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Der Dichter im Parlament

Während des unvermuteten Auftretens und Wiederverabschiedens von Dorian Wimpole sah Lady Joan durch das Fenster des Turmzimmers und legte sich zum tausendsten Male die Frage vor, die sie doch niemals zu beantworten vermochte, was sie wählen sollte, den Ehrgeiz oder die Erinnerung. Auch dadurch wurde die Wahl noch schwerer, daß sie wußte, der Ehrgeiz könnte sich vielleicht verwirklichen, die Erinnerung wahrscheinlich nicht. Wie schon einmal bei demselben Gedanken, hörte sie Lady Enid nach ihr rufen: Joan, komm, nur du kannst ihn noch zurückhalten – Philipp sagt, daß er nach London fahren will, und das bei seinem Bein – und er erlaubt uns kein Wort dagegen zu sagen.

Aber, was ist denn geschehen? fragte Joan.

Aber Lady Wimpole war nicht imstande, die Erklärung zu geben. Und doch war sie ganz einfach. Ivywood hatte auf dem Sofa gelegen und die Zeitungen durchgesehen. Er hatte gerade ein Blatt aus Mittelengland gelesen, aber es waren diesmal nicht die türkischen Nachrichten, die ihn gespannt hielten, er hatte auch weitergelesen, obgleich sein Sekretär Levyson in nervöser Unterwürfigkeit die Bemerkung gemacht hatte, daß die türkischen Nachrichten auf der zweiten Seite stünden. Auf der Seite, welche Ivywood las, standen die Provinznachrichten und besonders ein langer Bericht, der überschrieben war: Eine Wiederholung des Geheimnisses von Pebblewick – das Wiedererscheinen und nochmalige Verschwinden des geheimnisvollen Wirtshauses. Und darunter stand mit kleinen Lettern ein Bericht:

»Nach einer fast unglaublichen Nachricht aus Wyddington ist das geheimnisvolle Wirtsschild zum »Alten Schiff« wieder im Lande gesehen worden, obschon einige wissenschaftliche Forscher es schon zum Gerümpel der alten abergläubischen Überlieferungen geworfen hatten. Wie eine Lokalkorrespondenz mitteilt, befand sich gerade Mr. Simmons, ein Milchhändler in Wyddington, in seinem Milchladen, als zwei Automobilisten in den Laden kamen, von denen der eine ein Glas Milch verlangte. Sie waren in vollständiger Auto-Ausrüstung mit Schutzgläsern und Wettermänteln, so daß man keine Beschreibung von ihnen geben kann, nur daß der eine viel größer war als der andere. Dieser größere ging bald wieder hinaus und kam mit einem ganz unglaublichen Menschen wieder zurück, einem Strolch, den er wahrscheinlich auf der Landstraße aufgelesen hatte, einem Bettler und Herumlungerer, die unsere Straßen unsicher machen, und die trotz aller Polizeimaßregeln noch immer frech ihr Wesen treiben. Der Kerl war so schmutzig und zerlumpt, daß Mr. Simmons sich zuerst weigerte, ihm das Glas Milch zu geben, das der größere Automobilist für ihn verlangte, schließlich ihm aber doch die Milch vorsetzte, aber bald durch ein Vorkommnis noch mehr entsetzt wurde, als das erstemal und wogegen er mit noch mehr Grund protestierte. Der größere Automobilist sagte nämlich zu dem Strolch: Mensch, du bist ja ganz blau im Gesicht! Darauf gab er dem kleineren ein Zeichen, der sogleich ein rundes Fäßchen oder etwas der Art auf den Tisch stellte und daraus ein paar Tropfen einer gelben Flüssigkeit in die Milch des Vagabunden herauslaufen ließ. Später stellte es sich heraus, daß es Rum war. Man kann sich vorstellen, daß Mr. Simmons dagegen protestierte, aber der größere Automobilist verteidigte sein Verhalten und schien dabei noch des Glaubens zu sein, eine gute Tat zu vollbringen. Er sagte: der Mensch kommt ja beinahe um vor Schwäche. Wenn Sie ihn so zusammengebrochen und durchgefroren am Graben aufgeklaubt hätten, so würden Sie ihm auch Rum gegeben haben, oder Sie müßten sonst ein verdammter Seeräuber sein, der einen Strick am Mast verdient. – Mr. Simmons antwortete mit Ruhe, daß er mit Landstreichern keine Gemeinschaft hätte und daß er in seinem Laden eine solche Sprache nicht dulden könnte. Er fügte noch hinzu, daß er sich einer polizeilichen Verfolgung aussetzen würde, wenn er das Trinken von Alkohol in seinem Laden erlaubte, da er kein Schild vor der Tür hätte. Der Automobilist machte darauf die erstaunliche Entgegnung, daß draußen ein Schild sei. Oder glauben Sie vielleicht, daß ich sonst im Alten Schiff eingekehrt wäre, Sie alter Filzschuh! Mr. Simmons war nun ganz überzeugt, daß er es mit einem Verrückten zu tun habe, und wies das Glas Rum zurück, das jener ihm unter Lachen anbot, er ging aus dem Laden, um sich nach einem Polizisten umzusehen. Zu seinem Erstaunen fand er draußen einen Polizeibeamten, der eine Menschenmenge zum Weitergehen zu bewegen versuchte, die auf etwas außergewöhnliches an dem Hause hinzustarren schien. Und als er sich umsah, bemerkte er ein unzweifelhaft echtes Schild, wie es in früherer Zeit vor den alten Wirtshäusern gewöhnlich angebracht war. Er war gänzlich außerstande, sich das plötzliche Vorhandensein eines solchen Schildes zu erklären, das ganz unzweifelhaft dem Verhalten des Automobilisten eine rechtliche Unterlage gab und ein Einschreiten der Polizei unmöglich machte.

Weitere Meldung:

Die beiden Automobilisten haben anscheinend die Stadt ohne Belästigung verlassen, nachdem sie einen gebrauchten Zweisitzer gekauft. Über die Richtung, die sie genommen, besteht keine Vermutung. Ein kleiner Vorfall, der sich vor der Abfahrt ereignete, könnte vielleicht als Andeutung dienen. Während die beiden in dem Milchladen auf ein zweites Glas Milch warteten, fiel einem von ihnen eine Milchkanne auf, deren Form ihm anscheinend unbekannt war, und welche Gebirgsmilch enthielt, die jetzt von den Ärzten allgemein empfohlen wird. Der Größere, der anscheinend in einer ganz auffallenden Weise wenig Bescheid um die neueren Sitten und Gepflogenheiten wußte, fragte seinen Gefährten, woher diese Milchkanne wäre, und bekam natürlich zur Antwort, daß sie aus der Musterwirtschaft der Friedensstadt stamme, wo sie unter der persönlichen Aufsicht des bekannten menschenfreundlichen Erfinders Dr. Wiesen abgefüllt worden wäre. Darauf kaufte der größere, der offensichtlich nicht wußte was er tat, die ganze Kanne, wobei er die Bemerkung machte, als er sie unter seinen Arm nahm, daß er jetzt die genaue Adresse des Dr. Wiesen habe.

Weitere Meldung:

Nachdem die Witzbolde, oder was sie sonst gewesen sein mögen, Wyddington wieder verlassen hatten, untersuchten die Behörden den Laden und dessen Umgebung, aber wir sind in der Lage, unseren Lesern zu versichern, daß keine Spur eines Schildes mehr zu finden war.

Lord Ivywood ließ die Zeitung fallen und sah auf die Wandverzierungen seines Zimmers mit einem Ausdrucke wie ein großer Feldherr, der eine Möglichkeit sieht, den Feind gänzlich zu vernichten, auch wenn er alle seine früheren Pläne über den Haufen werfen müßte. Sein bleiches und klassisches Gesicht blieb unbeweglich, aber wer ihn kannte, der sah, daß sein Gehirn wie ein Motor mit Rekordarbeitsleistung arbeitete. Dann wandte er seinen Kopf und sagte:

Sagen Sie Hicks, er soll in einer halben Stunde mit dem langen blauen Auto vorfahren und die Längspolster einlegen. Der Gärtner soll einen Stock von 4 Fuß 9 Zoll Länge abschneiden und ein Querholz darauf befestigen als Krücke. Ich fahre heute Abend noch nach London.

Levjsons untere Kinnlade fiel buchstäblich herunter vor Erstaunen:

Der Doktor sagte, daß wohl wenigstens drei Wochen – wenn ich mir erlauben darf zu fragen, wohin Ew. Lordschaft in London gehen wollen!

Nach dem Parlament, sagte Ivywood.

In diesem Augenblicke kam Enid Wimpole wieder ins Zimmer und versuchte, wenn auch vergebens, seinen Entschluß umzustoßen. Als Joan herbeigerufen wurde, sah sie Philipp auf einer Krücke aus Gartenholz aufrecht stehen, und sie bewunderte ihn, wie sie ihn nie zuvor bewundert hatte. Und als sie sah, wie er mit einiger Hilfe die Treppe hinabstieg und nicht gerade bequem in den Wagen gesetzt wurde, da hatte sie wirklich das Gefühl, als wenn er seiner Väter, all dieser Hügel und eines solchen Sees würdig sei. Sie fühlte den Willen, der die einzige Daseinsberechtigung des Mannes auf Erden ist. In dem Kreischen des abfahrenden Autos hörte sie hundert Trompeten, wie sie ihren Ahnen geklungen haben mögen, während des dritten Kreuzzuges.

Solche militärischen Ehren lagen indes nicht in dem strategischen Plane des Feldzuges, den Lord Ivywood einleitete. Er hatte den ganzen Plan genau vor sich und übersah alle Einzelheiten wie Napoleon, und in seinem Gehirn zeichnete ein unsichtbarer Bleistift die Karte dazu.

Zunächst stand eines fest, daß Dalroy wahrscheinlich nach Friedensstadt fahren würde; es war das gerade der richtige Ort für ihn. Er wußte, daß es Dalroy von Natur aus gänzlich unmöglich war, einem Orte solcher Art aus dem Wege zu gehen.

Zweitens wußte er, wenn er Dalroy an diesem Treffpunkte verfehlte, daß er ihn dann wahrscheinlich nie mehr treffen würde, er und Pump würden wahrscheinlich dann so klug sein, keine Spuren mehr zu hinterlassen.

Drittens rechnete er sich nach sorgfältiger Überlegung Raum und Zeit aus: daß sie in einem billigen Wagen kaum in weniger als zwei Tagen nach jener ziemlich entlegenen Gegend kommen könnten. Er würde also Zeit genug haben, sie zu erreichen.

Viertens brannte ihm noch in der Seele jener Tag, an dem Dalroy das Wirtsschild in der Luft schwang und den Polizisten in den Graben warf, womit Dalroy eigentlich dem Lord Ivywood die lex Ivywood um die Ohren schlug.

Ivywood hatte gedacht, und er mochte dabei ganz richtig gedacht haben, wenn er die alten Wirtsschilder auf einige wenige Plätze einschränkte, die so abseits gelegen wären, daß sie praktisch gar nicht in Betracht kamen, und wenn er solche Aushängeschilder an allen andern Orten gänzlich verbieten würde, dann könnte er damit alle geistigen Getränke im Lande als Genußmittel unmöglich machen. Die Fassung des Gesetzes war so gehalten, daß sie genau darauf zielte, was die gesetzgebende Körperschaft offen oder unbewußt bezweckte. Ein Wirtsschild konnte als eine Vergünstigung von der regierenden Klasse an Mitglieder dieser Klasse selbst verliehen werden. Wenn ein Gentleman die Freiheit eines Zigeuners genießen wollte, so sollte ihm die Möglichkeit dazu offen stehen. Aber wenn ein Zigeuner die Freiheiten eines Gentleman genießen wollte, dann sollte ihm der Weg dazu versperrt sein. Auf solche Weise würden, so glaubte Lord Ivywood, alle alten Wirtsschilder, wo allein Alkohol verkauft werden dürfe, zu solchen Seltenheiten werden wie alter Tokayer. Die Kalkulation war nicht übel staatsmännisch angelegt. Aber wie bei so vielen anderen staatsmännischen Kalkulationen war auch bei dieser nicht in Betracht gezogen, daß auch etwas, was man tot glaubt, noch lebendig herumfliegen könne. Und so lange ein Wirtsschild fliegen kann, so lange ist es nur von geringem Belang, ob es damit eine Freude oder Enttäuschung macht, in jedem Falle muß es beständig die Veranlassung zu einer Aufregung oder zu etwas noch schlimmerem sein. Man konnte fast im Zweifel sein, was eine schlimmere Wirkung ausübte: das Erscheinen oder das Verschwinden des alten Schiffs.

Er sah jetzt ein, daß sein eigener Gesetzesantrag eine Lücke hatte, durch die man hinein- und herausschlüpfen könne, denn die örtlichen Behörden scheuten sich, an Ort und Stelle einzuschreiten, weil sie nicht wußten, wie sie bei einem so seltenen und deswegen eindrucksvollen Zeichen sich verhalten sollten. Er erkannte, daß die Fassung des Gesetzes geändert werden müsse, und zwar sofort, wenn möglich noch bevor die Flüchtigen von der Musterwirtschaft in Friedensstadt weitergezogen wären.

Es fiel ihm ein, daß es gerade Donnerstag war. An diesem Tage konnte jedes Parlamentsmitglied ohne Unterstützung irgend einen Antrag stellen und ihn ohne namentliche Abstimmung durchbringen lassen, es sei denn, daß ein anderes Mitglied einen ganz besonders begründeten Einwand dagegen vorbrachte. Und es war schlechterdings nicht recht einzusehen, warum ein anderes Parlamentsmitglied irgend eine Einwendung machen sollte gegen einen verbesserten Nachtrag, den der ursprüngliche Antragsteller selbst wünschte.

Schließlich war ihm nur zu klar, daß die leidige Angelegenheit durch einen ganz unauffälligen Zusatz ein ganz anderes Gesicht bekommen müsse. Der Wortlaut des Gesetzes – und Ivywood kannte den Wortlaut so gut auswendig wie glücklichere Menschen ein Lied auswendig wissen – brauchte nur ganz geringfügig verändert werden: Wo an einem Hause ein solches Wirtsschild vorhanden ist, dürfen flüssige alkoholhaltige Getränke verkauft werden – muß ersetzt werden durch: können alkoholhaltige Getränke verkauft werden, wenn diese an den drei vorangehenden Tagen bereits in dem Hause gelagert haben – – dann ist das Alte Schiff matt nach ganz wenigen Zügen. Das Parlament würde eine solch geringfügige Änderung ganz sicher nicht ablehnen, ja nicht einmal in eine ernstliche Prüfung eintreten. Dann war das Alte Schiff und der ehemalige König von Ithaka für immer beseitigt.

Wie bereits gesagt, war etwas Napoleonisches in dem ganzen Plane, der völlig ausgearbeitet in seinem Hirn fertig war, als er die goldenen Zeiger an der Turmuhr von Westminster sah. Er kam zur rechten Zeit.

Vielleicht traf es sich unglücklich, daß um dieselbe Zeit oder doch wenigstens nicht viel später ein anderer Edelmann von gleichem Range und auch von der gleichen Familie ein Restaurant in der Regentenstraße verließ und in gehobener Stimmung auf den hohen Turm von St. Stephan zu schlenderte. Der Vogeldichter kannte, wie die meisten Ästheten, die wirkliche Stadt ebensowenig wie er die wirkliche Natur auf dem Lande kannte. Aber er wußte, wo man gut essen konnte, und als er an den großen kalten Klubhausbauten vorüberging, erinnerte er sich, daß er einer Reihe von ihnen als Mitglied angehörte. Und als er von weitem das Parlamentsgebäude sah, das ziemlich richtig der beste Klub von London genannt wird, da kam ihm auch zum Bewußtsein, daß er auch dort Mitglied war. Er konnte sich zwar im Augenblick nicht darauf besinnen, in welchem Wahlkreise Südenglands er gewählt worden war, er wußte nur so viel, daß er in dieses Gebäude gehen konnte, wenn er dazu Lust hätte. Er wußte auch, wenn er es auch nicht so offen ausgesprochen hätte, daß in einer Oligarchie alle Dinge nach Ansehen der Person und nicht nach dem Recht entschieden werden, durch Visitenkarten und nicht durch Wahlzettel. Seit vielen Jahren war er nicht mehr in dem Hause gewesen, auch in seinen unreifsten Tagen hatte er niemals viel von Tagespolitik gehalten.

Einmal hatte er eine recht aufsehenerregende Rede im Parlament gehalten und zwar über den Gorilla, eine Rede, die nachher als ein Angriff auf seine eigene Partei ausgelegt wurde. Überhaupt ist dieses Gebäude ein Ort, über den man nicht gern spricht. Auch Lord Ivywood ging niemals hinein, nur wenn er dort eine Sache zu erledigen hatte, die er nicht gern einem anderen überlassen mochte, wie es eben jetzt der Fall war.

Ivywood war, was man so nennt, Peer von Höflichkeitsgnaden; er saß eigentlich im Hause der Gemeinen und zwar auf den Bänken derjenigen Partei, die gerade in der Opposition war. Aber obgleich er nur sehr selten das Parlament aufsuchte, so wußte er doch gut genug, daß im Sitzungssaal nichts geschieht. Er schleppte sich ins Rauchzimmer, obschon er kein Raucher war, nahm ganz zwecklos eine Zigarette und einen der vielgebrauchten Notizblöcke und schrieb darauf eine kurze aber sorgfältig abgefaßte Mitteilung an das einzige Mitglied der Regierung, von dem er wußte, daß es im Hause anwesend war. Als sich der Bote mit der Karte entfernt hatte, wartete er.

Draußen wartete auch Dorian Wimpole, an das Geländer der Westminsterbrücke gelehnt, und sah hinunter auf den Fluß. Er war eins geworden mit den Austern, und zwar in einem feierlicheren und realeren Sinne, als er es bisher für möglich gehalten, er hatte das Gefühl der Harmonie mit allen Dingen, auch in der Politik, er war wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt wie ein Mann, der vom Monde gefallen ist, mit einem kleinen Stich ins Sentimentale, denn er war im Grunde nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Patriot, und Patrioten sind immer ein wenig sentimental. Dann schlenderte er nach dem Parlamentseingang für Mitglieder und ging hinein in das Haus. Aber da er nicht die gleiche Erfahrung besaß wie Ivywood, so tappte er in den Sitzungssaal hinein und setzte sich auf eine der grünen Bänke. Zuerst hatte er das Gefühl, als wäre an diesem Tage keine Sitzung, doch allmählich unterschied er sechs oder acht menschliche Gestalten, die zu schlafen schienen, und hörte auch undeutlich eine klapperige Stimme, die ganz ohne Bedeutung und ohne Absätze wie in einem endlosen Flusse sprach:

Und ich wünsche keineswegs, daß dieser Vorschlag in Erwägung gezogen werde außer nach reiflicher Überlegung und ich habe versucht, ihn so klar wie möglich dem Hause vorzutragen und ich kann mir nicht denken daß eines der Mitglieder des hohen Hauses etwas dagegen einwenden und sich auf die Seite des Unrechtes setzen könnte und ich stehe nicht an zu erklären wenn diese große Frage in übereilter Weise durchgepeitscht werden sollte so kann ich nicht umhin meiner Meinung einen unzweideutigen Ausdruck zu verleihen, denn es kann nach meiner Ansicht keinem Zweifel unterliegen daß derjenige der hinter der hier vertretenen Sache steht sich erst nach langem Zögern und reiflicher Überlegung zu ihrer Übernahme bereit erklärt hat und der Herr Präsident würde mir nicht erlauben in abfälligen Worten über die Sache zu sprechen aber ich kann bei aller Hochachtung für den Herrn Antragsteller nicht umhin ihm Aug in Auge zu erklären, daß er in den Vorberatungen mir in einer Form gegenübergetreten ist, daß ich jetzt berechtigt wäre gleiches mit gleichem zu vergelten aber ich bin der letzte der in dieser rein sachlichen Frage andere Motive vorbringen würde – – – – –

Dorian Wimpole hatte sich wieder erhoben, um zu gehen, als er einen Diener sah, der einem jüngeren Manne mit schwer herabhängenden Augenlidern eine Karte gab, die dieser jenem Herrn gab, der als einziger die englische Regierung vertrat. Als er diesen seinen Platz verlassen und hinausgehen sah, hatte er das dunkle Gefühl, als würde sich etwas ereignen, und er folgte ihm mit ganz sichtbarer Eile.

Der halbschlafende Vertreter der englischen Regierung ging hinunter in die Krypta dieses Tempels der Freiheit und bog in einen Raum ein, in welchem Wimpole mit Erstaunen seinen Vetter Ivywood an einem kleinen Tische sitzen sah, die lange Krücke über einen Stuhl gelehnt, und den jungen Mann mit den schweren Augenlidern ihm gegenüber. Von deren Gespräch konnte Wimpole natürlich nichts hören. Er zog sich in einen nebenanstoßenden Raum zurück, wo er einen Kaffee und einen Likör bestellte, der so gut war, daß er noch mehrere nachbestellte.

Er hatte sich so gesetzt, daß Ivywood ihn beim Hinausgehen sehen mußte, und er wartete mit bewundernswerter Geduld, was wohl geschehen würde. Das einzige, was er sich nicht erklären konnte, war, daß von Zeit zu Zeit in allen Räumen zugleich eine Klingel läutete. Und jedesmal, wenn das Klingelzeichen erklang, nickte Ivywood wie ein Bestandteil dieser elektrischen Maschinerie. Und jedesmal, wenn Lord Ivywood nickte, erhob sich der junge Mann und eilte die Treppen hinauf wie ein Seilkünstler und kehrte bald wieder zurück und nahm wieder Teil am Gespräch. Beim dritten Klingelzeichen hörte der Vogeldichter, daß auch aus den andern Räumen Leute die Treppen hinaufliefen und nach einiger Weile weniger eilig und mit dem Überlegenheitsgefühl, eine Pflicht getan zu haben, wieder zurückkehrten. Dorian wußte auch nicht, daß dies die hohen Aufgaben einer Parlamentsregierung waren, und daß nur auf diese Weise die Wünsche aller Teile des Landes zu den Ohren des Königs kommen können.

Plötzlich sprang der schläfrige junge Mann auf, diesmal nicht von einer Glocke elektrisiert, und stürzte wieder hinaus. Der Vogeldichter hörte ihn noch etwas laut sagen, während er mit einem Bleistift etwas aufschrieb: kann Alkohol verkauft werden, wenn dieser bereits drei Tage lang an Ort und Stelle gelagert hat – ich glaube so wird es gehen, aber Sie brauchen vor einer halben Stunde nicht zu kommen.

Nach diesen Worten flog der junge Mann die Treppe hinauf. Als Dorian dann Ivywood auf die Krücke gestützt kommen sah, hatte er beinahe dasselbe Gefühl der Bewunderung für Ivywood wie es Joan gehabt hatte. Er erhob sich von seinem Tische und sagte zu seinem Vetter: Ich möchte dich wegen meines Verhaltens heute Nachmittag um Entschuldigung bitten – wahrhaftig, es tut mir aufrichtig leid. Fichtenwald und Zellenhaft können einem schon ein bißchen auf die Nerven gehen. Aber du hast an all dem nicht die geringste Schuld. Ich hatte keine Ahnung, daß du heute Abend nach der Stadt kommen würdest – dein Bein muß dich doch schmerzen, – du solltest dir nicht zu viel zumuten – setz dich doch auf eine Minute zu mir.

Es schien, als hellte sich das eisige Gesicht etwas auf, und er setzte sich mit seinem Vetter an einen Tisch.

Es freut mich aufrichtig, daß wir uns hier treffen, fuhr Dorian fort, ich hoffe, du wirst eine Rede halten, und ich bin begierig, sie zu hören. Es ist wahr, wir sind nicht immer einer Meinung gewesen, aber deine Reden, die ich in den Zeitungen las, sind das beste gewesen, was ich seit langem gelesen habe. Man muß schon bis auf Straffords letzte Rede zurückgreifen, um wieder solch gute Proben englischer Rhetorik zu finden. Ich hoffe, du wirst uns heute wieder einen solchen Genuß bereiten.

Wenn du es wünschest, sagte Ivywood hastig, aber ich werde heute Abend nur einige wenige Worte sprechen.

Er sah nach der Tür hinter Wimpole mit zusammengezogenen Augenbrauen. Zu seinem wohlausgedachten Plane gehörte unbedingt, daß niemand eine Einwendung gegen die kleine Gesetzesänderung machte.

Ich vermute, du wirst über die Wirtshausfrage sprechen, ich hätte dich gerne darüber reden gehört, vielleicht werde ich selbst ein paar Worte sagen, ich habe viel darüber nachgedacht, besonders in der letzten Nacht. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich das hohe Haus fragen: Vor allem, können Sie die Wirtshäuser abschaffen? Haben Sie die Macht dazu? Können Sie verhindern, daß der Feldarbeiter sein Bier trinkt, wie ich jetzt dieses Glas Chartreuse trinke?

Als der Diener die letzten Worte hörte, trat er näher, aber er bekam keine weitere Bestellung, oder er konnte die Bestellungen, die er hörte, nicht ausführen.

Denke an den kleinen Prediger, der über die Mäßigkeit predigen sollte und seiner Predigt den Text unterlegte: Rette uns, wir kommen sonst um in den Fluten. – Ja, Philipp, die Wasserfluten gehen höher über dich als du ahnst. – Du willst das Bier abschaffen? Dann geht der Hopfenbau in Kent zugrunde. – Oder in Devonshire den Apfelwein verbieten! Nimm dich in acht, daß nicht dein Schicksal mit demjenigen der Wirtshäuser eng verbunden ist. Gib acht, daß ich nicht in demselben Gasthause, das du hast schließen und absperren lassen wie ein Pesthaus, heute Abend noch etwas trinken werde, und mags die übelste Kneipe an der Landstraße sein. – Gib acht, daß nicht der Platz, wo wir jetzt sitzen, noch zu einer öffentlichen Destille wird, in der sich die Matrosen betrinken und mit ihren Mädchen auf dem Boden wälzen. Das werde ich denen oben ins Gesicht sagen, ja, das werde ich sagen – – – Und sehen Sie mal draußen nach, schrie er den Diener an, ob nicht draußen vor diesem Kasten ein Schild hängt mit einer Keule und einer Narrenpritsche darauf – –

Lord Ivywood hörte ihn mit eisiger Ruhe an. Eine gute Idee kam ihm. Er wußte, wenn auch sein Vetter etwas aufgeregt war, so war er doch nicht im geringsten betrunken. Er wußte, daß er in diesem Begeisterungszustande eine gute Rede halten konnte. Er wußte auch, daß jede Rede, mochte sie gut oder schlecht sein, seinen ganzen Plan zum Scheitern bringen und das fliegende Wirtshaus weiterfliegen lassen könnte. Doch der begeisterte Redner hatte sich wieder gesetzt, hatte sein Glas ausgeschlürft und seinen Kopf in die Hand gestützt. Und Ivywood hatte im Augenblick die Empfindung, daß ein Mensch, der eine Nacht im Walde durchwacht und dann am folgenden Tage ein gut Teil Wein getrunken hat, nicht so sehr zu Trunkenheit neigt als zu etwas anderem, was viel gesünder ist.

Ich hoffe, daß wir auf deine Rede nicht lange werden warten brauchen, sagte Dorian noch und stierte auf den Tisch, du wirst mich doch dazu rufen lassen, ganz ehrlich, ich möchte sie nicht versäumen, ich weiß hier nicht so recht Bescheid und bin sehr müde. Gelt, du läßt mich rufen?

Ja, sagte Lord Ivywood.

Stille lag dann über dem Raume, bis Lord Ivywood sie unterbrach: Debatten sind ein höchst notwendiges Ding, aber manchmal sind sie für eine parlamentarische Regierung eher eine Behinderung als eine Hilfe.

Er aber bekam darauf keine Antwort. Dorian sah aus, wie wenn er noch immer auf den Tisch stierte, aber seine Augenlider waren heruntergefallen, er war eingeschlafen. In demselben Augenblicke erschien das Mitglied der Regierung, das ganz verschlafen aussah, an der Tür und gab müde ein Zeichen. Ivywood sah einen Augenblick auf den Schlafenden, folgte dann dem Mitgliede der Regierung die Treppen hinauf und ließ den Schlafenden zurück. Er ließ auch die neuangezündete Zigarette zurück, und nicht nur diese, sondern auch seine Ehre und das alte England seiner Väter und alles, was das große Haus am Flußufer über eine Matrosenkneipe erhebt.

Er ging hinauf und erledigte die Angelegenheit in zwanzig Minuten. Er hielt eine Rede, die auch nicht den geringsten Schimmer von seiner berühmten Beredsamkeit zeigte. Und von diesem Augenblicke an war er nur mehr der nackte Fanatiker und konnte von jetzt ab an nichts anderes mehr denken als an die Zukunft.



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