Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

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18. Kapitel

Handelt wiederum von der Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn. – Einer der Teilhaber tritt unerwarteterweise aus dem Geschäfte aus

Eine Veränderung kommt selten allein. Wenn jemand, der an einen engen Kreis von Freuden und Leiden gewöhnt ist, aus dem er sich selten entfernt, nur einen Schritt darüber hinaus tut, gleich gibt sein Abgang von dem eintönigen Schauplatz, auf dem er vordem eine so wichtige Rolle spielte, das Signal zu einem großen Durcheinander. Als ob in die Lücke, die er gerissen, augenblicklich der Keil der Veränderung eindränge, um, was vorher feste Masse gewesen, zu zersplittern! Dinge, die durch jahrelange Gewohnheit aneinander gekittet und gebunden waren, brechen in ebenso vielen Wochen zusammen. Im Nu explodiert die Mine, mit der die Zeit langsam die Verhältnisse einer Familie untergraben hat, und was zuvor Fels gewesen, ist plötzlich eitel Sand und Staub. Die meisten Menschen haben wohl schon in ihrem Leben derartige Erfahrungen gemacht. Bis zu welchem Grade die Gesetze der Veränderung ihre Herrschaft in dem beschränkten Wirkungskreis geltend machten, den Martin verlassen hatte, das soll jetzt getreulich auf diesen Seiten berichtet werden.

»Was das nur wieder für ein kaltes Frühjahr ist«, klagte der alte Anthony und rückte näher an das abendliche Kaminfeuer. »Es war doch wärmer um die Zeit, als ich jung war.«

»Lächerlich. So oder so, jedenfalls hast du nicht nötig, dir Löcher in den Rock zu brennen«, bemerkte Jonas liebevoll, seine Blicke von der gestrigen Zeitung erhebend. »Das Tuch ist nicht so billig, als daß man es nur so verschleudern könnte.«

»Ein tüchtiger Junge!« rief der Alte, hauchte in seine erfrorenen Hände und rieb sie zitterig aneinander, um sich zu erwärmen. »Ein gescheiter Junge! Niemals hat er sich der Kleiderfexerei hingegeben. Nein, nein, das muß man sagen. Alles, was recht ist.«

»Es kommt nur zu teuer, sonst hätt ich's schon getan«, sagte Jonas und griff wieder nach dem Zeitungsblatt.

»Ja, ja«, kicherte der alte Mann, »wenn's nicht so teuer wäre! Wenn's umsonst wäre. – Aber es ist sehr kalt hier.«

»Laß das Feuer in Ruhe!« rief Mr. Jonas, seinen würdigen Vater im Gebrauch des Schürhakens unterbrechend. »Willst du vielleicht in deinen alten Tagen noch zum armen Manne werden, daß du so zu wüsten anfängst?«

»Dazu ist keine Zeit mehr, Jonas«, sagte der Greis.

»Keine Zeit zu was?«

»Um ein armer Mann zu werden.– Ich wollte, ich wäre jünger.«

»Ja, ja, du warst von jeher ein egoistischer Filz«, murmelte Jonas mit einem zornigen Blick. »Das war dir wieder einmal aus der Seele gesprochen. Möchtest dir nichts draus machen, in Not zu kommen, wenn du nur jünger wärst; was? Aber das eigene Fleisch und Blut dürfte in Not geraten, und du würdest dir den Teufel was daraus machen, alter Halunke!«

Nach diesem kindlichen Selbstgespräch nahm er seine Teetasse zur Hand, denn sie saßen gerade bei einem derartigen Mahle, und Vater, Sohn und Chuffey nahmen teil daran. Dann sah er seinen Erzeuger fest an und fuhr laut, seinen Tee dabei auslöffelnd, fort:

»Ja, ja! Not! Das wäre mir das Rechte. Du bist mir ein feiner Hecht, jetzt noch von Armut und Not zu sprechen. Du sagst, es ist keine Zeit mehr dazu. Das ist richtig. Gott sei Dank! Am liebsten würdest du wahrscheinlich noch ein paar Jahrhunderte leben, wenn du könntest, und noch immer nicht damit zufrieden sein. – Ja, ja, ich kenne dich.«

Der alte Mann seufzte und saß noch immer kauernd vor dem Kaminfeuer. Mr. Jonas schüttelte wütend seinen Teelöffel aus Britanniametall nach ihm und fuhr dann fort, auch noch von höherem Gesichtspunkt aus seine moralischen Gründe zu erörtern.

»Wenn du schon so denkst«, brummte er, »warum trittst du mir dann bei Lebzeiten nicht deinen Besitz ab und begnügst dich mit einer kleinen Jahresrente? Aber das wäre ja liebevoll gegen mich gehandelt, und das paßt dir natürlich nicht. Ich an deiner Stelle würde mich vor mir selbst schämen. Ich würde mich vor Scham wahrscheinlich unter die Erde verkriechen.«

Damit meinte er vermutlich ein Grab, eine Gruft, ein Mausoleum oder einen Friedhof oder sonst etwas, was er sich in seiner kindlichen Liebe beim wahren Namen zu nennen scheute. Er verfolgte das Thema indessen nicht weiter, denn Chuffey, der aus seiner Kaminecke heraus entdeckt haben mochte, daß Anthony zu horchen und Jonas zu sprechen scheine, rief plötzlich begeistert:

»Er ist wirklich Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit, ganz Ihr leiblicher Sohn, Sir.«

Er ließ sich dabei wohl kaum träumen, welch tiefer Sinn in seinen Worten lag oder wie sie bei der bitteren Satire, die sie enthielten, dem alten Mann ins Herz hätten schneiden müssen, hätte er geahnt, was dessen Sohn soeben vor sich hingemurmelt. Die lauten Worte Chuffeys weckten den Greis auf.

»Ja, ja, Chuffey, Jonas ist ein echtes Reis vom alten Stamm. – Es ist ein recht alter Stamm jetzt, Chuffey«, sagte Anthony mit seltsamer Unruhe in der Stimme.

»Ja, ja, verdammt alt«, höhnte Jonas beiseite.

»Nein, nein, nein«, rief Chuffey »nein, Mr. Chuzzlewit, gar nicht alt, Sir.«

»Es ist rein nicht mehr auszuhalten mit dem Kerl«, rief Jonas unwillig. »Meiner Seel, Vater, er wird schon wirklich ekelhaft. – Warum hält er nicht das Maul.« »Er sagt, Sie hätten unrecht«, rief Anthony dem alten Buchhalter zu.

»Pst, pst«, flüsterte Chuffey. »Ich weiß das besser, ich sage, er hat unrecht. Ja, ich sage: er hat unrecht. Er ist ein Knabe. Ja, ja, das ist er. Und auch Sie, Mr. Chuzzlewit, sind so ein Art Knabe! Ha, ha, ha! Gegen viele, die ich gekannt habe, sind Sie wirklich noch ein Knabe. Gegen mich und viele Hunderte von uns sind Sie ein Knabe. Kehren Sie sich nicht daran, was er sagt.«

Nach dieser außerordentlichen Rede – denn für Chuffey war dies ein geradezu beispielloser Ausbruch von Beredsamkeit – zog der arme alte Schemen von einem Buchhalter die Hand seines Prinzipals durch seinen gelähmten Arm, hielt sie dort fest und faltete seine eigene darauf, als wolle er ihn liebevoll verteidigen.

»Ich werde täglich tauber, Chuffey«, sagte Anthony mit so viel Weichheit oder, besser gesagt, mit so wenig Rauheit, als ihm überhaupt möglich war.

»Nein, nein«, rief Chuffey, »nein, das werden Sie nicht. Übrigens wenn auch, ich bin doch seit zwanzig Jahren taub.«

»Ich werde auch immer blinder«, klagte der alte Mann, traurig den Kopf schüttelnd.

»Das ist ein gutes Zeichen«, rief Chuffey, »ha, ha, das beste Zeichen, das man sich nur wünschen kann. Sie haben früher viel zu gut gesehen.«

Dabei tätschelte er Anthony sachte auf die Hand, wie man etwa ein Kind liebkost, zog sie noch weiter durch einen Arm und drohte mit zitterigem Finger nach der Stelle hin, wo Jonas saß. Da jedoch Anthony still und stumm blieb und kein Wort sprach, ließ er sie allmählich los und versank in seine gewohnte Stumpfheit. Nur von Zeit zu Zeit streichelte er den Rock seines alten Prinzipals, wie um sich zu überzeugen, daß er noch immer neben ihm sitze.

Mr. Jonas war so außer sich vor Erstaunen über dieses Vorgehen des stumpfsinnigen Buchhalters, daß er fortwährend die beiden Greise anstarrte, bis der eine wieder in seinen gewöhnlichen Geisteszustand und der andere in Schlummer versunken war; dann machte er seinem Gefühl ein wenig Luft, indem er zu Chuffey hinging und mit der geballten Faust eine Pantomime vor seiner Nase aufführte, als wolle er ihm das Lebenslicht ausblasen.

»So treiben sie es jetzt schon zwei oder drei Wochen«, murmelte er dabei nachdenklich, »ich habe mein Lebtag nicht gesehen, daß mein Vater je soviel Notiz von ihm nahm wie jetzt. – Willst du vielleicht erbschleichen, alter Chuff, was?«

Aber der alte Buchhalter ahnte so wenig von diesen Gedanken wie von der körperlichen Nähe von Mr. Jonas' geballter Faust, die zärtlich über seinem Haupte schwebte. Nachdem Jonas ihn sattsam angegrinst, nahm er die Kerzen vom Tisch, ging in die kleine Schreibstube mit der Glastür und zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche. Dann öffnete er ein geheimes Schubfach, spähte jedoch dabei verstohlen ins andere Zimmer, um sich zu überzeugen, ob die beiden Alten auch noch immer vor dem Feuer säßen.

»Alles in Ordnung, wie immer«, brummte er, lehnte den aufgeschlagenen Pultdeckel an seinen Kopf und faltete ein Papier auseinander. »Da ist das Testament, Mister Chuff. Dreißig Pfund jährlich zu deinem Unterhalt, alter Junge, alles übrige dem Haupterben Jonas Chuzzlewit. Brauchst dich nicht zu bemühen und zärtlich zu sein, kriegst darum keinen Penny mehr. – – Was war das?«

Überrascht war er zusammengefahren. Und zwar mit Recht, denn ein Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe blickte neugierig in die Schreibstube herein, jedoch nicht auf ihn, sondern auf das Papier in seiner Hand. Eine Sekunde später blickten die Augen auf und sahen ganz so aus wie die Mr. Pecksniffs.

Jonas ließ den Pultdeckel mit lautem Geräusch niederfallen, vergaß aber selbst in dieser Überraschung nicht, zuzuschließen, und blickte blaß und atemlos das Phantom an, das gleich drauf die Tür öffnete und eintrat.

»Was gibt's?« rief Jonas zurückfahrend. »Wer ist da? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie?«

»Was es gibt?« rief Mr. Pecksniffs Stimme.

Einen Augenblick später stand der würdige Architekt in der Stube.

»Ich komme Sie besuchen, Mr. Jonas.« »Was spionieren Sie hier herum?« fauchte Jonas zornig. »Was soll das heißen, so mir nichts, dir nichts nach London zu kommen und einen so unversehens zu überfallen? – Es ist doch wirklich zu arg, daß man nicht einmal die – die Zeitung in seinem eigenen Bureau lesen kann, ohne nicht von Leuten erschreckt zu werden. – Warum haben Sie nicht angeklopft?«

»Ich habe es doch getan, Jonas«, entschuldigte sich Pecksniff freundlich, »aber Sie haben mich nicht gehört. Ich war neugierig«, fügte er milde hinzu und legte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes, »was Sie da eigentlich läsen, aber das Glas war zu trübe und schmutzig.«

Jonas blickte hastig nach den Fensterscheiben, die allerdings nicht sehr sauber waren; soweit schien also alles in Ordnung zu sein.

»War's vielleicht Poesie?« fuhr Mr. Pecksniff fort und drohte dem jungen Mann scherzhaft mit dem Finger. »Oder Politik oder vielleicht der Kurszettel der Staatspapiere, oder haben Sie Lose nachgesehen? Haben Sie vielleicht gar das große Los gewonnen, wie?«

»Na, weit haben Sie nicht danebengeschossen«, antwortete Jonas sich fassend und schneuzte die Kerze. »Was zum Henker kommen Sie übrigens so unangemeldet nach London? – Schockschwerenot, da soll der Mensch nicht erschrecken, wenn er sich plötzlich von jemandem angestiert sieht, den er sechzig oder siebzig Meilen weit weg wähnt.«

»Glaub's gerne«, lachte Mr. Pecksniff, »zweifle keinen Augenblick daran, mein lieber Jonas. – Der menschliche Geist – – –«

»Was geht mich der menschliche Geist an«, fuhr Jonas ungeduldig auf. »Was führt Sie hierher?«

»Eine kleine Geschäftssache«, antwortete Mr. Pecksniff, »die mir ganz unerwartet in den Wurf kam.«

»So? Weiter nichts? Gut. – Der Vater ist im Nebenzimmer. Heda, Alter, Pecksniff ist hier!« rief Jonas ärgerlich und schüttelte seinen würdigen Erzeuger hin und her. »Hörst du denn nicht? Pecksniff ist hier! Dummkopf!«

Die vereinigte Wirkung des Rüttelns und der liebevollen Anrede weckte endlich den alten Mann. Kichernd hieß er Mr. Pecksniff willkommen, einesteils erfreut, ihn hier zu sehen, andererseits erheitert durch die Erinnerung, ihn einen Heuchler genannt zu haben. Wie sich herausstellte, war Mr. Pecksniff erst eine Stunde in London und hatte noch keinen Tee getrunken. Er wurde daher gastfreundlich aufgefordert, sich an den Überresten des Mahles und mit einer Schinkenpastete zu erquicken. Jonas gab vor, in der nächsten Straße ein Geschäft zu haben, und entfernte sich mit dem Versprechen, wieder zurückzukommen, ehe noch der Gast mit seinem Imbiß fertig sei.

»Und jetzt, mein werter Herr«, wendete sich Mr. Pecksniff an Anthony, »jetzt, wo wir allein sind, bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie von mir wünschen. Ich sage ›allein‹, weil ich annehme, daß unser werter Freund, Mr. Chuffey hier, metaphorisch gesprochen – wie soll ich sagen – äh, –, ein Strohmann ist«, setzte er mit seinem süßesten Lächeln, den Kopf auf die Seite geneigt, hinzu.

»Er sieht uns weder, noch hört er uns«, erwiderte Anthony.

»Also gut. Dann bin ich so frei zu wiederholen, natürlich mit der lebhaftesten Sympathie für seine Leiden und der größten Bewunderung für seine ausgezeichneten Eigenschaften, die seinem Herzen wie seinem Kopf gleiche Ehre machen, daß er also wirklich ein sogenannter Strohmann ist. – – Sie wollten also eben bemerken, mein lieber Herr –«

»Ich wollte gar nichts bemerken«, knurrte der alte Mann.

»Aber ich«, sagte Pecksniff aufgeräumt.

»Also schießen Sie los! Was war es?«

»Daß ich niemals im Leben«, begann Mr. Pecksniff, stand aber vorher auf, um sich zu versichern, ob die Türe auch wirklich verschlossen sei, und stellte dann seinen Stuhl so, daß sie auch nicht einen Zoll weit geöffnet werden konnte, ohne daß man es sofort gemerkt hätte – »also, daß ich noch nie in meinem Leben durch etwas so überrascht wurde wie gestern durch Ihren Brief. Daß Sie mir die Ehre erwiesen, eine Beratung mit mir zu wünschen, setzt mich in Erstaunen. Daß Sie aber diese Beratung selbst mit Ausschluß Mr. Jonas' wünschten, das beweist einen Grad von Vertrauen gerade zu mir, dem Sie einstmals eine Beleidigung, und zwar eine schwere, angetan – eine Beleidigung allerdings bloß in Worten, und Sie haben sich beeilt, sie gutzumachen –, einen Grad von Vertrauen, wiederhole ich, der mich erfreut, der mich rührt, der mich tief erschüttert hat.«

Pecksniff war immer ein aalglatter Sprecher gewesen, aber diese kurze schwungvolle Anrede gab er besonders ölig und fließend von sich. Er hatte sich aber auch die größte Mühe gegeben, sie auf der Herfahrt nach London gehörig zu memorieren.

Vergeblich wartete er jetzt auf eine Antwort, denn der alte Anthony blieb in tiefstem Schweigen und mit vollkommen ausdrucksloser Miene sitzen. Auch schien er nicht den mindesten Wunsch zu fühlen, die Unterhaltung fortzusetzen, trotzdem Mr. Pecksniff mehrere Male nach der Türe blickte, seine Uhr herauszog und durch andere Gesten zu verstehen gab, daß seine Zeit bemessen sei und Jonas, wenn er Wort halte, bald zurückkehren müsse. Aber das Sonderbarste in diesem kuriosen Benehmen war, daß plötzlich und ohne ersichtlichen Grund die Züge Anthonys ihren alten Ausdruck annahmen. Leidenschaftlich schlug er mit der Hand auf den Tisch und rief, als ob gar keine Pause stattgefunden hätte:

»Wollen Sie nicht endlich den Mund halten, Sir, und mich ausreden lassen?«

Mr. Pecksniff erwiderte die Grobheit mit einem geschmeidigen Bückling und murmelte:

»Aha, also doch! Schon gestern fiel mir auf, wie zitterig seine Schriftzüge waren. Es ist eine Veränderung in ihm vorgegangen.«

»Jonas ist verliebt in Ihre Tochter, Pecksniff«, stieß der alte Mann in seinem gewöhnlichen barschen Ton hervor.

»Wenn ich nicht irre, so sprachen wir schon bei Mrs. Todgers darüber«, versetzte höflich Mr. Pecksniff.

»Sie brauchen nicht so laut zu sprechen«, schrie Anthony, »ich bin nicht taub.«

Allerdings hatte Mr. Pecksniff ziemlich laut gesprochen, aber nicht deswegen, weil er glaubte, Anthony sei taub, sondern weil er annahm, sein Begriffsvermögen fange an nachzulassen. Der rasche Tadel seines doch so wohl überlegten Vorgehens verblüffte ihn jetzt so sehr, daß er gar nicht wußte, was sagen, und daher nur mit einer zweiten geschmeidigen Verbeugung antwortete.

»Ich habe gesagt«, wiederholte der alte Mann, »daß Jonas in Ihre Tochter verliebt ist.«

»Ein entzückendes Mädchen, Sir«, murmelte Pecksniff, als er bemerkte, daß Anthony auf Antwort wartete; »ein entzückendes Mädchen, Mr. Chuzzlewit, obwohl ich als Vater es eigentlich nicht sagen sollte.«

»Sie bilden sich's aber doch ein«, fuhr der alte Mann auf und streckte sein eingefallenes, schmalwangiges Gesicht wenigstens um eine Elle vor.

»Wozu die Komödie? Warum heucheln Sie denn schon wieder?«

»Aber mein werter Herr«, remonstrierte Mr. Pecksniff.

»Nennen Sie mich nicht immer ›werter Herr‹«, grollte Anthony. »Tun Sie nicht, als ob Sie ein Ehrenmann wären. Wenn Ihre Tochter wirklich so wäre, wie Sie mir einreden wollen, würde sie zu Jonas gar nicht passen. So wie sie ist, denke ich, paßt sie noch am besten für ihn. Was wäre, wenn er ein Frauenzimmer heiratete, das dann schließlich liederlich wird, Schulden macht und sein Vermögen durchbringt? Wenn ich einmal nicht mehr sein werde –«

Sein Gesicht veränderte sich so schauerlich, als er diese Worte aussprach, daß Mr. Pecksniff seinen Blick rasch von ihm abwandte.

»– und den Gedanken hätte mit hinübernehmen müssen, daß es so ist, so wäre das schlimmer, als wenn ich noch lebte und müßte es mitansehen. Eine unerträgliche Qual, wissen zu müssen, daß zum Fenster hinausgeworfen wird, was ich unter so viel Mühe und Entbehrungen zusammengerafft habe. – Nein«, fuhr er mit erstickter Stimme fort, »das wenigstens soll mir erspart bleiben. Wenn ich schon gehen muß, so soll wenigstens etwas gerettet und gewonnen sein.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, flötete Mr. Pecksniff, »das sind krankhafte und ganz unnötige Grillen, ich versichere Ihnen. Ich fürchte, Sie sind krank, mein werter Herr.«

»Jedenfalls liege ich nicht im Sterben«, knurrte Anthony wütend. »Nein, noch nicht. Ich fühle, ich habe noch viele Jahre zu leben. Schauen Sie sich einmal den da an«, dabei deutete er auf den gebrechlichen Buchhalter. »Der Tod hat kein Recht, mich niederzumähen und ihn zurückzulassen.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch die Erregung des alten Mannes so eingeschüchtert, daß er nicht einmal Geistesgegenwart genug besaß, einen Brocken Moral aus dem großen Magazin in seiner Brust herauszufischen, und stotterte deshalb, ohne Zweifel sei es recht und billig, daß Mr. Chuffey zuerst in die Grube fahre und gewiß selbst – – nach allem, was er von ihm gehört und nach dem wenigen, was er von ihm wisse, zu schließen – – einsehen werde, wie schicklich es sei, es so bald wie möglich zu tun.

»Kommen Sie«, unterbrach Anthony und winkte ihn näher heran. »Jonas ist mein Erbe. Er wird einmal sehr reich sein und wäre ein guter Schwiegersohn für Sie, das wissen Sie so gut wie ich. – – Jonas ist verliebt in Ihre Tochter.«

»Ich weiß, ich weiß«, dachte Mr. Pecksniff. »Er hat mir's doch oft genug gesagt.«

»Er könnte eine Reichere heiraten als sie, aber Ihre Tochter wäre die Frau danach, das zusammenzuhalten und zu behüten, was sie beide besitzen werden. Sie ist nicht mehr jung und auch nicht leichtsinnig und aus einem guten, harten, geizigen Stamm entsprossen. Aber spielen Sie kein zu feines Spiel! Sie hält ihn nur an einem Faden, und wenn man ihn zu fest anzieht – – ich kenne Jonas – –, so reißt er. Binden Sie ihn fest, wenn er in der richtigen Stimmung ist, Pecksniff, binden Sie ihn fest! Ihr Spiel ist zu fein; und wenn Sie so fortmachen, entwischt er Ihnen im letzten Augenblick. – – Ich bitte Sie, machen Sie kein solches Gesicht, Sie Aal, ich habe doch Augen, um zu sehen. Glauben Sie wirklich, ich hätte von Anfang an nicht bemerkt, wie Sie nach ihm geangelt haben?«

»Ich möchte doch wissen«, brummte Pecksniff mit einem pfiffigen Blick auf den Alten, »ob das alles ist, was er mir zu sagen hat.«

Aber der alte Anthony murmelte nur, sich die Hände reibend, stumpfsinnig vor sich hin, daß es kalt sei usw., zog seinen Sessel vor das Kaminfeuer, kehrte ihm den Rücken, ließ sein Kinn auf die Brust sinken und hatte augenscheinlich in der nächsten Minute die Anwesenheit seines Gastes ganz vergessen. So abgerissen und ungenügend auch diese kurze Besprechung gewesen war, so enthielt sie doch für Mr. Pecksniff eine Andeutung, die ihn, wenn er auch weiter nichts erfahren sollte, für seine Hin- und Herfahrt völlig schadlos hielt. Aus Mangel an Gelegenheit hatte er nie die Tiefen von Mr. Jonas' Wesen erforschen können, und jedes Rezept, wie er ihn zu behandeln habe, mußte für ihn von großem Werte sein. Das Einnicken Anthonys benutzend, machte er sich jetzt über die Erfrischungen her und trachtete durch allerlei scharfsinnige und auf Erregung von Aufmerksamkeit berechnete Mittel, wie zum Beispiel Husten, Schneuzen, Klappern mit den Tassen, Wetzen der Messer, geräuschvolles Niederlegen des Brotlaibes usw. den Alten wieder aufzuwecken. Aber alles war vergeblich, und Mr. Jonas kehrte zurück, ohne daß sein Vater wieder ein Wort gesprochen hätte.

»Was? Der Alte schläft schon wieder?« sagte Jonas und hängte seinen Hut auf. »Und wie er schnarcht, es ist unglaublich!«

»Ja, ja, er schnarcht sehr kräftig«, bestätigte Mr. Pecksniff.

»Kräftig?« wiederholte Jonas. »Ja, das muß man ihm lassen; er schnarcht für sechse.«

»Wissen Sie auch, Mr. Jonas«, säuselte Pecksniff, »daß es mir vorkommt, als ob Ihr Vater – erschrecken Sie nicht – marastisch wird?«

»So, glauben Sie?« höhnte Jonas. »Sie haben keine Idee, wie zäh der ist. Oh, der ist noch weit vom Abkratzen.«

»Es fiel mir auf, daß er sich stark verändert hat, sowohl in seinem Aussehen wie in seinem Benehmen«, bemerkte Mr. Pecksniff.

»So? Weiter nichts?« entgegnete Jonas und setzte sich mit verdrießlichem Blick nieder. »Und ich kann Ihnen sagen, er hat sich niemals besser befunden als gerade jetzt. Wie geht es übrigens zu Hause? Was macht Charitas?«

»Blüht und gedeiht, Mr. Jonas.«

»Und die ›andere‹? Wie geht's der?«

»Oh, der kleine Schmetterling!« rief Mr. Pecksniff in zärtliches Sinnen verloren. »Sie ist wohl – sie befindet sich wohl. Schwärmt vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer wie eine Biene, flattert vom Bett zum Spiegel wie der Schmetterling, taucht ihr Schnäbelchen in unsern Johannisbeerwein wie der Kolibri. Ach! Wäre sie nur etwas weniger leichtsinnig und hätte sie nur die gediegenen Eigenschaften von Cherry, mein Freund.«

»Ist sie denn so leichtsinnig?« fragte Jonas.

»Nun – nun«, begütigte Mr. Pecksniff gefühlvoll, »ich will nicht ungerecht sein gegen mein Kind. Aber neben ihrer Schwester Cherry allerdings erscheint sie so. Was ist das übrigens für ein merkwürdiges Geräusch, Mr. Jonas?«

»Es wird was in dem Werk nicht in Ordnung sein, glaube ich«, sagte Jonas mit einem Blick auf die Wanduhr. »Die ›andre‹ ist also nicht ihr Liebling, was?«

Mr. Pecksniff wollte eben etwas Zärtliches sagen und hatte bereits sein Gesicht in innige Falten gelegt, als sich derselbe seltsame Ton plötzlich wieder hören ließ.

»Wahrhaftig, Mr. Jonas, das ist aber eine höchst merkwürdige Uhr«, rief er.

Er hätte allerdings recht gehabt, wenn das wunderliche Geräusch von ihr ausgegangen wäre, es war aber ein anderer Zeitmesser, der sich hier vernehmen ließ und rasch ablief.

Ein Schrei, der noch hundertmal schrecklicher klang, weil er aus dem Munde des sonst so schweigsamen Mr. Chuffey kam, lief durch das Haus. Und als sich beide erschreckt umsahen, bemerkten sie, wie Anthony Chuzzlewit ausgestreckt auf dem Boden lag und der alte Buchhalter neben ihm kniete.

Der Greis war von seinem Stuhle heruntergesunken und lag jetzt da, nach Atem ringend, und jede Sehne und jede Ader trat deutlich auf seinem hagern Gesicht hervor. Es war fürchterlich mitanzusehen, wie das Lebensprinzip, in diese welke Form eingeschlossen, gleich einem kraftvollen Dämon nach Erlösung rang und mit äußerster Gewalt sein altes Gefängnis zu zerreißen bemüht war.

Schon bei einem jungen Mann in der Fülle der Kräfte hätte ein solcher Verzweiflungskampf etwas Entsetzliches an sich gehabt, aber bei einem Greise, dessen welker, elender Körper jede der ungestümen Bewegungen seiner Glieder Lügen strafte, hatte das Schauspiel etwas geradezu Grauenhaftes. Man richtete den Kranken auf, und der in aller Eile geholte Wundarzt ließ ihn zur Ader und verordnete ihm einige Arzneimittel. Aber der Anfall währte so lange, daß es bereits Mitternacht vorbei war, als man Anthony – jetzt zwar ruhig, aber ganz bewußtlos und erschöpft – zu Bett brachte.

»Gehen Sie nicht«, flüsterte Jonas mit aschfahlen Lippen über das Bett hinüber Mr. Pecksniff ins Ohr. »Es war ein Glück, daß Sie zugegen waren, als der Anfall über ihn kam, man hätte es sonst vielleicht für mein Werk gehalten.«

»Für Ihr Werk?« rief Mr. Pecksniff.

»Was weiß man denn, was die Leute alles reden werden«, keuchte Jonas und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Wie sieht er jetzt aus?«

Mr. Pecksniff schüttelte den Kopf.

»Ich mache nicht gern Spaß, wissen Sie, Pecksniff, aber ich – ich habe nie seinen Tod herbeigewünscht. Glauben Sie, daß es sehr gefährlich ist?«

»Der Doktor behauptet es, Sie haben's doch selbst gehört«, war Mr. Pecksniffs Antwort.

»Ach, das sagt er ja nur, um uns eine höhere Rechnung schreiben zu können, falls er ihn durchbringt«, meinte Jonas. »Sie dürfen jetzt nicht fortgehen, Pecksniff. Da es so weit mit ihm gekommen ist, möchte ich nicht ohne Zeugen sein. Nicht für tausend Pfund.«

Chuffey hörte und sprach kein Wort. Er hatte sich neben dem Bett in einen Stuhl gesetzt und blieb dort regungslos sitzen, nur hin und wieder beugte er den Kopf über das Kissen und schien zu lauschen. So trieb er es ohne Unterlaß fort. Einmal erwachte Pecksniff in der Nacht nach einem kurzen Schlummer mit dem wirren Eindruck, er habe ihn beten hören, aber es kam ihm so vor, als ob sich in die Gebete seltsamerweise Ziffern und Zahlen gemischt hätten.

Jonas saß gleichfalls die ganze Nacht über da, aber nicht an einer Stelle, wo ihn sein Vater, falls ihm das Bewußtsein zurückgekehrt wäre, hätte sehen können, sondern sozusagen versteckt und den Stand der Dinge nur aus Pecksniffs Augen ablesend. Er, der rohe Bursche, der das ganze Haus so lange tyrannisiert hatte, war jetzt ein feiger Köter geworden, der sich nicht zu rühren wagte und dermaßen am ganzen Leibe zitterte, daß sogar sein Schatten an der Wand ruhelos herumzuckte.

Es war bereits hellichter Tag, als sie, den alten Buchhalter bei dem Kranken zurücklassend, zum Frühstück hinuntergingen. Die Leute eilten auf der Straße hin und her, Fenster und Türen wurden geöffnet, Taschendiebe und Bettler nahmen ihren gewohnten Standort ein, die Arbeiter gingen an ihr Werk, die Handelsleute schlossen ihre Läden auf, Detektive und Konstabler lagen auf der Lauer, alle Arten von menschlichen Wesen mühten sich, jedes auf seine Weise, um ihren mühseligen Lebenserwerb ab, und der alte Mann auf seinem Sterbebett kämpfte so wütend um jedes Sandkorn in seinem schnell ablaufenden Stundenglase, als gälte es ein Königreich.

»Wenn etwas passiert, Pecksniff«, sagte Jonas, »so müssen Sie mir versprechen, hierzubleiben, bis alles vorüber ist. Sie sollen sehen und Zeuge sein, daß ich nichts tue, was man irgendwie mißdeuten könnte.«

»Ich weiß das, Mr. Jonas«, beruhigte ihn Mr. Pecksniff.

»Ja ja, aber ich will nicht, daß jemand daran zweifelt; niemand darf auch nur eine Silbe gegen mich sagen. Ich sehe es kommen, wie die Leute schwatzen werden, gerade, als wenn er nicht ein alter Mann wäre oder als ob ich das Geheimnis besäße, ihn für ewige Zeiten am Leben zu erhalten.«

Mr. Pecksniff versprach zu bleiben, und sie beendigten gerade schweigend ihr Frühstück, als plötzlich eine so geisterhafte Erscheinung vor ihnen auftauchte, daß Jonas laut aufschrie und beide vor Grausen zurückfuhren.

Der alte Anthony selbst war es, der jetzt in seinen gewöhnlichen Kleidern in der Stube stand – gerade vor dem Tisch. Er stützte sich auf seinen alten Buchhalter, und auf seinem bläulichen Gesicht, auf seinen blassen erstarrten Händen, in seinen gläsernen Augen und auf seiner Stirn stand von dem Finger der Ewigkeit das eine Wort geschrieben: Tod.

Er sprach, und seine Stimme klang scharf und hohl. Fast geisterhaft. Was er sagen wollte, weiß nur Gott. Es schienen Worte zu sein, was er hervorbrachte, aber keines Menschen Ohr hatte je dergleichen vernommen. Es war etwas Furchtbares, ihn so dastehen zu sehen und in einer Sprache lallen zu hören, die nicht mehr von dieser Welt war.

»Es geht ihm jetzt wieder besser«, erklärte Chuffey, »weit besser. Wenn man ihn in seinen alten Stuhl setzt, wird es ihm wieder wohler werden. Ich sagte ihm, es wäre nichts. Ich habe es ihm schon gestern gesagt.«

Dann setzten sie den Sterbenden in einen Armstuhl und rollten ihn ans Fenster. Sie machten die Türe auf und das Fenster, um ihn die frische Morgenluft genießen zu lassen, aber nicht alle Luft zwischen Himmel und Erde, und nicht alle Winde, die je über Erde und Meer gerauscht sind, hätten ihm neues frisches Leben einhauchen können. Würde man ihn bis über die Ohren in Goldstücke gesteckt haben, seine schwer gewordenen Finger hätten auch nichts mehr greifen können.


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