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»Hallo! Mr. Pecksniff«, rief Mr. Jonas aus dem Wohnzimmer, »wann wird denn endlich jemand hinausgehen und die Haustüre aufmachen?«
»Sogleich, Mr. Jonas, sogleich.«
»Mordselement«, brummte der verwaiste junge Mann. »Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit. Jetzt ist schon dreimal geklopft worden, und jedesmal laut genug, um die –« er hatte eine solche Scheu vor dem Gedanken an die Auferweckung der Toten, daß ihm die Worte in der Kehle stecken blieben und er den Satz beendete; »– um die elftausend schlafenden Jungfrauen zu erwecken.« »Sogleich, Mr. Jonas, sogleich«, wiederholte Pecksniff. »Thomas« – er wußte nicht, sollte er Tom seinen lieben Freund oder einen Spitzbuben nennen, und schüttelte daher bloß die geballte Faust gegen ihn – »gehen Sie hinauf zu meinen Töchtern und sagen Sie ihnen, wer da ist. Sagen Sie ihnen, sie sollen sofort still sein. Hören Sie, Sir?«
»Sogleich, Sir«, rief Tom und eilte bestürzt fort, um seine Botschaft auszurichten.
»Sie müssen mich – ha ha ha! – entschuldigen, Mr. Jonas, wenn ich die Türe hier ein wenig schließe, wie?« sagte Pecksniff. »Ich glaube, es kommt jemand in Geschäftsangelegenheiten; das heißt, ich weiß sogar gewiß, daß es so ist. Ich danke Ihnen.« Dann trillerte er fröhlich ein ländliches Lied, setzte seinen Gartenhut auf, nahm einen Spaten in die Hand und öffnete die Haustüre, unbefangen auf die Schwelle tretend, als habe er das dunkle Gefühl, von seinen »Weinbergen« aus jemanden sachte klopfen gehört zu haben. Als er einen Gentleman und eine Dame vor sich sah, fuhr er verwirrt zurück, wie ein rechtschaffener Mann mit einem kristallklaren Gewissen beim Anblick einer ganz unerwarteten Erscheinung. Im nächsten Augenblick faßte er sich jedoch und rief:
»Mr. Chuzzlewit! Was sehe ich! Mein höchst wertgeschätzter Herr, o mein lieber Herr, das ist ja eine frohe Stunde. Eine glückliche Stunde. In der Tat! Bitte, treten Sie doch ein. Sie finden mich in meinem Gartenrock, aber Sie werden mich entschuldigen, ich weiß. Eine edle Beschäftigung von alters her, der Gartenbau. Wenn ich nicht irre, mein wertgeschätzter Herr, war Adam der erste Gärtner. Meine Eva, ich sage es mit Schmerz, ist nicht mehr, Sir. Aber« – er zeigte auf den Spaten und schüttelte den Kopf, als halte er nur mühsam seine Tränen zurück – »ich spiele immer noch ein klein wenig den Adam.«
Mittlerweile hatte er seine Gäste in das beste Wohnzimmer geleitet, wo seine Büste von Spoker und sein Porträt von Spiller hing.
»Meine Töchter«, säuselte er, »werden außer sich sein vor Freude. – Wenn ich ein solches Thema je satt bekommen könnte, so wäre es schon längst der Fall gewesen, mein werter Herr, so ununterbrochen haben die Mädchen von dem Glück, das jetzt eingetroffen ist, seit unserem Zusammentreffen bei Mrs. Todgers gesprochen. Und Ihre schöne junge Freundin«, fragte er, mit einem Blick auf Mr. Chuzzlewits Begleiterin, »die sie so lebhaft kennenzulernen wünschen – freilich, sie kennenlernen und lieben ist eins –, befindet sich doch hoffentlich wohl? – Und wenn ich sage: Willkommen unter meinem geringen Dache, so hoffe ich, finde ich ein Echo in ihrer Seele. Doch, wenn ihre Gesichtszüge ein Spiegel des Herzens sind, so habe ich keine Sorge darum. Ein außerordentlich anziehendes Antlitz, Mr. Chuzzlewit, werter Herr – ungemein anziehend.«
»Mary«, wandte sich der alte Mann an seine Begleiterin, »Mr. Pecksniff schmeichelt Ihnen. – Eine Schmeichelei von ihm ist nichts Alltägliches. Aber sie kommt ihm von Herzen. Wir dachten, Mr. – –«
»Pinch«, ergänzte Mary.
»Mr. Pinch sei vor uns angekommen, Sir?«
»Allerdings kam er vor Ihnen an, mein werter Herr«, entgegnete Mr. Pecksniff, seine Stimme erhebend, damit ihn Tom oben auf der Treppe hören könne. »Und er beabsichtigte wahrscheinlich, mir Ihre Ankunft zu melden, als ich ihn bat, zuerst in das Zimmer meiner Töchter zu gehen und nach Charitas zu fragen, weil das liebe Kind nicht so ganz wohl ist, als ich wünschen möchte. Nein – beunruhigen Sie sich nicht«, rief er als Antwort auf die besorgten Blicke seiner Gäste, »es tut mir gewiß leid, sagen zu müssen, daß sie nicht wohl ist – aber es ist nur ein nervöser Anfall, nichts weiter. Ich bin nicht in Unruhe deshalb. – – – Mr. Pinch! Thomas! Ach, bitte, kommen Sie doch herunter. Sie wissen, Sie sind kein Fremder hier. – – Thomas ist seit langer Zeit mein Freund« – erklärte er – »müssen Sie wissen.«
»Ich danke Ihnen, Sir«, versetzte Tom, »es ist so gütig von Ihnen, daß Sie mich in dieser Weise vorstellen. Es ergreift mich tief.«
»Immer der alte Thomas«, rief der Architekt wohlwollend, »Gott segne Sie.«
Sodann berichtete Thomas, daß die jungen Damen sogleich erscheinen würden und die besten Erfrischungen, die das Haus bieten könne, soeben gemeinsam zubereiteten. Aufmerksam blickte ihn der alte Mr. Chuzzlewit an, und zwar mit weit weniger Härte, als er es sonst gewohnt war. Auch schien die beiderseitige Verlegenheit Toms und der jungen Dame – er konnte sich's nicht erklären, woher sie rühren mochte – seiner Beobachtung nicht zu entgehen.
»Pecksniff«, sagte er nach einer Weile, stand auf und zog seinen Wirt in eine Fensternische, »ich war sehr erschüttert, als ich von dem Tode meines Bruders vernahm. Wir sind uns viele Jahre vollständig fremd gewesen. Mein einziger Trost ist, daß er glücklicher und als besserer Mensch gelebt haben muß, da er nur auf sich selbst baute und nicht, wie die andern, auf mich und mein Geld rechnete. Friede seiner Asche! Wir waren einstens gute Spielkameraden, und vielleicht wäre es für uns beide das beste gewesen, der Tod hätte uns schon damals ereilt.«
Da Mr. Pecksniff den alten Herrn in so versöhnlicher Stimmung sah, fing er an, einen Ausweg aus seinen Verlegenheiten zu sehen, bei dem er Jonas nicht über Bord zu werfen brauchte.
»Mein wertgeschätzter Herr, daß irgend jemand auf der Welt möglicherweise glücklicher sein kann, weil er mit Ihnen nicht in näherer Verbindung steht«, entgegnete er, »müssen Sie mir zu bezweifeln erlauben. Aber daß Mr. Anthony an seinem Lebensabend glücklich war, kann ich Ihnen versichern. Um so mehr, als er sich von seinem vortrefflichen Sohne – einem Musterbild, mein werter Herr, einem Musterbild für alle Söhne – heiß geliebt wußte. Außerdem stand er, sozusagen, unter der Obhut eines weitläufigen Verwandten, dessen guter Wille keine Grenzen kannte, wie unbedeutend auch seine Mittel sein mochten, ihm nützlich zu sein.«
»Was ist das!« rief Mr. Chuzzlewit mißtrauisch. »Sind Sie vielleicht mit einem Legat bedacht worden, Sir?«
»Ich sehe«, seufzte Mr. Pecksniff, »daß Sie mich immer noch nicht recht verstehen. – Nein, Sir, ich bin nicht mit einem Legat bedacht worden und bin stolz darauf, sagen zu können, daß es nicht so ist. Desgleichen rechne ich mir's zur Ehre an, daß auch keines von meinen Kindern unter die Legatare gehört. Aber trotzdem, Sir, war ich Anthonys ausdrücklichem Wunsche gemäß in seinen letzten Stunden um ihn. Er verstand mich besser, Sir. Er schrieb mir in seinem letzten Brief: Ich fühle mich krank; ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Bitte, kommen Sie zu mir. Und ich ging zu ihm. Ich saß neben seinem Bette, Sir, und stand neben seinem Grabe. – Allerdings geschah es auf die Gefahr hin, Sie zu verletzen, mein Herr. Aber ich tat es doch. Und wenn dieses Zugeständnis zu unserer Trennung führen und jene zarten Bande zerreißen sollte, die kürzlich zwischen uns geknüpft wurden, so kann ich es dennoch nicht in Abrede stellen. Aber ein Legatar bin ich nicht«, fügte er mit seligem Lächeln hinzu, »und rechnete auch niemals darauf. Ich wußte es von Anfang an.«
»Sein Sohn soll ein Musterbild sein?« rief der alte Mr. Chuzzlewit. »Wie können Sie mir das ins Gesicht sagen? – Auch auf meinem Bruder lastete der alte Fluch des Reichtums, dieser Wurzel allen Elends. Er schleppte diesen verderblichen Einfluß mit sich herum, wohin er ging, und steckte alles damit an, selbst seinen eigenen Herd. Sein eigenes Kind wurde dadurch zu einem gierigen Erbschaftsjäger, der jeden Tag und jede Stunde zählte, die das Leben seines Vaters vom Grabe trennten, und der dem langsamen Vorrücken der Zeit auf ihrem unheimlichen Wege fluchte.«
»Nein«, rief Mr. Pecksniff kühn, »durchaus nicht, Sir – Sie irren.«
»Aber ich habe doch gesehen, als ich das letztemal mit ihm beisammen war, welche Schatten in seinem Hause spukten«, widersprach Martin Chuzzlewit, »und habe ihn davor gewarnt. Soll ich vielleicht meinen eigenen Augen nicht glauben – ich, der ich so viele Jahre von dem gleichen Gespenste verfolgt wurde?«
»Ich stelle es in Abrede«, antwortete Mr. Pecksniff mit Wärme, »ich stelle es entschieden in Abrede. Der verwaiste junge Mann weilt jetzt in diesem Hause und sucht in einem Ortswechsel den Seelenfrieden, der so furchtbar gestört wurde. Und soll ich ihm vielleicht nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, wo selbst der Leichenbestatter und der Sarglieferant von seinem Benehmen tief gerührt worden sind? Wo selbst die Officiers des Pompes-funèbres seines Lobes voll waren und der Arzt, der seinen Vater behandelte, nicht wußte, was er vor Gemütserregung und Rührung beginnen sollte? Da ist zum Beispiel eine Frauensperson namens Gamp, Sir – Mrs. Gamp –, die Sie selbst fragen können. Sie hat Mr. Jonas in der Zeit seiner schweren Prüfung selbst gesehen. Erkundigen Sie sich bei ihr, Sir! Sie ist eine höchst ehrenwerte Person und durchaus nicht sentimental, aber sie wird die Tatsache bestätigen. Ein paar Zeilen an Mrs. Gamp im Vogelladen, Kingsgate Street, High Holborn, London, werden gewiß umgehend und ganz in meinem Sinne beantwortet werden. Ich zweifle keinen Augenblick daran. Nehmen Sie sie in ein Kreuzverhör, mein werter Herr. Hören und sehen Sie selbst, Mr. Chuzzlewit, und dann können Sie beurteilen, ob ich recht habe oder nicht. Verzeihen Sie mir, mein wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff und erfaßte Martins beide Hände, »wenn ich warm werde, aber ich bin ein ehrlicher Mann und kann mit der Wahrheit nicht hinter dem Berge halten.«
Als Zeugnis dafür ließ er ein paar Tränen der Ergriffenheit aus seinem Auge niederträufeln.
Eine Sekunde lang sah ihn der alte Herr höchst erstaunt an und wiederholte dann für sich selbst: »Hier in diesem Hause?«
»Ich will ihn sehen«, rief er nach einer Pause.
»Aber doch hoffentlich nicht in Groll«, fragte Mr. Pecksniff besorgt. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich so spreche, aber er steht unter dem Schutz meiner armseligen Gastfreundschaft.«
»Ich habe gesagt, ich will ihn sehen«, wiederholte der alte Herr. »Wenn ich noch Groll gegen ihn hegte, würde ich gesagt haben: halten Sie ihn mir drei Schritte vom Leibe.«
»Gewiß, mein lieber Herr, gewiß, das hätten Sie gesagt. Ich weiß doch, Sie sind die Offenherzigkeit selbst. – Wenn Sie mich eine Minute entschuldigen wollen«, flötete Mr. Pecksniff und wandte sich zur Tür, »so will ich ihm dieses große Glück – nach und nach – und schonend mitteilen.«
Und tatsächlich leitete er diese Enthüllung so allmählich ein, daß eine ganze Viertelstunde verstrich, bevor er mit Mr. Jonas zurückkehrte. Mittlerweile erschienen auch die beiden jungen Damen, denn der Tisch stand zu einem Imbiß für die Reisenden bereit. Wie sehr nun auch Mr. Pecksniff in seinem Moralitätsgefühl Jonas ein pflichtgemäßes Benehmen gegenüber seinem Onkel eingeschärft und wie vollkommen Jonas bei seiner angebotenen Schlauheit ihre Wichtigkeit begriffen und aufgefaßt hatte, so war doch die Haltung des jungen Mannes, als er dem Bruder seines Vaters vorgestellt wurde, nichts weniger als männlich oder gewinnend. Es drückte sich vielmehr eine so auffallende Mischung von Trotz und Unterwürfigkeit, von Furcht und Keckheit, Hinterhältigkeit und Kriecherei in seinem ganzen Wesen aus, daß eine höchst peinliche Verlegenheitspause eintrat. Kaum hatte er seine Augen zu Mr. Martins Gesicht erhoben, so sah er auch schon wieder weg, öffnete seine Hände und schloß sie wieder verlegen zur Faust, trat von einem Fuß auf den andern, kurz, wußte nicht, was er sagen solle.
»Lieber Neffe«, begann der alte Herr, »wie ich höre, sind Sie ein höchst pflichtgetreuer Sohn gewesen.«
»Ich glaube, nicht pflichtgetreuer, als Söhne im allgemeinen sind«, brummte Jonas, blickte einen Moment auf und schlug dann die Augen wieder nieder. »Ich rühme mich nicht, besser zu sein als andere Söhne, kann aber auch andererseits sagen, daß ich nicht schlechter bin.«
»Sie seien ein vorbildliches Muster gewesen, hat man mir versichert«, fuhr der alte Herr fort und faßte Mr. Pecksniff scharf ins Auge.
»Mordselement«, rief Jonas, sah einen Moment auf und schlug dann abermals die Augen nieder. »Ein so guter Sohn, wie Sie ein Bruder waren, bin ich immer noch gewesen. Es ist die alte Geschichte vom Topf und vom Deckel, wenn Sie wollen.«
»Das Übermaß des Schmerzes hat Sie verbittert«, sagte Martin nach einer Pause, »geben Sie mir die Hand.«
Jonas tat es und schien aufzuatmen.
»Pecksniff«, flüsterte er, als sie ihre Stühle an den Tisch rückten, »ich hab ihm gut die Meinung gesagt, was? Der täte auch besser, vor seiner eigenen Türe zu kehren.«
Mr. Pecksniff antwortete bloß durch einen Stoß mit dem Ellbogen, was ebensogut ein unwilliger Verweis wie eine herzliche Zustimmung sein konnte; jedenfalls war es aber eine nachdrückliche Ermahnung an seinen künftigen Schwiegersohn, den Mund zu halten. Im nächsten Augenblick widmete er sich mit seiner gewohnten Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit ganz seiner Pflicht als Herr vom Hause, seinen Gästen die Honneurs zu machen.
Aber nicht einmal seine arglose Heiterkeit brachte es zustande, eine solche Gesellschaft harmonisch zu stimmen, oder so gänzlich verschiedene Elemente, wie sie hier beisammen saßen, miteinander zu versöhnen. Die bodenlose Eifersucht und der Haß, den die Brautwerbung an diesem Abend entfacht, waren nicht so leicht auszurotten und brachen mehr als einmal mit solchem Nachdruck hervor, daß sekundenlang eine vollständige Enthüllung aller Umstände fast unvermeidlich schien, zumal die schöne Gratia, in dem Wonnegefühl, Siegerin geblieben zu sein, das Gefühl bitterer Enttäuschung in ihrer Schwester durch spöttisches Gesichterschneiden immer wieder aufstachelte und tausend kleine Versuche machte, Mr. Jonas' Treue auf die Probe zu stellen, so daß Charitas fast wahnsinnig wurde und schließlich in einem Ausbruch von Leidenschaft – kaum weniger heftig als im ersten Sturm ihres Zornes – den Tisch verlassen mußte. Der Zwang, der der Familie durch Mary Grahams Gegenwart – unter diesem Namen hatte der alte Mr. Martin Chuzzlewit seine Begleiterin eingeführt – auferlegt wurde, besserte die Sachlage keineswegs, wie sanft und ruhig auch das Benehmen des jungen Mädchens war. Mr. Pecksniff balancierte sozusagen auf der Messerschneide: einmal mußte er beständig den Frieden unter seinen Töchtern aufrecht erhalten und die althergebrachte Ehre in seinem Hauswesen retten und dann wieder die immer mehr steigende Heiterkeit und Sorglosigkeit Mr. Jonas' zügeln, der sich verschiedentliche Unverschämtheiten gegen Mr. Pinch und unbeschreibliche Taktlosigkeiten gegen Mary erlaubte, weil beide in seinen Augen ja nur ein paar abhängige Personen waren, – des Umstandes gar nicht zu gedenken, daß es eine wichtige Aufgabe für ihn sein mußte, seinen reichen alten Verwandten fortwährend in guter Stimmung zu erhalten und die Hunderte böser Omina, die an diesem Abend ihr loses Spiel trieben, zu paralysieren. Da ihm überdies niemand auch nur im geringsten in seinen Bemühungen beistand, kann man sich leicht denken, daß seine Gefühle recht gemischter Natur sein mußten. Vermutlich hatte er sich in seinem Leben noch nie so erleichtert gefühlt, als schließlich der alte Herr auf seine Uhr sah und ankündigte, daß es Zeit sei, aufzubrechen.
»Wir haben uns vorderhand«, sagte Martin, »im ›Drachen‹ einige Zimmer genommen; ich gehe zwar mit Vorliebe abends immer noch ein wenig spazieren, aber es wird jetzt schon so zeitig dunkel, daß ich Mr. Pinch bitten möchte, uns nach Hause zu leuchten. Geht das?«
»Aber, mein wertgeschätzter Herr«, rief Pecksniff, »ich selbst mache mir das Vergnügen daraus. Gratia, mein Kind, bitte die Laterne!«
»Nein, nein, meine Liebe«, wehrte der alte Herr ab. »Ich kann nicht zugeben, daß Ihr Vater heute abend so spät noch ausgeht. – Kurz und gut, ich will es nicht.«
Mr. Pecksniff hatte bereits seinen Hut in der Hand, aber Mr. Chuzzlewit sprach mit solcher Bestimmtheit, daß er innehielt.
»Ich kann nur Mr. Pinchs Begleitung annehmen, sonst müßte ich vorziehen, allein zu gehen«, sagte Martin. »Was von beiden soll also gehen?«
»Dann begleitet Sie natürlich Tom Pinch, Sir«, rief Mr. Pecksniff, »wenn Sie es schon durchaus nicht anders haben wollen. – Thomas, mein lieber Freund, haben Sie die Güte, ja recht achtzugeben.«
Tom bedurfte einigermaßen dieser Ermahnung, denn er fühlte sich so im Innersten aufgewühlt und zitterte dermaßen, daß es ihm schwer wurde, die Laterne zu halten, – um wieviel schwerer erst, als sie, auf des alten Herrn Geheiß, ihren Arm in den seinen legte.
»Sie haben also, Mr. Pinch«, fing Martin Chuzzlewit an, als sie auf dem Heimweg waren, »Sie haben also eine recht behagliche Stellung hier – nicht wahr?«
Tom versicherte womöglich mit noch mehr Enthusiasmus als gewöhnlich, daß er gegen Mr. Pecksniff Dankesverpflichtungen habe, die er, und wenn er ihm sein ganzes Leben hindurch umsonst dienen würde, nur ungenügend abstatten könne. »Wie lange haben Sie meinen Neffen gekannt?«
»Ihren Neffen, Sir?« stotterte Tom. – »Ja, Mr. Jonas Chuzzlewit.«
»Ach ja so«, rief Tom sehr erleichtert, denn er hatte an Martin gedacht, »natürlich ja. – Ich habe ihn heute abend das erstemal gesprochen, Sir.«
»Bei ihm, dächte ich, würde es Gratisdienste einer halben Lebenszeit bedürfen, um seine Freundlichkeiten in genügendem Maße heimzuzahlen. – Nicht?« bemerkte der alte Herr.
Tom begriff, daß das ein Hieb war, und fühlte auch, daß die Bemerkung in zweiter Linie seinem Herrn gelten sollte. Er schwieg daher. Mary sah, daß es mit Mr. Pinchs Geistesgegenwart nicht weit her war und sie, so wie die Sachen standen, nicht wenig genug sagen könne, sie schwieg deshalb gleichfalls. Der alte Mann seinerseits sah in seinem gewohnten Mißtrauen in dem Lobe Mr. Pecksniffs eine ebenso schamlose wie ekelhafte Liebedienerei und faßte daher sofort das Vorurteil, den armen Mr. Pinch für einen hinterlistigen, kriecherischen und erbärmlichen Speichellecker zu halten. Deshalb schwieg auch er. Die allgemeine Stimmung war infolgedessen ziemlich unbehaglich. Am wenigsten wohl befand sich dabei der alte Herr, da er anfangs eine große Zuneigung zu Tom empfunden und dessen offenkundige Schlichtheit ihn sehr angesprochen hatte.
»Du bist eben auch wie die andern«, brummte er und sah dem ahnungslosen Tom scharf ins Gesicht. »Du hättest mich beinah hinters Licht geführt, aber so leicht geht das Gott sei Dank nicht. Deine Kriecherei ist zu dick aufgetragen und verrät sich von selbst.«
Während des ganzen übrigen Spazierganges wurde kein Wort weiter gewechselt. Die erste Begegnung mit Mary, der Tom so lange mit klopfendem Herzen entgegengesehen hatte, zeichnete sich durch nichts als durch Verlegenheit und Verwirrung aus. So schieden sie voneinander an der Türe des Drachen.
Seufzend löschte Mr. Pinch die Laterne aus und kehrte im Dunkeln wieder über die Felder zurück.
Als er sich der ersten Wegschranke näherte – einer einsamen Stelle, die durch eine Anpflanzung junger Föhren in tiefem Schatten lag –, glitt ein Mann an ihm vorbei, machte, an der Schranke angelangt, halt und setzte sich auf den Schlagbaum. Tom blieb verblüfft einen Augenblick stehen; aber gleich darauf schritt er auf den Unbekannten zu. Es war, wie sich herausstellte, Jonas, der jetzt seine Beine hin und her baumeln ließ, an dem Knopf seines Stockes saugte und ihn höhnisch anblickte.
»Gott bewahre«, rief Tom, »wer hätte gedacht, daß Sie es wären! – Sie sind uns also nachgegangen?«
»Ach, Sie sind's?« sagte Jonas. »Scheren Sie sich zum Teufel!«
»Das ist nicht besonders höflich, dächte ich«, bemerkte Tom.
»Für Sie höflich genug«, entgegnete Jonas. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ein Mensch, der so gut ein Recht hat auf Höflichkeit wie irgendein anderer« versetzte Tom gelassen.
»Das ist dummes Zeug. Sie lügen. Sie haben kein Recht auf irgendwelche Höflichkeit. Sie haben überhaupt auf nichts ein Recht. Nette Frechheit, von Rechten zu sprechen! Ha, ha, Rechte!«
»Wenn Sie in dieser Weise fortzufahren gedenken«, erwiderte Tom, und das Blut stieg ihm ins Gesicht, »so würden Sie mich verbinden, wenn Sie mich vorbeiließen. Ich hoffe jedoch, Sie werden jetzt aufhören, den Spaß noch weiter zu treiben.«
»Ja, ja, das ist so eure Manier, ihr Hunde«, knurrte Mr. Jonas; »wenn ihr seht, daß einer im vollen Ernst spricht, so tut ihr, als hieltet ihr's für Spaß, um nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber bei mir zieht so was nicht; das ist ein alter, abgedroschener Trick. – Na, hören Sie doch gefälligst zu, Mr. Pitch oder Titch oder wie Sie sonst heißen.«
»Mein Name ist Pinch«, bemerkte Tom, »wenn Ihnen daran liegt, mich bei meinem ehrlichen Namen zu nennen.«
»Was! Man darf Sie nicht einmal beim unrechten Namen nennen? Was!« rief Jonas. »Lehrlinge aus dem Armenhaus wollen am Ende gar noch die Nase hoch tragen. Donnerwetter noch einmal, in der Stadt wissen wir besser, mit solcher Sorte umzuspringen.«
»Es kümmert mich nicht, wie man in der Stadt verfährt. Also was haben Sie mir zu sagen?«
»Folgendes, Mr. Pinch«, zischte Jonas und schnellte sein Gesicht vor, daß Tom erschreckt einen Schritt zurückprallte. »Ich rate Ihnen, halten Sie Ihren Mund und mischen Sie sich nicht in Sachen, die Sie nichts angehen. Ich habe Ihre kriecherische Art durchschaut, mein Lieber, und rate Ihnen, dergleichen zu lassen, bis ich mich mit einer von Pecksniffs Jungfern verheiratet habe. Das könnte mir gerade fehlen, daß Sie sich bei meinen Verwandten einschmeicheln. Sie wissen ganz gut, wenn ein knurrender Hund lästig fällt, so wird er durchgepeitscht. So, das ist mein freundlicher Rat. Haben Sie verstanden. Was? – Hol mich der Teufel, wer sind Sie eigentlich«, rief Jonas verächtlich, »daß Sie mit denen da nach Hause gehen dürfen, außer hinterdrein, wie jeder andere Bediente ohne Livree?«
»Schon gut«, rief Tom, »ich sehe, es ist besser, Sie lassen mich vorbei, damit ich nach Hause gehen kann. Bitte, machen Sie Platz, wenn's gefällig ist.«
»Fällt mir nicht im Traume ein«, höhnte Jonas und spreizte seine Beine nur noch mehr; »vielleicht später, wenn's mir paßt, aber momentan paßt's mir zufällig nicht. – – Wie?! Sie fürchten wahrscheinlich, daß ich Ihnen jetzt eins auf die Schnauze haue, Sie Schleicher.«
»Ich fürchte mich im allgemeinen überhaupt nicht viel und ganz bestimmt nicht vor Ihnen. – Ich bin übrigens kein Achselträger, wie Sie zu glauben scheinen, und verachte alle Gemeinheit. Sie irren sich vollständig in mir. – – Heißt das wirklich gentlemanlike von jemandem gehandelt«, rief Tom unwillig, »der sich, wie Sie, in einer angenehmeren Stellung befindet. Aber ich bitte Sie jetzt allen Ernstes, lassen Sie mich vorbei. Je weniger Worte ich mache, desto besser ist es.«
»Ja, das stimmt«, entgegnete Jonas und blieb frech sitzen. »Sie scheinen überhaupt gern wenig Worte zu machen; was? Donnerwetter, ich sollte nur herausbekommen, was zwischen Ihnen und einem gewissen vagabundierenden Mitglied meiner Familie vorgeht! Ich wette, daß da natürlich auch wieder ›gar nichts‹ dahinter steckt.«
»Ich kenne kein vagabundierendes Mitglied Ihrer Familie«, rief Tom empört.
»Doch. Sie kennen eins.«
»Nein. Der Namensvetter Ihres Onkels, wenn Sie diesen meinen, ist kein Vagabund. Jeder Vergleich zwischen Ihnen und ihm« – Tom schnappte, allmählich in Zorn geratend, mit den Fingern – »fällt unendlich zu Ihrem Nachteile aus.«
»So, so, tut er das«, spöttelte Jonas; »und was halten Sie von seiner Geliebten – seiner bettelhaften geliebten Hinterlassenschaft? Was, Mr. Pinch?!«
»Es ist das beste, ich rede kein Wort mehr. Ich bleibe auch keinen Augenblick länger mehr hier.«
»Wie gesagt, Sie sind ein Lügner!« schrie Jonas. »Halt! Sie haben hier zu bleiben. Verstanden! Warum gehorchen Sie nicht?« Und er schlug mit seinem Stock nach Toms Kopf, aber im nächsten Augenblick flog dieser wirbelnd durch die Luft, und er selbst lag zappelnd im Gras.
Während des kurzen Ringens hatte Mr. Pinch seinen Gegner, ohne es zu wollen, mit der Stockzwinge an der Stirne verletzt, so daß das Blut reichlich aus einer ziemlich tüchtigen Wunde an der Schläfe hervorquoll. Thomas merkte es erst, als er sah, daß Jonas sein Taschentuch auf die verletzte Stelle drückte und beim Aufstehen taumelte.
»Haben Sie sich verletzt?« fragte er. »Oh, das täte mir wirklich sehr leid. Stützen Sie sich auf mich, Sir. Sie brauchen mir deswegen nicht zu verzeihen, wenn Sie noch Groll gegen mich hegen. Ich wüßte freilich nicht, warum Sie mir zürnen sollten, denn ich habe Sie doch nicht beleidigt, ehe wir uns hier trafen.«
Jonas gab keine Antwort und schien anfangs weder ein Wort zu verstehen, noch zu merken, daß er verwundet war, trotzdem er mehrmals das Taschentuch von der Wunde nahm und das Blut ansah. Endlich schien er zu sich zu kommen, wenigstens blickte er Tom wild an, und der Ausdruck seines Gesichtes verriet, daß er langsam begriff, was vorgefallen war, und daß er die Angelegenheit nicht so bald zu vergessen gedenke. Dann wandten sie sich beide stumm zum Heimweg. Jonas ging einige Schritte voraus und Tom Pinch folgte ihm, traurig und bekümmert bei dem Gedanken, welch tiefe Betrübnis die Kunde von diesem Streit seinem trefflichen Wohltäter bereiten werde.
Das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, als Jonas schließlich an der Tür klopfte, Miss Gratia herausleuchtete und beim Anblick ihres verwundeten Bräutigams laut aufschrie. Stumm folgte er den beiden in die Wohnstube, und als Jonas zu reden begann, glaubte er, es drehe sich alles um ihn wie ein Wirbelwind.
»Macht kein weiteres Aufhebens davon«, brummte Jonas ärgerlich, »es ist nicht der Rede wert. Ich habe den Weg verfehlt, und die Nacht ist sehr dunkel, und gerade, als ich Mr. Pinch begegnete, rannte ich an einen Baum. Es ist nur eine Schramme.«
»Kaltes Wasser, Gratia, mein Kind«, rief Mr. Pecksniff. »Einen Umschlag, eine Schere, ein Stück alte Leinwand. Liebe Cherry, bitte, richte eine Bandage her. – Gott im Himmel, Mr. Jonas!«
»Hol Sie der Kuckuck mit Ihrem dummen Gewäsch«, murrte liebreich der Schwiegersohn in spe. »Helfen Sie lieber mit, wenn Sie können, und wenn nicht, dann lassen Sie mich gütigst in Frieden.«
Trotz der Aufforderung ihres Vaters, Hilfe zu leisten, blieb Miss Charitas lächelnd und kerzengerade in ihrem Sessel sitzen und rührte keinen Finger. Gratia wusch die Wunde aus, und Mr. Pecksniff hielt den Kopf des Patienten mit beiden Händen, als ob er sonst rettungslos entzwei gehen müßte. Tom Pinch schüttelte in der Qual seines Schuldbewußtseins ununterbrochen eine Flasche mit kölnischem Wasser, bis es nur noch ganz ordinärer englischer Schaum war, und hielt in der andern Hand ein riesiges Tranchiermesser, das gegen die Geschwulst gedrückt werden sollte, machte aber dabei ein Gesicht, daß ein Unbefangener geglaubt haben würde, er warte nur darauf, bis sein Gegner verbunden worden sei, um ihm dann sofort den Todesstoß zu versetzen.
Bis zum Schluß leistete Charitas nicht den mindesten Beistand und ließ auch nicht ein Wort des Trostes laut werden.
Als schließlich Mr. Jonas' Kopf verbunden, der Patient zu Bett gebracht und alles im Hause ruhig geworden war, saß Mr. Pinch sinnend auf seiner Bettstatt und machte sich allerlei Gedanken über den Vorfall, da hörte er plötzlich ein leises Klopfen an seiner Türe, und als er öffnete, sah er zu seinem großen Erstaunen Miss Cherry, die Finger an die Lippen gelegt, vor sich stehen.
»Mr. Pinch«, flüsterte sie, »lieber Mr. Pinch, sagen Sie mir die Wahrheit. Nicht wahr, Sie haben das getan? Sie haben Streit mit ihm gehabt und ihn geschlagen! Es muß so gewesen sein, ich lasse mir's nicht nehmen.« Es war das vielleicht das erstemal im Laufe vieler Jahre, daß sie so freundlich zu Tom sprach. Kein Wunder daher, daß er anfangs nicht ein Wort hervorbringen konnte.
»War es so oder nicht?« drängte Charitas.
»Er hat mich gereizt«, stotterte Tom.
»Dann habe ich also recht«, rief Charitas mit leuchtenden Augen.
»Ja, allerdings. Ich geriet mit ihm in Streit, weil er mich nicht vorbeilassen wollte«, berichtete Tom. »Aber wahrhaftig, es lag nicht in meiner Absicht, ihn so stark zu verletzen.«
»So stark!« rief Charitas, ballte zu Toms großer Verwunderung die Hand und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Reden Sie nicht so. Es war wacker von Ihnen; ich schätze Sie deshalb. Wenn Sie wieder in Streit mit ihm geraten, so schonen Sie ihn nicht! Schlagen Sie ihn nieder und setzen Sie ihm den Fuß auf die Brust, aber sagen Sie keinem Menschen ein Sterbenswort davon. – Lieber Mr. Pinch, von heute an bin ich Ihre Freundin und werde es immer bleiben.«
Damit wandte sie ihr glühendes Gesicht Tom zu, und der wutverzerrte Ausdruck ihrer Mienen verriet, was in ihr vorging. Sie ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Es lag durchaus nichts Verfängliches in dieser Handlungsweise, und sogar Tom Pinch, der sich doch gewiß keiner besonderen Beobachtungsgabe rühmen konnte, erkannte aus der Erregung, mit der sie es tat, daß sie jede Hand, die Jonas Chuzzlewit den Schädel eingeschlagen hätte, würde liebkost haben, gleichgültig, wie schmutzig und schmierig sie auch gewesen wäre.
Von einer Flut von Gedanken überwältigt, legte sich Tom zu Bett. Daß ein so schreckliches Zerwürfnis in der Familie hatte stattfinden müssen, denn nur dies konnte den ganzen Vorgang erklären und die Ursache sein, weshalb Charitas Pecksniff so plötzlich seine Freundin geworden war, daß Jonas, dem er so arg mitgespielt, sich so hochherzig gezeigt, das Geheimnis ihres Streites zu bewahren, und daß er selbst sich so hatte gehenlassen, das waren zu ernste und peinliche Betrachtungen, als daß er so bald die Augen hätte schließen können. Die Reue über seine Heftigkeit bedrückte ihn schließlich so sehr, daß er zu glauben begann, er sei von geheimen Mächten dazu verdammt, der böse Engel seines Gönners zu sein. Endlich aber fiel er doch in Schlaf und träumte – eine neue Quelle zur Unruhe nach seinem Erwachen –, daß er das ihm geschenkte Vertrauen verraten und Mary Graham entführt habe.
Aber nicht nur im Schlaf, sondern auch im Wachen war sein Verhältnis zu dieser jungen Dame peinlich und beunruhigend genug für ihn. Je öfter er sie zu Gesicht bekam, desto mehr mußte er ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre liebenswürdigen Eigenschaften bewundern, die selbst auf den Familienzwist in Mr. Pecksniffs Hause einen wohltätigen Einfluß übten und binnen kurzem wenigstens einen Schein von Harmonie und gutem Einvernehmen zwischen den beiden feindlichen Schwestern wieder herstellten. Wenn sie sprach, hielt er den Atem an, und wenn sie sang, lauschte er wie ein Verzückter. Sie spielte auf seiner Orgel, und von diesem beseligenden Zeitpunkt an begann dieses Instrument – der alte Gefährte seiner seligsten Stunden –, obschon er es zuvor bereits über alles geliebt, für ihn eine Art geweihter Gegenstand zu sein.
Nicht weniger schwierig wurde seine Lage durch den Umstand, daß zwischen ihm und der jungen Dame niemals auch nur ein Wort über Martin gesprochen wurde. Voll Ehrenhaftigkeit seines Versprechens eingedenk, gab er ihr zwar alle möglichen Gelegenheiten zu einer Aussprache und war früh und spät in der Kirche oder auf ihren Lieblingsspaziergängen im Dorf, im Garten, auf den Wiesen, kurz an allen Orten, wo sie es hätte ungeniert tun können; aber immer vermied sie in solchen Fällen sorgsam seine Gesellschaft und kam ihm nie ohne Begleitung in den Weg. Der Grund dafür konnte nicht gut darin liegen, daß sie ihn nicht leiden mochte oder ihm mißtraut hätte, denn sie zeichnete ihn vielmehr, wenn andere zugegen waren, durch tausend zarte, nur für ihn berechnete kleine Aufmerksamkeiten aus und war gegen ihn die Freundlichkeit selbst. Konnte sie etwa mit Martin gebrochen oder vielleicht gar seine Liebe niemals erwidert haben, trotzdem dieser davon fest überzeugt gewesen? Toms Wangen erglühten vor Selbstvorwurf bei diesem Gedanken.
Während dieser ganzen Zeit kam und ging der alte Martin in seiner gewohnten, eigenwilligen Weise oder sonderte sich, in Gedanken vertieft, ab, ohne jemanden mit seinem Verkehr in Anspruch zu nehmen. Trotzdem er sich durchaus nicht umgänglich zeigte, war er jetzt doch niemals mehr eigensinnig, streitsüchtig oder mürrisch. Auch schien er nie vergnügter zu sein, als wenn man ihn ganz unbeachtet bei dem Buche, das er gerade las, sitzen ließ und sich ohne weitere Rücksicht auf ihn in seiner Gegenwart miteinander unterhielt. Es war vollkommen unmöglich herauszubekommen, für wen oder wofür er sich interessierte, und wenn man ihn nicht direkt anredete, schien er weder Augen noch Ohren zu haben für das, was um ihn herum vorging.
Eines Tages saß die sonst so lebhafte Gratia mit niedergeschlagenen Augen unter einem schattigen Baume des Kirchhofs, wohin sie sich zurückgezogen, nachdem sie sich in allerlei Heimsuchungen von Mr. Jonas' Geduld erschöpft hatte, da bemerkte sie mit einem Male, daß ein Schatten zwischen sie und die Sonne trat, und als sie die Augen aufschlug in der Erwartung, ihren geliebten Bräutigam zu erblicken, war sie nicht wenig überrascht, statt dessen den alten Martin vor sich stehen zu sehen. Ihr Erstaunen steigerte sich noch, als er sich neben sie auf den Rasen setzte und mit folgenden Worten ein Gespräch eröffnete:
»Wann werden Sie heiraten?«
»Ach du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, ich weiß es selber nicht; hoffentlich nicht so bald.«
»Hoffentlich?« versetzte der alte Mann.
Er sagte dies mit sehr ernstem Tone, aber Gratia nahm es für Scherz und kicherte ausgelassen.
»Na«, fuhr Mr. Chuzzlewit mit ungewöhnlicher Milde fort, »Sie sind eben noch jung, hübsch und, wie ich glaube, auch gutmütig – allerdings auch etwas leichtsinnig. Sie scheinen sich wenigstens darin zu gefallen. Aber Sie müssen doch einigermaßen Herz und Gefühl besitzen.« »Ich habe mein Herz noch nicht so ganz verschenkt, wie Sie vielleicht glauben, kann ich Ihnen versichern«, versetzte Gratia schlau lächelnd und zupfte ein paar Grashalme aus.
»Aber doch teilweise?«
Die junge Dame warf die Grashalme in die Luft, wendete ihr Gesicht ab und schwieg.
Martin wiederholte seine Frage.
»Ach Gott, lieber Mr. Chuzzlewit, warum fragen Sie? Was Sie doch für ein seltsamer Mensch sind.«
»Sie finden es seltsam, daß ich zu wissen wünsche, ob Sie den jungen Mann lieben, den Sie dem Vernehmen nach heiraten sollen?« rief Martin. »Ist es da so wunderbar, daß ich frage?«
»Sie wissen doch, er ist ein ekelhafter Mensch«, schmollte Gratia.
»Dann lieben Sie ihn also nicht? Habe ich das so zu verstehen?«
»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, ich habe ihm mindestens hundertmal des Tages gesagt, daß ich ihn nicht leiden kann. – Sie müssen es doch gewiß selbst schon gehört haben.«
»Allerdings schon oft«, gab Martin zu.
»Und es ist mir ernst damit«, rief Gratia; »es ist mein vollkommenster Ernst.«
»Und trotzdem wollen Sie ihn heiraten?«
»Nun ja. Aber ich habe ihm von Anfang an versichert, wenn ich je heirate – nämlich ihn –, so täte ich es nur, um ihn mein ganzes Leben lang zu hassen und zu quälen.«
Sie fühlte sehr richtig, daß Jonas bei dem alten Mann nicht besonders beliebt war, und glaubte daher mit dieser Äußerung ihm einen Gefallen zu tun. Befremdlicherweise hatte es aber jetzt durchaus nicht den Anschein, als ob Martin Chuzzlewit damit einverstanden sei, denn als er ihr antwortete, geschah es im Tone größter Strenge.
»Sehen Sie um sich!« sagte er und deutete auf die Gräber. »Und bedenken Sie, daß von der Stunde ihrer Trauung an bis zu dem Tage, wo Sie sich in ein solches Bett legen, keine Umkehr mehr möglich ist. Sprechen und handeln Sie einmal wie ein vernünftiges Geschöpf. Sagen Sie mir ganz offen, tut man Ihren Neigungen irgendwelchen Zwang an? Drängt man Sie zu dieser Verbindung? Versucht man Sie vielleicht hinterlistig dazu zu verlocken? Ich will nicht fragen, wer es tut – aber habe ich recht?«
»Nein«, hauchte Gratia und zuckte die Achseln. »Nicht, daß ich wüßte.«
»Wirklich nicht?«
»Nein«, wiederholte Gratia »niemand hat mir auch nur mit einem Worte zugeredet, und wenn man es versucht hätte, würde ich nicht einen Augenblick zugehört haben.«
»Man sagte mir, er habe anfangs als der Verehrer Ihrer Schwester gegolten«, forschte Martin.
»Ach, du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, wenn er auch ein Ekel ist, so wäre es doch unrecht, ihn für anderer Leute Eitelkeit verantwortlich zu machen«, rief Gratia, »und die liebe gute Cherry ist das eitelste Ding von der Welt.«
»Also sie hat sich geirrt?«
»Jedenfalls. Aber seitdem ist sie so schrecklich eifersüchtig und widerwärtig gewesen, daß es rein unmöglich war, mit ihr auszukommen. – Ich habe mich daher von ihr ferngehalten.«
»Also nicht gezwungen oder überredet«, murmelte Martin gedankenvoll. »Ja, ja, kein Zweifel, es ist so. – Doch ich sehe noch eine dritte Wahrscheinlichkeit. Sie haben sich durch Ihre Unüberlegtheit zu dieser Verbindung verleiten lassen. Es war also vielleicht eine vorschnelle oder leichtsinnige Handlung. Habe ich recht?«
»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Gratia geziert, »was den Leichtsinn betrifft, so bin ich freilich so leicht wie eine Feder – mein Leichtsinn zieht mich förmlich in die Höhe wie ein Luftballon. – Ich weiß, daß das bei Ihnen zum Beispiel nie der Fall gewesen ist.«
Der alte Herr hatte sie ruhig und geduldig ausreden lassen und sagte dann mit sanfter, jedoch fester Stimme und bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen:
»Wünschen Sie vielleicht – oder lebt vielleicht etwas wie Hoffnung in Ihrem Innern, die sich in Stunden der Überlegung zu einem solchen Wunsche umgestalten könnte – dieses Verlöbnis wieder aufzuheben?« Schmollend blickte Miss Gratia auf den Boden, rupfte wieder ein paar Grashalme ab und zuckte die Achseln. – – Nein, sie sei sich keines derartigen Wunsches bewußt – glaube fest, diese Frage verneinen zu können, – ja, könne es sogar mit Bestimmtheit tun. – Die Sache sei ihr vollständig – gleichgültig.
»Und haben Sie nie daran gedacht«, rief Martin, »daß Ihre Ehe elend, unglücklich und voll Bitternis werden könnte?«
Wieder blickte Gratia zu Boden und riß jetzt die Grashalme heftig mit der Wurzel aus.
»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, wie abscheulich ernst Sie reden! Natürlich werde ich mich mit ihm zanken; aber ich würde mich mit jedem andern Manne auch zanken. Verheiratete Leute, glaube ich, streiten doch immer miteinander. Und was Sie da reden von Elendsein, Bitternis und all den schrecklichen Geschichten, so könnte uns ein derartiges Schicksal nicht gut treffen, ohne daß er den Löwenanteil davon abbekäme. – – Er ist schon jetzt mein vollkommener Sklave«, kicherte sie.
»Nun denn«, seufzte Martin und stand auf, »mag die Sache ihren Lauf nehmen. Ich wollte nur wissen, wie es mit Ihrem Herzen steht, mein Kind, und Sie haben es offen vor mir enthüllt. Ich wünsche Ihnen alles Glück« – er sah sie fest an und deutete auf das Kirchhofpförtchen, durch das Jonas soeben eintrat, und dann entfernte er sich, ohne seinen Neffen abzuwarten, und ging auf einem andern Wege hinaus.
»Ach, der schreckliche alte Griesgram«, schmollte Gratia und schüttelte fröhlich ihre Locken, »was für ein abscheuliches Ungeheuer, bei hellichtem Tag auf den Kirchhöfen herumzuwandern und einen zu erschrecken, daß man fast den Verstand verliert. – – Bleiben Sie nur dort, wo Sie sind, Sie Unhold, oder ich laufe davon!«
Der »Unhold« galt Mr. Jonas, der sich jedoch dadurch nicht abschrecken ließ und sich neben Gratia auf den Rasen niederließ.
»Wovon hat mein Onkel gesprochen?« fragte er verdrießlich.
»Von Ihnen«, antwortete Gratia; »er sagte, Sie verdienten mich gar nicht.« »Na ja, natürlich, das wissen wir alle. Hoffentlich macht er uns ein Brautgeschenk, das wenigstens dafür steht«, brummte Jonas. »Hat er vielleicht etwas derartiges fallenlassen?«
»Gar keine Spur«, rief Gratia sehr entschieden.
»Alter Geizkragen«, murmelte Jonas. »Nun, Schätzchen?«
»Ja, Sie Unhold«, fuhr Miss Gratia mit geheucheltem Erstaunen auf, »ja, was erlauben Sie sich denn, Sie Unhold?«
»Ich wollte Sie nur ein bißchen knutschen«, sagte Jonas enttäuscht, »es ist doch hoffentlich nichts Unrechtes dabei.«
»Sogar sehr viel, wenn es mir nicht paßt«, antwortete Gratia. »Rücken Sie weg, – Sie machen mir heiß.«
Mr. Jonas zog seinen Arm zurück und sah sie einen Augenblick lang eher wie ein Mörder als wie ein Liebhaber an. Doch gleich darauf wurde er wieder freundlicher und begann:
»Ich wollte nur fragen, Schatz –«
»Was sagen Sie da, Sie gemeiner Kerl?« rief die zärtliche Braut.
»– wann wir endlich miteinander ins reine kommen werden. Ich kann doch nicht hier mein halbes Leben vertrödeln, und auch Pecksniff meint, daß mein Alter erst vor kurzem gestorben sei, hindere weiter nicht. Wir könnten uns hier unten in aller Stille trauen lassen, und mein Verwaistsein wäre bei den Nachbarn der beste Grund und die beste Entschuldigung, daß ich so bald eine Frau heimführe. Besonders eine, die mein Vater bei Lebzeiten gekannt hat. Und was den Mr. Totenknochen, meinen Onkel, anbelangt, so wirft er uns gewiß auch keinen Knüppel in den Weg; wenigstens sagte er diesen Morgen noch zu Pecksniff, wenn Sie einverstanden seien, Cousine, so habe er gar nichts dreinzureden. Also was ist, Schatz? Wann soll's losgehen?«
»Da hört sich denn doch –« begann Gratia.
»Was meinen Sie zu nächster Woche?« fiel ihr Jonas ins Wort.
»Zu nächster Woche? – Wenn Sie von dem nächsten Vierteljahr gesprochen hätten, würde ich mich schon über Ihre Unverschämtheit gewundert haben.«
»Aber ich habe nicht von dem nächsten Vierteljahr gesprochen, nur von der nächsten Woche.« »Und dann, Sie Unhold«, rief Gratia, stand hastig auf und stieß ihn von sich, »dann sage ich nein; nicht die nächste Woche. Nicht eher, als bis es mir gut dünkt, und das wird noch mehrere Monate dauern. So!«
Jonas blickte vom Boden auf und sah sie an, fast so finster, als hätte Tom Pinch vor ihm gestanden.
»So ein garstiger Kobold mit einem Pflaster über dem Auge möchte hier noch herumkommandieren oder gar etwas dreinzureden haben«, gellte Gratia. »Das fehlte gerade noch.«
– Mr. Jonas schwieg noch immer. –
»Wenn's nächsten Monat geschieht, ist's Zeit genug; aber ich werde mir auch das noch bis morgen überlegen. – – Und wenn es Ihnen nicht paßt, kann die Sache ja überhaupt ganz und gar unterbleiben«, setzte sie hinzu. »Und wenn Sie mir jetzt nachgehen und mich nicht in Ruhe lassen, so unterbleibt's gleichfalls. – So! Und wenn Sie nicht alles tun, was ich Ihnen befehle, so wird überhaupt nichts draus. Also ruhig hiergeblieben. – So! Sie Kobold!« – – Und mit diesen Worten hüpfte Gratia fröhlich davon.
»Na, warte nur, mein Kätzchen«, murmelte Jonas ihr nachblickend und zerbiß wütend einen Strohhalm; »das werde ich dir heimzahlen, wenn wir nur erst mal verheiratet sind. Vorderhand muß ich mir's ja leider gefallen lassen; aber schuldig bleiben werde ich dir nichts, darauf kannst du dich verlassen. – – Übrigens ein scheußlich widerwärtiger Ort hier, um allein dazusitzen. Von jeher habe ich die moderigen alten Kirchhöfe nicht leiden können.«
Als er in die Allee hinaustrat, blickte Miss Gratia, die inzwischen weit vorausgeeilt war, zufälligerweise zurück.
»Ja, ja«, brummte Jonas mit einem finstern Lächeln, »treib's nur so fort, solang's noch geht. Jetzt bist du noch frei und kannst tun und lassen, was du willst.«