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In Athen hatte Xerxes verschiedene athenische Verbannte in ihre Vaterstadt zurückgerufen. Einer von ihnen, Dikaios, Sohn des Theokydes, war ein alter Freund des Demaretos, des verbannten Königs von Sparta. Sie waren zusammen an einem dieser Tage, die der kommenden Seeschlacht vorangingen, voll Wehmut umhergeirrt außerhalb Athens, gleich als könne der zurückgerufene Verbannte nicht atmen in jenem Athen, wohin ein persischer König ihn zurückrief aus großmütig scheinender Berechnung, gleich als könne der verbannte König, der sich mit einem feindlichen Heere Sparta näherte, ungeachtet allen vielleicht bald in Erfüllung gehenden Ehrgeizes neben dem athenischen Freunde nicht atmen. Die beiden Männer waren an den Abhängen des Berges Aigaleos, der sich wie eine Mauer zwischen Athen und Eleusis, der heiligen Stadt der Mysterien erhob, umhergeirrt in lebhaftem Gespräch über die Dinge des Tages, die hoffnungsvoll und nicht hoffnungsvoll waren, je nachdem sie sie ansahen, und waren in die thriasische Ebene gelangt. Die thriasische Ebene lag da wie eine hier dürre, heideähnliche, dort grasige Wüste mit langen wehenden Büscheln. Bevor sie in Athen eingezogen, waren die Perser darüber hingegangen. Auf diesen sandigen Wegen, in dieser felsigen Einöde fanden sich noch die Spuren ihres Marsches: Scherben von zerbrochenem Geschirr, wo sie ihr Lager gehabt, die Häute und Überbleibsel des geschlachteten Viehes, das sie verzehrt hatten. Hier und dort streckte die Ruine eines verbrannten Hauses oder Hofes ihre rußigen, zackigen Umrisse in die Luft, die blaugrau und schwül war. Es war eine Zeit der Erdbeben. Doch sie wurde sowohl von den Griechen wie von den Persern zu ihren eigenen Gunsten gedeutet. Die beiden Männer, Demaretos und Dikaios, waren weiter geirrt, als sie wollten, im eifrigen Gespräch mit weiten, gänzlich freien Gebärden in dieser Einsamkeit, in dieser Verlassenheit, die von allem Volk gemieden ward. Sie strauchelten über die Steine und durch den Sand und entfernten sich weiter von Athen, als ihnen bewußt war. Die Sonne ging hinter Eleusis unter. Die heilige Stadt mit dem langen Umriß ihres Demetertempels dunkelte mit düsteren Flächen dort in der Ferne. Geier schwebten umher.
»Wir müssen zurück«, sagte Dikaios. »So nahe sind wir schon bei Eleusis.«
»Es ist hier schaudererregend von Licht und Luft um uns her«, sagte Demaretos, während er um sich schaute. Plötzlich deutete er unmittelbar zu ihren Füßen auf etwas, das ihnen, bevor sie nahten, durch einen Felsblock verborgen gewesen war.
»Sieh!«
Er machte eine hindeutende Gebärde und klammerte sich an den Arm seines Freundes. Aber es war nur die Leiche einer Frau, die, grauenerregend, halb schon verschlungen war von den Raubvögeln.
»Nein! Sieh dort!« rief Dikaios und deutete selbst jetzt in die Ferne.
Die beiden Männer schauten aneinander geklammert aus. Es ging kein Wind, und doch näherte sich über die Ebene etwas wie eine ungeheure Staubwolke, wie wenn ein Heer sie bei seinem Aufmarsch aufgewirbelt habe. Allein es erklangen keine Stimmen, keine Schritte, bis plötzlich ... »Höre!« rief Dikaios. »Höre!«
Er stand verstummt, erstarrt, entsetzt. Demaretos begriff schaudernd noch nicht. Aber als er horchte, hörte er eine klare, singende Stimme.
»Singt denn dort jemand?« fragte er und vermochte seinen Ohren nicht zu trauen.
»Jemand singt da den Hymnus des Iakchos«, flüsterte Dikaios, der aufs äußerste entsetzt war ob des übernatürlichen Geheimnisses, das sich zu dieser späten Nachmittagsstunde vollzog, während der Himmel seltsam düster war und der blutige Sonnenuntergang durch die dichte Staubwolke hindurchschimmerte.
In der Tat erklang es mit feierlich mystischen Tönen von drüben her:
»Iakche, o Iakche!«
»Was bedeutet das?« fragte Demaretos.
»Weißt du das nicht?« fragte Dikaios. »Wurdest du niemals eingeweiht in die eleusinischen Mysterien?«
»Nein«, gestand Demaretos. »Sage mir ...«
»Es ist der heilige Hymnus, der gesungen wird am sechsten Tage der Mysterien, am zwanzigsten des Monats Boëdromion, wenn das Bildnis des Bakchos Iakchos einhergetragen wird. Daß wir ihn hören hier in dieser Ebene, in dieser verlassenen Ferne, ist entsetzlich. Denn dort, Demaretos, dort, in jener singenden Staubwolke, schreitet oder schwebt ein göttliches Wesen. Demaretos! Großes Unheil verkündet dies, Unheil für Xerxes. Sieh! Das dort bewegt sich von Eleusis fort.« Die Geier umschwärmten die Köpfe der Männer. »Wohin schwebt es?« fragte Demaretos und schaute ängstlich zu, während er sich an des Freundes Arm klammerte.
»Zu den Verbündeten«, sagte erklärend der, der in die elf Mysterien eingeweiht war. »Zweifellos, zweifellos zu den Verbündeten. Sieh doch das da, wie es schwebt! Wenn es zum Peloponnes schwebt, südwärts, wird das persische Landheer vernichtet werden.«
»Aber es schwebt nach Osten. Es schwebt nach Osten«, rief Demaretos und deutete hin.
»Dann«, rief Dikaios aus, »wird die Flotte des Xerxes bei Salamis vernichtet werden. Höre, wie der Hymnus heller erschallt!«
In der Tat sang es unerklärlich seltsam aus der treibenden Wolke:
»Iakche, o Iakche!«
Demaretos flüsterte, während er seine Hand noch immer um den Arm des Dikaios geklammert hielt, in der jetzt fallenden Dunkelheit:
»Dikaios! Sprich niemals hiervon! Weder ich noch du würde es jemals überleben.«
»Nein.«
»Sage es niemals, daß die Götter uns behüten, uns Verbannte ...! Und die Perser...«
Die beiden Männer flohen in die Ebene hinab. Sie strauchelten über die Steinblöcke. Die durch ihr Kommen aufgescheuchten Geier senkten sich auf die Leiche der Frau herab.