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Bewegte Tage folgten. Der Wind wehte stark aus Norden. Leinwand über Leinwand wurde ausgebreitet. Südwärts segelte das Schiff. Es begegnete auf seiner langen Fahrt wohl einem Hundert von Segeln verschiedener Größe. Ihnen allen aber wich der Kapitän Heidegger sorgfältig aus. Fürsorglich ließ er jedesmal eine andere Flagge aufziehen – denn man begegnete sogar einigen Königlichen Kreuzern. So steuerte man durch eine der Meerengen, welche die Ketten der Antillen durchschneiden.
Unablässig hofften die beiden Damen, die sich seit jenem ereignisreichen Tage sehr viel allein gelassen sahen, daß ihre unfreiwillige Fahrt bald ein Ende nehmen würde. Aber der Kapitän traf immer noch keine Anstalten, einen Hafen aufzusuchen, um seine beiden Pflegebefohlenen ans Land zu setzen.
So oft die Damen versuchten, den Kapitän oder den Leutnant zu einer Erklärung zu bewegen, wußten diese ihnen auszuweichen.
Endlich wandte sich Frau Wyllys einmal in etwas erregtem Tone an den Schiffsführer. Die Inseln, die am fernen Horizont auftauchten, verschwanden wieder – und mit ihnen die Hoffnung, endlich wieder festes Land betreten zu können. »Herr Kapitän,« sagte die Dame höflich aber bestimmt, »wir haben Sie des Platzes auf Ihrem Schiff schon lange genug beraubt – und der General Grayson wird wegen seiner Tochter schon in großer Sorge sein.«
Heidegger ließ sich auch jetzt noch nicht aus der Fassung bringen. Er antwortete in liebenswürdigstem Tone: »O, meine Gnädige, die beste Kajüte meines Schiffes könnte nicht besser und vornehmer besetzt sein als durch Sie!« Gleich darauf wußte er aber ein anderes Thema anzuschlagen, so daß Frau Wyllys sich in den Erwartungen, die sie an diese ernstliche Aussprache geknüpft hatte, abermals getäuscht sah.
In der folgenden Zeit zog sich nun der Kapitän ganz von den Damen zurück – und auch der erste Leutnant ging, sobald er bemerkte, daß die Damen ihn anreden wollten, mit finsterer Miene auf die Seite, um ihnen nicht zu begegnen.
Allmählich überkam die beiden Frauen ein unerklärliches Angstgefühl. Weder Frau Wyllys noch Gertrud vermochten, wie früher, sich heiteren Gesprächen hinzugeben – der sorglose, fröhliche Zug wich aus ihrem Gesicht – sie wurden ernst und trübe gestimmt, auf beider Stirn lagen finstere Wolken. Mit matten Augen erhoben sie sich des Morgens von ihrem Lager – ihre Lider waren gerötet – sie hatten oft die ganze Nacht hindurch geweint, ohne daß die eine der andern ihren Kummer oder ihre Befürchtungen anvertraute.
Eines Tages aber hielt Frau Wyllys dieses unaufrichtige Schweigen nicht mehr aus.
»Gertrud!« rief sie ihre Pflegebefohlene an.
»Sage mir, liebes Kind, was grämt dich? Gestehe mir offen, was dich bewegt. Du hast die ganze Nacht hindurch geweint.«
»Ich – ich – ich ängstige mich an Bord dieses unheimlichen Schiffes.«
Frau Wyllys nickte bedenklich mit dem Kopf. »Seit jenem Tage, da hier an Bord Aufruhr herrschte, vermag auch ich die sorglose Ruhe nicht wieder zu finden.«
»Wollte Gott, wir wären endlich, endlich wohlbehalten im Hause meines Vaters!« seufzte Gertrud.
»Wollte es Gott!« wiederholte Frau Wyllys. Mit einem düsteren Blick raunte sie dem Mädchen zu: »Aber oft ist mir's, als hätten wir recht wenig Hoffnung auf dieses Glück! Denn, kurz heraus gesagt – ein entsetzlicher Verdacht erfüllt mich!«
»Ein Verdacht?« schrie das Mädchen auf.
»Schweig! Laß nicht laut werden, was ich dir anvertraue!« fuhr Frau Wyllys flüsternd fort, sich zu ihrer Schutzbefohlenen dicht herniederbeugend. »Schon lange haben mich die Vorgänge auf diesem Schiff mit Mißtrauen erfüllt. Wie du weißt, bin ich früher, als mein Gatte noch am Leben war, lange Zeit auf einem Königlichen Kriegsschiff gewesen. Damals habe ich Gelegenheit gehabt, die Schiffsgebräuche genau kennen zu lernen. Die Sitten, die hier gepflogen werden, sprechen aber allem Herkommen Hohn.«
»Und was folgern Sie hieraus?« fragte Gertrud ängstlich.
Frau Wyllys sah sich nach allen Seiten forschend um; dann sagte sie in fast feierlichem Tone: »Ich traue weder dem Gewerbe dieses Schiffes, noch dem Charakter derer, die seine Führung und Bedienung inne haben.«
»Auch mich haben die rohen Sitten der Mannschaft in jenen Gewaltscenen, deren Zeugen wir waren, mit Abscheu und Grauen erfüllt. Aber glauben Sie, teuerste Frau Wyllys, daß wir Ursache hätten, uns deshalb ernstlichen Befürchtungen hinzugeben? Wenn uns einer von ihnen etwas zu leide thäte – würde er sich nicht den schwersten Strafen der Königlichen Behörden aussetzen?«
»Der Königlichen Behörden?« rief Frau Wyllys tief aufatmend. »Glaubst du denn, daß es für die Leute dieses Schiffes Gesetze giebt? Gesetze – die unter der zivilisierten Bevölkerung Gültigkeit haben? Sie werden sich wohl kaum anderen unterwerfen, als solchen, die sie sich selbst gemacht haben!«
»Ja, mein Gott,« rief Gertrud totenbleich werdend, »dann wären es ja Verbrecher – – Seeräuber!«
Frau Wyllys bejahte stumm.
Mit einem entsetzlichen Aufschrei warf sich das Mädchen – wie Schutz suchend – in die Arme ihrer Erzieherin.
»Vorsicht!« mahnte diese.
»Und Sie halten alle an Bord dieses unseligen Schiffes für gesetzlose, ruchlose Verbrecher?« fragte sie in ängstlicher Aufregung weiter.
»Alle!« kam es tonlos aus dem Munde der Frau Wyllys.
Gertrud riß sich hastig aus der Umarmung los. »Nein, nein, nein – ich kann das nicht glauben. Jener Einzige ist gewiß nicht schuldig! Wie sorgsam, wie treu und edel stand er uns im Unglück bei – bedenken Sie doch nur, wie er sich für uns aufgeopfert hat!«
Frau Wyllys seufzte schwer auf. »Ich hätte es auch niemals für möglich gehalten, daß man sich in einem Menschen so schmählich täuschen kann. Denn ich habe ihn für einen geraden und hochsinnigen Charakter gehalten. Wie bestechend war dazu das Mannhafte und Ritterliche seiner äußeren Erscheinung. Aber seitdem wir – in seiner Gemeinschaft – dieses Schiff hier betreten haben, hat er Stunde um Stunde mir immer mehr bewiesen, daß alles, was wir an seinem Charakter, seinem Wesen bewunderten – nur Verstellung, nur eitel Lug und Trug war!«
»Um Gottes Willen!« schrie Gertrud auf.
»Ach, mein liebes Kind, meine linke Hand wollte ich hinopfern, wenn ich dadurch das Gegenteil meiner Aussage zur Wahrheit machte! Aber es giebt keinen Zweifel mehr. Wenn dieses Schiff wirklich das ist, wofür wir es halten, so ist auch jener unsagbar zu beklagende junge Mann nichts anderes als ein heuchlerischer und sehr gewandter, aber ebenso verstockter … Freibeuter!«
In diesem Augenblick klopfte es an die Kajütenthür. Roderich, der den Damen zur Verfügung gestellte junge Diener, trat ein, um nach ihren Wünschen zu fragen.
Schnell faßten sich die Damen wieder. In leichtem, flüchtigem Ton begann Frau Wyllys ein Gespräch mit dem Knaben. Derselbe zeigte sich sehr offenherzig und zutraulich. Frau Wyllys unternahm den Versuch, durch ihn die Wahrheit zu erfahren.
Sie begann zunächst damit, ihn – als ob sie nur die Langeweile zu einem gleichgültigen Gespräch anspornte – über seinen Dienst und seine Dienstverrichtungen auszuforschen, fragte ihn auch, ob ihn bei seiner Jugend der Dienst bei Nacht nicht übermäßig anstrenge u. s. w.
»Solange ich auf meinem Posten bin, wandelt mich nie der Schlaf an,« erwiderte der Knabe munter. »Da heißt es eben, die Augen aufreißen!«
»Ja, gefällt dir denn das Kriegshandwerk so sehr, mein Junge, daß du sogar willig deinen Schlaf hinopferst?«
»Es ist nun einmal mein Beruf!« sagte Roderich.
»Und ist er auch einträglich, dieser Beruf? Ich meine – wird denn recht oft Beute unter die Mannschaft verteilt?«
»Gewiß. O, an Geld und Beute haben wir nie Mangel. Um so größer ist manchmal die Verzweiflung der älteren Leute, nicht an Land gehen und das erworbene Geld einmal so recht nach Herzenslust verjubeln zu können.«
»Lauft ihr so selten einen Seehafen an?«
»Höchst selten. Aber kürzlich geschah es wieder einmal. Das war in Newport. Freilich blieben wir auch dort im Außenhafen liegen. Wenn Sie mit der Royal Karolina von Newport absegelten, so müssen Sie uns doch gesehen haben.«
»Im Außenhafen lag nur ein Schiff und das war –«
Die beiden Damen starrten einander entsetzt an. Mit einem Male wurde es auch Gertrud klar, weshalb der Kapitän dieses Schiffes ihr so bekannt vorgekommen war. Sie hatte ihn auf der Kommandobrücke jenes geheimnisvollen Sklavenschiffes gesehen, das dort im Außenhafen von Newport vor Anker lag!
»Das war der Delphin!« nickte Roderich. »Fast zu gleicher Zeit fuhren wir von Newport ab – oder wenigstens nur einige Stunden nach der Royal Karolina.«
»Die Karolina wurde damals von Herrn Wilder befehligt, der jetzt die Stelle eines ersten Leutnants hier an Bord hat?«
Der Knabe lachte. »Ich habe Herrn Wilder den Befehl unseres Kapitäns, daß er das Kommando des Kauffahrers übernehmen solle, ja selbst gebracht.«
Beide Damen waren leichenblaß geworden. Sie verrieten ihre ungeheure Aufregung über diese Mitteilung aber durch keinen Laut.
»Hat Herr Wilder, bevor er an Bord der Royal Karolina ging, denn schon lange auf dem Delphin gedient?«
Roderich schüttelte den Kopf. »Herr Wilder war an dem Tage, an welchem die Abfahrt stattfand, zum erstenmal bei uns an Bord.«
»Das verstehe ich nicht!« sagte Frau Wyllys. »Dann müßte Ihr Kapitän den jungen Mann aber doch schon von früher her gekannt haben?«
»Ich glaube das kaum,« erwiderte der Knabe. »Unser Kapitän Heidegger hat ihn an Bord genommen, da er ihm treu und mutig und pflichteifrig zu sein versprach. Denn nur solche Leute kann der Kapitän brauchen. Und Verräter – giebt's auf dem Delphin nicht!«
Roderich hatte wohl gemerkt, daß die Damen ihn über Gebühr ausforschten. In der Furcht, vielleicht schon zu viel verraten zu haben, wandte er sich schnell der Thür zu.
»Höre, mein Junge,« rief ihm Frau Wyllys nach, »sag mir doch, warum man fast alle Tage verschiedene Flaggen aufhißt? Aus welchem Grunde hat der Kapitän ferner in den letzten Tagen das Schiff mit einer anderen Farbe bemalen lassen – obwohl der alte Firnis noch tauglich war?«
Der Knabe sah sie mit seinen blitzenden Augen forschend an. »Fragen Sie den Kapitän selbst danach – wenn Sie Mut genug besitzen!« sagte er dann kühl, gleich darauf durch die Ausgangsthür verschwindend.
Kaum hatte Roderich die Kajüte verlassen, als die Damen sich auch schon mit einem schluchzenden Aufschrei in die Arme sanken. Die Reden des Knaben ließen keinen Zweifel mehr darüber: – der Delphin war ein Seeräuberschiff, und man hielt sie – zwei wehrlose, schutzlose Damen – auf demselben gefangen!
Es währte lange Zeit, bis sich die Damen an diesen entsetzlichen Gedanken gewöhnt hatten. Welchem Los gingen sie entgegen! Aber sie faßten endlich den Plan, vorläufig allem ruhig zuzusehen und durch nichts sich aus der Fassung bringen zu lassen. Daß Heidegger ein außergewöhnlicher Mann war, hatten sie wohl erkannt. Und in seinem Benehmen gegen sie ließ er es durchaus nicht an der schuldigen Hochachtung fehlen. So wollten sie ihm denn nach wie vor unbefangen erscheinen, um ihn nicht zu einer Änderung seiner Gesinnung gegen sie zu reizen. Ja, Frau Wyllys suchte von nun an sogar seine Gesellschaft, um ihn noch genauer zu erforschen.
Gelegentlich – als sie sich gerade einmal an Deck befand, um bei der herrschenden Windstille die balsamische Luft einzuatmen – wurde sie Zeugin einer Unterredung zwischen dem Kapitän und einem Matrosen. Da sie den letzteren öfters in der Gesellschaft Wilders gesehen hatte, so lauschte sie angestrengt auf jedes Wort des Gesprächs.
»Nun, mein Junge,« sagte Heidegger zu seinem Untergebenen, »wie gefällt dir's hier an Bord? Bist du mit deinen Mahlzeiten in der Back zufrieden? Und taugt deine Hängematte zu angenehmen Träumen?«
»O Herr, gewiß!« antwortete Richard Fid. »Der Delphin ist kein übles Fahrzeug.«
»Will's meinen!« sagte der Kapitän lächelnd. »Und wie behagt dir der Dienst an Bord?«
»Der Dienst, Herr Kapitän,« sagte der Matrose scherzhaft, »ist ja manchmal eine recht unangenehme Unterbrechung der Freizeit – aber mit der Stelle, die uns unser junger Herr Harry angewiesen hat, sind wir beide recht zufrieden – ich und der Scipio Afrikanus nämlich. Und wir wären auch mit einem noch härteren Dienst zufrieden – wenn es uns nur verstattet ist, mit unserem guten jungen Herrn – ich meine den Herrn Leutnant – zusammen auf einem Schiff dienen zu dürfen; denn wir segeln doch schon seit länger als vierundzwanzig Jahren miteinander durch die Meere.«
In diesem Augenblick mischte sich Frau Wyllys ins Gespräch. »Was sagt Ihr da, Freund, so lange Zeit schon seid Ihr mit Herrn Wilder bekannt?«
»Über zwanzig Jahre sind's gewiß!« erwiderte der Matrose. »Scipio Afrikanus kann's bezeugen; denn mit dem zusammen habe ich den jungen Herrn, der damals noch ein ganz kleines Herrlein war, kennen gelernt.«
Der Schwarze, der sich in der Nähe befand, nickte schmunzelnd.
Überrascht trat Frau Wyllys näher. Es war für sie natürlich von großem Belang, etwas Genaueres über den rätselhaften jungen Mann zu erfahren.
Richard Fid fühlte sich sehr geehrt, in eine Unterhaltung mit der feinen Dame verwickelt zu werden. Er erklärte sich sogleich bereit, die eigentümlichen Umstände, unter denen er den jungen Harry kennen gelernt hatte, zu erzählen und entschuldigte sich dabei, daß er etwas weit ausholen müsse.
»Also – was meine eigene werte Person betrifft,« hob der Matrose seinen Bericht an, »so bin ich von meinem Vater selig schon gar früh zur See geschickt worden. Ich habe mich schon als kleiner Junge nicht etwa mit Lustfahrten an der Küste begnügt – meine erste Fahrt führte mich um das Kap Horn. In den nächsten Jahren kreuzte ich in den verschiedensten Meeren herum. Dann brachen die Feindseligkeiten zwischen England und Frankreich aus. Ich machte also den damaligen Krieg in der Königlichen Flotte an Bord der Fregatte Braunschweig mit. Das Fahrzeug bekam nun in den folgenden Jahren manchen Rippenstoß und manches klaffende Leck ab. Eines Tages erwies sich die Fregatte so lahm und matt, daß man endlich ein Einsehen hatte und ihr in irgend einem Hafenwasser ein stilles Ruheplätzchen gönnte. Nun machte ich mich an Bord der Proserpina. Ich bin zwar nicht ruhmredig, aber was wahr ist, darf ich sagen: ich habe auf diesem flotten Schnellsegler meinen Mann gestellt! Doch das nur nebenbei. Die Hauptsache aber bestand darin, daß ich auf der Proserpina einen gutmütigen Schwarzen kennen lernte; das war der Scipio Afrikanus. Sein Gesicht war zwar gerade nicht zum Verlieben – aber ein schwarzes Herz besaß er nicht. Und heute auch nicht – wenn gleich jeder andere Gegenstand, wenn er so lange herumgepufft würde – in den langen Jahren sicherlich nachgedunkelt hätte!«
Frau Wyllys wurde etwas ungeduldig. »Aber kommt endlich zur Sache!« drängte sie.
»Ich bin schon mitten drin im Fahrwasser,« erwiderte der Matrose, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ. »Also der Scipio Afrikanus wurde mein Freund – mein dickster Freund. Und wenn Sie sich den fetten Schwarzen etwas näher ansehen, so werden Sie diese Bezeichnung gerechtfertigt finden. Dieses zarte Freundschaftsverhältnis – Sie brauchen mich nicht auszulachen, Herr Kapitän, – hielt durch alle Fährlichkeiten hindurch stand; selbst in dem größten Unglück, das in Westindien uns ereilte, hielten wir getreulich zu einander.«
»Von welchem großen Unglück redet Ihr?« fragte Frau Wyllys. »Meinen Sie damit einen Schiffbruch, den Sie auf der Proserpina erlitten?«
»Ganz gewiß – oder eigentlich auch nicht – wie man nun gerade will!« sagte der Matrose. Da diese Auseinandersetzung den Zuhörern zu dunkel erschien, erklärte er sich etwas deutlicher. »Also – wir stießen zwischen den Inseln in der spanischen See auf einen Schmuggler. Unser Kapitän machte auf den Burschen flotte Jagd und kaperte ihn. Ein Maat und fünf Mann, unter denen auch ich mich mitsamt meinem schwarzen Freunde befand, wurden nunmehr beauftragt, das Schmugglerschiff in einen Hafen zu schleppen. Dieser Auftrag war für uns zwar recht ehrenvoll – er hatte aber auch seine unangenehme Seite; denn ein paar Tage später brach ein Orkan los, wie wir ihn während unserer Seefahrerlaufbahn noch niemals erlebt hatten. Der kleine Schmuggler bekam [ein Leck über das andere] – wir pumpten und stoppten – alles vergebens. Das Schiffchen zog Wasser die schwere Menge, plötzlich bekam es den thörichten Einfall, sich zur Abwechslung einmal auf die Seite zu legen, nachdem es bisher gewöhnt gewesen war, wie jedes andere ehrenwerte Fahrzeug auf dem Kiel zu schwimmen. Diesen Einfall hatte das Schiffchen nun so plötzlich gehabt, daß vieren von uns der Boden ebenso plötzlich unter den Füßen weggezogen zu sein schien. Plumps – lagen sie alle vier im Wasser. Nun, und ich muß zu meiner Schande gestehen: ich befand mich auch unter diesen vier Täuflingen. Scipio Afrikanus aber, der sich auf dem Mast, auf den er sich flugs geschwungen hatte, etwas einsam vorkam, holte sich schleunigst einen von uns zur Gesellschaft wieder herauf. Und es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß dieser eine gerade ich war.«
»Sonst würden wir auch schwerlich das Vergnügen haben, dich bei uns zu sehen, mein Junge!« meinte der Kapitän, über die drollige Erzählungsweise des Matrosen lächelnd.
»Ganz richtig!« sagte Richard Fid. »Der gute Schwarze hatte mir also gewissermaßen das Leben gerettet. Und das war hübsch von ihm. Wir beide machten nun in aller Eile das kleine Boot von dem Schmugglerschiffe los. Denn dieses begann immer mehr zu sinken, so daß wir in der Eile eben gerade noch die notwendigsten Lebensmittel zusammenraffen konnten. Dann packten wir die Vorräte und uns selbst in das Boot hinein und steuerten dann, so gut wir's in der Nußschale vermochten, dem Lande zu. Unterwegs aber – und jetzt komme ich zum allerwichtigsten Punkt meiner rührenden Geschichte – gewahrten wir eines Morgens gerade bei Sonnenaufgang vor uns das Wrack eines Schiffes. Nur die Stümpfe der Masten waren vorhanden – sonst kein Fetzen Segel und kein Endchen Tau. Natürlich ruderten wir dicht heran, in der Erwartung, Menschen an Bord zu finden. Aber an Deck gab es nichts Menschliches – nur ein halbverhungerter Hund kam uns entgegen. Der konnte uns nun leider – da wir seine winselnde Sprechweise nicht verstanden – nicht die geringste Auskunft geben.«
»Aber die Mannschaft – der Kapitän des Schiffes?« fragte Heidegger kopfschüttelnd.
»Vorläufig entdeckten wir – wie ich schon sagte – keine Menschenseele. Plötzlich aber drang von unten herauf, aus dem Schiffsinnern, ein langgezogener Klageruf an unser Ohr. ›Alle guten Geister!‹ rief ich aus; denn ich glaubte wahrhaftig, das schauerliche Konzert würde von den armen Seelen der ertrunkenen Mannschaft aufgeführt. Wir verhielten uns daher beide mäuschenstill. Allmählich merkte ich aber, daß die Klagetöne von einem schwachen Kindermund ausgestoßen wurden. Beherzt machten wir uns nun auf, drangen durch eine Luke in die Kajüte und fanden richtig – –«
»Ein Kind?« rief Frau Wyllys in atemloser Erregung.
Der Matrose nickte. »Ein armes, kleines, schwaches Kind – und dicht dabei seine Wärterin. Die beiden unglücklichen Wesen waren halb verschmachtet – dazu kam noch die dumpfige Luft, in der das Paar Gott weiß wie lange schon gesteckt hatte – kurz und gut, wir schafften beide zu allererst an Deck, in frische Luft. Der kleine Knabe konnte kaum das Mäulchen mehr öffnen, um ein paar Tropfen Wasser mit Wein, die ich ihm einflößen wollte, hinunterzuschlucken. Die Wärterin aber, eine Schwarze, lag bereits in den letzten Zügen.«
»Mein Gott!« rief Frau Wyllys, von aufrichtigem Mitleid ergriffen.
»Und brachtet ihr denn nicht heraus, woher die armen Wesen gekommen waren?«
Der Matrose zuckte die Achseln. »Der Knabe war noch nicht alt genug, um uns durch einen längeren Vortrag über seine Herkunft, seinen Namen und seine bisherigen Lebensschicksale aufzuklären, die schwarze Wärterin aber starb gleich, nachdem wir sie an die frische Luft befördert hatten.«
»Aber gab euch denn das Schiff selbst nicht irgend welchen Anhaltspunkt?«
»Es war keine Zeit sich umzusehen, denn wir mußten das Fahrzeug rasch verlassen. Als wir nämlich wieder an Deck kamen, bemerkten wir, daß es sank.«
»Lieber Himmel – und der Knabe, was fingt ihr mit ihm an?« rief Frau Wyllys.
»Was jeder Christenmensch an meiner Stelle gethan haben würde; ich sagte zu meinem farbigen Freunde: ›Höre, mein Junge, das Bengelchen nehmen wir mit.‹ Und so geschah's. Schleunigst sprangen wir wieder in unser Boot. Eben wollten wir abstoßen, da plumpste etwas von oben herab gleichfalls in unser Fahrzeug. Es war der Hund – das letzte lebende Wesen an Bord. Mitleidig nahmen wir ihn mit. Einige Tage darauf mußten wir ihn aber schlachten, da uns alle andern Lebensmittel ausgegangen waren. Fette Mahlzeiten bekamen wir nicht ab – denn unser kleiner Mitpassagier entwickelte für sein Alter einen ganz erstaunlichen Appetit. Die Not hatte aber ein Ende, als wir schließlich eine der Inseln gewannen.«
»Nun, und gelang es euch dann, die Verwandten des Kleinen ausfindig zu machen?« forschte Frau Wyllys.
»Das war ganz und gar unmöglich. Der Junge plapperte nur ein paar Taufnamen, die uns nicht klüger machten, verriet uns, daß er Master Harry genannt werde – im übrigen tappten wir völlig im Finstern. Da er aber das, was er vorbrachte, englisch sagte, so wußten wir wenigstens, daß entweder England oder Amerika sein Vaterland war.«
»Aber hattet ihr denn nicht den Namen des Schiffes behalten?« fragte der Kapitän. »Das wäre doch das hauptsächlichste gewesen!«
Etwas verlegen kraute sich der Matrose hinterm Ohr. »Hätte man mir ihn genannt, so hätte ich ihn ganz gewiß behalten – er war aber leider nur in Buchstaben am Gallion des Schiffes aufgemalt, und das Gedruckte war nun einmal von jeher meine schwache Seite.«
»Und sonst hattet ihr gar keinen weiteren Anhalt?« forschte Frau Wyllys.
»O ja – auf dem Deck hatten wir einen schönen Wassereimer gefunden, den wir als Beute mitspazieren ließen. Und auf diesem stand ein Name. Während unserer Bootfahrt kamen wir auf den Gedanken, diesen Namen für alle Fälle festzuhalten. Also machte ich mich daran, die Buchstaben fein säuberlich, genau nach der Vorlage, auf den Arm meines schwarzen Freundes mit Schießpulver einzureiben; denn ich war schon immer ein Meister in der Kunst des Tättowierens.«
»Hat sich diese Malerei denn bis auf den heutigen Tag erhalten?«
»Das sollen Sie gleich selbst beaugenscheinigen!« sagte der Matrose, indem er den Neger herbeirief, der seinen Hemdsärmel bis zum Ellbogen zurückstreifen mußte.
Verwundert betrachtete das Paar die roh in die Haut eingegrabenen Buchstaben, die – mit einiger Mühe lesbar – den Namen darstellten: »Arche von Lynnhaven.«
»War dies der Name des Schiffes?« rief Frau Wyllys.
Der Matrose zuckte die Achsel. »Ich vermag es nicht zu sagen. Und auch der Kapitän unserer Proserpina, zu dem wir dann mitsamt dem rätselvollen Kleinen stießen, kannte ein Schiff solchen Namens nicht. Er stellte in allen Häfen Nachforschungen nach dem Schiff an – aber der damalige Orkan hatte wohl so viele Opfer gefordert, daß die Auswahl unter den vermißten Schiffen keine geringe war. Doch die Hauptsache war, daß der Knabe sich bei uns wohl fühlte. Er wurde bald der Liebling des Kapitäns – und gemeinsam mit ihm erzogen wir beide, der Schwarze und ich, als seine Pflegeväter den Jungen.«
Frau Wyllys lächelte ungläubig. »Ihr hättet ihn erzogen?«
»Trauen Sie unsereinem so etwas nicht zu?« fragte Richard Fid fast gekränkt. »Die höheren Wissenschaften erlernte er freilich vom Kapitän – das eigentliche Seemannshandwerk aber: Rudern, Steuern, Segelhissen, Wind- und Wetterkunde, brachten wir ihm bei. Und zum Kuckuck, Herr Kapitän, sagen Sie selbst – der Bengel – ich will sagen, der Master Harry – kann doch was, nicht wahr?«
Heidegger wollte gerade lächelnd in das Lob des biederen Matrosen einstimmen, als vom Mastkorb herab ein Ruf ertönte, der – wie immer in solch einsamen Gegenden – die ganze Besatzung in Bewegung brachte.
»Segel ahoi!« erklangs vom Lugaus – und »Segel ahoi!« so pflanzte sich der Ruf über das Deck und durch die Kojen im Schiffsinnern fort.