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Am fünften Tage nach meiner Ankunft in Berlin stellte ich mich dem Lord Marishal vor, der seit dem Tode seines Bruders Mylord Keith genannt wurde. Ich hatte ihn zum letzten Male in London gesehen, als er von Schottland zurückreiste; man hatte ihm die Familiengüter zurückgegeben, die von der Regierung konfisziert worden waren, als er und sein Bruder dem König James folgten. Er verdankte die Wiedereinsetzung in seinen Besitz dem Einfluß des Großen Friedrich. Mylord Keith lebte damals in Berlin, wo er auf seinen Lorbeeren ausruhte und sich des Friedens erfreute. Er war immer noch ein Liebling des Königs, mischte sich aber wegen seines hohen Alters in keine Hofangelegenheiten mehr ein.
Er sagte mir in der ihm eigenen einfachen Art, er sehe mich mit Vergnügen wieder; hierauf fragte er mich, ob ich die Absicht habe, eine Zeitlang in Berlin zu bleiben. Da er zum Teil die Wechselfälle meines Lebens kannte, so antwortete ich ihm, ich würde mich gern dauernd niederlassen, wenn der König mir eine Anstellung gäbe, die meinen Kenntnissen entspräche. Als ich ihn aber um seine Protektion zur Erlangung einer solchen Stellung bat, antwortete er mir: »Ich würde Ihnen mehr schaden als nützen, wenn ich versuchen wollte, den König vorher zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Seine Majestät tut sich nämlich etwas darauf zugute, ein ganz besonderer Menschenkenner zu sein, und urteilt daher gern nach eigener Überzeugung. So kommt es denn ziemlich oft vor, daß er Verdienste entdeckt, wo kein Mensch solche auch nur vermutet hätte, und umgekehrt. Ich rate Ihnen, dem König zu schreiben, daß Sie nach der Ehre einer Unterredung streben. Wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm beiläufig sagen, daß Sie mich kennen, und ich zweifle nicht, daß er mir dann Gelegenheit geben wird, von Ihnen zu sprechen; Sie können sich denken, daß meine Auskunft Ihnen nicht schaden wird.«
»Ich, Mylord, soll an einen König schreiben, zu dem ich nicht die geringsten Beziehungen habe? Ein solcher Schritt ist mir nie in den Sinn gekommen.«
»Das glaube ich wohl, aber wünschen Sie nicht mit ihm zu sprechen?«
»Gewiß.«
»Nun, da haben Sie ja die Beziehungen. Ihr Brief braucht weiter nichts zu enthalten, als daß Sie ihn zu sprechen wünschen.«
»Wird der König mir antworten?«
»Ohne allen Zweifel; denn er antwortet einem jeden. Er wird Ihnen mitteilen, wo und zu welcher Stunde er Sie empfangen will. Folgen Sie meinem Rat! Seine Majestät ist jetzt in Sanssouci. Ich bin neugierig auf das Gespräch, das Sie mit dem Herrscher haben werden, der, wie Sie sehen, keine Furcht hat, daß ihm jemand blauen Dunst vormacht.«
Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb dem König einen ganz einfachen und sehr ehrfurchtsvollen Brief, in dem ich fragte, wo und wann ich mich Seiner Majestät vorstellen dürfte.
Am zweiten Tage darauf erhielt ich einen Brief mit der Unterschrift Frédéric; man bestätigte mir den Empfang meines Briefes und teilte mir mit, daß der König sich um vier Uhr im Park von Sanssouci befinden würde.
Wie man sich denken kann, war ich pünktlich zur Stelle. In einen einfachen schwarzen Anzug gekleidet, begab ich mich um drei Uhr nach Sanssouci. Im Schloßhof sah ich keinen Menschen, nicht einmal eine Schildwache; ich ging eine kleine Treppe hinauf, öffnete eine Tür und befand mich in einer Bildergalerie. Der Aufseher kam auf mich zu und erbot sich, mich zu führen. Ich antwortete ihm: »Ich komme nicht, um diese Meisterwerke der Malerei zu bewundern, sondern um den König zu sprechen, der mir geschrieben hat, daß er im Park sein werde.«
»Er ist in diesem Augenblick bei seinem kleinen Konzert, wo er die Flöte spielt. Das tut er jeden Tag nach Tisch. Hat er Ihnen die Stunde bezeichnet?«
»Ja, um vier Uhr; aber er wird es vergessen haben.«
»Der König vergißt niemals etwas; er wird pünktlich sein, und Sie tun gut, wenn Sie ihn im Park erwarten.«
Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Park, als ich ihn mit seinem Vorleser und einer hübschen Windhündin erscheinen sah. Sobald er mich bemerkte, ging er auf mich zu, nahm seinen alten Hut ab, nannte meinen Namen und fragte mich in barschem Ton, was ich von ihm wollte. Überrascht von diesem Empfang, konnte ich kein Wort hervorbringen; ich sah ihn nur an, ohne ihm zu antworten.
»Nun, so sprechen Sie doch! Haben Sie mir denn nicht geschrieben?«
»Ja, Sire; aber ich erinnere mich an nichts mehr. Ich konnte wohl glauben, daß die Majestät eines Königs mich nicht blenden würde! Doch in Zukunft soll mir dies nicht wieder begegnen. Mylord Marishal hätte mich warnen sollen.«
»Er kennt Sie also? Wir wollen ein wenig gehen. Worüber wollten Sie mit mir sprechen? Was sagen Sie zu meinem Park?«
Während er mich fragt, worüber ich mit ihm sprechen wolle, befiehlt er mir zugleich, mein Urteil über seinen Park zu sagen! Jedem anderen hätte ich geantwortet, daß ich nichts davon verstände; aber da der König geruhte, mich für einen Kenner zu halten, so hätte es ausgesehen, wie wenn ich ihm unrecht geben wollte, und das verzeiht ein König niemals, selbst wenn er ein Philosoph ist. Auf die Gefahr hin, einen schlechten Geschmack zu zeigen, antwortete ich daher, ich fände den Garten prachtvoll.
»Aber der Park von Versailles ist doch viel schöner.«
»Allerdings Sire, aber hauptsächlich wegen der Wasserkünste.«
»Ganz recht; aber das ist nicht meine Schuld: hier gibt es kein Wasser. Ich habe mehr als dreihunderttausend Taler ausgegeben, um Wasser zu bekommen; aber ohne Erfolg.«
»Dreihunderttausend Taler, Sire! Wenn Eure Majestät die ganze Summe auf einmal ausgegeben hätten, müßte Wasser da sein.«
»Ah, ich sehe, Sie sind Ingenieur, der sich mit Hydraulik befaßt.«
Hätte ich ihm sagen sollen, daß er sich täuscht? Ich fürchtete ihm zu mißfallen und senkte nur den Kopf; das hieß weder ja noch nein. Glücklicherweise dachte der König nicht daran, mit mir über diesen Gegenstand zu sprechen; so blieb mir eine große Verlegenheit erspart, denn ich kannte nicht einmal die ersten Anfangsgründe dieser Wissenschaft.
Während wir gingen, drehte er fortwährend den Kopf nach rechts und nach links; er fragte mich, welche Streitkräfte Venedig im Kriegsfalle zu Wasser und zu Lande habe. Hier befand ich mich, Gott sei Dank, auf sicherem Boden!
»Zwanzig Schlachtschiffe, Sire, und eine große Menge Galeren.«
»Und wieviele Landtruppen?«
»Siebzigtausend Mann, Sire; lauter Untertanen der Republik, auf jedes Dorf nur einen einzigen Mann gerechnet.«
»Das ist nicht wahr. Sie wollen mich wohl zum Lachen bringen, indem Sie mir derartige Fabeln erzählen? Aber Sie sind sicherlich Finanzmann. Sagen Sie nur, was Sie von der Steuer halten?«
Es war die erste Unterredung, die ich mit einem König hatte. Es kam mir vor, wie wenn ich eine Szene in einer italienischen Komödie zu spielen hätte, wo der Schauspieler zu improvisieren hat und, wenn er stecken bleibt, sofort ausgepfiffen wird. Ich legte also mein Gesicht in würdige Falten und antwortete dem stolzen Herrscher, ich könnte über die Theorie der Steuer sprechen.
»Das will ich ja gerade; denn die Praxis geht Sie nichts an.«
»Im Hinblick auf die Wirkungen sind drei Arten von Steuern zu unterscheiden: die eine ist verderblich; die zweite leider notwendig, die dritte stets ausgezeichnet.«
»Gut so. Nur weiter!«
»Die verderbliche Steuer ist die königliche; die notwendige ist die militärische; die ausgezeichnete ist die Steuer, die dem Volk zugute kommt.«
Da ich über das Thema nicht vorher nachgedacht hatte, so warf ich einige Gedanken hin, wie sie mir gerade in den Sinn kamen; dabei mußte ich aber doch vorsichtig sein und mich hüten, Unsinn zu sprechen.
Ich fuhr fort:
»Die königliche Steuer, Sire, ist diejenige, die die Börsen der Untertanen erschöpft, um die Geldkisten des Herrschers zu füllen.«
»Und diese Steuer ist stets verderblich, sagen Sie?«
»Stets, Sire; denn sie schadet dem Geldumlauf, der die Seele des Handels und die Stütze des Staates ist.«
»Aber Sie finden die Steuer notwendig, die zur Unterhaltung der Heere dient?«
»Sie ist leider notwendig. Leider – denn der Krieg ist ein Unglück.«
»Das kann wohl sein; und die Steuer, die dem Volk dient?«
»Diese ist stets ausgezeichnet; denn der König nimmt seinen Untertanen mit der einen Hand und gibt ihnen mit der anderen; dadurch erzieht er sie zu gemeinnützigem Denken. Er begründet die notwendigen gewerblichen Unternehmungen, beschützt Wissenschaften und Künste, die dazu beitragen, das Geld in Umlauf zu bringen; endlich erhöht er das allgemeine Wohlbefinden durch die Verordnungen, die ihm seine Weisheit eingibt, um diese Steuer so zu verwenden, wie sie den Massen am besten nützt.«
»Es liegt etwas Wahres darin. Sie kennen ohne Zweifel Casalbigi?«
»Ich muß ihn wohl kennen, Sire; denn vor sieben Jahren haben wir beide zusammen die Genueser Lotterie in Paris eingeführt.«
»Und zu welcher der drei Arten rechnen Sie diese Steuer? Denn Sie werden mir zugeben, daß die Lotterie eine Steuer ist.«
»Gewiß, und zwar keine von den unbedeutendsten. Es ist eine Steuer von der guten Art, wenn der König die Erträgnisse zu nützlichen Ausgaben verwendet.«
»Aber der König kann daran verlieren.«
»Einmal auf fünfzig.«
»Ist dies das Ergebnis einer sicheren Berechnung?«
»Einer so sicheren, Sire, wie alle nationalökonomischen Berechnungen sind.«
»Diese sind oft fehlerhaft.«
»Niemals, Sire, wenn Gott neutral bleibt.«
»Warum wollen Sie Gott hineinmischen?«
»Nun, dann also das Schicksal oder der Zufall, Sire.«
»Das lasse ich gelten. Übrigens denke ich vielleicht wie Sie über Wahrscheinlichkeitsrechnungen; aber Ihre Genueser Lotterie liebe ich nicht. Sie scheint mir eine richtige Gaunerei zu sein, und ich möchte nichts von ihr wissen, selbst wenn ich die tatsächliche Sicherheit hätte, daß ich niemals verlieren könnte.«
»Eure Majestät denken wie ein Weiser; denn das unwissende Volk kann nur in der Lotterie spielen, wenn es sich von einem blinden und ungerechtfertigten Vertrauen hinreißen läßt.«
Nach diesem etwas zusammenhanglosen Dialog, der dem hohen Geiste des erlauchten Herrschers alle Ehre machte, brachte er das Gespräch noch auf verschiedene Themata, aber er fand mich um die Antworten nicht verlegen. Als wir bei einem Rundtempel mit doppelter Säulenreihe angekommen waren, blieb er vor mir stehen, sah mich vom Kopf bis zu den Füßen an und sagte nach einigen Sekunden:
»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«
»Ist es möglich, Sire, daß Eure Majestät nach einer langen wissenschaftlichen Unterhaltung an mir den geringsten der Vorzüge bemerken können, durch die Ihre Grenadiere sich auszeichnen?«
Der König lächelte fein, aber freundlich und gütig und sagte dann zu mir: »Da Lord Keith Sie kennt, werde ich mit ihm über Sie sprechen.«
Hierauf nahm er seinen Hut ab – mit dieser Höflichkeit geizte er überhaupt gegen keinen Menschen – und grüßte mich. Ich machte ihm eine tiefe Verbeugung und entfernte mich.
Drei oder vier Tage darauf machte Lord Marishal mir die angenehme Mitteilung, daß ich dem König gefallen hätte und daß Seine Majestät daran dächte, mir irgendeine Anstellung zu geben.
Ich war sehr neugierig, für was für eine Stellung der Herrscher mich ausersehen haben könnte, und da ich es durchaus nicht eilig hatte, anderswohin zu gehen, so beschloß ich zu warten. Übrigens gefiel es mir in Berlin nicht schlecht; denn wenn ich nicht bei Casalbigi zu Abend speiste, hatte ich an der Tafel meiner Wirtin die angenehme Gesellschaft des Barons von Treidel; außerdem war der Sommer sehr schön, und ich verbrachte angenehme Stunden im Tiergarten, wo ich mich für gewöhnlich mehr mit meiner Vergangenheit als mit meiner Zukunft beschäftigte, obwohl an der einen nichts mehr zu ändern, die andere aber sehr ungewiß war.
Casalbigi erhielt ohne Mühe die Erlaubnis, die Lotterie für seine eigene Rechnung fortzusetzen oder für Rechnung des ersten besten, der ihm für jede Ziehung sechstausend Taler zahlen wollte. Er erließ die dreiste Ankündigung, daß die Lotterie auf seine eigene Rechnung ginge, machte seine Annahmestellen wieder auf und sah seine Kühnheit vom Glück gekrönt. Obgleich sein Kredit sehr schlecht war, strömten ihm die Spieler in solcher Menge zu, daß er einen Gewinn von fast hunderttausend Talern hatte. Er benutzte diesen, um einen großen Teil seiner Schulden zu bezahlen, und löste die Verschreibung von zehntausend Talern ein, die er seiner Geliebten gegeben hatte. Nach dieser glücklichen Ziehung fand er ohne jede Mühe Bürgen für eine Million Taler, die in tausend Aktien geteilt wurden, und die Lotterie ging zwei oder drei Jahre lang ohne jeden Unfall weiter. Schließlich machte Casalbigi aber doch Bankerott und starb ziemlich arm in Italien. Man konnte ihn mit dem Faß der Danaiden vergleichen: je mehr er verdiente, desto mehr gab er aus. Seine Geliebte wußte die günstigen Umstände zur rechten Zeit zu benützen: sie machte eine vorteilhafte Heirat und kehrte nach Paris zurück, wo sie in angenehmen Verhältnissen lebt.
Zu jener Zeit machte Friedrichs Schwester, die Herzogin von Braunschweig, dem König einen Besuch; sie war von ihrer Tochter begleitet, die im folgenden Jahre den Thronfolger von Preußen heiratete. Aus diesem Anlaß kam der König nach Berlin und ließ auf seiner kleinen Bühne in Charlottenburg eine italienische Oper aufführen. Ich sah an diesem Tage den König von Preußen in einem Rock von Glanzseide, der an allen Nähten mit Gold gestickt war, und in schwarzseidenen Strümpfen. Seine Erscheinung war geradezu komisch; er glich mehr einem Theatergroßpapa als einem Herrscher. Den Hut unterm Arm betrat er den Saal, seine Schwester an der Hand führend. Alle Zuschauer betrachteten ihn mit dem größten Erstaunen, denn nur alte Leute konnten sich erinnern, ihn ohne seinen Uniformrock und seine hohen Stiefel gesehen zu haben.
Ich wußte nicht, daß die berühmte Denis in Berlin war; so war ich denn sehr angenehm überrascht, als ich sie im Ballett auftreten und einen Solotanz zum Entzücken tanzen sah. Ich konnte Anspruch darauf machen, für einen alten Bekannten zu gelten, und bekam daher Lust, ihr gleich am nächsten Tage einen Besuch zu machen.
Ich muß meinen Lesern – vorausgesetzt, daß ich überhaupt jemals Leser habe – ein Geschichtchen aus meiner Jugend erzählen: Als in meinem zwölften Jahre meine Mutter im Begriff stand, nach Dresden abzureisen, wo sie eine Stelle am kurfürstlichen Theater erhalten hatte, ließ sie mich mit meinem guten Doktor Gozzi nach Venedig kommen. Dort sah ich mit Herzklopfen im Theater ein achtjähriges kleines Mädchen ein Menuett mit einer Anmut tanzen, die alle Zuschauer zu stürmischem Beifall hinriß. Diese junge Tänzerin, die Tochter des Schauspielers, der die wichtige Rolle des Pantalon spielte, bezauberte mich dermaßen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, in ihr Ankleidezimmer zu gehen und ihr mein Kompliment zu machen. Ich trug damals die Soutane, und sie war sehr überrascht, als ihr Vater ihr befahl, aufzustehen und mich zu umarmen. Sie tat es jedoch mit großer Anmut, während ich diese unschuldige Gunstbezeigung sehr linkisch empfing. Aber ich war so entzückt, daß ich mich nicht enthalten konnte, von einer Juwelenhändlerin, die gerade da war, einen kleinen Ring zu kaufen, den ich ihr anbot und den sie mit großer Freude annahm. Ich wurde von ihr durch einen Kuß belohnt, den sie mir in der Freude des Herzens und als Zeichen ihrer Dankbarkeit gab.
Das schönste dabei war, daß die Zechine, die der Ring mir gekostet hatte, dem Doktor gehörte. Ich fühlte mich daher, als ich wieder zu ihm in die Loge ging, sehr unbehaglich; denn trotz meiner Liebe zu der kleinen Virtuosa fühlte ich, daß ich eine große Dummheit gemacht hatte – erstens, indem ich über Geld verfügte, das mir nicht gehörte; zweitens, weil ich es wie ein rechter Tor ausgegeben hatte, um bloß einen einfachen Kuß dafür zu erhalten.
Da ich wußte, daß ich am nächsten Morgen Rechenschaft über das mir anvertraute Geld abzulegen hatte, und da ich nicht wußte, wie ich mir eine Zechine verschaffen oder wie ich den Verlust beschönigen sollte, so verbrachte ich eine sehr unruhige Nacht. Am anderen Morgen wurde alles entdeckt, und meine Mutter gab dem Doktor die Zechine. Heute muß ich lachen, indem ich daran denke, wie rot ich damals über meine kindliche Galanterie wurde, die übrigens ein frühes Zeichen der Herrschaft war, die das schöne Geschlecht dereinst über mich ausüben sollte.
Die Händlerin, die mir im Theater den Ring verkauft hatte, kam zu uns, als wir beim Mittagessen saßen, und zeigte ihre Schmucksachen. Als man diese zu teuer fand, fing sie an, mich zu loben, und sagte, ich hätte den Ring nicht teuer gefunden, den ich der kleinen Giovannina geschenkt hätte. Weiter war nichts nötig, um mir meinen Prozeß zu machen. Ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, glaubte aber der Sache ein Ende machen zu können, indem ich um Verzeihung bat, alle Schuld auf die Liebe schob und meiner Mutter fest versprach, es solle der letzte Fehltritt sein, den ich aus Liebe begehen werde. Kaum aber sprach ich das Wort Liebe aus, so lachte die ganze Gesellschaft laut auf und machte sich in grausamer Weise über mich lustig. Ich hätte mich am liebsten in die Erde verkrochen und nahm mir innerlich fest vor, es sollte das letzte Mal sein, daß ich mich solchen Unannehmlichkeiten aussetzen würde. Man weiß, wie ich Wort gehalten habe.
Die kleine Pantalons-Tochter war eine Patin meiner Mutter; obgleich ich ihretwegen der Liebe ewigen Haß geschworen hatte, schmachtete ich doch nach ihr. Meine Mutter hatte sie gern, und als sie meinen Kummer sah, gab sie mir die Zechine und fragte mich, ob es mir lieb wäre, wenn sie sie zum Abendessen einlüde. Meine Großmutter war vernünftiger oder strenger: sie erhob Widerspruch, und ich war ihr dafür dankbar.
Am Tage nach diesem komischen Auftritt reiste ich nach Padua zurück, wo ich über Bettina bald meine kleine Tänzerin vergaß. Ich hatte sie seitdem nicht wiedergesehen, bis wir uns dann in Charlottenburg trafen. Es waren siebenundzwanzig Jahre seitdem vergangen. Es drängte mich, sie unter vier Augen wiederzusehen und von ihr zu hören, ob sie sich dieser Geschichte noch erinnerte; denn daß sie mich selber wiedererkennen sollte, hielt ich nicht für wahrscheinlich. Ich erkundigte mich, ob ihr Mann, Denis, bei ihr wäre, und ich erfuhr, daß der König ihn ausgewiesen habe, weil er sie mißhandelte.
Ich ließ mich also gleich am nächsten Tage zu ihr führen und wurde von ihr sehr freundlich und höflich empfangen; sie sagte mir jedoch, sie glaube nicht das Vergnügen gehabt zu haben, mich schon früher zu kennen.
Ich erzählte ihr nun alles mögliche Gute von ihrer Familie, sprach von ihrer Patin, von ihrer Kindheit und von der rührenden Anmut, womit sie Venedig durch ihren Menuettanz entzückt habe, und erregte dadurch ihre lebhafteste Teilnahme. Sie unterbrach mich und rief: »Ich war damals nur sechs Jahre alt.«
»Sie können nicht älter gewesen sein; denn ich selber war erst zehn Jahre alt; trotzdem verliebte ich mich leidenschaftlich in Sie. Ich konnte damals meine Gefühle nicht äußern, aber ich habe niemals den Kuß vergessen, den Sie mir auf Befehl Ihres Vaters zum Lohn für ein kleines Geschenk gaben.«
»Schweigen Sie! Sie gaben mir einen Ring, der mir große Freude machte, und der Kuß, den ich Ihnen darauf gab, war nicht von meinem Vater befohlen worden. Sie waren damals als Abbate gekleidet. Ich habe Sie niemals vergessen. Aber ist es möglich, daß Sie das sind? Das freut mich sehr. Aber da ich Sie nicht wiedererkenne, so ist es unmöglich, daß Sie mich erkennen!«
»Allerdings hätte ich Sie gewiß nicht wiedererkannt, wenn ich nicht Ihren Namen gehört hätte.«
»In zwanzig Jahren, mein lieber Freund, ändert sich das Gesicht.«
»Sagen Sie lieber, meine Freundin: mit sechs Jahren sind die Züge noch nicht ausgebildet.«
»Sie können mir also bezeugen, daß ich erst sechsundzwanzig Jahre alt bin, zum Trotz den boshaften Zungen, die behaupten wollen, daß ich zehn Jahre älter sei.«
»Man muß die bösen Zungen reden lassen, meine liebe Freundin. Sie stehen in der Blüte Ihrer Jahre und sind zur Liebe geschaffen. Ich halte mich für den glücklichsten aller Menschen, Ihnen sagen zu können, daß Sie das erste Weib sind, das mir echte Liebe eingeflößt hat.«
Eine Unterhaltung dieser Art mußte uns bald in eine gerührte Stimmung bringen; aber die Erfahrung hatte uns beide gelehrt, daß es für den Augenblick besser sei, es dabei bewenden zu lassen und zu warten.
Die Denis war noch jung, schön und frisch, sie unterschlug zehn Jahre ihres Alters, obgleich sie sich in bezug auf mich keiner Täuschung hingeben konnte; trotzdem verlangte sie, daß ich ihr recht geben sollte oder wenigstens so täte. Sie würde mich verabscheut haben, wenn ich ihr dummerweise eine Tatsache hätte nachweisen wollen, die sie besser wußte als ich, die sie aber sich selber nicht gestehen wollte, damit niemand das Recht hätte, ihr etwas darüber zu sagen. Ohne Zweifel lag ihr wenig daran, was ich vielleicht darüber dächte; vielleicht bildete sie sich ein, daß ich ihr dankbar dafür sein müßte, da sie durch diese Lüge, die bei einer Frau ihres Berufes sehr unschuldiger Art war, mich selber ermächtigte, mich um zehn Jahre jünger zu machen, damit mein Alter zu dem ihrigen paßte. Daraus machte ich mir allerdings gar nichts. Die Verheimlichung ihres Alters ist für Theaterdamen gewissermaßen eine Pflicht; denn sie wissen, daß trotz allen ihren Talenten das Publikum ihnen niemals verzeiht, daß sie zu früh geboren sind.
Die Aufrichtigkeit, womit sie ihre kleine Schwäche vor mir enthüllt hatte, schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich zweifelte nicht, daß ihre Güte meine Liebe dulden würde, und hoffte, daß sie mich nicht lange würde schmachten lassen. Sie zeigte mir ihr Haus, das ich in jeder Beziehung mit gesuchter Eleganz eingerichtet fand. Ich fragte sie, ob sie einen Freund hätte, und sie antwortete mir lächelnd:
»Ganz Berlin glaubt es, aber man täuscht sich gerade über den Hauptpunkt, denn mein Freund ist mir mehr ein Vater als ein Liebhaber.«
»Sie verdienen aber doch einen wirklichen Liebhaber zu haben; es erscheint mir unmöglich, daß Sie eines solchen entbehren können.«
»Ich versichere Ihnen, ich mache mir nichts daraus. Ich leide an Krämpfen, die mich unglücklich machen. Ich wollte nach Teplitz gehen und die Bäder gebrauchen, die ganz ausgezeichnet gegen Nervenkrankheiten sein sollen, aber der König hat mir die Erlaubnis verweigert; ich hoffe diese im nächsten Jahre zu erhalten.«
Ich war entflammt, sie sah es, und ich glaubte zu bemerken, daß sie mir für meine Zurückhaltung Dank wußte. Ich fragte sie: »Könnte es Ihnen unangenehm sein, wenn ich Sie häufig besuchte?«
»Wenn es Ihnen nicht mißfällt, lieber Freund, werde ich mich für Ihre Nichte oder für Ihre Base ausgeben, und dann könnten wir uns sehen.«
»Aber, liebes Herz, wissen Sie auch, daß es wohl wahr sein kann? Ich möchte nicht darauf schwören, daß Sie nicht meine Schwester sind!«
Dieser Scherz brachte unser Gespräch auf die Freundschaft zwischen ihrem Vater und meiner Mutter. Wir erwiesen uns Liebkosungen, die unter nahen Verwandten ganz unverdächtig sind; als wir jedoch fühlten, daß ich zu weit gehen würde, trennten wir uns. Sie begleitete mich bis an die Treppe und fragte, ob ich am nächsten Tage bei ihr zu Mittag essen wollte; natürlich lehnte ich nicht ab.
Ganz erhitzt kam ich in meinen Gasthof zurück; ich dachte über die eigentümlichen Verknüpfungen nach, die aus meinem Leben eine ununterbrochene Kette von Ereignissen machten. Wenn ich alles in allem rechnete, glaubte ich der ewigen Vorsehung dafür dankbar sein zu müssen, denn schließlich mußte ich anerkennen, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren war.
Als ich mich am nächsten Tage zu Madame Denis begab, fand ich bereits die ganze Gesellschaft versammelt, die bei ihr speisen sollte. Der erste, der auf mich zukam und mich wie einen alten Bekannten umarmte, war ein junger Tänzer, namens Aubry, den ich in Paris als Opernstatisten und später in Venedig gekannt hatte. Er war dadurch berühmt geworden, daß er gleichzeitig der Liebhaber einer der vornehmsten Damen Venedigs und der Liebling ihres Gatten gewesen war. Man behauptete, diese skandalöse Verbindung sei so innig gewesen, daß Aubry zwischen den beiden Gatten geschlafen habe. Nach Schluß der Opernsaison schickten die Staatsinquisitoren ihn nach Triest. Er stellte mich seiner Frau vor, die ebenfalls Tänzerin war und sich La Santina nannte. Er hatte sie in St. Petersburg geheiratet; sie kamen von dort und wollten den Winter in Paris verbringen. Nach Aubry sah ich einen dicken Herrn auf mich zukommen, der mir die Hand entgegenstreckte und mir sagte: »Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren Freunde; aber Sie waren damals so jung, daß Sie mich wohl nicht erkennen können. Wir haben uns in Padua beim Doktor Gozzi kennen gelernt: ich bin Giuseppe da Loglio.«
»Ich erinnere mich: Sie waren damals bei der Kapelle der Kaiserin von Rußland als geschickter Cellist.«
»Ganz recht; jetzt kehre ich in die Heimat zurück, um sie nicht wieder zu verlassen. Ich habe die Ehre, Ihnen meine Frau vorzustellen; sie ist in Petersburg geboren als Tochter des ersten Geigers Madonis, der in ganz Europa berühmt ist. In acht Tagen werde ich in Dresden sein und die große Freude haben, Signora Casanova, Ihre Mutter, zu umarmen.«
Ich war entzückt, mich in Gesellschaft von Leuten zu finden, die mir so gut gefielen; aber ich sah, daß Erinnerungen, die über ein Vierteljahrhundert reichten, meiner reizenden Denis nicht lieb waren. Ich schnitt daher die indiskreten Erinnerungen ab und brachte das Gespräch auf die Petersburger Ereignisse, die die große Katharina auf den Thron gebracht hatten.
Da Loglio sagte uns: »Ich war so ein bißchen in die Verschwörung verwickelt und habe nun den sehr vernünftigen Entschluß gefaßt, meinen Abschied zu erbitten. Zum Glück hatte ich schon seit langer Zeit mit dieser Notwendigkeit gerechnet, und so bin ich jetzt in der Lage, in Italien als unabhängiger Mann von meinem Vermögen bequem leben zu können.«
Die Denis erzählte hierauf: »Vor acht Tagen erst hat man mir einen Piemontesen, namens Audar, vorgestellt, der die Verschwörung zum großen Teil angesponnen und geleitet hat. Er erhielt von der Kaiserin ein Geschenk von hunderttausend Rubeln und den Befehl, Rußland unverzüglich zu verlassen.«
Ich habe seither erfahren, daß dieser Audar sich ein Landgut in Piemont kaufte und sich ein schönes Haus bauen ließ, worin er zwei oder drei Jahre später vom Blitz erschlagen wurde. Wenn ihn eine allmächtige Hand damit traf, so war es gewiß nicht die des Schutzgeistes von Rußland, die den Tod Peters des Dritten hätte rächen wollen; denn wenn dieser unglückselige Monarch am Leben geblieben wäre, würde er die Zivilisation des moskowitischen Reiches um ein Jahrhundert verzögert haben.
Die Kaiserin Katharina, welcher Rußland die größte Dankbarkeit schuldet, belohnte mit großartiger Freigebigkeit alle Ausländer, die ihr beigestanden waren, um sich eines Gatten zu entledigen, der ihr Feind und der Feind seines Sohnes und seines ganzen Volkes war; sie zeigte sich erkenntlich gegen alle Russen, die ihr die Hand reichten, damit sie den Thron besteigen konnte. Alle russischen Großen, die sie im Verdacht hatte, keine Freunde von Revolutionen zu sein, schickte sie als gute Politikerin auf Reisen.
Da Loglio und seine Frau brachten mich auf den Gedanken, nach Rußland zu gehen, falls der König von Preußen mir keine Anstellung nach meinen Wünschen geben sollte. Sie versicherten mir, daß ich dort mein Glück machen würde, und gaben mir gute Empfehlungen.
Nachdem der wirklich liebenswürdige da Loglio Berlin verlassen hatte, wurde ich der Vertraute und zärtliche Freund der Denis. Unsere Vertraulichkeit begann, als sie nach einem Abendessen von Krämpfen ergriffen wurde, die die ganze Nacht dauerten. Ich ging nicht einen Augenblick von ihrer Seite, und als sie am Morgen sich wieder ganz wohl fühlte, vollendete die Dankbarkeit, was die Liebe sechsundzwanzig Jahre vorher begonnen hatte, und unser Liebesverhältnis dauerte bis zu meiner Abreise von Berlin. Wir werden diese reizende Frau sechs Jahre später in Florenz wiederfinden.
Einige Tage nach dem Beginn unseres Liebesverhältnisses war die Denis so freundlich, mit mir nach Potsdam zu fahren und mir dort alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Unsere Vertraulichkeit konnte niemanden verletzen, denn sie galt allgemein für meine Nichte, und der General, der sie unterhielt, war davon überzeugt oder tat wenigstens als kluger Mann, wie wenn er nicht daran zweifelte.
Außer anderen Merkwürdigkeiten sah ich in Potsdam auch den König, der in eigener Person das erste Bataillon seiner Garde-Grenadiere kommandierte, das aus lauter auserwählten Männern besteht, die sich ebensosehr durch ihre Tapferkeit wie durch ihre Schönheit auszeichnen.
Das Zimmer, worin wir in unserem Gasthof wohnten, lag einem Korridor gegenüber, den der König durchschritt, wenn er das Schloß verließ. Da die Fensterläden geschlossen waren, erzählte unsere Wirtin uns, eine sehr hübsche Tänzerin, die Reggiana, die in unserem Zimmer gewohnt habe, sei eines Tages vom König im Zustande der reinen Natur bemerkt worden; diese Erscheinung habe die bescheidenen Blicke Seiner Majestät verletzt, und der König habe die Fensterläden schließen lassen; diese seien seitdem nicht wieder geöffnet worden, obgleich die Tänzerin schon seit vier Jahren nicht mehr da sei.
Der König hatte Furcht gehabt; denn er war von der Barbarina hart behandelt worden. Wir sahen im Schlafzimmer des Königs das Bildnis der Barbarina, das der Cochois, einer Schwester der Schauspielerin, die die Frau des Martin d'Argens wurde, und ein Porträt, das die Kaiserin Maria Theresia als junges Mädchen darstellte. Friedrich hatte sich in sie verliebt, weil er Kaiser zu werden wünschte.
Nachdem man die Schönheit und Eleganz der Schloßeinrichtung bewundert hatte, mußte man sich noch mehr über die Art und Weise wundern, wie der Herr untergebracht war: ein armseliges Zimmer; ein schmales Bett, das hinter einem Schirm stand. Kein Schlafrock, keine Pantoffeln. Der Kammerdiener zeigte uns eine alte Mütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war. Er stülpte dann seinen Hut darüber; das mußte sehr unbequem sein. Vor einem Kanapee stand ein Tisch, der mit Papieren, Federn, einem Tintengeschirr und halbverbrannten Heften bedeckt war: dies war der Schreibtisch Seiner Preußischen Majestät. Der Kammerdiener sagte uns, diese Hefte seien die Geschichte des letzten Krieges; der Unfall, bei dem die Hälfte angebrannt seien, habe den König so sehr geärgert, daß er das Werk nicht fortgesetzt habe. Wahrscheinlich hat er die Arbeit später wieder aufgenommen; denn dieses Werk, dem man übrigens keinen großen Wert beimißt, wurde gleich nach dem Tode des Herrschers veröffentlicht.
Fünf oder sechs Wochen waren seit meiner eigentümlichen Unterhaltung mit dem König verflossen, als Lord Marishal mir mitteilte, Seine Majestät bewillige mir eine Stelle als Erzieher an einer soeben geschafften Kadettenschule für pommersche Junker. Die Gesamtzahl derselben war auf fünfzehn festgesetzt, und er wollte diesen fünf Erzieher geben. Jeder Gouverneur hätte also drei Kadetten gehabt; er erhielt sechshundert Taler Gehalt und dasselbe Essen wie die Kadetten. Die Gouverneure hatten die Verpflichtung, ihre Schüler überallhin zu begleiten; wenn sie zu Hofe gingen, mußten sie im Tressenrock erscheinen. Ich sollte mich unverzüglich entscheiden; denn die vier anderen waren bereits in ihr Amt eingesetzt, und der König wartete nicht gern. Ich fragte Lord Keith, wo die Anstalt sei, und versprach ihm eine Antwort für den nächsten Tag.
Ich bedurfte einer Kaltblütigkeit, die sonst nicht meine Art ist, um nicht über diesen sonderbaren Vorschlag eines sonst so weisen Mannes laut herauszulachen, aber meine Überraschung war noch viel größer, als ich die Behausung dieser fünfzehn Edelleute aus dem reichen Pommernlande sah: drei oder vier große Säle, fast ohne alle Möbel; mehrere Zimmer mit weißgetünchten Wänden, einem elenden kleinen Bett, einem Tisch und zwei Stühlen aus Fichtenholz. Die jungen Kadetten waren alle etwa zwölf bis dreizehn Jahre alt; sie waren schmutzig, schlecht frisiert und in eine ärmliche Uniform eingeschnürt, in der ihre ländlichen Gesichtszüge besonders hervortraten. Sie saßen in bunter Reihe mit den Gouverneuren, die ich für ihre Bedienten hielt, und die mich ganz verblüfft ansahen, da sie sich gar nicht vorstellen konnten, daß ich der zu ihrem Kollegen ausersehene neue Gouverneur wäre.
Im Augenblick, wo ich diesen armen Tröpfen auf Nimmerwiedersehen Lebewohl sagen wollte, sah einer von den Erziehern zum Fenster hinaus und rief: »Da kommt der König angeritten!«
Ich konnte ihm nicht gut ausweichen; übrigens war es mir auch ganz angenehm, ihn noch einmal zu sehen, besonders an diesem Ort.
Der König trat mit seinem Freunde Quintus Icilius ein, besah sich alles, blickte mich an, sagte mir aber kein Wort. Ich trug das brillantenbesetzte Kreuz meines Ordens um den Hals und hatte einen eleganten Taftanzug an. Aber ich mußte mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen, als ich den großen Friedrich wütend werden sah: sein Zorn galt einem Nachttopf, der unter einem Bett hervorsah und noch die Spuren einer gewissen Unreinlichkeit trug.
»Wem gehört dies Bett?« rief der Monarch.
»Mir, Eure Majestät«, sagte ein Kadett, an allen Gliedern zitternd.
»Gut; aber mit Ihm will ich nichts zu tun haben, wo ist sein Gouverneur?«
Der glückliche Gouverneur tritt vor, und der freundliche König nennt ihn einen Lümmel und wäscht ihm gehörig den Kopf. Zum Schluß sagte er ihm, er habe einen Bedienten zu seiner Verfügung und müsse daher auf Sauberkeit achten.
Diese ekelhafte Szene genügte mir; ich schlich mich leise hinaus und begab mich zu Lord Marishal, um ihm für das schöne Glück zu danken, das der Himmel mir durch seine Vermittlung zugedacht hatte. Der gute alte Herr fing an zu lachen, als ich ihm ausführlich den Auftritt erzählte, den ich soeben erlebt hatte. Er sagte mir, ich habe recht, wenn ich eine derartige Anstellung verschmähe. Trotzdem müsse ich mich aber beim König bedanken, bevor ich von Berlin fortgehe. Als ich ihm sagte, es widerstrebe mir, noch einmal vor einen Menschen zu treten, den ich so wenig zugänglich gefunden habe, nahm er es auf sich, Seiner Majestät meine Weigerung und meine Entschuldigung mitzuteilen.
Ich entschloß mich nun nach Rußland zu reisen und traf allen Ernstes meine Vorbereitungen. Baron Treidel bestärkte mich in meinem mutigen Entschluß, indem er sich erbot, mir eine Empfehlung an seine Schwester, die Herzogin von Kurland, mitzugeben. Ich schrieb Herrn von Bragadino, er möchte mir eine Empfehlung an einen Petersburger Bankier besorgen, der mir jeden Monat die Summe auszahlen würde, deren ich zu einem bequemen Lebensunterhalt bedürfte.
Anstandshalber mußte ich mit einem Bedienten reisen. Der Zufall übernahm es, mir einen solchen zu besorgen. Als ich eines Tages bei Frau Rufin war, trat ein junger Lothringer ein; er trug wie Bias seine ganze Habe bei sich, aber unter dem Arm. Er stellte sich mit folgenden Worten vor: »Madame, ich heiße Lambert, bin Lothringer und wünsche bei Ihnen zu wohnen.«
»Sehr gern, mein Herr; aber Sie müssen jeden Tag bezahlen.«
»Das ist unmöglich, Madame, denn ich habe keinen Heller; aber ich werde Geld bekommen, sobald ich meinen Aufenthaltsort mitgeteilt habe.«
»Unter diesen Bedingungen kann ich Sie nicht aufnehmen, mein Herr.«
Als ich ihn mit ganz betrübtem Gesicht auf die Tür zugehen sah, fühlte ich Mitleid mit ihm, rief ihn zurück und sagte: »Bleiben Sie, ich werde heute für Sie bezahlen.«
Ein Glücksschimmer flog über sein Gesicht.
»Was haben Sie denn in Ihrem Bündel?« fragte ich ihn.
»Zwei Hemden, ein paar Dutzend mathematische Bücher und etwas Wäsche.«
Ich nahm ihn mit mir auf mein Zimmer, und da ich ihn ziemlich gebildet fand, fragte ich ihn, durch welchen Zufall er in eine solche Lage gekommen sei.
Er antwortete: »Ich war in Straßburg. Ein Fähnrich der dortigen Garnison gab mir in einem Kaffeehause eine Ohrfeige; am Tage darauf ging ich in sein Zimmer und erdolchte ihn. Nach dieser unglückseligen Tat ging ich nach Hause, packte ein paar Kleidungsstücke und die notwendigsten Bücher zusammen und verließ die Stadt. Da ich immer zu Fuß ging und bescheiden lebte, ist es mir bis heute früh gelungen, mich durchzuschlagen. Morgen werde ich an meine Mutter schreiben, die in Lunéville wohnt, und ich bin gewiß, daß sie mir Geld schicken wird.«
»Und was gedenken Sie zu tun?«
»Ich habe die Absicht, mich um eine Anstellung beim Geniekorps zu bewerben, denn ich glaube mich in diesem Stande nützlich machen zu können; im äußersten Notfall werde ich Soldat.«
»Ich werde Ihnen ein kleines Bedientenzimmer geben lassen und Ihnen ein bißchen Geld geben, um sich Ihr Essen zu kaufen, bis Sie die Hilfe von Ihrer Mutter erhalten haben.«
Er küßte mir dankbar die Hand und sagte: »Der Himmel hat Sie mir in den Weg geführt.« 52g Ich traute dem jungen Mann keinen Betrug zu, obgleich er stotterte; trotzdem schrieb ich aus Neugier an Herrn von Schauenburg, der sich damals in Straßburg befand, und fragte bei ihm an, ob der von dem jungen Menschen mir erzählte Vorfall sich wirklich zugetragen habe.
Am nächsten Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem Genieoffizier zu sprechen. Dieser sagte mir, es seien so viele wissenschaftlich gebildete Leute im Regiment, daß keiner mehr angenommen würde, wenn er sich nicht bereit erklärte, als gewöhnlicher Soldat zu dienen. Ich bedauerte den jungen Menschen, daß er gezwungen sein würde, sich dazu zu entschließen. Wir verbrachten zusammen ganze Stunden mit der Lösung mathematischer Aufgaben, und da ich fand, daß er wirklich Kenntnisse hatte, hatte ich den Einfall, ihn mit nur nach Petersburg zu nehmen. Als ich ihm dies vorschlug, antwortete er mir:
»Das wäre ein Glück für mich, und um Ihre Güte anzuerkennen, würde ich gern unterwegs Ihren Bedienten machen.«
Er sprach schlecht französisch; da er aber Lothringer war, so wunderte ich mich nicht darüber. Trotzdem war ich überrascht, daß er kein Wort Latein verstand, und daß er die gröbsten orthographischen Fehler machte, als ich ihm einmal einen Brief diktierte. Als ich darüber lachte, schämte er sich keineswegs, sondern sagte mir, er sei nur zur Schule gegangen, um Geometrie und Mathematik zu lernen, und es sei ihm sehr lieb, daß die langweilige Grammatik mit der Rechenkunst nichts zu tun habe. Er verstand in der Tat nur Mathematik und war in allem übrigen höchst unwissend. Er wußte sich auch nicht zu benehmen und betrug sich wie ein richtiger Bauernjunge.
Nach zehn oder zwölf Tagen erhielt ich von Herrn von Schauenburg die Antwort auf meinen Brief. Er schrieb mir, der Name Lambert sei in Straßburg unbekannt und in dem von mir genannten Regiment sei kein Fähnrich getötet oder verwundet worden.
Als ich Lambert diesen Brief zeigte, um ihm seine Lüge vorzuhalten, sagte er mir, er habe es für notwendig gehalten, sich als einen tapferen Menschen hinzustellen, weil er den Wunsch gehabt habe, in den Heeresdienst einzutreten; da die Lüge nicht darauf berechnet gewesen sei, mich irrezuführen, so müsse ich sie ihm verzeihen. »Die Armut ist eine schlechte Lehrmeisterin, die einen zu den übelsten Sachen treibt; ich bin von Natur nicht lügenhaft; leider habe ich Ihnen aber noch etwas anderes vorgelogen, was von viel größerer Bedeutung ist: ich erwarte nichts von meiner armen Mutter, die im Gegenteil meiner Unterstützung bedürftig wäre. Also verzeihen Sie mir, und verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihnen gut und treu dienen werde.«
Ich hatte stets – und nicht ohne Grund – viel Nachsicht gegen kleine Sünden. Lamberts Entschuldigung gefiel mir; ich ermahnte ihn, sich gut aufzuführen, und sagte ihm, wir würden in fünf bis sechs Tagen abreisen.
Der Baron Bodisson aus Venedig, der dem König ein Gemälde des Andrea del Sarto verkaufen wollte, machte mir den Vorschlag, ihn nach Potsdam zu begleiten. Da ich Lust hatte, mich nach Lord Marishals Rat noch einmal dem König zu zeigen, so nahm ich die Einladung an. In Potsdam ging ich zur Wachtparade, bei welcher Friedrich selten fehlte. Sobald er mich sah, kam er auf mich zu und fragte mich leutselig, wann ich nach Petersburg abzureisen gedächte.
»In fünf oder sechs Tagen, Sire, wenn Eure Majestät es erlauben wollen.«
»Gute Reise; aber was erhoffen Sie dort zu Lande?«
»Was ich hier zu Lande erhoffte, Sire: dem Souverän zu gefallen.«
»Haben Sie Empfehlungen an die Kaiserin?«
»Nein, Sire, nur an einen Bankier.«
»Das ist auch viel besser. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise wieder hier durchkommen, wird es mich freuen, von Ihnen Neues über Rußland zu hören. Adieu!«
»Adieu, Sire.«
Dies war meine zweite Unterhaltung mit dem großen König, den ich nicht wiedergesehen habe.
Ich verabschiedete mich von allen meinen Bekannten und erhielt vom Baron Treidel einen Brief an den Großkanzler Herrn von Keyserlingk in Mitau mit einer Einlage für seine Schwester, die Herzogin von Kurland. Den letzten Abend verbrachte ich mit meiner guten Denis, die mir meine Postkalesche abkaufte. Ich hatte zweihundert Dukaten in meiner Börse, und diese Summe hätte für die Reise vollkommen genügt, wenn ich nicht die Torheit begangen hätte, bei einer Vergnügungspartie, die ich in Danzig mit jungen Kaufleuten machte, die Hälfte davon zu verspielen. In Königsberg, wo ich an den Gouverneur Feldmarschall von Lehwald empfohlen war, blieb ich nur einen Tag, um die Ehre zu haben, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu speisen. Er gab mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den General Wojakoff, Gouverneur von Riga.
Da ich noch Geld genug hatte, um in Mitau als großer Herr ankommen zu können, nahm ich einen viersitzigen Wagen mit sechs Pferden und gelangte in drei Tagen nach Memel. Im Gasthof, wo ich abstieg, fand ich eine florentinische Sängerin, Namens Bregonci, die mich mit Liebenswürdigkeiten überhäufte, weil ich, wie sie sagte, sie geliebt hätte, als ich noch ein Kind gewesen wäre und die Soutane getragen hätte. Ich habe sie sechs Jahre später in Florenz wiedergesehen, wo sie mit der Denis zusammenwohnte.
Am Tage nach meiner Abreise von Memel kam auf offenem Felde ein einzelner Mann, offenbar ein Jude, an meinen Wagen heran und sagte mir, ich sei auf polnischem Gebiete und müsse Durchgangszoll für die Waren bezahlen, die ich bei mir habe.
»Ich bin kein Kaufmann und habe nichts zu bezahlen.«
»Ich habe das Recht, Ihren Wagen zu durchsuchen, und ich werde davon Gebrauch machen.«
»Sie sind verrückt!« rief ich; zugleich befahl ich dem Postillon, Galopp zu fahren.
Der Jude aber packte die vordersten Pferde an den Zügeln und hielt uns an. Dem Postillon fiel es nicht ein, den frechen Kerl mit Peitschenhieben fortzujagen, sondern er wartete mit seinem deutschen Phlegma, bis ich uns freimachen würde. Wütend sprang ich aus dem Wagen, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen meinen Stock. Ich streichelte den Juden mit einem halben Dutzend wohlgezielter Hiebe, und bald ergriff er die Flucht. Mein Reisegefährte, mein Bedienter Archimedes, der unterwegs die ganze Zeit schlief, rührte sich nicht von seinem Platze. Als ich ihm Vorwürfe deswegen machte, antwortete er mir, er habe nicht gewollt, daß der Jude sagen könnte, wir seien zu zweien über einen einzelnen hergefallen.
Zwei Tage später kam ich in Mitau an und stieg in dem Gasthofe ab, der dem Schloß gegenüberliegt. Ich hatte nur noch drei Dukaten.
Gleich am nächsten Morgen ging ich zu Herrn von Keyserlingk. Nachdem er den Brief des Barons von Treidel gelesen hatte, stellte er mich seiner Gemahlin vor und ließ mich dann mit ihr allein, um zu Hofe zu gehen und der Herzogin den Brief ihres Bruders zu bringen. Frau von Keyserlingk ließ mir von einer jungen Polin von blendender Schönheit eine Tasse Schokolade reichen. Das Mädchen stand mit gesenkten Wimpern vor mir, wie wenn sie mir Gelegenheit geben wollte, sie in aller Muße zu betrachten. Dabei kam mir eine Laune. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht meinen Launen widerstehen können; aber diese war allerdings unter den obwaltenden Umständen sehr eigentümlich. Wie ich vorhin sagte, hatte ich nur noch drei Dukaten; während ich nun langsam meine Schokolade schlürfte, dabei die schöne Polin betrachtete und einige Worte mit Frau von Keyserlingk wechselte, zog ich geschickt meine drei Dukaten aus der Tasche und legte sie auf die Tasse, als ich diese zurückgab.
Der Kanzler kam zurück und teilte mir mit, die Herzogin könne mich im Augenblick nicht empfangen, aber sie lade mich zum Abendessen und zu dem darauf folgenden Ball ein. Das Abendessen nahm ich an, aber die Einladung zum Ball schlug ich aus, unter dem Vorwande, daß ich nur Sommeranzüge und einen schwarzen Rock bei mir habe. Wir waren im Anfang des Oktobers, und die Kälte machte sich bereits bemerkbar. Der Kanzler kehrte ins Schloß zurück, und ich begab mich nach meinem Gasthof.
Eine halbe Stunde später überbrachte ein Kammerherr mir die Komplimente Ihrer Hoheit und sagte mir: »Der Ball ist ein Maskenball, Sie können im Domino hingehen. Einen solchen können Sie sich leicht bei irgendeinem Juden besorgen. Ursprünglich sollte ein Galaabend stattfinden; aber die Herzogin hat alle Gäste benachrichtigt, daß statt dessen Maskenball sein werde, weil ein Fremder, der daran teilnehmen solle, seine Koffer schon vorausgeschickt habe.«
»Es tut mir leid, daß ich an dieser Abänderung schuld bin.«
»Beunruhigen Sie sich deshalb nicht: der Maskenball ist bei uns viel beliebter, weil er mehr Freiheit gewährt.«
Nachdem er mir die Stunde des Beginns gesagt hatte, entfernte er sich.
Der Leser denkt nun gewiß, daß ich mich in einer großen Verlegenheit befunden habe, und würde mich wohl nicht für aufrichtig halten, wenn ich nicht gestehen wollte, daß ich mich in der Tat nicht wohl fühlte. Aber mein gutes Glück kam mir zu Hilfe.
Da das preußische Geld, das schlechteste in ganz Deutschland, in Rußland keinen Kurs hatte, so kam ein Jude zu mir und fragte mich, ob ich Friedrichsdor hätte; er erbot sich, mir diese ohne Verlust gegen Dukaten einzuwechseln.
»Ich habe nur Dukaten,« antwortete ich ihm, »kann also von Ihren Diensten keinen Gebrauch machen.«
»Ich weiß es, mein, Herr, und Sie geben sie sehr billig.«
Da ich nicht wußte, was er damit sagen wollte, so sah ich ihn erstaunt an. Er fuhr fort, er würde mir gern zweihundert Randdukaten geben, wenn ich die Güte haben wollte, sie ihm in Rubeln auf St. Petersburg diskontieren zu lassen.
Ich war ein wenig überrascht von der Dienstwilligkeit des Mannes, tat aber, wie wenn ich mir seinen Vorschlag überlegte, und sagte ihm dann, ich hätte keine Dukaten nötig, wäre aber bereit, hundert zu nehmen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er zählte mir mit dankbarer Miene sofort hundert Dukaten auf, und ich gab ihm dafür eine Anweisung auf den Bankier Demetrio Papanelopulo, für den da Loglio mir einen Brief mitgegeben hatte. Der Jude bedankte sich und ging, indem er mir sagte, er werde mir eine Anzahl schöner Dominos zur Auswahl schicken. Da mir einfiel, daß ich auch seidene Strümpfe brauchte, schickte ich Lambert hinter ihm her, um ihm zu sagen, daß er mir welche mitbringen solle. Als mein Diener zurückkam, erzählte er mir, der Wirt hätte ihn angehalten und ihm gesagt, ich würfe die Dukaten zum Fenster hinaus; der Jude hätte ihm erzählt, daß ich der Jungfer der Frau von Keyserlingk drei Dukaten gegeben hätte.
Das war des Rätsels Lösung. Nichts ist auf dieser Welt leicht oder schwer, sondern es kommt nur darauf an, ob man sich richtig oder falsch benimmt, und ob das Glück uns günstig oder feindselig gesinnt ist. Ohne die Renommisterei mit meinen letzten drei Dukaten hätte ich in Mitau keinen Taler gefunden. Das Mädchen, das an solche Freigebigkeit jedenfalls nicht gewöhnt war, hatte die Geschichte als ein Wunder ausposaunt, und der Jude, der stets auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen lauerte, hatte sich beeilt, seine Dukaten dem vornehmen Herrn anzubieten, der sich so wenig daraus machte.
Zur bezeichneten Stunde begab ich mich an den Hof. Herr von Keyserlingk stellte mich sofort der Herzogin vor und diese dem Herzog, dem berühmten Biron oder Birlen, dem früheren Günstling der Kaiserin Anna Iwanowna, der nach dem Tode dieser Herrscherin Regent von Rußland gewesen und hierauf zu zwanzigjähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt war. Er war sechs Fuß hoch und man sah ihm noch an, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen war. Aber das Alter, das die schönsten Formen zerstört, hatte auch ihn mit seiner Eisenhand angepackt. Am nächsten Tage hatte ich mit ihm eine lange Besprechung.
Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft begann der Ball mit einer Polonaise. Als wohl empfohlener Fremder hatte ich die Ehre, von der Herzogin eingeladen zu werden, diesen Tanz mit ihr zu tanzen. Ich kannte den Tanz nicht, aber er ist so leicht, daß ich mich mit Ehren herauszog; denn er fügt sich jedem Einfall und gestattet trotz seiner Einfachheit eine große Anmut zu entwickeln.
Nach der Polonaise wurden Menuetts getanzt. Eine schon etwas ältliche Dame fragte mich, ob ich den »liebenswürdigen Sieger« tanzen könnte, und ich führte sofort diesen anmutigen Tanz mit ihr aus. Er war früher, zur Zeit der Regentschaft, Mode gewesen, und meine Tänzerin mochte wohl damals darin geglänzt haben. Er war wie ein Wunder für alle jungen Damen, die uns umringten. Nachdem ich mit Fräulein von Manteuffel, der hübschesten von den vier Hofdamen der Herzogin, einen Kontertanz getanzt hatte, ließ ihre Hoheit mir melden, daß das Souper bereit sei. Ich trat auf sie zu, bot ihr meinen Arm und befand mich gleich darauf neben ihr als ein einziger Kavalier an einem Tisch zu zwölf Gedecken. Aber beneide mich nicht, lieber Leser, besonders wenn du jung bist; denn meine elf Tischgenossinnen waren Matronen, die schon längst das Vorrecht verloren hatten, Männern den Kopf zu verdrehen. Die Herzogin war äußerst zuvorkommend gegen mich und schenkte mir gegen Ende des Mahles mit eigener Hand ein Glas Likör ein, den ich für Tokayer hielt und sehr lobte; es war aber nur altes englisches Bier. Doch was tut man nicht für eine Herzogin! Als wir vom Tisch aufstanden, führte ich sie wieder auf den Ball. Der junge Kammerherr, der mir die Einladung überbracht hatte, machte mich mit all den schönen Damen bekannt, aber ich hatte keine Zeit, einer von ihnen besonders den Hof zu machen.
Am nächsten Tage speiste ich bei Herrn von Keyserlingk und schickte Lambert zu einem Juden, um sich anständige Kleider zu kaufen.
Am übernächsten Tage aß ich zu Mittag bei dem Herzog, bei dem ich nur Herren fand. Der alte Fürst ließ mich fortwährend sprechen, und gegen das Ende der Mahlzeit kam die Unterhaltung auf die Reichtümer des Landes, die besonders in edlen und in halbedlen Metallen bestanden. Ich sagte ganz beiläufig, diese Reichtümer hingen nur von der Ausbeutung ab, könnten aber sehr kostbar werden. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, hatte ich über das Thema zu sprechen, wie wenn ich es ganz besonders studiert hätte. Ein alter Kammerherr, dem alle Bergwerke von Kurland und Sämland unterstanden, ließ mich zunächst alles vorbringen, was die Begeisterung mir eingab; hierauf verbreitete er sich selber über das Thema, brachte allerlei Einwendungen vor, billigte aber andererseits auch meine vernünftigen Bemerkungen über die sparsame Einrichtung, von der der Erfolg der Ausbeutung abhängen müsse.
Ich hatte gesprochen, wie wenn ich Kenner in diesen Dingen wäre. Hätte ich daran gedacht, daß ich vielleicht mit einem Kenner zu tun haben würde, so würde ich sicherlich viel weniger gesagt haben; denn ich war ziemlich unwissend auf diesem Gebiete. Aber diese Vorsicht wäre mir zu Schaden gewesen, denn dann würde ich keinen Eindruck gemacht haben. Der Herzog setzte sich in den Kopf, daß ich viel mehr wüßte als ich gesagt hätte. Nach Tisch zog er mich in eine Fensternische und bat mich, ihm vierzehn Tage zu schenken, wenn ich es mit meiner Reise nach St. Petersburg nicht sehr eilig hätte. Ich stellte mich ihm zur Verfügung, und er führte mich in sein Arbeitszimmer. Dort sagte er mir, der Kammerherr, der mit mir gesprochen hätte, würde mir alle Einrichtungen dieser Art zeigen, die in seinen Herzogtümern beständen; ich mochte die Gefälligkeit haben, alle meine Bemerkungen über einen ökonomischen Betrieb aufzuschreiben. Ich erklärte mich mit seinem Vorschlage einverstanden, und meine Abreise wurde auf den nächsten Tag angesetzt.
Entzückt von meiner Dienstwilligkeit ließ der Herzog den Kammerherrn rufen und gab ihm die entsprechenden Aufträge. Wir verabredeten, daß er mich bei Tagesanbruch mit einem sechsspännigen Wagen abholen solle.
Ich ging nach Hause, traf meine Vorbereitungen und befahl Lambert, sich bereit zu halten, um mich mit seinem mathematischen Besteck zu begleiten. Ich setzte ihn von dem Zweck meiner Reise in Kenntnis, und er versprach mir, nach besten Kräften mir zu dienen, obwohl er von Verwaltungswissenschaft und Bergbau keine Ahnung hatte.
Zur verabredeten Stunde fuhren wir ab; ein Bedienter saß auf dem Kutschbock, zwei andere ritten, bis an die Zähne bewaffnet, vor uns her. Alle zwei oder drei Stunden wechselten wir die Pferde; der Kammerherr hatte einen reichlichen Vorrat guter Weine mitgenommen, und wir erfrischten uns, so oft wir Lust bekamen.
Unsere Rundfahrt dauerte vierzehn Tage, und wir besuchten fünf Kupfer- oder Eisenwerke. Ich brauchte nicht Kenner zu sein, um überall etwas aufschreiben zu können; es genügte, wenn ich vernünftige Bemerkungen machte, besonders über die ökonomische Einrichtung, auf die es dem Herzog hauptsächlich ankam. Hier riet ich Reformen an, die mir nützlich zu sein schienen, dort wies ich nach, daß eine Vermehrung der Arbeiterzahl die Erträgnisse verbessern würde. Besonders bei einem Bauwerk, worin man dreißig Strafgefangene arbeiten ließ, ordnete ich die Herstellung eines sehr kurzen Kanals an; dieser stand mit einem stets wasserhaltigen, ziemlich hoch gelegenen, kleinen Fluß in Verbindung, und es brauchte nur eine einfache Schleuse angebracht zu werden, um drei Räder in Bewegung zu setzen und dadurch zwanzig Arbeiter zu sparen. Lambert entwarf unter meiner Anleitung einen sehr sauberen Plan des Werkes, maß die Höhen, zeichnete die Schleuse und die Räder und steckte die ganze Länge des geplanten Kanals ab. Durch andere Kanäle legte ich weite Täler trocken, in denen sich große Mengen Schwefel und Vitriol gewinnen ließen.
Sehr befriedigt von meiner Reise kehrte ich nach Mitau zurück, denn ich hatte mich wirklich nützlich machen können. Auch freute ich mich, in mir ein Talent entdeckt zu haben, von welchem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte.
Den nächsten Tag verbrachte ich damit, die von mir aufgezeichneten Beobachtungen ins Reine zu schreiben und die dazu gehörigen Zeichnungen in größeren Maßstab übertragen zu lassen.
Am zweiten Tage überbrachte ich alles dem Herzog, der mir seine große Zufriedenheit aussprach; als ich mich zugleich von ihm verabschiedete, sagte er mir, er werde mich in einem seiner Wagen nach Riga bringen lassen und mir einen Brief an seinen dort in Garnison stehenden Sohn Karl mitgeben.
Zum Schluß bat der gute und weise Greis mich, ihm ohne Umschweif zu sagen, ob ich einen Schmuckgegenstand oder den entsprechenden Wert in barem Gelde zu erhalten wünschte.
»Mein Fürst, von einem Weisen, wie Eure Hoheit es sind, wage ich es, Geld anzunehmen, da dieses mir jetzt nützlicher sein kann als Schmucksachen.«
Sofort übergab er mir eine Anweisung auf vierhundert Albertstaler, die mir der Kassierer in schönen Mitauer Dukaten auszahlte. Der Albertstaler gilt einen halben Dukaten. Nachdem ich der Herzogin die Hand geküßt hatte, speiste ich zum zweiten Male bei Herrn von Keyserlingk.
Am nächsten Tage brachte ein junger Kammerherr mir den Brief des Herzogs, wünschte mir gute Reise und sagte mir, der Hofwagen stehe vor meiner Tür. Sehr zufrieden fuhr ich mit meinem stotternden Lambert ab; am Mittag kam ich in Riga an und schickte sofort dem Prinzen Karl den Brief seines Vaters.