht man es ja als eine Schande an, auf diese Weise zu reisen; es mag vielleicht eine Dummheit sein, aber es ist nun einmal so. Bitte, bitte, bewilligen Sie mir doch diese Huld! Ich werde zu Ihren Füßen sitzen, um Sie so wenig wie möglich zu belästigen.«

»Das ist zu viel! Sie kennen mich nicht, mein Fräulein. Ich bin weder grausam noch unhöflich, am wenigsten gegen Ihr Geschlecht, obwohl mein Widerstand Sie vielleicht veranlaßt, das Gegenteil von mir zu glauben. Wenn Sie meinen Wünschen nachgeben, könnten Sie vielleicht Anlaß finden, es zu bedauern, und das will ich nicht!«

Hierauf wandte ich mich zu ihrem Vater und fuhr fort: »Eine Postkalesche kostet sechs Louis. Hier sind sie; ich bitte Sie, sie anzunehmen. Ich werde nötigenfalls meine Abreise um einige Stunden aufschieben, um für den Wagen Bürgschaft zu leisten, falls Sie nicht bekannt sein sollten. Hier haben Sie außerdem noch vier Louis für ein Extrapferd, das Sie ohne Zweifel werden nehmen müssen. Was an den Kosten noch fehlt, würden Sie ausgegeben haben, wenn Sie zwei Plätze im Eilwagen genommen hätten.«

»Mein Herr, ich erkenne Ihre Tugend an und bewundere Ihre Großmut; aber so dankbar ich dafür bin, so kann ich doch das Geschenk, das Sie mir machen wollen, nicht annehmen. Ich bin desselben nicht würdig und würde es noch weniger sein, wenn ich es annähme. Komm, Adele! Verzeihen Sie, mein Herr, wenn diese Belästigung Ihnen eine halbe Stunde gekostet hat. Komm, mein armes Kind!«

»Warten Sie einen Augenblick, Vater!«

Adele bat ihn zu warten, weil ihre Tränen sie erstickten. Dieser Anblick brachte mich in Wut, als aber mein Blick den schönen Augen des jungen Mädchens begegnete, konnte ich mein Herz nicht länger gegen das Mitleid verschließen, das sie mir einflößte, und so sagte ich zu ihr: »Beruhigen Sie sich, mein Fräulein! Man soll mir nicht nachsagen können, daß ich unempfindlich gegen die Tränen der Schönheit gewesen sei. Ich gebe Ihrem Wunsche nach, denn sonst würde ich nicht schlafen können. Aber ich stelle eine Bedingung,« sagte ich zum Vater. »Sie dürfen nichts dabei finden, wenn ich von Ihnen verlange, daß Sie auf meinen Wagen hinten aufsteigen.«

»Das will ich sehr gern tun; aber Ihr Bedienter?«

»Der reitet voraus. So ist also alles in Ordnung. Gehen Sie zu Bett und seien Sie um sechs Uhr bereit.«

»Wir werden bereit sein, mein Herr; aber werden Sie mir gestatten, das eine Pferd zu bezahlen?«

»Sie dürfen nichts bezahlen. Dies würde mich entehren, und ich bitte Sie, nicht darauf zu bestehen. Sie haben mir gesagt. Sie seien arm; das ist keine Schande. Und so will ich Ihnen sagen, daß ich reich bin; Reichtum aber ist nur dann ein Verdienst, wenn man ihn benutzt, um Gutes zu tun. Es ist also nur natürlich, daß ich bezahle und daß Sie nicht bezahlen.«

»Ich gebe nach, mein Herr, aber ich werde das Pferd für meine Tochter bezahlen.«

»Noch weniger! Ich bitte Sie, lassen Sie uns nicht darum feilschen, sondern gehen wir zu Bett. Ich werde Sie alle beide in Paris absetzen, ohne daß es Ihnen einen Heller kostet. Dort können Sie mir Ihren Dank sagen, wenn Sie wollen. Nur unter diesen Bedingungen können wir das Geschäft miteinander machen. Sehen Sie, da lacht Fräulein Adele; das ist für mich schon Lohnes genug.«

»Ich lache vor Glück, weil ich dem schauderhaften Verdeck entronnen bin.«

»Das begreife ich, und ich hoffe. Sie werden in meinem Wagen nicht weinen, denn ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich die Traurigkeit verabscheue.«

In mein Schicksal mich fügend, ging ich zu Bett. Ich sah voraus, daß ich den Reizen dieser neuen Schönheit nicht würde widerstehen können, und ich beschloß, die Versuchung nicht länger als zwei Tage dauern zu lassen. Diese hübsche Adele mit ihren wundervoll geschnittenen blauen Augen, mit ihrer Haut von Lilien und Rosen, mit ihrem niedlichen Munde und den schönen Zähnen, mit ihrer Büste, die noch zart war, aber sich herrlich zu entwickeln versprach, denn sie stand erst an der Grenze der Jugend – wieviele Gründe, um eine neue Niederlage vorauszuahnen! Als ich mich zu Bett legte, dankte ich meinem guten Geist, daß er dafür sorgte, mich während der kurzen Reise nicht an Langeweile leiden zu lassen.

Einen Augenblick vor der Abfahrt kam der Vater und fragte mich, ob es mir einerlei wäre, wenn wir durch das Bourbonnais oder durch Burgund führen.

»Mir ist das gleichgültig. Aber Sie? Ziehen Sie vielleicht den einen Weg dem anderen vor?«

»Wenn wir über Nevers reisten, könnte ich dort eine kleine Summe einkassieren.«

»Wir werden also durch das Bourbonnais fahren.«

Gleich darauf kam Adele, einfach, aber sehr sauber gekleidet. Sie wünschte mir mit fröhlichem Gesicht guten Morgen und sagte mir, ihr Vater würde einen kleinen Koffer, worin ihre Kleider wären, hinten auf den Wagen legen. Als sie sah, daß ich beschäftigt war, einige Sachen in Ordnung zu bringen, fragte sie mich, ob sie mir nützlich sein tönnte.

»Nein!« antwortete ich ihr, »aber nehmen Sie bitte Platz.« Sie setzte sich, aber mit jener schüchternen und verlegenen Miene, die mir stets mißfällt, weil sie ein Gefühl von Abhängigkeit auszudrücken scheint. Ich warf ihr dies in sanftem Tone vor und forderte sie auf, mit mir Kaffee zu trinken. Sie tat dies, und dabei verlor sich allmählich die Verlegenheit. Als wir eben hinuntergehen wollten, trat ein Mann ein und sagte mir, die Laternen säßen nicht fest, und ich würde die Laternen verlieren, wenn ich den Schaden nicht ausbessern ließe. Er erbot sich, sie binnen einer Stunde wieder in guten Stand zu bringen. Ich war wütend. Ich rief Clairmont, um ihn auszuschelten; er verteidigte sich jedoch, indem er sagte, es hätte an den Laternen nichts gefehlt und der Mann, der sie ohne Auftrag untersucht hätte, müßte sie absichtlich beschädigt haben, um auf diese Weise Gelegenheit zu einem Verdienst zu finden. Es stimmte buchstäblich so. Da ich die List schon kannte, so nannte ich den Mann einen Spitzbuben; und als er mir ein bißchen zu sehr auf französische Art antwortete, griff ich nach meiner Pistole und gab ihm ein paar Fußtritte. Fluchend ging er ab. Infolge des Lärmes kam der Wirt mit fünf bis sechs Leuten. Alle Welt gab mir recht; nichtsdestoweniger aber mußte ich zwei Stunden verlieren, denn es wäre unvorsichtig gewesen, nachts ohne Laternen zu fahren.

Sofort wurde ein anderer Laternenmacher gerufen; er besichtigte den Schaden und lachte über die offenbare Spitzbüberei seines Kollegen.

»Kann ich den Schuft einsperren lassen?« fragte ich den Wirt; »diese Genugtuung brauche ich, und wenn sie mir zwei Louis kosten sollte!«

»Zwei Louis, mein Herr? Sie sollen sofort bedient werden.«

Ich brüllte vor Wut, ohne auf Adele Rücksicht zu nehmen, so daß ich ihr Furcht einjagte. Gleich darauf kam ein Polizeikommissar; er untersuchte die Sache, verhörte mehrere Zeugen und nahm ein Protokoll auf. Hierauf fragte er mich: »Mein Herr, wieviel ist eine Stunde Ihrer Zeit wert?«

»Ich taxiere sie nach englischer Weise: fünf Louis.«

Zugleich drückte ich dem Kommissar zwei Louis in die Hand. Sofort erkannte er gegen den Laternenmacher auf eine Buße von 2«Z zwanzig Louis; hierauf entfernte er sich mit den Worten: »In zehn Minuten, mein Herr, wird Ihr Mann im Gefängnis sein.«

Ich atmete auf, und da meine Rache befriedigt war, so beruhigte ich mich. Hierauf bat ich Fräulein Adele um Verzeihung; sie geriet dadurch in große Verlegenheit, weil sie nicht wußte, inwiefern ich sie beleidigt hatte; darum bat sie mich ihrerseits um Verzeihung. Aus dieser Verlegenheit hätte sich schon eine gewisse Zärtlichkeit entwickeln können, aber in demselben Augenblick trat der Vater ein und sagte mir, der Laternenmacher sei im Gefängnis, und alle Welt gebe mir recht. »Und ich,« rief er, »werde bezeugen, daß der Schelm die Federn zerbrochen hat.«

»Sie haben es also gesehen?«

»Nein. Aber das ist einerlei; denn alle Welt versichert, er sei es gewesen.«

Diese Naivetät versetzte mich in gute Laune. Lachend nahm ich Platz und richtete einige gleichgültige Fragen an Adelens Vater, Moreau. Er sagte mir, er sei Witwer, Adele sei sein einziges Kind, er gehe nach Louviers, um eine Stelle in einer Fabrik anzunehmen usw. usw.

Etwa seit einer Stunde hatte ich mich an dem Komischen des Abenteuers ergötzt, als die Szene plötzlich pathetisch wurde. Zwei weinende Frauen, von denen die eine einen Säugling an der Brust hielt, und vier Würmer, die man alle zusammen in einen Scheffel hätte stecken können, traten ein und warfen sich vor mir auf die Knie. Bei diesem kläglichen Anblick erriet ich sofort, was sie von mir wollten. Es waren die Mutter, die Frau und die Kinder des Verbrechers. Sofort war mein Herz von Mitleid erfüllt; denn da mein Zorn durch die Genugtuung einer völligen Rache besänftigt war, so hatte ich keinen Grund mehr, noch länger zu grollen. Die Frau hätte mich jedoch beinahe wieder in Wut gebracht, indem sie mir sagte, ich sei getäuscht worden; ihr Mann sei ein ehrlicher Mensch, aber alle seine Ankläger seien Schufte.

Die Mutter sah, daß ein Gewitter loszubrechen drohte, und fing es geschickter an. Sie sagte mir, es sei ja wohl möglich, daß ihr Sohn die Gaunerei begangen habe, aber ich müsse sie ihm verzeihen, denn er könne nur durch seine Armut dazu getrieben worden sein; er habe seinen Kindern kein Brot zu geben. »Mein guter Herr!« rief sie aus, »haben Sie Mitleid mit uns, deren einzige Stütze er ist. Tun Sie ein gutes Werk und geben Sie ihm die Freiheit wieder; sonst muß er ja sein ganzes Leben lang im Gefängnis bleiben, denn selbst wenn wir unsere Betten verkaufen, wären wir niemals imstande. Ihnen eine solche Summe zu bezahlen.«

»Meine gute Frau, ich verzeihe ihm, soweit ich dabei in Betracht komme. Hier haben Sie meine schriftliche Abstandserklärung. Machen Sie das übrige mit dem Kommissar ab, denn ich will keinen Menschen mehr sehen.«

Zugleich gab ich ihr einen Louis, um Lebensmittel zu kaufen, und befahl ihr hinauszugehen, um nicht länger von ihren Danksagungen belästigt zu werden. Einige Augenblicke später trat der Kommissar ein, um mich sein Protokoll unterschreiben zu lassen, und ich mußte auch noch die Kosten bezahlen. Die Laternen wurden für zwölf Franken ausgebessert, und nachdem die ganze Geschichte mir vier oder fünf Louis gekostet hatte, stieg ich endlich gegen neun Uhr in meinen Einsitzer.

Adele mußte sich zwischen meine Beine setzen, aber sie saß recht unbequem. Ich forderte sie auf, näher an mich heranzurücken, um sich besser stützen zu können. Sie hätte sich jedoch an mich anlehnen müssen, und ich wagte nicht, weiter in sie zu dringen, dies zu tun, denn die Stellung wäre von Anfang an ein bißchen unzüchtig gewesen. Vater Moreau setzte sich auf den Hintersitz, und Clairmont bestieg sein Pferd. So waren wir also tête-à-tête oder vielmehr tête-à-dos, und befanden uns notwendigerweise in fortwährender Berührung. In dieser Stellung ließ ich das junge Mädchen bis zum ersten Pferdewechsel fortwährend plaudern; aber ich dachte mir nichts Böses dabei, sondern hatte nur die Absicht, uns die Zeit zu vertreiben.

Während die Pferde umgespannt wurden, waren wir ausgestiegen. Als wir wieder in den Wagen stiegen, mußte Adele ihr Bein sehr hoch heben, und ich sah infolgedessen eine schwarze Hose. Frauen mit Hosen waren mir immer ein Greuel, besonders aber mit schwarzen Hosen.

»Moreau,« sagte ich zum Vater, der ihr beim Einsteigen half, »Ihre Tochter hat mir ihre schwarze Hose gezeigt.«

Adele wurde rot, und der Vater versetzte lachend: »Ein großes Glück für sie, daß sie Ihnen weiter nichts gezeigt hat.«

Diese Antwort gefiel mir, aber die verfluchte Hose hatte mich so geärgert, daß ich ganz verdrießlich wurde. Ich glaubte darin einen beleidigenden Gedanken, einen Versuch der Abwehr zu erblicken. Natürlich wäre dies ganz vernünftig gewesen, aber ich fand es sehr wenig angebracht bei einem jungen Mädchen, das an Gefahr noch gar nicht denken durfte oder sich wenigstens sehr in acht nehmen mußte, damit nicht andere dächten, sie dächte daran. Da ich ihr jedoch keinen Vorwurf machen, ebensowenig aber die üble Laune überwinden konnte, die sich meiner bemächtigt hatte, so begnügte ich mich, höflich zu sein, aber bis St.-Simphorien sprach ich weiter kein Wort mehr mit ihr, als daß ich sie bat, sich bequemer zu setzen; dagegen hatte mich bis zum Augenblick, wo die verhängnisvolle Hose sich vor meinen Blicken offenbart hatte, Adele mit jenen Nichtigkeiten der guten Gesellschaft amüsiert, die die Zeit vergehen lassen, ohne den Geist zu ermüden.

Als wir in St.-Simphorien ankamen, befahl ich Clairmont voraus zu reiten und mir in Roanne ein gutes Abendessen für drei Personen zu bestellen; er könne dann zu Bett gehen und bis Tagesanbruch schlafen. Etwa in der Mitte des Weges sagte Adele zu mir, sie müsse mich doch wohl belästigen, denn ich sei nicht mehr so heiter wie im Anfang. Ich versicherte ihr, sie belästige mich durchaus nicht, und ich sitze nur darum so ruhig, um sie selber vollkommen in Ruhe zu lassen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Absicht; aber Sie haben sicher unrecht, wenn Sie glauben, Sie könnten durch Ihr Gespräch meine Ruhe stören. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, was ich denke: Sie sagen mir nicht den wahren Grund für den Umschlag Ihrer Stimmung.«

»Und glauben Sie den wahren Grund zu kennen?«

»Ja, zum wenigsten bilde ich es mir ein.«

»Nun, so nennen Sie ihn mir.«

»Sie sind verdrießlich, seitdem Sie meine Hosen gesehen haben.«

»Das ist wahr; diese schwarzen Hosen haben meine Seele verdüstert.«

»Das tut mir recht leid; aber geben Sie zu, daß ich nicht ahnen konnte: erstens, daß Sie meine Hosen sehen würden; zweitens, daß die schwarze Farbe Ihnen mißfallen würde.«

»Auch das ist sehr wahr; da nun aber der Zufall mir die Sache entdeckt hat, so werden Sie auch die Wirkung verzeihen, die die Hose auf mich hervorgebracht hat. Dieses Schwarz hat mich auf traurige Gedanken gebracht, während ein Weiß mir lachende eingeflößt haben würde. Tragen Sie immer dieses häßliche Kleidungsstück?«

»Heute zum erstenmal.«

»Sie sehen also, daß Sie eine unpassende Handlung begangen haben, indem Sie es heute anlegten.«

»Unpassend?«

»Nach meiner Ansicht, ja. Hören Sie, Adele: Was würden Sie gesagt haben, wenn ich heute morgen Unterröcke angezogen hätte? Sie würden das unpassend gefunden haben. Sie lachen?«

»Entschuldigen Sie, und gestatten Sie mir zu lachen, denn ich habe niemals etwas so Komisches gehört, übrigens haben Sie unrecht, einen solchen Vergleich zu ziehen. Er trifft nicht zu; denn alle Welt hätte Sie in Röcken gesehen, und das wäre lächerlich gewesen, während kein Mensch ahnen konnte, daß ich Hosen trug.«

Ich ließ dies gelten. Es freute mich, an dem jungen Mädchen Geist genug zu finden, um meinen Sophismus zu entlarven; ich blieb jedoch wortkarg.

In Roanne erhielten wir ein ziemlich gutes Abendessen. Moreau begriff wohl, daß er ohne Adele nicht mit mir gespeist und nicht umsonst gereist haben würde, und er war entzückt, als ich ihm sagte, daß seine Tochter mir durchaus nicht lästig falle, sondern im Gegenteil sehr gute Gesellschaft leiste. Ich erzählte ihm unseren Hosenstreit, und er gab mit behaglichem Lachen seiner Tochter unrecht. Ich machte ihm eine Freude, als ich ihm nach dem Abendessen sagte, er solle mit seiner Tochter in dem Zimmer schlafen, worin wir uns befänden; in diesem standen zwei Betten. Ich selber verbrachte die Nacht in einer anstoßenden Kammer.

Am nächsten Morgen sagte Clairmont im Augenblick der Abfahrt zu mir, er werde voraus reiten, um das Nachtquartier zu bestellen; denn da wir schon einmal eine Nacht verloren hätten, so käme es nicht darauf an, wenn wir noch eine zweite verlören.

Diese Bemerkung meines treuen Clairmont zeigte mir, daß er anfing, ein gewisses Ruhebedürfnis zu empfinden, und seine Gesundheit lag mir am Herzen. Ich befahl ihm daher, in St. Pierre-le-Mortier Halt zu machen und dafür zu sorgen, daß ich ein gutes Abendessen vorfände. Als wir in unserem Wagen saßen, dankte Adele mir.

»Sie reisen also nicht gerne bei Nacht?« fragte ich sie.

»Das wäre mir einerlei; aber ich habe Furcht, ich könnte einschlafen und dann auf Sie fallen.«

»Das würde ich nur als ein Glück empfinden, meine liebe Adele. Ein hübsches Mädchen wie Sie ist eine angenehme Last.«

Sie antwortete mir nicht, aber sie verstand mich. Ich hatte mich erklärt; aber ich mußte sie mir von selber entgegenkommen lassen, um sie sanft wie ein Lamm zu finden. Von neuem schwieg ich, bis wir in der Nähe von Varennes waren. Dort sagte ich zu ihr: »Wenn ich wüßte, meine liebe Adele, daß Sie mit ebenso gutem Appetit wie ich ein Huhn essen würden, so würden wir hier Mittag machen.«

»Versuchen Sie es; ich werde mich bemühen, Ihnen die Spitze zu bieten.«

Wir speisten gut und tranken noch besser, sodaß wir ein bißchen beschwipst waren, als wir wieder abfuhren. Adele, die sonst nur zwei– oder dreimal im Jahre Wein trank, lachte darüber, daß sie nicht mehr ganz gerade gehen konnte. Sie war darob in einiger Unruhe; ich tröstete sie, indem ich ihr sagte, die Dünste des Champagners seien gar bald verflogen. Sie kämpfte nun mit allen Kräften wider den Schlaf an, konnte ihn aber nicht besiegen, und ließ ihr hübsches Köpfchen auf meine Brust sinken. So lag sie zwei Stunden lang in tiefem Schlaf. Ich achtete diesen, obgleich ich nicht dem Wunsch widerstehen konnte, mich zu überzeugen, daß das mir so unangenehme Kleidungsstück gänzlich verschwunden war.

Während sie schlief, berauschte ich mich an wollüstigen Gedanken, indem ich sah, wie ihr sprossender Busen das leichte Mieder zu sprengen suchte. Aber ich hielt meine Begierden im Zaum, und das wurde mir um so leichter, da das Verschwinden der schwarzen Hose mir keinen Zweifel mehr ließ, daß ich Adele gefügig finden würde, sobald ich sie angreifen wollte. Ich wünschte jedoch, daß sie aus freiem Antriebe sich mir ergeben oder doch wenigstens mir entgegenkommen sollte, und ich wußte, daß ich ihr nur die Sache etwas zu erleichtern brauchte, um meinen Zweck zu erreichen. Als sie erwachte, war sie höchst überrascht, sich in meinen Armen zu finden. Sie bat tausendmal um Entschuldigung, und ich glaubte, um sie zu beruhigen, ihr einen zärtlichen Kuß geben zu müssen. Dieses Mittel wirkte, wie ich dem Leser wohl nicht zu sagen brauche – denn wer hätte nicht die Macht eines Kusses empfunden, der unter gewissen Umständen gegeben wird!

Da ihr Kleid ein bißchen in Unordnung gekommen war, wollte sie es wieder zurecht machen, aber der Wagen war eng, und durch eine ungeschickte Bewegung entblößte sie ein Knie. Ich lachte laut auf, sie stimmte ein und sagte voller Geistesgegenwart: »Diesmal hat hoffentlich keine schwarze Farbe Ihnen düstere Gedanken eingeflößt.«

»Aber, liebe Adele, Rosenfarbe kann mir doch nur köstliche Gedanken einflößen!«

Ich sah sie ihre großen Augen niederschlagen, aber sie tat es mit jener Anmut, welche Wonne verheißt.

Indem wir miteinander plauderten und dabei, wie man zu sagen pflegt, Öl ins Feuer gossen, kamen wir in Moulin an, wo wir einen Augenblick ausstiegen. Eine Menge Weiber fielen über uns her und boten uns Schnitzwaren an; ich schenkte dem Vater und der Tochter alle Sachen, die ihnen zu gefallen schienen. Hierauf fuhren wir weiter, indem wir die Weiber miteinander keifen und sich zerkratzen ließen, weil wir der einen etwas abgekauft hatten, und der andern nicht.

Mit Einbruch der Nacht kamen wir in St.-Pierre an. Während der vier Stunden unserer Fahrt von Moulin hatten wir Fortschritte gemacht, und Adele war so zutraulich zu mir geworden wie zu einem alten Bekannten.

Ein ausgezeichnetes Abendessen erwartete uns dank dem Eifer meines Clairmont; er war zwei Stunden vor uns angekommen und hatte sich zu Bett gelegt, nachdem er sorgfältig alles für meine Ankunft vorbereitet hatte. Wir speisten in einem großen Zimmer, wo zwei blütenweiße große Betten uns erwarteten.

Ich sagte Moreau, er solle mit seiner Tochter in dem einen schlafen das andere würde ich für mich nehmen. Er antwortete mir jedoch, Adele und ich könnten jedes für sich in einem Bett schlafen, denn er bitte mich um Erlaubnis, sofort nach dem Essen nach Nevers aufbrechen zu dürfen, damit er am Morgen in aller Frühe seinen Schuldner antreffen und mit uns gleich nach unserer Ankunft weiterfahren könnte.

»Wenn Sie mir das gesagt hätten, würden wir in Nevers übernachtet haben.«

»Sie sind zu gütig, ich werde diese vierthalb Poststationen reiten. Das wird mir gut tun, und ich liebe die Bewegung des Reitens sehr. Ich vertraue Ihnen meine Tochter an. Sie wird hier im Zimmer weniger nahe bei Ihnen sein als in Ihrem Einsitzer.«

»Oh! Wir sind übrigens alle beide sehr vernünftig.«

Als er fort war, sagte ich Adelen, sie solle zu Bett gehen und in ihren Kleidern bleiben, wenn sie mich nicht für ihren Freund halte; ich würde es ihr nicht übel nehmen.

»Es wäre sehr unrecht von mir,« sagte sie, »wenn ich Ihnen ein solches Zeichen von Mißtrauen geben wollte.«

Sie stand auf und ging einen Augenblick hinaus. Als sie wieder eintrat, verschloß sie die Türe. Dann zog sie sich aus und als sie im Hemde war, kam sie zu mir und umarmte mich. Ich war in diesem Augenblick mit Schreiben beschäftigt, und da sie sich auf den Fußspitzen herangeschlichen hatte, so war ich ein bißchen überrascht, übrigens auf eine sehr angenehme Weise. Sie lief nach ihrem Bett und sagte mutwillig: »Pfui! Sie sind erschrocken!«

»Du irrst dich, meine schöne Sylphide; allerdings hast du mich überrascht. Bitte, komme noch einmal, denn ich sterbe vor Verlangen, dich wieder eingeschlafen in meinen Armen zu sehen.«

»Kommen Sie doch her und sehen Sie mich schlafen.«

»Wirst du immer schlafen?«

»Ja, immer.«

»Das wollen wir sehen.«

Ich warf die Feder hin und hielt im selben Augenblick Adele in meinen Armen. Sie lachte, war voller Feuer, gab sich allen meinen Wünschen hin und bat mich nur, ich möchte sie schonen. Ich tat alles, was sie wollte, und obgleich die liebe Kleine sich die größte Mühe gab und mit aller Glut mithalf, um das Werk zu erleichtern, so war doch der erste Angriff so mühevoll wie eine von den Arbeiten des Herkules. Das übrige ging besser, denn nur der . erste Schritt ist schwer. Als nach drei aufeinanderfolgenden Kämpfen das Schlachtfeld ganz von Blut überströmt war, überließen wir uns der Ruhe. Um fünf Uhr klopfte Clairmont an die Tür; ich befahl ihm, Kaffee für uns zu bestellen, und wir standen auf, ohne daß ich meiner Adele einen Morgengruß hätte darbringen können; ich versprach ihr jedoch diesen für unterwegs.

Als Adele angekleidet war, entdeckte sie den Kampfplatz, auf dem sie der Liebe ihr erstes Opfer gebracht hatte. Als sie die Spuren ihrer Niederlage sah, seufzte sie. Sie war beim Kaffeetrinken ein wenig nachdenklich. Sobald wir aber in unserem Einsitzer waren, kehrte mit der Wonne der Liebe auch ihre Heiterkeit zurück, und wir übertäubten mit unserm Entzücken das Bedauern darüber, daß die Reise so bald ein Ende nehmen würde.

In Nevers trafen wir Moreau. Er war untröstlich, daß sein Schuldner ihm die zweihundert Franken erst am Mittag bezahlen könnte; denn er wagte nicht mich zu bitten, so lange auf ihn zu warten. Ich sagte zu ihm: »Sehen Sie nur zu, daß wir ein ganz ausgezeichnetes Mittagessen erhalten; wir werden weiterreisen, sobald Sie Ihr Geld bekommen haben.«

Bis zum Mittagessen schlossen wir uns in ein Zimmer ein, um uns einem Haufen von Weibern zu entziehen, die uns allerlei Tand verkaufen wollten. Nach zwei Uhr fuhren wir weiter, da Moreau sein Geld bekommen hatte. In der Dämmerung kamen wir in Come an; obgleich Clairmont uns in Briare erwartete, so beschloß ich doch, die Nacht in Come zu verbringen, und diese zweite Nacht war besser als die erste. Nachdem wir am andern Morgen in Briare zum Frühstück das Abendessen verzehrt hatten, das Clairmont am Tage vorher für uns bestellt hatte, übernachteten wir in Fontainebleau, wo ich meine schöne Adele zum letztenmal besaß. Am Morgen versprach ich ihr, sie auf meiner Rückreise von England in Louviers zu besuchen; ich habe ihr jedoch nicht Wort halten können.

Von Fontainebleau nach Paris brauchten wir vier Stunden, aber diese kamen uns recht kurz vor! In Paris ließ ich an der Brücke St.-Michel den Wagen vor einem Uhrmacherladen halten; ich ließ mir verschiedene Uhren an den Wagen bringen, kaufte eine für fünfzehn Louis und schenkte sie Adelen, die ich mit ihrem Vater an der Ecke der Rue aux Ours absetzte. Hierauf fuhr ich nach dem Hôtel Montmorency, da ich nicht bei Frau von Urfé wohnen wollte. Nachdem ich jedoch Toilette gemacht hatte, ging ich zu ihr zum Mittagessen.


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