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XII.

Die »Dronning Marie« war kein neues Schiff, o nein, das war sie beileibe nicht!

Als Bark gebaut aus schwedischem Eichenholz, hatte ihr starkspantig breiter Rumpf so manchen Kampf mit den Wogen bestanden und ihrer Segel grauleinene Masse den Stürmen getrotzt aus Norden und Süden, wie deren Brüdern aus Ost und West.

Sie hatte die Meere der Welt befahren und Anker geworfen an allen Küsten, die dies- und jenseits der Linie liegend, dem Handelsverkehr ihre Häfen geöffnet. Kap Horn ward mehrfach von ihr umsegelt, wobei sie das letztemal, südwärts vertrieben, Bekanntschaft gemacht mit antarktischem Eis. Sie kannte Rio und Singapore, hatte Kapstadt gesehen, Valparaiso und Frisko und trug in Ehren die Wunden und Narben, die ihr der Feind und das Alter geschlagen, ohne daß sie noch je einen Unfall erlitten, der Mannschaft und Ladung Gefahr gebracht.

So war sie wohl selber nicht wenig erstaunt, als ihr, die, Kopenhagen verlassend, nach schneller Fahrt um Nord-Jütland herum die Nordsee durchlaufen bis zum Kanal, in einer Nacht auf der Höhe von Paimpol ein plumpes englisches Kohlenschiff mit voller Wucht in die Rippen rannte, daß Steuerbord unter dem Meeresspiegel die Planken sprangen, splitternd wie Glas, und unheimlich gurgelnd ein Wasserschwall sofort sich ergoß in das klaffende Leck.

Jens Lie, der die Steuerbordwache gehabt, war, eben abgelöst von Niels Skaffer, vor Nässe triefend von Deck geschlüpft und hatte sich in seine Koje verkrochen, als jener plötzliche Anprall erfolgte, der heftig die Bark auf die Seite warf.

Emporschnellend, ohne sich lang zu besinnen, raffte er hastig die Sachen zusammen, die von seinem Eigentum gerade zur Hand, und stürzte notdürftig nur bekleidet nach oben, indem er richtig sich sagte, daß das Geräusch, das herrührte von den planlosen Tritten verzweifelt wie Tiere umherlaufender Menschen ebenso wenig Gutes bedeute, wie die verstärkte Neigung des Schiffskörpers und jenes seltsam dumpfe Stöhnen, das durch den Druck einströmenden Wassers und durch nichts sonst zu erklären war.

An Deck gelangt, sah er zu seiner Genugtuung, wie wohl angebracht seine Eile gewesen. Denn unaufhaltsam sank die Bark, den Schnabel tief einbohrend in die Wellen, die lüstern plätschernd die Speigatten schon an der Steuerbordseite schäumend umspülten.

Inmitten des wilden Getümmels der anderen zur Mannschaft gehörigen Leute bedachte Jens Lie in aller Ruhe, was seiner Rettung am dienlichsten sei. Niels Skaffer, nach dem er vergeblich schrie, gab keine Antwort auf seine Rufe und mochte bereits als einer der ersten das sinkende Schiff verlassen haben, da er im Moment des Zusammenstoßes sich oben an Deck befunden hatte.

Es war eine warme Septembernacht. Der Himmel stand sternenlos, schwarz wie Achat. Ein schwüler Dunst lag über den Wogen, die, aufgeregt ihre Mähnen schüttelnd, die Luft erfüllten mit salzfeuchtem Wasserstaub.

Jens Lie, der, über die Reling gebeugt, mit scharfen Blicken das dunkle Tuch, gewoben aus Nebel und Finsternis, sekundenlang fruchtlos zu trennen bemüht war, wähnte endlich ein Stück weiter westwärts den Widerschein einer grünen Laterne zu sehen, der, schwach nur aufglimmend dann und wann, von Bord jenes Schiffes kommen mochte, das mitleidslos der »Dronning Marie« die tödliche Wunde beigebracht und das nun, da das Licht von der Stelle nicht wich, in geringer Entfernung beigedreht hatte, um Hilfe zu bringen, wenn Hilfe noch möglich.

Entschlossen, der Kraft seiner Arme zu trauen, ehe es zu spät und das schlingernde Wrack im Strudel ihn mit sich hinunterziehe, ließ sich Jens Lie an der Bordwand hinab und schwamm mit kurzen, energischen Stößen dem Punkte zu, an dem er zuletzt das rettungverheißende Leuchten bemerkt.

Und das ward sein Glück.

Denn geraume Zeit, nachdem er der Bark den Rücken gewandt, vernahm er ein fürchterlich zischendes Brausen, darauf den starken, dröhnenden Knall des vom Luftdruck gesprengten, berstenden Decks und das ferne Geschrei einer Menge von Menschen. Dann ward es still, wie es vorher war. Das Schweigen aber war das des Todes, der, auf den schillernden Kämmen reitend, die fahle Hand nach Jens Lie ausgestreckt als seiner ihm kaum mehr entrinnbaren Beute.

Doch anders kam es, wie er es gemeint.

Jens Lie, im Gedanken an Silke mit zwiefacher Stärke der Muskeln begabt, erblickte plötzlich durch Gischt und Dampf ein zweites, niedriger hängendes Licht, das, schnell sich nähernd, genau auf ihn zuhielt, und schickte aus halberstickter Lunge ein lautes Freudengebrüll herüber.

Sekunden später nahm ihn ein Boot der von Plymouth nach Brest bestimmten »Southampton« auf, die nach ihm noch acht Überlebende an der Stätte des Unglücks den Wellen entriß, um den ihr vorgeschriebenen Kurs in tunlicher Eile fortzusetzen, nachdem sie genügend sich überzeugt, daß der Rest der Mannschaft, darunter Niels Skaffer, mit der »Dronning Marie« auf den Grund gegangen. –

Das war's, was Jens Lie soeben erzählt den neugierig gaffenden, fremden Matrosen, die um ihn geschart in dichten Klumpen den Schenkraum der »Petite Jeanne« füllten, der besten Taverne im Hafen von Brest.

Er saß bequem hintenüber gelehnt auf einer der Bänke oben am Tisch und fühlte erst jetzt, da noch einmal die Nacht an seinem Auge vorüberzog, wie nahe er selber den Tod geschaut, dem Skaffer, sein Freund, und die anderen vielen nicht zu entrinnen im Stande gewesen.

Fast ward er versucht, für Traum und Spuk die Wahrheit der eigenen Rettung zu halten.

Doch hörte sein Ohr nicht das girrende Lachen der blauschwarzhaarigen Mädchen von Brest?

Sein Auge, erblickte es nicht ein Gewimmel von kniekurzen, flatternden Frauenröcken, von Seemannsstiefeln, breitschaftig, glänzend, einen Kranz von Gesichtern, jungen und alten, getaucht in grellrot flammendes Feuer, das perlend der Cidre erzeugt, das Getränk, mit dem der Bretone die Taufe erhält, zum Manne wird, dem er die Kraft verdankt, in dessen Rausch er die Weiber verführt, um schließlich mit eben demselben Cidre zum Schluß noch die Trauergesellschaft zu trösten, wenn er als der Gastgeber selber im Sarg sein fröhliches Dasein abgeschlossen?

Und aufjauchzend klang die Stimme Jens Lie's über all das trunkene Volk hinweg, als habe der Pulsschlag des Lebens erst, das um ihn schwang in brutaler Lust, ihn vollends jetzt dem Tode entrungen, dem er zur Hälfte noch angehört.

Er leerte sein Glas, das voll goldgelben Cidre, in langen, behaglich schlürfenden Zügen und wollte gerade ein zweites probieren, als jemand von rückwärts mit schwerer Hand zum Willkomm ihm auf die Schulter schlug.

»Halloh, Jens Lie!«

Jens Lie fuhr herum und sah Bernd Berndsen ins faltige Antlitz, der vielsagend grinsend den Mund verschob und, mit dem Kopf auf die Türe deutend, durch Zeichen ihm klar zu machen versuchte, daß er ihn draußen zu sprechen wünsche.

Jens Lie, der seine Grimassen verstanden, sprang auf von der Bank und, nachdem er gezahlt, ging er an der Seite des stämmigen Norwegers quer durch den Raum zur Taverne hinaus, nicht ohne daß manch ein brennender Blick unter Nachtschattenwimpern den Männern folgte, die durch ihre Größe und flachsfarbenen Mähnen so seltsam herausstachen aus der Schar der ihnen zum Hals nur reichenden, dunkelhaarigen Südländer.

Am Kai angelangt, der, aus Quadern von Stein, die riesigen Hafenbassins umgab, brach Bernd Berndsen endlich sein Schweigen.

»Siehst du den Schoner da vorn an der Boje?«

Jens Lie tat einen Schritt in der Richtung, die ihm Bernd Berndsen's Finger gewiesen.

»Der graue?«

»Jawohl!«

»Doch was ist mit ihm?«

Bernd Berndsen lachte sein stilles Lachen, das sie alle schon kannten, die mit ihm zusammen an Bord der »Dronning Marie« gewesen.

»Was mit ihm ist, mein Junge? Ha, ha! – Heißt ›Marguerite‹ und braucht noch zwei Mann, um seine Besatzung voll zu haben, bevor er in See geht nach Frederikshavn.«

Hell aufschreiend plötzlich begriff Jens Lie.

»Nach Frederikshavn?«

Das war ja die Heimat, bedeutete frühere Rückkehr zu Silke und eine gute Heuer daneben!

Und zuhörend kaum, was Bernd Berndsen ihm sagte über die List, durch die es gelungen, den Fang vor den andern geheimzuhalten, sprang er in das erste beste Boot, das gerade ihm in die Quere kam, und pullte hinüber zur »Marguerite« mit weit ausholenden, starken Schlägen, um nach einer halben Stunde Verlauf mit Bernd Berndsen am Ecktisch der »Petite Jeanne« ein Glas auf die glückliche Heimkehr zu trinken. Denn beide hatten ihr Ziel erreicht und zählten zur Mannschaft des kleinen Schoners, der in zehn Tagen etwa von heute die Reede von Brest verlassen sollte.

Zehn Tage von heute!

Jens Lie dachte nach, indem er zählend die Lippen bewegte.

Da konnte man also, wenn pünktlich man abfuhr und auf ihrer Route die »Marguerite« nicht allzuviel Häfen abklappern mußte, schon Mitte November in Strandby sein.

Eine seltsame Weichheit befiel ihn, den Mann, bei der Aussicht, in nicht allzuferner Zeit das Glück seiner Ehe aufs neue zu kosten und, Silke im Arm, an des Herdes Rotglut der brüllenden Winterstürme zu spotten.

Aber wenn nun irgend ein täppischer Zufall die Dauer der Reise verlängern würde, ein Zufall, wie ihn der Seemann stets der genauesten Berechnung zugute hält?

Bernd Berndsen war es, der die Frage aufwarf mit der ihm eigenen Trockenheit. Ernüchtert wiegte Jens Lie den Kopf.

»Man muß damit rechnen, freilich man muß.«

Ärgerlich biß er die Zähne zusammen, erzürnt fast ob Berndsens Schwerfälligkeit.

Dann war es wohl doch besser, Silke zu schreiben und nicht, wie geplant, sie zu überraschen durch eine unvermutete Heimkehr. Denn in dem Fall, den Bernd Berndsen meinte, konnte es Weihnachten werden womöglich, bevor er selber kam auf die Insel, und solange durfte Silke nicht der Nachricht harren, die er beim Abschied seinem einsamen Weibe zu senden versprochen.

Und nun, da dieser Entschluß in ihm feststand, verlor er keine Minute mehr. Das Postboot, das morgen fällig war, konnte den Brief, den er schreiben würde, mit größerer Schnelligkeit befördern, als sie der Schoner, die ›Marguerite‹, dem günstigsten Wetter abzwingen mochte.

Er ließ sich Tinte und Feder geben und malte mit ungelenken Fingern schwarzriesige Buchstaben auf das Papier, das ihm Bernd Berndsen beim Wirte besorgt. Er machte der schönen Worte nicht viel. Denn das lag nicht in seiner Art. Sprach kurz vom Schiffbruch der »Dronning Marie«, von seiner Rettung, von Skaffers Tod, von Brest und daß von Mitte November ab die »Marguerite« zu erwarten wäre, auf der er Heuer genommen nach Frederikshavn, wohin ihre Südweinladung bestimmt.

Dann überlas er noch einmal kurz, was er bisher zuwege gebracht, und schloß mit einigen einfachen Sätzen, in deren Hülle von Seemannsderbheit das weiche Gefühl seines Herzens sich barg.

Die Nachschrift endlich am Rande des Bogens ward zweimal unterstrichen von ihm, bevor er das Blatt zusammenkniff, und lautete in ihrer Fassung also:

»Die ›Marguerite‹ ist ein schlankes Schiff, trägt Schonertakelung, Farbe hellgrau, und führt – du kannst sie erkennen daran – einen roten Stender im Vordertopp.«

Das war der Inhalt des Briefs, den Jens Lie an Silke schrieb in der »Petite Jeanne«. Den Umschlag versah er mit mehreren Siegeln und trug das Ganze mit eigener Hand denselben Tag an Bord des Postbootes, das, wie man auf seine Fragen versicherte, der beste Segler im Hafen von Brest war.

Spät in der Nacht noch sah man Jens Lie an diesem Abend die Straßen durchschlendern. Sein Hirn war voll von lockenden Bildern. Silke erblickte er, Silke, sein Weib, die die Nachricht von seiner Rückkehr empfing, aufspringend, blaß vor übergroßer Freude.

Und ihre Blässe deuchte Jens Lie mit seltsamem Glanz die Augen zu blenden, daß er sie schloß, um, nach einer Weile sie öffnend, leise zu lachen über sich selbst.

Nein, wie das dumm war!

Das war ja der Mond, der satt und rund über dem Wellenbrecher hing, dem schaumflimmernd silberbesponnenen Riegel, den quer vor die seitlichen Molen des Handelshafens menschliche Kunst geschoben zur Abwehr des stürmenden Riesen »Ocean«.


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