Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

36. Kapitel

Tom Pinch wagt sich nach London, um sein Glück zu machen. Was ihm gleich im Anfang begegnete

Wie verändert erschien Salisbury Tom Pinch, als das Traumbild »Pecksniff« für ihn zerronnen war. Er sah zwar noch immer dieselben wunderbaren Läden, fand den Ort noch ebenso geheimnisvoll und luxuriös, überschätzte seinen Reichtum und seine Bevölkerung ebenso wie früher, aber dennoch war es nicht mehr das alte Salisbury oder überhaupt etwas, das ihm nur entfernt ähnlich gesehen hätte. Während im Wirtshaus das Frühstück bereitet wurde, begab sich Tom auf den Markt. Es war derselbe wie früher, überfüllt von denselben Käufern und Verkäufern, die rührig ihre Geschäfte betrieben; es war dasselbe Zungengewirr und das Gackern der Hühner in den Käfigen, die gleiche schöne Schaustellung frischer Butter, die in Leinwand von blendendem Weiß auf den Brettern lag, dieselben Höklerbuden mit ihren kleinen Rasierspiegeln, Schnürbändern, Schnallen, Hosenstegen und sämtlicher Kurzware waren zu sehen, kurz, alles und jedes war dasselbe, aber dennoch erschien Tom alles so ganz anders als früher. Inmitten des Marktplatzes vermißte er das Götzenbild, das er im Geiste immer dorthin gestellt, und kahl und öde sah es jetzt aus, wo dieses Bildnis fehlte.

Dennoch wirkte die Veränderung der Dinge nicht allzu verbitternd auf ihn, war er doch nicht einsichtsvoll genug, zu wissen, daß es vernünftig und weise ist, wenn man sich einmal in einem Menschen getäuscht hat, sich an der Menschheit im allgemeinen zu rächen und fortan niemandem mehr zu trauen. Nicht nur, daß diese Lebensregel von gewissen tiefsinnigen Poeten und ehrenwerten Männern verfochten wird, so entspricht sie auch dem Gerechtigkeitsbegriff jenes guten Wesirs aus Tausendundeiner Nacht, der bekanntlich alle Lastträger von Bagdad umzubringen befahl, weil man vermutete, daß einer dieser unglücklichen Gilde sich gegen das Gesetz vergangen habe.

Tom war so lange gewohnt gewesen, mit dem Pecksniff seiner Einbildung sich den Tee zu versüßen, ihn, sozusagen, als Butter auf sein Brot zu streichen und ihn als höchste Würze seines Bieres mit einzuschlürfen, daß er jetzt am ersten Morgen nach seiner Entlassung ein recht schales Frühstück hielt. Auch wurde sein Appetit zum Mittagessen nicht sonderlich durch den Umstand geschärft, daß er ernstlich über seine eigenen Angelegenheiten nachdachte und mit seinem Freunde, dem Organisten, darüber Beratung pflog. Der Organistengehilfe gab seine Meinung dahin ab, Tom müsse unter allen Umständen nach London gehen, da es eine ähnliche Stadt auf der Welt nicht mehr gäbe. Dies mochte im allgemeinen richtig sein, wenn es auch an und für sich betrachtet keinen hinreichenden Grund für Tom abgab, sich dorthin zu wenden.

Tom selbst hatte schon früher an London gedacht und mit diesem Orte seine Schwester sowie auch seinen alten Freund John Westlock in Verbindung gebracht, dessen Rat er natürlich in dieser wichtigen Krisis seines Geschickes einzuholen gedachte. Er beschloß deshalb, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, und begab sich auf der Stelle nach dem Postbureau, um sich einen Außenplatz zu sichern. Da die Diligence jedoch bereits überfüllt war, sah er sich genötigt, seine Abfahrt bis zum nächsten Tag zu verschieben. Aber auch dieser Umstand hatte nicht nur seine Schatten-, sondern auch seine Lichtseiten, denn wenn auch Toms Börse wieder mit einer unerwarteten Belastung bedroht war, so hatte er doch Gelegenheit, Mrs. Lupin zu schreiben und sie zu bitten, sie möge seinen Koffer an den bekannten alten Wegweiser bringen lassen, damit er seine Habseligkeiten gleich mit nach der Hauptstadt nehmen und sich auf diese Weise die Frachtkosten ersparen könne.

»So«, sagte er, legte die Feder aus der Hand und schöpfte wieder Hoffnung, »na, so weit wären wir glücklich.«

Er konnte sich nicht verhehlen, daß er, nachdem er einmal so weit mit sich ins reine gekommen war, ein ungewohntes Gefühl von Freiheit empfand und den unbestimmten Eindruck hatte, es sei Feiertag. Wohl kamen Momente des Bangens und der Niedergeschlagenheit immer wieder über ihn, aber dennoch fühlte er ein gewisses inneres Behagen bei dem Gedanken, er sei jetzt sein eigener Herr und könne auf eigene Faust Pläne schmieden. Freilich war seine Lage bei seinem mangelnden Selbstvertrauen höchst verwirrend für ihn, aber trotz aller seiner Sorgen gab der Gedanke den Speisen, die er im Wirtshause genoß, einen ganz eigenen Beigeschmack und breitete zwischen ihn und seine Aussichten einen Traumnebel, hinter dem die Zukunft wie in magischem Licht verheißungsvoll hervorwinkte.

So innerlich hin und her geworfen, legte sich Tom ein zweites Mal in den niedrigen Vierpfoster in der Nähe der beiden Ölbilder, die den ehemaligen Wirt und den fetten Ochsen darstellten, und in gleicher Stimmung verbrachte er auch den ganzen folgenden Tag. Als endlich die Postkutsche mit der goldenen Inschrift »London« hinten um die Ecke bog, machte ihr Anblick einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß er fast geneigt war, davonzulaufen. Er tat es jedoch nicht, setzte sich vielmehr mutig auf den Bock und blickte auf die vier Grauschimmel herunter, ganz verwirrt von dem Glanz und der Neuheit seiner Lage.

Übrigens hätte auch ein weniger bescheidener Mensch, als Tom es war, verwirrt sein können, so dicht neben einem solchen Kutscher zu sitzen. Der Mann trug seine Handschuhe nicht wie ein anderer in der Hand, sondern, wie er da auf dem Straßenpflaster stand und noch nicht einmal seinen Posten eingenommen hatte, zog er sie an mit einer Miene, als ob die Lenkung von vier Grauschimmeln einfach eine Bagatelle wäre. Ähnlich verfuhr er auch mit seinem Hute. Er verrichtete damit Wunderdinge, zu deren Vollbringung ihn nur eine unbegrenzte Pferdekenntnis und schrankenlose Waghalsigkeit befähigen konnte. Kleine Wertpakete wurden ihm mit besonderen Weisungen ans Herz gelegt, er verstaute sie in diesem Hute und setzte ihn dann wieder auf, als ob die Gesetze der Schwere in diesem Fall keine Gültigkeit hätten. Und dann erst der Kondukteur! »Siebzig Meilen im Tag«, sagte schon sein Backenbart. Seine Manieren waren sozusagen ein kurzer Galopp und seine Unterhaltung ein regelmäßiger Trab. Er selbst glich der Eilkutsche, die einen Abhang hinunterfährt: ein unaufhaltsamer Galopp. Sogar ein Frachtwagen hätte Flügel bekommen müssen, wenn ein solcher Kondukteur mit seinem Horn daraufgesessen hätte.

»London wirft seine Schatten voraus«, dachte Tom, als er auf dem Bocke saß und um sich blickte. »Ein solcher Kutscher und ein derartiger Schaffner haben noch nie auf Erden existiert.«

Der Wagen selbst war kein langsamer Postwagen, sondern eine renommistische, liederliche und luxuriöse Londoner Stadtkarosse. Die ganze Nacht auf den Rädern und bei Tag im Schuppen – das reinste Luderleben –, nahm das leichtsinnige Ding nicht mehr Notiz von Salisbury, als ob es das nächste beste Dorf gewesen wäre, rasselte geräuschvoll durch die nobeln Straßen, verhöhnte die Kathedrale, nahm gerade die schlechtesten Ecken am schärfsten, jagte alles aus dem Wege und raste über die offene Landstraße hinunter mit lustig herausforderndem Hörnerklang als letztem fröhlichem Scheidegruß.

Es war ein bezaubernder Abend, mild und hell. Trotz der Last, mit der die Größe und Unermeßlichkeit Londons seine Seele beschwerte, konnte Tom doch nicht dem angenehmen Eindruck widerstehen, den die rasche Bewegung in der herrlichen Luft auf ihn hervorbrachte. Die vier Grauschimmel griffen wacker aus, und das Posthorn tönte lustig dazwischen. Zuweilen ließ auch der Kutscher seine Stimme dareinschallen, und die Räder surrten harmonisch dazu. Die Messingringe an den Geschirren tönten wie ein kleines Glockenspiel, und klingend, klimpernd und klirrend bildete das ganze Riemenzeug von den Schnallen der vordersten Koppelriemen an bis zu dem Handgriff des Hinterkorbes ein einziges großes musikalisches Instrument.

Hussa! Vorbei an Hecken, Toren und Bäumen, vorbei an Landhäusern und Scheunen und heimkehrenden Arbeitern, vorüber an Eselkarren, die die Fuhrleute seitwärts in den Graben zogen, und an leeren Leiterwagen mit sich aufbäumenden Rossen, bis die Eilkutsche die schmale Wendung der Straße passiert hatte, vorüber an einsamen Kirchen und Kirchlein in ihren stillen Winkeln mit ländlichen Friedhöfen ringsum, wo die Gräber grünten und die Maßliebchen auf den Herzen der Toten schliefen; vorüber an Bächen, in denen das Vieh seine Hufe kühlte und die Binsen wuchsen, an Wildgehegen, Meierhöfen und Schobern, die im schwindenden Abendlicht wie verwitterte altersbraune Giebeldächer aussahen, hinab den kiesbestreuten Abhang durch aufspritzende Wasserlachen und wieder im Galopp auf die ebene Straße hinauf.

»Ob der Koffer da sei«, als sie den alten Meilenzeiger erreichten?

Der Koffer? Mrs. Lupin war selbst mitgekommen. Großartig, wie es sich für eine Wirtin schickt, war sie in ihrer eigenen Kalesche gekommen und saß jetzt, die Liebliche, auf einem Mahagoniklappsitz, mit der entzückendsten Miene von der Welt ihr Drachenpferd lenkend. Und der Postwagen hielt neben ihrer Kutsche, deren Rad er fast streifte, und der Schaffner schmetterte, während ihr Knecht den Koffer hinaufpackte, die frohen Klänge seines Hornes in die Luft und fern hinab durch die Kaminessen Pecksniffs, als wolle die Post ihren Jubel ausdrücken, daß Tom Pinch endlich frei sei.

»Sie sind wirklich zu gütig«, sagte Tom und beugte sich von seinem Außensitz nieder, um Mrs. Lupin die Hand zu reichen. »Hätte ich das gewußt, würde ich Sie nicht bemüht haben.«

»Bemüht haben, Mr. Pinch!?« rief die Drachenwirtin.

»Freilich, ich weiß ja, es macht Ihnen Freude«, versetzte Tom und drückte ihr herzlich die Hand. »Was gibt es Neues?«

Die Wirtin schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie, daß Sie mich gesehen haben«, fuhr Tom fort, »und sagen Sie, ich sei froh und heiter und nicht ein bißchen niedergeschlagen. Und bitte, seien Sie ein Gleiches, denn schließlich wird doch noch alles wieder gut werden. – Gott befohlen!«

»Aber Sie werden mir doch schreiben, wenn Sie sich irgendwo einen dauernden Aufenthalt gewählt haben, Mr. Pinch?« fragte Mrs. Lupin besorgt.

»Wenn ich mir einen dauernden Aufenthalt gewählt habe?« rief Tom, unwillkürlich die Augen aufreißend; »ja, ja, natürlich; dann werde ich sofort schreiben. Vielleicht wäre es übrigens besser, wenn ich es schon früher täte, denn es könnte immerhin einige Zeit dauern, bis ich einen bleibenden Wohnsitz gefunden habe. Meine Barschaft ist nicht allzu groß, und ich habe nur einen einzigen Freund. Übrigens will ich ihn von Ihnen grüßen. Sie haben ja immer gut mit Mr. Westlock gestanden. Also, leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, rief Mrs. Lupin und langte hastig aus ihrem Wagen einen Korb, aus dem der Hals einer langen Flasche hervorguckte. »Bitte, nehmen Sie das; und Gott befohlen.«

»Soll ich den Korb für Sie nach London mitnehmen?« fragte Tom.

Die Wirtin war bereits im Begriff, ihre Kalesche umzudrehen.

»Nein, nein«, rief sie, »es ist nur eine kleine Erfrischung auf den Weg. – Vorwärts, Jack! Alles in Ordnung! Gott befohlen!«

Sie war schon eine Viertelmeile weg, ehe Tom sich sammeln konnte. Dann blickte er sich um und winkte ihr mit der Hand zu, was sie herzlich erwiderte.

»Das ist also das letzte Lebewohl von dem alten Wegweiser«, dachte Tom, »wo ich so oft gestanden habe und dieselbe Postkutsche habe vorbeifahren sehen und von so vielen Kameraden Abschied genommen habe. Sonst kam mir der Postwagen immer wie ein großes Ungeheuer vor, das zu gewissen Zeiten erschien, um meine Freunde in die Welt hinaus zu entführen. Jetzt nimmt es auch mich mit sich, damit ich mein Glück in der Fremde suche. Weiß Gott, wo ich es finden werde.«

Und es wurde ihm weh ums Herz, wenn er dachte, wie er vor alters so oft die Gasse hinauf und nach Mr. Pecksniffs Wohnung zurückgegangen war. In seiner trübseligen Stimmung fiel sein Blick wieder auf den Korb auf seinen Knien, den er beinahe ganz vergessen hatte.

»Sie ist die freundlichste und rücksichtsvollste Frau von der Welt«, murmelte er. »Jetzt begreife ich erst, warum sie ihren Jack so schnell weggerufen hat. Bloß damit ich ihm kein Trinkgeld geben konnte. Die ganze Zeit über hatte ich das Geld für ihn bereit, aber er sah mich auch nicht ein einziges Mal an, während er mir doch sonst – ich kenne ihn doch so gut – freundlich zugegrinst hätte. Wirklich, die Güte der Leute rührt mich fast bis zu Tränen.« Sein Blick begegnete dem Auge des Kutschers. Der Mann blinzelte ihm verschmitzt zu.

»Merkwürdig hübsche Frau für ihr Alter, was?« fragte er.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung; sie ist wirklich bildschön«, rief Tom.

»Schöner als so manche junge, was meinen Sie?«

»Als so manche junge«, pflichtete Tom bei.

»Ich für meinen Teil mach mir gar nix aus jungen Frauenzimmern«, behauptete der Kutscher kühn.

Das war nun allerdings Geschmackssache, und Tom fühlte sich nicht berufen, die Frage weiter zu erörtern.

»Die jungen verstehn zum Beispiel nix von Erfrischungen«, fing der Kutscher nach einer Weile wieder an. »Ein Frauenzimmer muß schon so ziemlich in die Jahre gekommen sein, ehe sie soviel Verstand hat, einem ein derartiges Körbchen mitzubringen.«

»Wollen Sie vielleicht wissen, was drin ist?« fragte Tom lächelnd.

Da der Kutscher bloß lachte und Tom selbst ebenfalls neugierig war, so packte er aus und legte die Delikatessen nacheinander auf das Wagenbrett. Ein kaltes gebratenes Huhn, ein paar Lagen Schinkenschnitten, ein Brotlaib mit schöner brauner Kruste, ein Stück Käse, eine Tüte mit Zwieback, ein halbes Dutzend Äpfel, ein Messer, eine Scheibe Butter, ein wenig Salz und eine Flasche alten Xeres. Es war auch ein Brief dabei, und Tom steckte ihn in die Tasche.

Der Kutscher schien es so ernst mit seinem Lobe von Mrs. Lupin zu meinen und gratulierte Tom so herzlich, daß dieser um des Rufes der guten Witwe willen es für nötig hielt, dem Manne auseinanderzusetzen, der Korb sei eine Erkenntlichkeit rein platonischer Natur und ihm lediglich aus Freundschaft überreicht worden. Nachdem er dies mit tiefem Ernste auseinandergesetzt – denn er hielt es für seine Pflicht, dem lockern Vogel reinen Wein einzuschenken, damit dieser nicht etwa auf schlechte Gedanken komme –, bedeutete er ihm, es werde ihn freuen, das Geschenk mit ihm zu teilen, und schlug ihm vor, sie wollten, sooft es der Kutscher bei seiner Erfahrung und Kenntnis des Weges für angebracht halte, den Korb als gute Freunde gemeinschaftlich plündern. Von da an plauderten sie so vertraut und freundlich miteinander, daß, obgleich Tom mehr von Einhörnern verstand als von Pferden, der Kutscher schließlich zu seinem Freunde, dem Schaffner sagte, er wünsche sich niemals einen besseren Reisegefährten auf dem Bock als den jetzigen – besonders was die Unterhaltung beträfe –, so kurios der Mann auch aussehe.

Und, hussa, weiter ging's unter den dunkelnden Schatten dahin, die die Umrisse der Bäume verschlangen, und durch Licht und Düster vorüber am Dorfanger, wo noch die Cricketspieler weilten und das frische Gras seinen Duft in die Nacht ausströmte. Hussa! Vorwärts mit vier frischen Pferden vom »Falben Hirsch«, wo die Zecher, die Reisenden anstaunend, im Torweg standen und das ausgespannte Grauschimmelquartett mit hängenden Zügeln unter dem Jubel der Dorfjugend sich in die Schwemme trollte. Dann weiter mit klappernden, funkensprühenden Hufen über die alte steinerne Brücke wieder hinab den schattigen Weg bis ans offene Tor, und weit, weit weg in den Wald hinein.

Hussa, mit dem Mond um die Wette! Hussa, hussa! Kaum ist die Schönheit der Nacht so recht empfunden, da kommt auch schon der Tag herangehüpft. Hussa! Noch drei Stationen, und die Landwege sind zu einer fortlaufenden Straße geworden. Vorbei an Gemüsegärten, Häuserreihen, Villen, Terrassen und Plätzen – vorbei an Frachtwagen, Kutschen und Karren – vorbei an Frühaufstehern und Arbeitern, an verspäteten Nachtschwärmern, betrunkenen und nüchternen Lastträgern – vorbei an Ziegelhaufen und Steinmauern und hinein auf das rasselnde Pflaster, wo sich auf einer Postkutsche ein ruhiger Sitz auf die Dauer nicht so leicht behaupten läßt; hussa, hinunter die zahllosen Windungen und durch das endlose Labyrinth der Wege, bis das alte Gasthaustor erreicht ist. Betäubt und schwindelnd steigt Tom Pinch ab – er ist in London.

»Und noch obendrein fünf Minuten vor der Zeit«, erklärt der Kutscher, als ihm Tom die Fahrt bezahlt.

»Ach«, versetzt Mr. Pinch, »ich würde mir nicht soviel daraus gemacht haben, wenn es auch fünf Stunden nach der Zeit wäre; ich weiß wahrhaftig nicht, wohin ich so früh gehen oder was ich anfangen soll.«

»Man erwartet Sie also nicht?« fragte der Kutscher.

»Wer?«

»Nun, sie.« Im Kopf des Kutschers hat es sich nämlich so festgesetzt, Tom müsse nach London gekommen sein, um einen ausgebreiteten Kreis ängstlich besorgter Verwandter und Freunde zu besuchen, daß es ziemlich schwer gewesen sein würde, es dem Manne auszureden. Tom versuchte es auch nicht erst, vermied vielmehr jede weitere Erörterung des Themas und verfügte sich in das Wirtshaus, wo er vor dem Kaminfeuer, das in einer vom Hofe aus zugänglichen Gaststube brannte, bald in Schlummer verfiel. Als er erwachte, waren die Leute im Hause bereits sämtlich auf den Beinen. Er wusch sich, brachte seine Kleider in Ordnung, was er nach der Reise wirklich sehr nötig hatte, und machte sich, da es inzwischen acht Uhr geworden, sofort auf den Weg, um seinen alten Freund John aufzusuchen.

John Westlock wohnte in Furnivals Inn, High Holborn, das ungefähr eine Viertelstunde von dem Wirtshaus entfernt lag, von Tom aber nicht in so kurzer Zeit erreicht wurde, da er einen großen Umweg machte und die Richtung verfehlte. Als er endlich vor Johns Türe anlangte, blieb er, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, stehen und wagte kaum den Klopfer zu ergreifen, denn es war ihm durchaus nicht wohl zumute bei dem Gedanken, er müsse nun berichten, was zwischen ihm und Mr. Pecksniff vorgefallen war – hatte er doch die sichere Ahnung, daß John über die Enthüllung in einen geradezu schrecklichen Jubel ausbrechen werde.

»Und doch muß es geschehen«, sagte sich Tom, »ob nun früher oder später. Es ist besser, ich warte nicht länger.«

– Rat tat tat. –

»Ich fürchte, man klopft in London anders«, murmelte Tom, »es hat nicht besonders zuversichtlich geklungen. Wahrscheinlich öffnet man auch aus diesem Grunde die Türe nicht.«

Ob nun so oder so, eines war sicher: es kam niemand. Sicher war ferner, daß Tom dastand und den Klopfer ansah – verwundert, wo denn in der Nähe der Gentleman wohne, der da in einem fort aus Leibeskräften »herein« rief.

»Meiner Seel«, sagte er sich endlich. »Er wohnt vielleicht gar hier drinnen, und die Aufforderung gilt mir. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht kann man die Türe von außen aufmachen. Wahrhaftig, ja.« Und, wirklich, es ging. Er drückte die Klinke herunter, und kaum hatte er dies getan, rief dieselbe Stimme, die er vorhin schon gehört, ungeduldig: »Warum kommen Sie denn nicht herein? Hören Sie denn nicht?! Wollen Sie noch lange draußen stehen bleiben?«

Tom trat aus dem kleinen Flur in das Zimmer, aus dem diese Worte herausgerufen wurden, und kaum war er eines Herrn im Schlafrock und Pantoffeln – die Stiefel standen daneben und zum Anziehen bereit – ansichtig geworden, der mit einer Zeitung in der Hand bei seinem Frühstück saß, als dieser auch schon, auf die Gefahr hin, seinen Teetisch umzuwerfen, auf ihn losstürzte und ihn in die Arme schloß.

»Tom, mein Junge, Tom!«

»Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Mr. Westlock«, sagte Tom Pinch, drückte ihm beide Hände und zitterte ärger als je. »Wie freundlich Sie sind.«

»Mr. Westlock?« wiederholte John. »Was soll denn das heißen, Pinch? Du hast doch hoffentlich meinen Taufnamen nicht vergessen?«

»Nein, John, vergessen habe ich ihn nicht«, versetzte Tom Pinch. »O Gott, wie liebenswürdig du bist.«

»In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen solchen Narren gesehen«, rief John. »Was soll das heißen, daß du mir das schon zum zweitenmal sagst? Ich möchte doch gern wissen, ob ich vielleicht anders sein sollte. Da, setz dich nieder, Tom, und sei ein vernünftiger Mensch. Wie geht's dir, mein Junge? Es freut mich innig, dich zu sehen.«

»Und wie froh ich bin, dich zu sehen«, sagte Tom.

»Das Vergnügen ist natürlich gegenseitig«, rief John, »und wir halten's selbstverständlich wie in frühern Zeiten. Hätte ich geahnt, daß du kommst, Tom, würde ich dir ein Frühstück vorbereitet haben. Mir ist freilich eine solche Überraschung lieber als das beste Frühstück von der Welt, aber bei dir ist's etwas anderes, und ich zweifele nicht, daß du hungrig bist wie ein Wolf. So wie die Dinge liegen, mußt du dich eben behelfen, wie du kannst, Tom. Wir werden's übrigens beim Dinner schon nachholen. Da, nimm ein wenig Zucker – übrigens, das erinnert mich an den Zucker bei Pecksniffs. Haha, was macht er denn, der Bursche? Wann kommt er nach London? – Nun, so greife doch endlich zu, Tom! Es sind zwar nur Überbleibsel, aber auch diese sind nicht ganz zu verachten. Gesulzter Wildschweinkopf! Versuche ihn mal, Tom! Mache nur den Anfang! Was du doch für ein seltsamer Kerl bist, und wie ich mich freue, dich wiederzusehen!«

Während John in freudiger Erregung dies alles nur so hervorstieß, lief er unaufhörlich zwischen dem Schrank und dem Tisch hin und her, brachte alle Arten von Dingen in Töpfen herbei, löffelte eine gewaltige Menge Tee aus der Büchse, ließ ein paar Semmeln in seine Stiefel fallen, goß heißes Wasser über die Butter und beging noch eine ganze Reihe ähnlicher Mißgriffe, ohne sich jedoch dadurch verstimmen zu lassen.

»So«, sagte er, sich zum fünfzigstenmal wieder niedersetzend, aber sofort wieder aufspringend, um eine weitere Bereicherung des Frühstücks herbeizuschaffen.

»Jetzt sind wir so gut mit allem versehen, daß wir es wohl bis zum Mittagessen aushalten können und jetzt zu deinen Neuigkeiten kommen. Also, vor allem – was macht Pecksniff?«

»Ich weiß nicht«, lautete Toms ernste Antwort.

John stellte die eben ergriffene Teekanne wieder nieder und blickte seinen Freund erstaunt an.

»Ich weiß nicht, was er macht«, wiederholte Tom Pinch, »und kümmere mich auch nicht darum. Aber selbstverständlich wünsche ich ihm nichts Böses. Ich habe ihn verlassen, John – für immer verlassen.«

»Freiwillig?«

»Nein, das nicht. Er hat mich entlassen. Ich habe jetzt eingesehen, daß ich mich in ihm getäuscht habe, und es wäre mir unter keinen Umständen länger möglich gewesen, bei ihm zu bleiben. Ich bedaure tief, gestehen zu müssen, daß du hinsichtlich Beurteilung seines Charakters recht hattest. Es ist vielleicht lächerlich und schwach von mir, John, aber ich kann dir nur versichern, daß es mich tief geschmerzt hat, als ich diese Entdeckung machte.«

Tom hatte durchaus nicht nötig, seinen Freund so bittend anzusehen, er möge nicht lachen, denn eher würde John daran gedacht haben, ihn zu Boden zu schlagen.

»Es war alles ein Traum; jetzt ist's, Gott sei Dank, vorüber«, fuhr Tom fort. »Wie es zuging, will ich dir später einmal erzählen. Du mußt Nachsicht mit meiner Torheit haben, John, aber ich möchte jetzt weder daran denken noch davon sprechen.«

»Ich schwöre dir, Tom«, sagte Westlock nach einer kurzen Pause sehr ernsthaft, »wenn ich so sehe, wie tief es dich schmerzt, so weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen oder betrüben soll, daß du endlich diese Entdeckung gemacht hast. Ich mache mir sogar Vorwürfe bei dem Gedanken, wie oft ich dir gegenüber darüber scherzen konnte. Ich hätte dich besser kennen sollen.«

»Mein lieber, lieber Freund«, rief Tom und streckte John beide Hände entgegen, »es ist wirklich riesig hochherzig und brav von dir, daß du mich und meine Mitteilung so aufnimmst. Es macht mich erröten, daß ich nur einen Augenblick deswegen beunruhigt sein konnte. – Du glaubst gar nicht, welche Last du mir vom Herzen genommen hast«, setzte er hinzu und griff wieder zu Messer und Gabel. »Und jetzt werde ich dem Wildschweinkopf aber ganz fürchterlich zusetzen.«

John, auf diese Art an seine Wirtspflichten erinnert, machte sich unverzüglich daran, die einander widersprechendsten Speisen auf Toms Teller aufzuhäufen, und Mr. Pinch ließ sich das Frühstück vortrefflich schmecken und wurde bald wieder fröhlich und guter Laune.

»Alles recht hübsch und schön«, sagte John, den Verheerungen, die sein Gast unter den Speisen anrichtete, mit großem Vergnügen zusehend, »aber jetzt zu andern Plänen. Du mußt natürlich bei mir bleiben. Wo ist dein Koffer?«

»Im Wirtshaus«, sagte Tom. »Ich hatte nicht im Sinn –«

»Mir ganz egal, was du im Sinn gehabt hast oder nicht«, fiel ihm John Westlock ins Wort, »was du jetzt im Sinn hast, ist wichtiger. Du wolltest doch zu mir kommen und mich um meinen Rat fragen – ist es nicht so, Tom?«

»Allerdings.«

»Und du wirst ihn befolgen, wenn ich ihn dir gegeben habe?«

»Ja«, versetzte Tom lächelnd, »vorausgesetzt, daß er gut ist, was ich natürlich nicht bezweifle, wenn er aus deinem Munde kommt.«

»Bravo! – Also, dann sei nicht gleich im Anfang der alte verstockte Bursche, Tom, oder ich schweige und behalte meinen unschätzbaren Rat für mich. Du bist bei mir zu Besuch – und ich wollte nur, ich hätte eine Orgel für dich.«

»Dafür würden sich die übrigen Hausbewohner wohl sehr bedanken«, lautete Toms Antwort.

»Also, laß mal sehen. – Zuerst wirst du wohl heute früh deine Schwester besuchen wollen«, fing John wieder an, »und wirst natürlich lieber allein hingehen wollen. Ich begleite dich ein Stück Wegs und sehe mich dabei in der Stadt um, wo ich allerlei zu besorgen habe, und nachmittags treffen wir uns dann wieder hier. Da, steck das in die Tasche, Tom, es ist der Schlüssel zur Entreetür; wenn du zuerst nach Hause kommst, wirst du ihn nötig haben.«

»Wahrhaftig«, rief Tom, »sich auf diese Weise bei einem Freunde einzuquartieren –«

»Aber ich habe doch zwei Schlüssel«, unterbrach ihn John Westlock. »Ich kann doch nicht mit beiden zugleich öffnen; oder? Was du doch für ein lächerlicher Mensch bist, Tom –! Wünschest du vielleicht etwas Besonderes zu Mittag zu essen?«

»O Gott, nein«, rief Tom.

»Also gut, dann überlaß das mir. Willst du jetzt ein Glas Kirschgeist haben?«

»Nicht einen Tropfen! – Was das doch für merkwürdige Quartiere in London sind. Alles kann man da haben!«

»Ach, Gott behüte, Tom – nichts als ein paar Junggesellenbequemlichkeiten; eine Art ›Robinson-Crusoe-Wirtschaft‹, weiter nichts. Was meinst du, wollen wir jetzt einen Spaziergang machen?«

»Oh, sehr gerne«, rief Tom, »ich bin bereit, wann es dir paßt.«

Mr. Westlock fischte die Semmeln aus seinen Stiefeln, warf sich in seine Kleider und reichte Tom zur Unterhaltung die Zeitung hin. Als er gebürstet und gekämmt wieder zurückkehrte, fand er Mr. Pinch in düsterer Stimmung, das Zeitungsblatt in der Hand.

»Träumst du, Tom?«

»Nein«, sagte Mr. Pinch leise, »ich habe mir nur die Annoncen durchgelesen – im Glauben, es könnte möglicherweise etwas darunter sein, was für mich paßte. Aber wie mir schon so oft aufgefallen ist, scheint immer der sonderbare Fall einzutreffen, daß die Leute sich nicht zueinander finden wollen. Da gibt es alle Arten von Dienstherren, die alle Arten von Dienern haben wollen, alle Arten von Dienern, die alle Arten von Dienstherrn brauchen können, aber zu finden scheinen sie einander nie. Hier zum Beispiel sieht sich ein Gentleman in einer öffentlichen Stellung durch vorübergehende Verlegenheit veranlaßt, fünfhundert Pfund aufnehmen zu müssen, und in der nächsten Annonce meldet sich ein anderer Gentleman, der genau diese Summe ausborgen will. Aber die beiden werden sich gewiß nicht zusammenfinden. Und dann ist hier eine Dame in unabhängiger Stellung, die Kost und Logis bei einer ruhigen Familie sucht – und daneben eine Familie, die sich fast ganz mit denselben Worten eine Dame in unabhängiger Stellung wünscht. Aber die Dame wird nicht hingehen, John. Ebenso wenig werden diese ledigen Gentlemen hier, die ein freundliches Schlafzimmer mit gelegentlicher Benützung des Salons brauchen, sich je mit den Leuten hier ins Einvernehmen setzen, die in einem Haus mit Garten nur fünf Minuten von der Börse entfernt wohnen. Es scheint wirklich«, sagte Tom und legte das Blatt mit einem tiefen Seufzer aus der Hand, »daß die Menschen zufrieden sind, wenn sie ihre Anliegen nur drucken lassen können. Es scheint eine Art Trost für sie drin zu liegen, zu publizieren: ich brauche das und jenes und kann's nicht bekommen und glaube auch nicht, es jemals bekommen zu können.«

John Westlock lachte über den komischen Einfall, und dann gingen sie zusammen fort. Viele Jahre waren vergangen, seit Tom das letztemal in London gewesen, und auch damals hatte er so wenig davon kennengelernt, daß ihn jetzt jede Kleinigkeit interessierte. Besonders begierig war er, unter andern Merkwürdigkeiten auch jenes Viertel zu sehen, wo, wie er gehört hatte, die Leute vom Lande ausgeraubt und ermordet zu werden pflegen. Ja, es schien ihm gar nicht recht zu passen, als er nach einer halben Stunde Wegs bemerkte, daß nicht einmal ein Taschendieb sich seiner Börse bemächtigt hatte. John Westlock erfand daher extra einen solchen für ihn und zeigte ihm einen höchst respektablen Fremden als hervorragendes Mitglied dieser Gilde. Dann erst war Mr. Pinch endlich zufrieden.

Nachdem sie eine ziemlich weite Strecke zusammen zurückgelegt, machte John Tom kurz vor Camberwell so genau mit jeder Biegung der Straße zur Villa des reichen Gelb- und Rotgießers bekannt, daß Tom den Weg unmöglich verfehlen konnte, und ließ ihn dann allein seine Visite machen.

Mr. Pinch war vor dem großen Glockenzug angekommen und läutete; sehr bescheiden natürlich. Der Portier erschien.

»Bitte, wohnt hier Miss Pinch?« fragte Tom.

»Miss Pinch ist hier Gouvernante«, versetzte der Portier und musterte dabei Tom von oben bis unten, als wollte er sagen: na, du scheinst mir ja ein recht netter Kunde zu sein. Wo kommst du eigentlich her?

»Ganz recht, das ist die junge Dame«, sagte Tom. »Ist sie zu Hause?«

»Kann ich unmöglich wissen«, versetzte der Portier.

»Möchten Sie dann vielleicht die Güte haben, zu fragen«, ersuchte Tom. Er genierte sich fast, diese Bitte vorgebracht zu haben, denn die Möglichkeit eines solchen Schrittes schien dem Portier durchaus nicht einzuleuchten.

Seine Pflicht als Portier war, nach Ertönen der Haustürglocke, wie üblich, die innere Glocke zu ziehen – denn bei dem Gelb- und Rotgießer ging es genau wie bei einem Baron zu –, und das hatte er auch getan. Er wurde bezahlt, daß er das Haustor auf und zu mache, und nicht, um Fremden Auskunft zu geben. Er überließ also das Weitere dem livrierten Bedienten, der in diesem Augenblick erschien.

»Hallo, was wollen Sie hier? Hier herein gefälligst, junger Herr.«

»Oh«, sagte Tom und trat in den Garten, »ich habe nicht bemerkt, daß noch jemand da ist. – Bitte, ist Miss Pinch zu Hause?«

»Drin ist sie wohl«, versetzte der Lakai, als wolle er sagen: »zu Hause« ist nur die gnädige Frau.

»Ich möchte sie gerne sprechen«, sagte Tom.

Der Lakai, ein lebhafter junger Mann, bemerkte in diesem Augenblick zufällig eine davonfliegende Taube, und das interessierte ihn dermaßen, daß er nicht antworten konnte, bis der Vogel hinter dem Dach verschwand. Dann endlich lud er Tom ein, weiterzukommen, und führte ihn in eine Art Sprechzimmer.

»Der Name?« fragte er langsam, indem er an der Türe stehen blieb.

»Melden Sie gefälligst: ihr Bruder.«

»Mutter?« fragte der Lakai mit gedehnter Stimme.

»Bruder!« wiederholte Tom etwas lauter. »Sie würden mich übrigens sehr verbinden, wenn Sie zuvörderst sagen wollten, ein Herr sei da, und dann erst erklärten, ich sei Miss Pinchs Bruder, denn sie erwartet mich nicht und weiß gar nicht, daß ich in London bin. Ich möchte sie nicht gerne erschrecken.«

Das Interesse des Bedienten an Toms Bemerkungen hatte schon bei dessen zweitem oder drittem Wort aufgehört, er war aber doch so gütig, bis zum Schluß der Rede zu warten. Dann zog er die Türe hinter sich zu und entfernte sich.

»Mein Gott«, murmelte Tom, »ist das ein unehrerbietiges, unartiges Benehmen. Ich will nur hoffen, daß der Bediente hier noch neu ist und daß Ruth anders behandelt wird.«

Er wurde in seinen Betrachtungen durch das Geräusch von Stimmen aus dem anstoßenden Zimmer unterbrochen. Es schien, als ob sich jemand stritte, unwillig wäre oder schelte; und schließlich brach beinahe ein Sturm aus. Mitten durch diesen Lärm hindurch glaubte Tom die Stimme des Lakaien zu hören, der ihn anmeldete, und gleich darauf entstand plötzlich eine ganz unnatürliche Stille. Tom stand am Fenster und dachte bei sich, was das wohl für ein häuslicher Zwist sein könne, hoffte aber, Ruth würde nichts damit zu tun haben. Da ging plötzlich die Türe auf, und seine Schwester warf sich ihm an die Brust.

»Gott im Himmel«, rief Tom und blickte sie, nachdem sie sich gegenseitig zärtlich umarmt hatten, mit großem Stolze an, »wie du dich verändert hast, Ruth! Wirklich, wenn ich dich anderswo getroffen hätte, Schwesterchen, so würde ich dich kaum erkannt haben. Hast du dich aber herausgemacht!« setzte er mit verhaltenem Entzücken hinzu, »du bist so groß, so – weißt du – so hübsch geworden!«

»Wenn du es sagst, Tom –«

»Nein, nein, das muß jeder sagen«, beteuerte Tom und streichelte Ruth sanft die Locken. »Das ist eine Tatsache und nicht nur eine Ansicht von mir. Was gibt's denn aber?« fuhr er fort und blickte sie genauer an, »du bist so aufgeregt, du hast geweint.«

»Ich? Gott behüte, Tom.«

»Dummes Zeug,« sagte Tom fest, »rede dich nicht heraus. Ich sehe es doch. Sage mir offen und aufrichtig, was es gegeben hat. Ich bin jetzt nicht mehr bei Mr. Pecksniff und will mir in London eine Stelle suchen. Wenn du dich also hier im Hause nicht glücklich fühlst – und ich fürchte sehr, daß es so ist, und fange an zu glauben, du hast mich aus Liebe und Rücksicht bisher davon nicht verständigt –, so darfst du auch nicht länger bleiben.«

Sein Blut war in Wallung. Möglich, daß der genossene Schweinskopf daran schuld war, jedenfalls aber der Lakai und, vor allem: der Anblick seiner hübschen Schwester. Was ihn selbst anging, konnte Tom viel vertragen, aber auf Ruth war er stolz und in diesem Punkte daher sehr empfindlich.

Es schwante ihm plötzlich, daß es vielleicht noch mehr als einen Pecksniff auf der Welt geben könne, und die Haut fing ihm an zu prickeln.

»Wir wollen das später einmal besprechen, Tom«, wich Ruth aus und beschwichtigte ihren Bruder mit einem Kuß. »Ich fürchte allerdings, ich werde nicht mehr lang hier bleiben können.«

»Du kannst nicht?« versetzte Tom. »Nun gut, dann darfst du es auch nicht, meine Liebe. Auf das Mitleid der Leute hier sollst du nicht angewiesen sein, mein Wort drauf.«

In diesem Augenblick unterbrach sie der Lakai und meldete im Auftrag seines Herrn, man wünsche Mr. Thomas Pinch zu sprechen, ehe er ginge, zugleich aber auch Miss Pinch.

»Gehen Sie voraus. Zeigen Sie mir den Weg«, sagte Tom. »Ich will sogleich meine Aufwartung machen.«

Sie traten in das anstoßende Zimmer, aus dem vorhin der Lärm gekommen war, und fanden dort einen Herrn in mittleren Jahren mit wichtiger Miene und protzenhaftem Auftreten und desgleichen eine Dame in mittleren Jahren mit einer Art Accisbeamtengesicht, wenigstens schienen Essig und Pfeffer darin die hervorragendsten Elemente. Ferner war dieselbe Schülerin von Miss Pinch zugegen, die bei einer früheren Gelegenheit von Mrs. Todgers den Namen »Sirup« bekommen hatte, und weinte und schluchzte; – offenbar aus reiner Bosheit.

»Mein Bruder«, stellte Ruth Pinch Tom schüchtern vor.

»Oh«, rief der Gentleman und musterte Tom von oben bis unten. »Sie sind also Miss Pinchs Bruder. – Entschuldigen Sie eine Frage: wie kommt es, daß Sie ihr so gar nicht ähnlich sehen?«

»Miss Pinch hat de facto einen Bruder«, bemerkte die Dame.

»Ja, ja. Miss Pinch erzählt immer von ihrem Bruder, statt sich mit meiner Erziehung zu beschäftigen«, schluchzte der Zögling.

»Sophie, du hast zu schweigen«, rief der Gentleman. – »Setzen Sie sich gefälligst«, lud er Tom ein.

Mr. Pinch setzte sich und blickte in stummem Erstaunen von einem Gesicht zum andern.

»Bleiben Sie gefälligst, Miss Pinch«, fuhr der Gentleman fort und warf Ruth einen geringschätzigen Seitenblick zu.

Sofort stand Tom auf, um für seine Schwester einen Stuhl zu holen und nahm dann wieder Platz.

»Es freut mich sehr, Sir, daß Sie zufällig heute gerade Ihre Schwester besuchen«, begann der Gelb- und Rotgießer wieder; »denn, wenn ich es auch grundsätzlich nicht billige, daß eine junge Person, die in meiner Familie als Gouvernante in Diensten steht, Besuche annimmt, so kommt mir der Ihrige doch im gegenwärtigen Falle sehr apropos und gelegen. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir mit Ihrer Schwester durchaus nicht zufrieden sind.«

»Wir sind sogar sehr unzufrieden mit ihr«, warf die Dame hin.

»Ich will Miss Pinch keine Aufgaben mehr hersagen, und wenn man mich dafür zu Tode prügelt«, schluchzte der Seraph.

»Sophie!« rief der Vater, »du hast zu schweigen.«

»Würden Sie mir die Frage erlauben, worin der Grund Ihrer Unzufriedenheit besteht?« fragte Tom.

»Ja«, entgegnete der Gentleman, »das will ich. Nicht, daß ich annehme, Sie hätten ein Recht zu fragen, aber ich will es. Ihre Schwester hat nicht die mindeste angeborene Fähigkeit, sich Achtung zu verschaffen, und dies bildet eine unablässige Quelle von Mißhelligkeiten zwischen uns. Trotzdem sie schon seit einiger Zeit in unserer Mitte weilt und die hier gegenwärtige junge Dame sozusagen fast unter ihren Augen aufgewachsen ist, so hat dennoch diese junge Dame hier keine Achtung vor ihr. Miss Pinch ist vollständig unfähig gewesen, sich die Achtung meiner Tochter und ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich behaupte«, setzte der Gentleman hinzu und ließ seine Hand gravitätisch auf den Tisch niederfallen, »ich behaupte nun, daß hierin ein radikaler Fehler liegt. Sie, als ihr Bruder, sind vielleicht geneigt, es in Abrede zu ziehen –«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, unterbrach Tom, »ich bin durchaus nicht geneigt, es in Abrede zu ziehen, sondern bin sogar überzeugt, daß ein radikaler Fehler hier obwalten muß – ein geradezu unausrottbarer Fehler.«

»Gott im Himmel«, rief der Gentleman und sah sich würdevoll im Zimmer um, »was muß ich alles täglich mit ansehen! Was für Resultate entspringen aus dieser Charakterschwäche Miss Pinchs? Was müssen als Vater meine Gefühle sein, wenn ich entdecken muß, daß meine Tochter – während ich doch Miss Pinch wiederholt ausdrücklich ermahnt habe, sie solle ihre Schülerin anhalten, in allen Ausdrücken gewählt und in ihrer Haltung gentil zu sein, wie es sich für meiner Tochter Stellung im Leben gebührt, und höflich und reserviert gegen untergebene Personen zu sein –, ich sage, wenn ich finden muß, daß diesen Morgen erst noch meine Tochter Miss Pinch eine Bettlerin nannte –«

»Ein bettelhaftes Ding«, verbesserte die Dame des Hauses.

»Das ist noch viel schlimmer!« rief der Gentleman triumphierend, »noch viel schlimmer! Ein bettelhaftes Ding! Welch gemeiner, roher, verächtlicher Ausdruck.«

»Höchst verächtlich«, rief Tom. »Es freut mich, daß man sich hier so außerordentlich klar darüber ist.«

»So klar, Sir«, bestätigte der Gentleman und dämpfte seine Stimme zu größter Eindringlichkeit, »so klar, daß ich Miss Pinch erst vor ein paar Minuten noch mein Ehrenwort gab, ich würde die Beziehungen zwischen uns augenblicklich gelöst haben, wenn ich nicht wüßte, daß sie eine schutzlose junge Person – eine freundlose Waise ist.«

»O Sir«, rief Tom und erhob sich von seinem Sessel, denn er war nicht länger imstande, sich zurückzuhalten, »bitte lassen Sie sich durch solche Rücksichten durchaus nicht bestimmen. Das wäre nichts weniger als angebracht, Sir. Ruth ist keineswegs schutzlos und wird sofort Ihr Haus verlassen. – Liebe Ruth, bitte setze deinen Hut auf.«

»Na, das ist ja eine recht hübsche Familie«, rief die Frau des Hauses spitzig. »Er ist zweifellos ihr Bruder. Das ist jetzt wohl keine Frage mehr.«

»Ebensowenig kann ein Zweifel obwalten«, versetzte Tom, »daß die junge Dame dort das Resultat Ihrer Erziehung und nicht derjenigen meiner Schwester ist. – Liebe Ruth, bitte setze deinen Hut auf.«

»Junger Mann«, fuhr der Gelbgießer hochmütig auf, »wenn Sie mit dieser Impertinenz, die Ihnen übrigens angeboren zu sein scheint und auf die zu reagieren ich mich weiter nicht herablasse, sagen wollen, daß das Fräulein hier – meine älteste Tochter – von jemand anderem als von Miss Pinch erzogen worden sei, so – brauche ich nichts weiter hinzuzufügen. Ich verstehe Sie nicht. Ich – äh –«

»Sir«, rief Tom und faßte den Gelbgießer fest ins Auge, »wenn Sie nicht verstehen, was ich meine, so will ich es Ihnen erklären. Wenn Sie aber den Sinn meiner Worte begreifen, so muß ich Sie bitten, bei Ihren Antworten nicht diese Ausdrucksweise beizubehalten. Meine Meinung ist, daß kein Mensch erwarten kann, sein Kind werde das achten, was der eigene Vater herabsetzt.«

»Hahaha«, brach der Gentleman los. »Albernes Geschwätz. Das gewöhnliche lächerliche Geschwätz.«

»Nein, eine gewöhnliche Wahrheit, Sir!« entgegnete Tom. »Eine Wahrheit, die der gewöhnlichste Verstand einzusehen imstande ist. Ihre Gouvernante kann sich das Vertrauen und die Achtung Ihrer Kinder einfach nicht gewinnen. Jawohl. Zeigen Sie ihr lieber selbst erst Achtung, und dann sehen Sie sich die Resultate an.«

»Miss Pinch setzt doch ihren Hut auf, liebe Frau, nicht wahr?« fragte der Gelbgießer.

»Seien Sie unbesorgt, Sir«, rief Tom. »Sie brauchen nicht im geringsten daran zu zweifeln. – Übrigens wende ich mich an Sie, Sir! Sie haben mir Ihre Meinung gesagt, Sir, und mich extra deswegen in Ihr Zimmer kommen lassen; ich habe daher das Recht, auch meine Meinung zu sagen. – Ich bin weder aufbrausend noch grob«, setzte er hinzu, »was ich von der Art und Weise, wie Sie mit mir reden, nicht behaupten kann. Hinsichtlich meiner Schwester hier möchte ich die einfache Wahrheit auseinandersetzen.«

»Sie können auseinandersetzen, was Sie wollen, junger Mann«, erwiderte der Gentleman mit affektiertem Gähnen. »Liebe Frau, zahle Miss Pinch ihren Lohn aus.«

»Wenn Sie behaupten«, fuhr Tom fort, der trotz seiner scheinbaren äußerlichen Ruhe doch innerlich kochte, »daß meine Schwester nicht die Fähigkeit besitzt, sich die Achtung Ihrer Kinder zu verschaffen, so muß ich Ihnen erwidern, daß das durchaus nicht der Fall ist. Sie ist so gut erzogen, so gebildet und von Natur aus so geeignet, sich Achtung zu verschaffen, wie nur irgendeine junge Dame, die sich zu dem Sklavendienst einer Gouvernante erniedrigt. Wie können Sie nun, wenn Sie nur mit gewöhnlichem Durchschnittsverstand begabt sind, erwarten, daß Ihre Tochter meine Schwester mit Achtung behandelt, wo Sie ihr nicht einmal die Achtung der Dienstboten des Hauses zu sichern wissen.«

»Unerhört, wirklich unerhört«, rief der Gentleman, »das ist ja recht nett.«

»Nein, es ist sehr schlimm, Sir«, sagte Tom. »Es ist sehr schlimm, es ist gemein, niedrig und grausam. – Achtung!? Ich dächte denn doch, daß Kinder im allgemeinen hell genug von Verstand sind, um sich zu merken und nachzuahmen, was sie an ihren Eltern sehen. Wieso oder warum soll denn ein Kind einen Menschen achten, vor dem niemand sonst Respekt hat und den jeder über die Achsel ansieht! Wie soll ein Kind Lust zu seinen Studien bekommen, wenn es sieht, wie sehr die eigene Gouvernante trotz ihrer Bildung mißhandelt wird. Achtung!? – Stellen Sie das Allerachtenswerteste Ihren Töchtern in dem Lichte dar, in dem Sie ihnen meine Schwester zu zeigen beliebten – gleichviel, was es sein mag, es wird in den Staub getreten werden.«

»Sie führen eine sehr unverschämte Sprache, junger Mann«, fuhr der Gentleman auf.

»Nein, ich rede leidenschaftslos, aber mit größter Entrüstung und voller Verachtung vor einem solchen Vorgehen wie dem Ihrigen oder dem jedes Menschen, der sich dergleichen erlaubt. Wie können Sie als Mann von Ehre darüber erstaunt oder mißvergnügt sein, daß Ihre Tochter meine Schwester ein bettelhaftes Ding nennt, wenn Sie selbst ihr ganz dasselbe auf ebenso deutliche Art, wenn auch nicht in Worten sagen? Wenn sogar Ihr Portier und Ihr Lakai sich erlauben dürfen, jedem Fremden gegenüber Miss Pinch als ein bettelhaftes Ding hinzustellen? Und was Ihr Mißtrauen gegen sie betrifft, so dürften Sie sie in diesem Falle nicht zur Erzieherin Ihrer Kinder machen und haben vor allem kein Recht, sie so zu behandeln.«

»Kein Recht?« rief der Gelb- und Rotgießer.

»Nein, kein Recht«, wiederholte Tom. »Und wenn Sie glauben, sich durch eine gewisse jährliche Summe ein derartiges Recht zu sichern, so überschätzen Sie den Wert Ihres Geldes unendlich, denn das Gehalt ist wohl in jeder Hinsicht der nebensächlichste Punkt in Ihrem gegenseitigen Vertrage. Und wenn Sie Ihre Bezahlungen auch auf die Minute einhalten, so können Sie trotzdem ein Bankrottier sein. – So, jetzt habe ich weiter nichts mehr zu sagen«, schloß Tom, der jetzt, wo die Sache vorbei war, immer aufgeregter wurde. »Ich bitte Sie nur um Erlaubnis, in Ihrem Garten warten zu dürfen, bis meine Schwester fertig ist.«

Er ließ es nicht mehr zu einer Antwort kommen, sondern ging sogleich aus dem Zimmer.

Er hatte sich noch nicht halbwegs beruhigt, als seine Schwester ihm nachkam. Sie weinte. Tom konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es vielleicht jemand vom Hause aus sehen könnte, und verwies es ihr.

»Sie werden glauben, daß du ungern fortgehst«, redete er ihr zu. »Du gehst doch nicht etwa wirklich ungern?«

»O nein, Tom, nein! Ich habe mich schon seit langer Zeit danach gesehnt.«

»Also gut, dann weine nicht«, sagte Tom.

»Es tut mir nur leid um dich, lieber Bruder«, schluchzte Ruth.

»Um mich? Da solltest du dich doch eher freuen. Ich werde mich doppelt so glücklich fühlen, wenn wir beisammen sind. Nur Mut gefaßt und Kopf hoch! So, jetzt gehen wir zusammen fort, wie es unser würdig ist. Nicht in Wut oder Winseln, sondern fest und voller Selbstvertrauen.«

Der Einfall, daß Tom und seine Schwester hätten winseln können, wäre wohl unter allen Umständen eine Abgeschmacktheit gewesen, aber Tom fand in seiner Aufregung kein besseres Wort. Er trat durch das Gartenhaus – so viel Entschlossenheit in seinem Gesicht, daß ihn der Portier kaum wiedererkannte.

Sie waren eine Strecke weit nebeneinander hergegangen, und Tom, der inzwischen ruhiger und gefaßter geworden, hatte sich wieder ganz erholt, als ihn seine Schwester mit ihrem hübschen Stimmchen fragte:

»Wohin gehen wir eigentlich, Tom?«

»Lieber Himmel«, rief Tom und blieb stehen. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Du weißt es nicht? Hast du denn nicht irgendwo eine Wohnung?« fragte Ruth und blickte fragend zu ihm auf.

»Nein, vorderhand noch nicht. Ich bin erst heute morgen angekommen. Wir müssen uns vor allem ein Quartier suchen.«

Tom verschwieg ihr, daß er eigentlich bei seinem Freunde John hatte wohnen wollen, konnte aber andererseits natürlich nicht daran denken, bei ihm gleich zwei Personen einzuquartieren, von denen noch dazu eine ein Mädchen war. Überdies wußte er, daß das Ruth nur beunruhigt und in Verlegenheit gebracht hätte. Andererseits aber wollte er sie auch nicht, während er zu John ging, irgendwo zurücklassen, denn er hätte John ja alles erzählen müssen, und das hätte den Verdacht erwecken können, als spekuliere er auf seine Gastfreundschaft. Er sagte daher nochmals, sie müßten sich gleich jetzt eine Wohnung mieten, und zwar so selbstverständlich, als habe er den Wegweiser zu allen vermietbaren Quartieren von London in der Tasche.

»Wo wollen wir uns also ein Quartier suchen?« fragte er. »Was meinst du?«

Ruth wußte über diesen Punkt ebensowenig Bescheid wie er. Sie steckte ihm nur ihre kleine Börse in die Rocktasche, faltete ihre beiden kleinen Händchen über seinem Arm und schwieg.

»Es müßte in einer wohlfeilen Gegend sein«, sagte Tom, »aber nicht allzu weit von London. – Laß mal sehen. Meinst du nicht, daß Islington das richtige wäre?«

»Ich denke, es wäre sogar vortrefflich, Tom.«

»Man nannte es früher das lustige Islington«, sagte Tom. »Vielleicht verdient es noch immer den Namen. Um so besser dann, was?«

»Wenn's nicht zu teuer ist«, meinte Ruth.

»Natürlich, wenn's nicht zu teuer ist. Also wo liegt Islington? Ich glaube, wir könnten nichts Besseres tun, als uns unverzüglich dorthin begeben. Komm.«

Ruth würde ihm wahrscheinlich überallhin gefolgt sein, und so gingen sie denn Arm in Arm seelenruhig und vergnügt weiter. Bald machten sie die Entdeckung, daß Islington nicht in dieser Richtung lag, und Tom sah sich daher nach einem direkt gehenden Omnibus um, den er denn auch bald entdeckte.

Die Fahrt verging ihnen sehr angenehm, denn Tom berichtete dabei, wie es ihm ergangen war. Und Ruth erzählte ihm ihre eigene Geschichte, und beide bemerkten, daß sie sich viel mehr zu sagen hatten, als Zeit dazu war, da sie bereits am Ziele ihrer Reise anlangten, kaum nachdem sie mit ihrem Plaudern angefangen zu haben glaubten.

»Jetzt«, sagte Tom, »müssen wir uns erst einmal nach einer bescheidenen Straße umsehen und dann schauen, wo Vermietzettel in den Fenstern hängen.«

So gingen sie denn friedlich nebeneinander her, als kämen sie eben aus einem eigenen behaglichen Heim und suchten für irgendeinen Dritten ein Logis. Tom war noch immer so unbekümmert sorglos wie je, aber jetzt, wo sich seine Schwester auf ihn verließ, fühlte er ein größeres Selbstvertrauen und kam sich geradezu wie ein sieghafter Wagehals vor.

So wanderten sie wohl ein paar Stunden hin und her und besichtigten ein paar Dutzend Wohnungen, was sie schließlich sehr ermüdete, besonders, da sie keine passende finden konnten. Endlich entdeckten sie in einem altmodischen kleinen Haus in einer Sackgasse zwei kleine Schlafzimmer und ein dreieckiges Wohnzimmer, die ihnen passend erschienen. Es erregte einigermaßen Argwohn, daß sie sogleich einzuziehen wünschten, aber auch diese Schwierigkeit war rasch beseitigt, als sie die erste Woche vorausbezahlten und sich auf John Westlock, Esquire, Furnivals Inn, Holborn, beriefen.

Es war wirklich ein köstlicher Anblick, wie Tom und seine Schwester nach Erledigung dieses höchst wichtigen Geschäftes mit einer Art furchtsamen Entzückens beim Bäcker, Fleischer und Krämer umherliefen, sich miteinander über allerhand Bestellungen berieten und beim geringsten Dreinreden von Seiten der Verkäufer in höchste Verwirrung gerieten. Als sie nach dem dreieckigen Wohnstübchen zurückkehrten und Ruth, mit tausend Kleinigkeiten beschäftigt, fröhlich umhertrippelte, zuweilen stehenblieb, um »ihrem alten Tom« einen Kuß zu geben oder ihm zuzulächeln – da rieb sich Mr. Pinch so vergnügt die Hände, als ob ganz Islington ihm gehöre.

Es war bereits spät am Nachmittag und für Tom hohe Zeit, sein Rendezvous einzuhalten. Nachdem er sich mit seiner Schwester besprochen, daß sie heute zur Feier des Tages Hammelkoteletten zu Abend essen wollten, um sich für das versäumte Dinner zu entschädigen, machte er sich auf den Weg, um seine wunderbaren Erlebnisse seinem Freunde John mitzuteilen.

»So habe ich jetzt mit einem Male ein Hauswesen«, dachte er. »Wie behaglich könnten Ruth und ich zusammenleben, wenn ich nur eine Beschäftigung bekäme. Ach Gott, ach Gott, dieses ewige ›Wenn‹. Aber es nützt nichts, den Mut zu verlieren – dazu ist immer noch Zeit, wenn ich alles vergeblich versucht habe. Und auch dann würde mir damit wenig geholfen sein. Mein Wort«, murmelte er und beschleunigte seine Schritte, »ich weiß wahrhaftig nicht, was John sich denken wird. Er wird wahrscheinlich der Meinung sein, ich hätte mich in eine jener Straßen verirrt, wo man die Leute vom Lande umbringt, und denkt vielleicht, man habe mich schon längst zu einer Pastete oder dergleichen verarbeitet.«


 << zurück weiter >>