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Mit Aufbietung aller Kräfte arbeitete der junge Seemann. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Jeden Augenblick mußte man vom Bord der Royal Karolina den Kanonenschuß erwarten, welcher den Reisenden das Zeichen gab, sich zur Abfahrt einzufinden. Harry Wilder war fest entschlossen, die beiden Damen, deren Schicksal ihm jetzt so am Herzen lag, unter irgend einem Vorwande vor der Mitreise nach Charlestown zu warnen. Wußte er doch genau genug, daß die Royal Karolina niemals ihr Ziel erreichen würde!
Aber wie sollte er es anstellen, sich den Damen zu nähern? Würden sie ihm wohl glauben? Oder mußten sie nicht Verdacht gegen ihn schöpfen? Wie nun, wenn er gehindert wurde, seinen mit dem Freibeuterkapitän geschlossenen Vertrag zu erfüllen? Das Leben seiner nächsten Freunde stand auf dem Spiel.
Da – er war gerade in den Innenhafen gelangt – machte ein Kanonenschuß die Luft erzittern. Wilder sah in größter Aufregung nach dem Schiff. Die Matrosen der Royal Karolina kletterten in dem Tauwerk herum; die Segel waren bereits so weit in Ordnung, daß sie den Wind, wenn er ein wenig stärker aufkam, leicht auffangen konnten. Als er dann seinen Blick auf den von der Stadt zum Hafen führenden Weg richtete, schrak er jäh zusammen: gefolgt von schwarzen Dienern, die die Koffer und das übrige Reisegepäck trugen, schritten die drei Damen einher, geradeswegs auf die Royal Karolina lossteuernd. Harry Wilder hätte ihnen am liebsten aus angsterfüllter Brust zugerufen: »Bleibt – bleibt!«
Aber schon war's zu spät. Den Damen wurde von den Dienern der Weg durch die dichte Menschenmenge gebahnt; das Reisegepäck wurde von Schiffsleuten verstaut.
Am Landungsplatze herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Als Harry Wilder anlangte, vernahm er den Grund der Aufregung. Und beinahe hätte er einen Freudenruf ausgestoßen:
Die Royal Karolina konnte nicht abfahren!
Ein Unglücksfall hatte soeben den Befehlshaber des Schiffes für längere Zeit dienstunfähig gemacht. Die Inhaber des Schiffes aber, reiche Newporter Kaufleute, setzten kein Vertrauen in die Fähigkeiten des Obersteuermannes der Karolina, der in diesem Falle den Kapitän hätte vertreten müssen.
Wilder verfügte sich, um genaueres über diesen Unglücksfall – der ihm fast als ein Glücksfall erschien – zu vernehmen, nach dem betreffenden Schiffskontor. Kopflos lief dort alles durcheinander. Die Kaufleute befanden sich in größter Ratlosigkeit. Sie wollten alles dransetzen, das Schiff heute doch noch absegeln zu lassen, weil die Waren, die darauf verladen waren, zu einer bestimmten Zeit in Charlestown ankommen mußten, wenn anders sie nicht große Verluste erleiden wollten.
Während im Amtszimmer und auf der Straße die Angestellten des Kaufhauses hin- und her überlegten, stürmte plötzlich ein alter pensionierter Marinekapitän, der ehemals der englischen königlichen Flotte angehört hatte, in den Arbeitsraum des Herrn Bale, des Miteigentümers der Karolina.
»Alles gerettet, Herr Bale!« rief er frohlockend, »ich habe einen Stellvertreter für Ihren verunglückten Kapitän gefunden!«
Überrascht sprang der Kaufherr von seinem Drehschemel empor.
Die beiden hatten eine kurze Unterredung. Zum Schlusse führte der Alte den Kaufherrn ans Fenster, auf den draußen stehenden Harry Wilder zeigend.
»Aber würde er denn Zeit und Lust haben, die lange Fahrt zu unternehmen, Ihr junger Freund? Und vor allem, wer bürgt uns für seine Tüchtigkeit?«
»Ich selbst!« rief der Alte. »Vor einigen Tagen erst ist er hier angelangt; er hält sich nur Studien halber in unseren Hafenorten auf. O, ich weiß ganz sicher, daß der junge Mann zu einer glänzenden Laufbahn ausersehen ist!«
»Aber ich begreife nicht –«
»Überlegen Sie nicht lange! Greifen Sie lieber schnell zu! Eine Gelegenheit wie die, einen solch tüchtigen und thatkräftigen Seemann zu bekommen, bietet sich Ihnen so bald nicht wieder. Sie kennen mich doch als alten, im Dienst ergrauten Kapitän.«
Während die beiden Männer so eifrig miteinander verhandelten, hörte sich Wilder plötzlich von einem Knaben leise angerufen. Er erkannte seinen neuen Diener Roderich. Vor wenigen Augenblicken war dieser auf einem zweiten Boot gelandet. Er überreichte dem jungen Leutnant ein kurzes Schreiben des Kapitäns.
Harry las – überrascht blickte er dann auf. Ja, stand dieser Freibeuter mit dem Teufel im Bunde? Die Ursache der Verzögerung der Abfahrt war ihm bereits bekannt! Und der Kapitän forderte seinen Untergebenen auf, sich sofort nach dem Schiffskontor zu begeben, um seine Dienste daselbst anzubieten. Warum befahl dies der Freibeuter? Natürlich, damit er ihm das Schiff überliefere – und mit dem Schiffe auch die Damen, an deren Geschick er so großen Anteil nahm!
Ein plötzlicher Gedanke machte ihn frohlocken. Vielleicht war dies ein Wink von oben – vielleicht konnte er die Damen retten, wenn er selbst das Schiff befehligte!
Auf halbem Wege kam ihm schon der Kaufherr entgegen. Verwundert fragte er daher, woher man ihn kenne. Da ward ihm der Kapitän vorgestellt.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Herr Leutnant!« sagte der Alte, ihn wohlwollend auf die Schulter klopfend. »Nehmen Sie den Posten an – Ihre hohe Aufgabe können Sie auch dort erfüllen!«
»Allerdings!« murmelte Harry Wilder vor sich hin. Dann händigte er dem Schiffseigentümer ein Paket Papiere ein – seine Personalien und Zeugnisse.
Bald war man handelseins. Auf hohes Gehalt kam es dem jungen Seemann weniger an, als auf angemessene Beschäftigung. Wilder erhielt also seine Bestallung als stellvertretender Kapitän der Royal Karolina. Er verpflichtete sich, soweit es in seinen Kräften und nicht in der Hand Gottes stand, den Vorteil des Hauses Bale und Kompagnie wahrzunehmen und alle verladenen Güter nebst den aufgenommenen Fahrgästen heil in Charlestown ans Land zu setzen.
Herr Bale führte den neuen Kapitän selbst nach dem Schiff und stellte ihn dort dem ersten Steuermann, einem gewissen Ering, sowie den anderen Bediensteten als Oberbefehlshaber vor.
Noch ehe Harry Wilder Zeit gehabt hatte, sich gehörig an Bord umzusehen, kam der Lotse auf das Schiff, um dasselbe glücklich aus dem Hafen zu führen. Ein Kanonenschuß wurde gelöst – Harry Wilder bestieg die Kommandobrücke und ließ mit Donnerstimme das Kommando erschallen:
»Alle Mann auf, klar zum Ankerlichten!«
Hui, war das ein Hasten und Jagen. Im Nu veränderte sich das ganze Bild. Mit Windeseile flogen alle Matrosen die Treppe herauf aus den unteren Schiffsräumen und Kojen; die einen enterten in die Masten, und um das Gangspill marschierten die anderen in gleichmäßigem Schritt, Glied für Glied der schweren Ankerkette aufwindend. Dazu erklang aus vielen Kehlen ein fröhliches Lied.
Mit einem Male aber stand die Bemannung des Schiffes auf allen Punkten still und der Gesang brach jäh ab. Ein gellender Pfiff des Kapitäns hatte diese Veränderung hervorgebracht. Alle harrten gespannt der weiteren Befehle.
»Segel los!« erscholl es nun von der Kommandobrücke, und gleich darauf entfalteten sich die weißen Leinwandmassen im Tau- und Spierenwerk – ein mächtiges Rauschen erfüllte die Luft.
Jetzt ward es auch auf den benachbarten Schiffen lebendig. Hunderte von Matrosen enterten dort in das Tauwerk und riefen mit heller Stimme dem absegelnden Schiffe ein herzliches Lebewohl zu.
Da glitt sie dahin, die stolze Royal Karolina. Harry Wilder begrüßte den Lotsen durch eine stramme Verbeugung und übertrug ihm den Oberbefehl. Dann verfügte er sich in seine Kajüte, um sich daselbst einzurichten.
Fräulein Gertrud lehnte an der Brüstung des Verdecks. Lustig flatterte das Tuch im Winde, das sie zum letzten Lebewohl durch die Luft schwenkte. Auch Frau Wyllys winkte der am Ufer stehenden Matrone noch einen Abschiedsgruß zu. Mehr und mehr verschwand das bewegte Uferbild mit dem letzten, in bläulichen Duft gesenkten Streifen Landes, der noch fern am Horizont zu sehen war, bis auch er unter der schimmernden Wasserfläche versank.
Der Außenhafen war erreicht. Hier verließ der Lotse das Schiff. Kapitän Wilder kam wieder auf Deck.
Man segelte dicht an dem Sklavenschiff vorüber. Das Verdeck desselben war vollständig leer; man hätte glauben können, keine menschliche Seele befinde sich an Bord. Den Matrosen auf der Royal Karolina kam dies höchst auffallend vor. Ja, einige riefen einander zu: das Fahrzeug sehe aus wie ein Gespensterschiff.
In dem Augenblick, in welchem die Royal Karolina in die Höhe des fremden Seglers kam, sprang drüben eine leichte, behende Gestalt in schmucker Uniform auf die Kommandobrücke, die Mütze zum Gruße schwenkend. Wilder erbebte bis ins innerste Mark – er erkannte den roten Freibeuter.
»Gute Fahrt!« rief der fremde Kapitän dem Führer der Royal Karolina zu. »Sie segeln mit günstigem Wind!«
»Glauben Sie, daß er so anhalten wird?« rief Wilder zurück.
»Gewiß!« erklang's wieder von drüben. »Und ich werde, Ihrem Beispiel folgend, die Gunst des Augenblicks benützen!«
Gleich darauf war die Karolina vorüber und das Sklavenschiff verschwand mehr und mehr.
Als Harry Wilder nun zum Deck niederstieg, um sich mit den Fahrgästen, besonders den beiden Damen bekannt zu machen, erschrak er nicht wenig, Fräulein Gertrud in größter Angst und Aufregung vorzufinden. Ihre Wangen hatten alle Farbe verloren und ihr Auge starrte wie geistesabwesend in die Richtung, in welcher man das Sklavenschiff hinter sich gelassen hatte.
»Was für eine rätselvolle Erscheinung war das?« fragte das junge Mädchen den Kapitän. »Ich erbebte vor dem flammenden Blick jenes Mannes. So, wie ihn, stelle ich mir den fliegenden Holländer, den Beherrscher des Geisterschiffes, vor!«
Frau Wyllys suchte das Mädchen scherzend von der abergläubischen Furcht zu befreien.
»Es war der Befehlshaber eines Sklavenschiffes, mein gnädiges Fräulein!« antwortete Wilder.
»Sie kennen ihn?« fragte Frau Wyllys überrascht.
»Ich habe ihn nur flüchtig in Newport kennen gelernt.«
Der Kapitän suchte dann durch fröhliches Geplauder über den Zwischenfall hinwegzuhelfen. Bald wurde durch ein Glockenzeichen zur Tafel gerufen. In einer Stunde zwanglosen Umgangs waren die drei Menschen schon recht gut miteinander bekannt, da die anfänglich steifen Formen, die sonst die Leute einander unnahbar zu machen pflegen, hier auf dem Schiffe bald verschwanden.
Daß der junge Kapitän mit seltenem Pflichteifer seinem Dienst oblag, konnten die Damen sehr bald erkennen. Harry Wilder verfügte sich oft auf das Verdeck, um nach dem Rechten zu sehen. Die Matrosen gehorchten willig seinen Befehlen, die dahin lauteten, ein Segel ums andere dem Schiffe beizusetzen. Wozu gleich am ersten Tage diese übertriebene Eile dienen sollte, das wußten sie zwar nicht – Harry Wilder aber schien dabei einen festen Plan zu haben. Nachdem das Schiff mehrere Stunden lang durch den Ozean gesegelt war, griff Harry nach einem Fernglas, stieg damit auf die höchsten Rahen und hielt Ausschau. Er richtete das Glas auf jene Himmelsgegend, in welcher man vor kurzer Zeit das Sklavenschiff gesehen hatte. Endlich fand er, was er suchte. Da lag er noch immer vor Anker, der Delphin; er hatte seine Lage noch nicht im geringsten verändert.
Der junge Kapitän atmete tief auf. »Also er verfolgt uns nicht – wenigstens jetzt noch nicht!« murmelte er vor sich hin. »Und wenn er sich später dazu anschickt, so dürfte uns die Dunkelheit der Nacht dienstbar sein, um ihm zu entrinnen!«
Die Damen bedauerten lebhaft, ihn so oft aus ihrer Gesellschaft zu verlieren. Denn Harry Wilder gönnte sich nie mehr als ein Viertelstündchen zu dem frohen Geplauder.
»Ja, der Dienst – der Dienst!« lächelte der Kapitän. »Ich trage als Seemann die Verantwortlichkeit für manch teures Haupt!« setzte er höflich hinzu.
»Sie haben ein solch schweres Amt schon bei sehr jungen Jahren übernommen!« sagte Frau Wyllys.
»Ich lebe auf der See schon so lange, als ich zu denken vermag. Ja, ich habe Grund anzunehmen, daß ich zur See geboren bin.«
»Nur anzunehmen?« fragte Gertrud lachend. »Ja, wissen Sie denn nicht einmal, wo sie geboren sind?«
»Ich weiß von Vater und Mutter nichts – ich bin eine Waise, mein teures Fräulein!« sagte der junge Kapitän ernst. »Meine frühesten Erinnerungen verschmelzen sich mit dem Anblick des Meeres, so daß ich mich sozusagen als ein Sohn der See fühle.«
»Aber wer leitete denn Ihre Erziehung?« fragte Frau Wyllys. »Ganz aus sich selbst heraus konnten Sie sich doch nicht zu einem so tüchtigen Seemann heranbilden!«
»Ich fand Freunde, die mich wie ihren eigenen Sohn liebten – treue, biedere Gesellen!« Wilders Auge umdüsterte sich. Er gedachte des guten Richard Fid und seines schwarzen Genossen Scipio. Die treuen Seelen befanden sich an Bord des Freibeuters – – wer konnte sagen, was ihnen die Zukunft brachte! –
Es wurde Abend. Eine strenge Kälte erhob sich über der See. Die Damen fröstelten. Sie zogen sich in ihre Kojen zurück, um sich mit Umschlagetüchern zu versehen.
Die Sonne war nicht klar untergegangen. Allmählich hatte sich ein leichter Dunstschleier unter dem Abendhimmel ausgebreitet. Nebel stiegen von den Wassern auf und ballten sich zu grauen Wolken zusammen. Der Wind erhob sich aus dem Osten. Bald jagten die Wolken vor ihm her, und das Schiff neigte sich stark zur Seite. Von Zeit zu Zeit tauchte nun auch der Mond hinter einzelnen Wolken auf. Sein silbernes Licht strahlte dann in langen zitternden Bahnen auf dem Meere. Jedesmal, wenn das Schiff eine neue heranrollende Woge durchschnitt, bildete sich ein weiter Halbkreis von leuchtendem Schaum, der das Meer in flüssiges Silber zu verwandeln schien.
Wilder ließ – trotz des anwachsenden Windes – immer mehr Segel beisetzen. Eine wohl erklärliche Angst trieb ihn immer weiter ins offene Meer hinaus. In den unabsehbaren, unendlichen Gewässern gedachte er dem Freibeuter am ehesten zu entrinnen. Deshalb wich er auch von der ursprünglichen Richtung auf Charlestown um einige Grade ab.
Um Mitternacht – Harry Wilder dachte natürlich nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben – verschwand der Mond hinter einer dichten Wolkenwand. Man segelte nun einige Stunden, während der Wind mehr und mehr anwuchs und die Unmenge auf dem Schiff entfalteter Leinwand vor sich her peitschte, in völliger Finsternis.
Mit einem Male trat der Mond aber wieder hervor. Gleichzeitig rief die aufmerksame Wache vom Mastkorb herunter:
»Segel ahoi!«
Im Nu war der Kapitän auf der Kommandobrücke. Er spähte aus, wahrend sein Auge einen fiebernden Ausdruck annahm. Ganz deutlich erkannte er drei Maste und dazwischen eine Menge von Spieren.
»Ering!« rief Harry Wilder den ersten Steuermann an.
Der Gerufene, ein mürrischer, sauertöpfischer Gesell, den die Umgehung seiner Person bei der Besetzung der Kapitänsstelle nicht eben freundlicher gemacht hatte, erschien.
»Kennen Sie das Schiff, das uns dort folgt?« fragte der Kapitän.
Der Steuermann warf seinem Vorgesetzten einen grämlichen Blick zu, als ob er ihm damit Vorwürfe machen wollte, einer so geringfügigen Sache wegen hergerufen worden zu sein, griff nach dem Nachtfernrohr und brummte dann: »Hm – es ist ein Kauffahrer, gerade wie die Royal Karolina.« Abermals setzte er dann das Glas an. »Oder doch – – hm, hm – – es wäre möglich, daß es auch ein Kriegsschiff ist. Aber es ist noch sehr weit von uns entfernt.«
»Ich wollte, die Entfernung wäre zehnmal so groß!« sagte Wilder erregt. »Oder noch besser, das Schiff segelte nordwärts.«
Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Es segelt genau in der Richtung wie wir. Will wahrscheinlich auch weiter ins offene Meer hinauskommen.
»Jedenfalls,« sagte der Kapitän, »wollen wir dem Schiffe dort aus dem Wege gehen.«
»Herr,« erwiderte der Steuermann, »es wird eine schwere Arbeit sein, jetzt bei dieser Kühlte zu wenden.«
»Es muß geschehen!« befahl Wilder kurz. »Wir müssen feststellen, ob das Schiff vorbeischießt, wenn wir unsere jetzige Richtung verlassen. Rufen Sie alle Mann an Deck und lassen Sie wenden!«
Murrend kam der Steuermann dem Befehl nach.
»Alle Mann auf!« schallte es über das Deck. Die Matrosen – auch diejenigen, die erst vor kurzem abgelöst worden waren – sprangen aus ihren Hängematten und eilten an Deck. Wilders Kommandorufe ertönten kurz und scharf durch die unwirtliche Nacht. Hurtig enterten die Matrosen in die Taue, um die Befehle zur Ausführung zu bringen. Gleich, nachdem den Segeln die neue Lage gegeben worden war, fiel das Schiff in eine hohle See. Dann schoß es in der ihm gegebenen neuen Richtung weiter. Aber immer gewaltiger peitschte der Wind, der sich mehr und mehr zum Sturm verstärkte, auf die Leinwandmassen ein. Das Schiff kämpfte mühsam gegen die Wogen an. Höher und höher hoben es die heranrollenden Seen, um es dann um so jäher wieder hinabsausen zu lassen.
Sobald die nächste Gefahr vorüber und jedes Segel und jede Rahe zum Lauf nach Osten gesetzt war, hielt Wilder von neuem Ausschau.
Auch der Steuermann hatte wieder nach dem Fernrohr gegriffen. »Er ist verschwunden – der unheimliche Bursche!« rief er mit einem Male frohlockend.
Wilder gab keinen Laut von sich. Atemlos starrte er über die aufgeregte See hin. Plötzlich streckte er die Hand gegen den nur zeitweise von einem Mondstrahl erleuchteten Abendhimmel aus und schrie: »Da ist er wieder, der Fremde – er segelt genau in unserer Richtung!«
»Beim Himmel, ja!« bestätigten die Matrosen, die in das Tauwerk geklettert waren. Voll Furcht und Mißtrauen betrachteten sie das fremde Schiff.
Der Kapitän preßte die Lippen fest aufeinander und starrte mit rollenden Augen um sich. »Totsegeln will ich ihn, diesen Fremden, der sich wie eine Klette an uns hängt!« murmelte er dann. »Steuermann, lassen Sie das große Halssegel beisetzen – auch die Bramsegel losmachen!« »Bei solchem Sturm?« wagte Ering einzuwenden. Ein drohender Blick des Kapitäns machte ihn verstummen.
So wurde denn auch dieser Befehl vollzogen. Nun zeigten sich aber auch die Matrosen mürrisch. Unter dem Druck der Segel neigte sich die Royal Karolina ganz auf die eine Seite. Sie schien mehr auf dem Wasser zu liegen, als zu segeln. Diejenige Seite aber, von welcher der Wind blies, hob sich hoch empor. Überdies wurden die Stöße der Wogen, gegen welche das Fahrzeug anzukämpfen hatte, von Sekunde zu Sekunde heftiger.
»Herr Kapitän,« rief der Steuermann herausfordernd über das Deck, »jene Spiere dort biegt sich bereits wie eine dünne Gerte. Beim nächsten Windstoß muß sie brechen!«
Wilder sah wohl ein, daß die Gefahr, der das Schiff bei solchem Segeldruck ausgesetzt war, keine geringe war – andrerseits drohte aber eine für das ganze Schiff bei weitem verderblichere. Und er wollte alles daran setzen, gerade dieser Gefahr zu entrinnen!
»Soviel Segel an Bord sind – soviel werden ausgesetzt!« befahl der Kapitän.
»Das heißt das Schiff absichtlich zu Grunde …«
Ein strenger Blick aus den Augen Wilders traf ihn. Erings Antlitz glühte vor Zorn. Er ging nach dem Hinterdeck. Dort gesellten sich andere Schiffsleute, darunter auch der zweite Steuermann Night, mit besorgten Mienen zu ihm. Kopfschüttelnd vernahmen sie seine Auslassungen über das seltsame Gebahren des neuen Gebieters.
Inzwischen arbeitete sich die Royal Karolina mühsam weiter. Bis jetzt hatte sie noch alle Schwierigkeiten überwunden. Massenhaft türmten sich die Wogen vor dem Bug des Schiffes auf. Von Minute zu Minute nahmen sie – der Heftigkeit des Sturmes entsprechend – an Größe und Wucht zu. Mehrmals grub sich das Vorderteil des Schiffes so tief ins Wasser ein, daß es sich nur mühsam wieder emporzuarbeiten vermochte.
Keinem der vorhin an Deck gerufenen Matrosen fiel es ein, die Hängematte wieder aufzusuchen. Wie hätte man auch bei einem solchen Höllenwetter mit Seelenruhe schlafen sollen!
In finsterem Schweigen kauerten sie dort hinten auf Rollen von Tauwerk. Schon manchem war eine gewaltige Sturzsee über den Kopf hinweggegangen. Aber keiner rührte sich von seiner Stelle. Nur die beiden Steuerleute schritten, erregt aufeinander einredend, über das Deck, von den Erschütterungen des Schiffes bald gegen einander, dann wieder gegen Planken und Bänke gestoßen.
Dem nachfolgenden gespenstischen Schiffe traute keiner – noch weniger aber traute man dem eigenen Kapitän. Aufgehetzt durch Ering flüsterten einige: »Er steht mit dem Bösen im Bunde!« Die abergläubische Furcht wirkte ansteckend. »Wie kommt er zu dem Kommando dieses Schiffes? Ering hätte es erhalten müssen! Der ist ein Seemann wie kein zweiter – er hätte den ersten Anspruch gehabt!«
Wie nun, wenn dieser rätselhafte Kapitän darauf ausging, das Schiff mit Mann und Maus und der ganzen kostbaren Ladung dem Verderben preiszugeben?
»Aber dann müßte er ja selbst mit zu Grunde gehen!« wendeten Besonnenere ein.
Der Steuermann lachte höhnisch auf. »Wißt ihr, was der thäte, wenn's uns an den Kragen ginge? – Er spränge flugs auf das Gespensterschiff hinüber, und der Kapitän desselben, der offenbar der Teufel selber ist, würde ihn wie seinen Bruder mit offenen Armen empfangen. – Heilige Jungfrau,« fügte er hinzu, »welch eine Fahrt!«
Urplötzlich gewannen Himmel und Meer ein anderes, noch viel furchtbareres Aussehen. Rabenschwarz ward die Nacht. Dicht um das Schiff herum schwebten schwere Dunstsäulen.
»Die Leesegel herunter!« schrie Harry Wilder, der einen Orkan voraussah. »Herunter – bis auf den letzten Lappen! Ering, schicken Sie Leute hinauf auf die Spieren der Bramsegel! Herunter mit aller Leinwand!«
Diese Befehle brauchten den Matrosen kein zweitesmal gegeben zu werden. Denn jeder von ihnen hatte gefürchtet, daß die Überbürdung des Schiffes mit Segeln dasselbe zum gewissen Untergang führen werde. Voll Eifer wurde nun in dem Takelwerk gearbeitet. Nach wenigen Minuten war das Schiff nur noch auf die Wirkung der unteren Segel beschränkt.
Nachdem die Matrosen den Befehl ausgeführt hatten, fanden sie sich wieder in Gruppen auf dem Hinterdeck zusammen, voll ängstlicher Spannung in die Nacht hinausblickend. Bleiern lagen die schweren Nebelmassen über dem Schiff. Für einen Augenblick trat eine unheimliche Stille ein; doch ein jeder ahnte, daß dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Die Wellen brachen sich nicht mehr mit schäumenden und schimmernden Spitzen, sondern als schwarze Wassermassen erhoben sich ihre zürnenden Häupter gegen den östlichen Horizont. Auch die Windstöße erlahmten. Bald vernahm man sogar das Anklatschen der schlaffen Segel gegen die Masten.
Plötzlich erleuchtete ein zuckender Blitz die Dunkelheit. Dem Blitz folgte ein Donnerschlag, der drohend über das Meer hinrollte.
Bei dem Aufblitzen des fahlen Lichtes hatte man im Osten eine gelbgraue Nebelwand entdeckt, die mit Sturmeseile auf das Schiff loskam.
»Das ist der Sturm!« schrieen die Matrosen.
Auch Wilder hatte die unheilverkündenden Nebelwolken bemerkt. »Herum mit der Fockrahe!« befahl er mit Donnerstimme.
Die Matrosen, die das Unheil in nächster Nähe sahen, gehorchten blindlings. Keiner gab einen Laut von sich; schweigend kletterten sie wieder in das Tauwerk, um dem Befehle mit Anspannung aller Kräfte nachzukommen.
Ein heulender Ton brauste jetzt über das Meer, dessen ganze Oberfläche in glänzendweißen Schaum verwandelt wurde. Im nächsten Augenblick hatte dieser erste Vorstoß des Orkans das Schiff in seiner Breitseite erfaßt. Mit furchtbarer Wucht wurde die betreffende Seite emporgehoben – das Deck bildete sekundenlang eine steile, abschüssige Fläche, die Masten lagen fast quer über dem Wasser – doch gleich nach dem entsetzlichen Anprall tauchte die im Wasser vergrabene Seite wieder empor, und die Masten schnellten in die Höhe.
Wilder wollte jetzt versuchen, schnell – bevor der Windstoß sich wiederholte – das Schiff vor den Wind zu bringen, so daß es dieser nur von rückwärts erfassen konnte. »Das Steuer windwärts!« schrie er Ering zu, der den Befehl an den Mann am Steuer weitergab. Der betreffende Matrose legte sich mit seiner ganzen Körperlast auf die Radspeiche – das Schiff war aber nicht aus seiner Richtung zu bringen.
Abermals erfaßte der Sturm das Fahrzeug – und wieder neigten sich die Masten tief bis auf das Wasser hinab. Diesmal aber vermochten sie sich unter dem gewaltigen Druck des drüberhinsausenden Sturmes nicht wieder aufzurichten. Flach lag der ganze Schiffskörper auf dem Wasser.
Die Matrosen klammerten sich angsterfüllt an das Tauwerk, um auf dem steilen, von Sturzseen überspielten Deck nicht auszugleiten und bei der nächsten Erschütterung über Bord geschleudert zu werden.
Der Kapitän sah keinen andern Ausweg, als den Besanmast zu kappen. Hastig rief er dem Steuermann zu, zwei Leute mit Äxten dahin zu schicken. Gleich darauf schallten die schweren Schläge über das Deck. Zuerst wurde das Tau, mittels dessen das Besansegel an den Besanmast befestigt war, durchschnitten – dann trafen die Axtschläge den Mast selber. Mit lautem Krachen brach derselbe endlich ab. Mit allem, was er an Segeln, Spieren und Tauen noch trug, stürzte er über Bord. Hoch schäumte die Flut auf – eine Sekunde lang ward die im Wasser liegende Seite emporgeworfen – dann rauschte aber wiederum der Sturm über das Schiff hin, und der neue furchtbare Stoß legte es wieder zur Seite.
Im Nu stand Ering beim Hauptmast. »Soll er fallen, Herr?« schrie er dem Kapitän zu.
Wilder, der sich nur mit Anstrengung aller Körperkräfte an dem Treppengebälk der Kommandobrücke festzuhalten vermochte, rief kurz: »Haut zu!«
Ächzend klangen die Schläge. Dann aber erfolgte ein entsetzlicher Krach – und Rahen und Taue, Segel und Spieren und der Mast selbst – alles, alles ward von der See verschlungen.
Mit weit aufgerissenen Augen verfolgten jetzt die Matrosen jede Bewegung des Schiffes. »Es richtet sich auf! Es richtet sich auf!« klang es frohlockend durch die Nacht.
Ja, wirklich – langsam richtete sich das Schiff auf. Es war aber nicht mehr der stolze Dreimaster – der Hauptmast und der Besanmast waren gefallen; nur der Fockmast blieb noch übrig. Alles lag jetzt daran, diesen wenigstens dem Schiffe zu erhalten. Denn wenn auch er geopfert werden mußte, so war das Schiff nichts weiter als ein totes Wrack, willenlos dem Sturme preisgegeben.
Mit dem nächsten Stoß jagte der Sturm die Royal Karolina über eine hohe Woge hinweg. Der schwache Fockmast schnellte hinüber und herüber; man vernahm trotz des heulenden Sturmes sein Ächzen bei der übermäßigen Biegung. Er führte nur noch ein einziges Segel. Aber dieses wurde vom Wind so unnatürlich aufgebläht, daß Wilder seine Bewegungen mit angstvollen Blicken verfolgte.
Zweierlei Gefahren drohten von dieser Stelle her. Vor allem war zu befürchten, daß der Mast selbst abbrach – dann konnte es aber auch geschehen, daß das Segel mit Rahen und Spieren aufs Deck niederstürzte. Diesen verderblichen Schlag aber hätte das Schiff nicht auszuhalten vermocht. Unter allen Umständen mußte daher das Segel gekappt werden.
Auf den diesbezüglichen Befehl antwortete der Steuermann mit höhnischem Lachen. »Wahnwitz wäre es, bei diesem Sturm ins Tauwerk zu klettern! Der Unterteil des Mastes ist bereits gesprungen. Kein Matrose wird sich dort hinaufwagen.«
»Auch wenn die Rettung des Schiffes davon abhängt?« rief Wilder zornerfüllt.
Der Steuermann wandte sich an die Matrosen: »He, Burschen, wer von euch wagt sein bißchen Leben?«
Niemand rührte sich. Ängstlich hatten sich alle an die hoch über das Wasser emporragende Bordseite angeklammert.
Kurz entschlossen warf der Kapitän seinen Rock ab, griff nach einem Beil und tastete sich nach dem Fockmast. »So will ich selbst mich aufopfern. Sie aber, Steuermann, mögen das Schiff allein nach Charlestown bringen – falls mir etwas Menschliches begegnen sollte.«
Entsetzt schrie Ering auf: »Kapitän, um Gottes Willen, halten Sie ein! Wenn's denn sein muß – jeder thue, was seines Amtes ist!«
Hastig drängte er den Kapitän zur Seite. Nun erwachte auch in den Matrosen der Ehrgeiz wieder. Zehn von ihnen kletterten dem Steuermann, der die Axt zwischen den Zähnen hielt, ins Tauwerk nach.
Dieser Übereifer schien Wilder aber noch viel gefährlicher als die vorherige Verzagtheit – denn die Last war für den schwachen Mast viel zu schwer.
»Herunter mit euch, ihr Burschen!« schrie er den Matrosen nach. »Alle herab bis auf den Steuermann!«
Schon vernahm man von oben her die wuchtigen Axthiebe. Mit einem Male gab es einen furchtbaren Krach. Die Leinwand hatte sich an der einen Seite losgerissen – einen Augenblick folgte der dünne Mast ihren Bewegungen – dann fiel er mit seinen Spieren, Tauen und Rahen klatschend ins Meer.
Ein jäher Aufschrei zitterte über das Schiff hin.
Der Steuermann hatte mitsamt den Matrosen, die ihm in das Tauwerk gefolgt waren, den Tod in den Wellen gefunden. Man sah die willenlosen Körper zwischen den Spieren und Rahen noch eine Zeitlang, von den Wogen gepeitscht, dahintreiben – dann riß sie die nächste überköpfende See in die Tiefe hinab.
Keiner hatte in dem furchtbaren Augenblick an die Möglichkeit einer Rettung gedacht. Es wäre auch Wahnwitz gewesen, in diese See ein Boot hinabzulassen – kein Arm wäre stark genug gewesen, es in diesem Sturme zu lenken.
Starr und regungslos, als hätte der Schreck sie gelähmt, standen die Matrosen und der zweite Steuermann, die den Tod ihrer Genossen mit eigenen Augen gesehen hatten, da. Wilder sandte einen Blick der Verzweiflung zum Himmel empor.
Willenlos, wehrlos, ein Spiel der Wellen – trieb die Royal Karolina vor dem Sturme her – ein armseliges Wrack.
Es war, als ob der Himmel sich mit dem grausigen Opfer zufrieden geben wollte – die Windstöße nahmen an Heftigkeit ab – allmählich lichtete sich's im Osten.
Der Morgen brach an.