Charles Dickens
Martin Chuzzlewit
Charles Dickens

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38. Kapitel

Allerlei Heimlichkeiten

Als Tom mit seinem neuen sentimentalen Bekannten von der City aufgebrochen war, hatte er, ohne es zu wissen und ohne ihn zu kennen, Mr. Nadgett von der »Anglo-Bengalischen« gestreift und ihm ins Gesicht geblickt.

Es war ein merkwürdiger Zufall, daß beide – Tom und Mr. Nadgett – die sich doch gar nicht kannten, gerade an ein und denselben Menschen unter den unzähligen Einwohnern der Riesenstadt London dachten – nämlich an Jonas Chuzzlewit.

Warum sich Tom mit Jonas innerlich beschäftigte, liegt auf der Hand. Bei Mr. Nadgett lag die Sache nicht so klar.

Jedenfalls, das war sicher, war der vortreffliche verwaiste junge Mann der Mittelpunkt von Mr. Nadgetts Heimlichtuerei geworden. Mr. Nadgett hatte ein beständiges hochgespanntes Interesse an Jonas' geringstem Tun und Lassen. Er bewachte ihn auf Schritt und Tritt, in und außerhalb der Assekuranz-Gesellschaft, in der Mr. Chuzzlewit jetzt als Direktor angestellt war, blieb stehen und lauschte, wenn Jonas sprach, schrieb sich im Kaffeehaus seinen Namen wohl hundertmal in sein großes Notizbuch, verfaßte fortwährend Briefe über Jonas an sich selbst, und wenn er sie dann in seinen Taschen fand, warf er sie ins Feuer – aber selbstverständlich ängstlich besorgt, daß auch die Asche genügend verglomm.

Aber natürlich geschah auch alles dies in tiefster Heimlichkeit.

So eifrig Jonas übrigens von Mr. Nadgett beobachtet wurde, so hatte er doch so wenig eine Ahnung davon, daß die Augen dieses Menschen beständig auf ihm hafteten, als wäre er unter der täglichen Aufsicht des gesamten Jesuitenordens gestanden. Wenn auch Mr. Nadgetts Augen selten auf etwas anderes gerichtet waren als auf den Boden, auf die Bureauuhr oder auf das Kaminfeuer, so sah er dennoch soviel, als sei jeder Knopf seines Rockes ein argwöhnisches Auge.

Die gedrückte scheue Art des Mannes erstickte jedes Mißtrauen im Keim, sah er doch viel eher aus wie jemand, der sich fürchtet, beobachtet zu werden, als wie einer, der selbst beobachtet. Er ging so schüchtern herum und war so zugeknöpft, als ob der ganze Zweck seines Lebens darauf hinausliefe, niemals auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Jonas begegnete ihm bisweilen auf der Straße oder in den Bureaus der Anstalt, wo er vermutlich auf den Mann wartete, der niemals kam, und jedesmal sah er ihn mit seinem steinernen Gesicht und den Kopf gesenkt davonschleichen, immerwährend seinen Biberhandschuh vor sich her tragend, und nichts wäre ihm ferner gelegen als der Gedanke, dieser Mensch könne ihn beobachten. Ebensogut hätte er geargwöhnt, das Kreuz auf der St.-Pauls-Kathedrale könne ihn belauern oder ein Fangnetz bereithalten, um es ihm über den Kopf zu werfen.

Um diese Zeit nun ging in Mr. Nadgetts geheimnisvollem Leben eine höchst seltsame Veränderung vor sich. Bisher hatte man ihn immer frühmorgens von Cornhill herunterkommen sehen, und zwar so pünktlich Tag für Tag, daß bald die Sage ging, er schlafe überhaupt nicht und ziehe auch niemals seine Kleider aus. Jetzt aber, da man ihn ebenso pünktlich in Holborn aus der Kingsgate Street herauskommen sah, machte man bald die Entdeckung, daß er jeden Morgen in dieser Straße einen gewissen Barbierladen besuchte, um sich rasieren zu lassen, und daß der Inhaber dieses Ladens ein gewisser Sweedlepipe war. Mr. Nadgett schien mit dem Mann, der nie kam, ein Rendezvous dort zu haben und im Laden mit ihm zusammentreffen zu wollen, denn er wartete dort oft entsetzlich lange, ließ sich Feder und Tinte geben, zog sein Taschentuch heraus und war stundenlang aufs eifrigste damit beschäftigt, sich Notizen zu machen. Mrs. Gamp und Mr. Sweedlepipe besprachen sich des öftern angelegentlichst über diesen geheimnisvollen Kunden, aber meist kamen sie zu dem Schlusse, er spekuliere wahrscheinlich an der Börse oder gehe seinen Gläubigern aus dem Wege.

Später mußte Mr. Nadgett dem Manne, der nie sein Wort hielt, wahrscheinlich ein anderes Stelldichein angegeben haben, denn eines Tages sah man ihn zum ersten Male mitten in der City in der Schenkstube des »Trauerpferdes« – wo die Leichenbesorger und Pompes-Funèbres-Männer einzukehren pflegten. Er zeichnete dort mit dem Ende seiner Tabakspfeife Figuren in das Sägemehl eines unbenützten Spucknapfes, weigerte sich aber aufs entschiedenste, irgend etwas zu bestellen, da er, wie er sagte, jeden Augenblick einen Gentleman erwarte. Da auch diesmal der Herr nicht Ehre genug im Leibe hatte, sein Wort zu halten, so kam Mr. Nadgett am nächsten Tag wieder und hantierte mit einem so dicken Portefeuille herum, daß ihn die Leute in der Schenke für einen sehr vermögenden Mann hielten. Von da an wiederholte er täglich seinen Besuch und erledigte soviel Schreibereien, daß es ihm unter anderm eine Kleinigkeit war, ein großes bleiernes Tintenfaß in zwei Sitzungen bis auf den Grund zu leeren. Obgleich er niemals viel sprach, so machte er doch schließlich durch seine bloße Anwesenheit die nähere Bekanntschaft der Stammgäste, und im Verlauf der Zeit wurde er mit Mr. Tacker und sogar mit Mr. Mould ganz intim. Mr. Mould sagte ihm offen heraus, er sei ein ganz durchtriebener, mit allen Wassern gewaschener Schlaufuchs, und beehrte ihn noch mit einer ganzen Reihe ähnlich schmeichelhafter Epitheta.

Gleichzeitig teilte Mr. Nadgett auch den Leuten in der Versicherungsanstalt in der ihm eigentümlichen geheimnisvollen Weise mit, er fürchte, es sei etwas nicht richtig mit seiner Leber, und es werde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Assekuranzarzt zu konsultieren. Daraufhin wurde er Mr. Jobling überliefert, aber trotzdem dieser nichts finden konnte, was auf eine Lebererkrankung hätte schließen lassen, blieb Mr. Nadgett doch bei seiner Behauptung und ließ sich nicht so mir nichts dir nichts abspeisen. Er wurde also Mr. Joblings täglicher Patient, zählte ihm seine Symptome in seiner leisen geheimnisvollen Weise wohl ein dutzendmal an den Fingern her und ging in den Zimmern des Arztes ein und aus. Da er alles dies gleichzeitig betrieb, und zwar höchst verstohlen und geheimnisvoll, und dabei nie in seiner Wachsamkeit hinsichtlich des Tuns und Lassens Mr. Jonas Chuzzlewits nachließ, so war es nicht sehr unwahrscheinlich, daß alle diese Manöver zusammenhängende Teile eines großen geheimnisvollen Planes bildeten, den er schmiedete.

Am Morgen desselben Tages, an dem Mr. Pinch soviel erlebt hatte, erschien Mr. Nadgett plötzlich vor Mr. Montagues Hause in Pall Mall – auch diesmal, wie er es stets zu tun pflegte, in dem Augenblick, als es vom Kirchturm neun Uhr schlug. Er zog die Klingel – so heimlich, als ob er im Begriffe stehe, einen Hochverrat zu begehen – und schlüpfte rasch durch die Türe, kaum daß sie genügend offen war, um seinen Körper durchzulassen. Dann schloß er sie sofort wieder mit eigener Hand.

Mr. Bailey meldete ihn unverzüglich und kehrte gleich darauf mit der Aufforderung zurück, Mr. Nadgett möge ihm zu seinem Herrn folgen.

Der Präsident des Anglo-Bengalischen uneigennützigen Anlehens- und Lebensversicherungs-Unternehmens kleidete sich soeben an und empfing ihn ganz wie einen Geschäftsmann, den man täglich zu sehen gewohnt ist.

»Nun, Mr. Nadgett, was gibt's?«

Mr. Nadgett stellte seinen Hut auf den Boden und hustete. Nachdem Mr. Bailey sich wieder entfernt und die Türe geschlossen hatte, stand er leise wieder auf, untersuchte, ob der Schnapper ins Schloß gefallen sei, und näherte sich dann wieder bis auf ein paar Schritte dem Stuhl, auf dem Mr. Montague saß.

»Also, was gibt's Neues, Mr. Nadgett?«

»Ich glaube, wir haben jetzt endlich etwas.«

»Freut mich zu hören; ich fing schon an zu fürchten, Sie hätten die Witterung verloren, Nadgett –«

»O nein, Sir! Freilich verliert man hin und wieder einmal die Spur, aber das geht nun einmal nicht anders.«

»Sie sind die Wahrheit selbst, Mr. Nadgett! Haben Sie einen großen Erfolg zu berichten?«

»Das muß ich ganz und gar Ihrer Beurteilung überlassen, Sir«, lautete die Antwort. – Damit setzte Mr. Nadgett seine Brille auf.

»Und was halten Sie selbst davon? Freuen Sie sich darüber?«

Mr. Nadgett rieb sich langsam die Hände, strich sich über das Kinn, blickte im Zimmer umher und brummte:

»Hm, ja; ich glaube, es ist ein ganz hübscher Fall; ich neige wenigstens zu der Ansicht, daß es ein recht hübscher Fall ist. Soll ich Ihnen die Sache vortragen?«

»Nur zu!«

Mr. Nadgett suchte sich einen bestimmten Stuhl unter den übrigen heraus und stellte ihn an eine besondere Stelle, als wolle er darüber hinwegvoltigieren, rückte dann einen andern gegenüber und ließ zwischen beiden nur Raum für seine eigenen Beine. Dann nahm er auf dem Stuhle »Numero zwei« Platz, legte höchst bedächtig auf »Numero eins« sein Taschenbuch, löste die Schnur, mit der es zusammengebunden war, und warf sie über die Lehne. Dann rückte er mit beiden Stühlen ein wenig näher zu Mr. Montague, öffnete das Taschenbuch und breitete seinen Inhalt aus. Schließlich suchte er unter den verschiedenen Dokumenten eine Art von Memorandum hervor und breitete es vor seinem Chef aus, der während dieser ganzen feierlichen Präliminarien seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

»Ich wollte, Sie wären kein so ausgesprochener Freund von Schreibereien, mein Lieber, brummte Mr. Tigg Montague mit sauerem Lächeln. »Ich wollte, Sie statteten mir Ihren Bericht immer lieber mündlich ab.«

»Ich verabscheue die mündlichen Mitteilungen«, sagte Mr. Nadgett tiefernst. »Man kann nie wissen, ob nicht jemand zuhört.«

Mr. Montague wollte etwas erwidern, aber Nadgett drängte ihm das Papier auf und sagte im Tone verhaltenen Triumphes: »Wir wollen chronologisch vorgehen. – Lesen Sie gefälligst dies hier, Sir.«

Der Präsident warf achtlos einen Blick auf das Papier, und ein Lächeln überflog sein Gesicht, das keine große Anerkennung der pedantischen Gewohnheiten des Spions ausdrückte. Kaum aber hatte er ein halbes Dutzend Zeilen überflogen, als der Ausdruck seines Gesichtes sich zu ändern begann und, noch ehe er das Memorandum zu Ende gelesen, die gespannteste Aufmerksamkeit verriet.

»Numero zwei«, sagte Mr. Nadgett und händigte ihm ein anderes Blatt ein, wobei er das erste wieder zurücknahm. »Lesen Sie jetzt Numero zwei, Sir! Sie werden die Sache um so interessanter finden, je weiter Sie kommen.«

Mr. Montague lehnte sich in seinen Sessel zurück und warf seinem Emissär einen so merkwürdigen, zugleich verwunderten und erschrockenen Blick zu, daß Mr. Nadgett seine Aufforderung dreimal wiederholen mußte. Endlich besann er sich und las »Numero zwei« durch, Numero drei, dann Nummer vier, Nummer fünf usw.

Sämtliche Dokumente waren von Mr. Nadgetts Hand geschrieben und bildeten eine Reihe von Memoranden, die offenbar von Fall zu Fall in größter Eile auf alte Briefkuverts oder irgendeinen Fetzen Papier hingeworfen worden waren. Es war ein loses nachlässiges Gekritzel von sehr uneinladendem Äußern, aber dennoch voll wichtigsten Inhaltes, wie sich aus dem Gesicht des Präsidenten erkennen ließ.

Je aufgeregter Mr. Tigg wurde, desto größer wurde auch die heimliche Freude Mr. Nadgetts. Anfangs saß er mit der Brille tief unten auf der Nasenspitze da und blickte über die Linsen hinweg seinen Prinzipal an, sich besorgt die Hände reibend; nach einer kleinen Weile jedoch schon setzte er sich etwas bequemer in seinem Stuhl zurecht, überlas in Gemütsruhe das nächste Blatt, bevor er es Mr. Montague überreichte, und schließlich stand er sogar auf und schaute mit triumphierender Miene zum Fenster hinaus, an dem er gerade stand, als Mr. Tigg Montague mit dem Lesen fertig war.

»Und das ist das letzte, Mr. Nadgett?« fragte Mr. Montague tief aufatmend.

»Ja, das ist das letzte, Sir.«

»Sie sind ein wunderbarer Mensch, Mr. Nadgett!«

»Ja, ich denke, es ist ein recht hübscher Fall«, gab Mr. Nadgett zu und ordnete seine Papiere, »es hat ziemlich viel Mühe gekostet.«

»Aber Sie sollen auch gut entlohnt werden, Mr. Nadgett.«

Mr. Nadgett verbeugte sich.

»Hinter allen diesen Geschichten steckt ein Pferdefuß! Die Sache geht tiefer, als ich erwartete, Mr. Nadgett. Ich kann mir wirklich Glück wünschen, daß Sie sich so gut auf derlei geheime Nachforschungen verstehen.«

»Ich interessiere mich für nichts, was nicht Geheimnis ist«, erwiderte Mr. Nadgett, band seine Brieftasche zu und steckte sie wieder ein. »Sogar der Umstand, daß ich Ihnen davon Mitteilung machen mußte, benimmt mir beinahe schon die Freude an der ganzen Sache.«

»Sie haben wirklich eine ganz unschätzbare Gemütsbeschaffenheit«, versetzte Mr. Tigg, »und das ist eine große Gabe für einen Mann Ihres Berufs, Mr. Nadgett. Das ist womöglich noch besser als Klugheit, obgleich Sie auch diese Eigenschaft in hohem Maße besitzen. – – Hallo! Hat da nicht jemand soeben unten geklopft? Wollen Sie nicht einen Augenblick zum Fenster hinausschauen und mir sagen, ob jemand am Haustor steht?«

Mr. Nadgett zog leise das Schiebefenster auf und spähte so verstohlen auf die Straße hinunter, als erwarte er jeden Augenblick eine feindliche Musketensalve. Dann zog er ebenso vorsichtig den Kopf wieder zurück und meldete, ohne eine Miene zu verziehen:

»Mr. Jonas Chuzzlewit.«

»Hab ich mir gleich gedacht«, brummte Mr. Tigg.

»Soll ich gehen, Sir?«

»Es wird wohl das beste sein. – – Halt! Bleiben Sie doch lieber hier, Mr. Nadgett.«

Merkwürdig, wie blaß und verstört Mr. Montague plötzlich geworden war. Es schien ganz unerklärlich. Sein Auge war auf sein Rasiermesser auf dem Toilettentisch gefallen; aber welchen Zusammenhang konnte das damit haben?!

In diesem Augenblick wurde Mr. Chuzzlewit angemeldet.

»Führen Sie ihn sogleich zu mir, Nadgett, aber lassen Sie uns nicht allein. Hören Sie! – – – Gott im Himmel«, flüsterte Mr. Tigg vor sich hin, »man kann nie wissen, was passiert.«

Dabei ergriff er hastig ein paar Haarbürsten und begann sie an seinem Kopf zu probieren, als sei er gerade bei seiner Toilette begriffen gewesen. Mr. Nadgett zog sich zum Kamin zurück, in dem ein kleines Feuer zum Zweck der Erwärmung des Lockeneisens brannte, und da ihm die Gelegenheit günstig schien, sein Taschentuch zu trocknen, so zog er es unverzüglich heraus. In dieser Stellung blieb er während des ganzen jetzt folgenden Gespräches stehen, das Tuch vor sich auf den Kaminstangen ausgebreitet, und zuweilen, wenn auch nicht oft, über die Schulter einen Blick zurückwerfend.

»O mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Montague, als Jonas eintrat. »Sie stehen ja mit den Lerchen auf. Jemand, der mit den Nachtigallen schlafen zu gehen pflegt wie Sie, pflegt das sonst nicht zu tun. – Sie haben ja eine übermenschliche Energie, mein lieber Mr. Chuzzlewit.«

»Zum Teufel noch mal«, knurrte Jonas mit verdrießlicher Miene und warf sich in einen Stuhl. »Ich möchte auch lieber nicht mit der Lerche aufstehen, wenn es anders ginge. Aber ich habe einen schlechten Schlaf; da ist es besser, aufzustehen, als sich im Bett herumzuwälzen und die Schläge der schauerlichen alten Turmuhren zu zählen.«

»Einen schlechten Schlaf?« rief Mr. Tigg. »Hm, das ist etwas, das ich überhaupt nicht kenne. Ich habe diesen Ausdruck wohl oft gehört, kann mir aber gar nicht vorstellen, wie so etwas eigentlich ist.«

»Hallo«, unterbrach ihn Jonas, »wer ist das? Dort! Ah, der alte – wie heißt er doch nur? – Was drückt er sich da so herum, als ob er in den Schornstein hinaufkriechen wollte?«

»Haha«, lachte Mr. Tigg, »meiner Seel, es sieht wahrhaftig so aus.«

»Er ist hier ziemlich überflüssig, dächte ich. Er soll lieber fortgehen. Was meinen Sie?« fragte Jonas.

»Ach Gott, lassen Sie ihn nur hier; lassen Sie ihn ruhig hier«, sagte Mr. Tigg. »Es ist ein altes Faktotum – sozusagen ein Stück Möbel –, er hat mir soeben seinen Bericht erstattet und wartet jetzt auf weitere Orders. Ich lasse ihn«, fügte Mr. Tigg hinzu und erhob seine Stimme, »gewisse Erkundigungen einziehen und uns dann Auskünfte erteilen. Es gibt immer was zu tun. Übrigens versteht er sein Geschäft.«

»Hat's auch nötig«, brummte Jonas. »Scheint ein verdammt ungeschickter Schafskopf zu sein. Mir scheint gar, er fürchtet sich vor mir!«

»Das glaub ich«, lachte Tigg. »Er hat auch allen Grund dazu. Übrigens, Nadgett, reichen Sie mir mal das Handtuch dort her.«

Nadgett reichte es, blieb einen Augenblick stehen und zog sich dann wieder auf seinen alten Posten am Kamin zurück.

»Sie sehen, mein lieber Freund«, begann Mr. Tigg. »Sie sehen heute – aber was ist denn das? Ihre Lippen sind ja ganz weiß!«

»Vielleicht vom Essig«, versetzte Jonas. »Ich habe soeben Austern gefrühstückt. – Wieso sind sie denn weiß?« setzte er mit einem Fluch hinzu und rieb sie sich mit einem Taschentuch. »Mir ganz unerklärlich.«

»So, jetzt bekommen sie schon wieder Farbe«, sagte Mr. Tigg, »jetzt sind sie schon wieder rot.«

»Sagen Sie mir lieber, was Sie mir zu sagen haben«, rief Jonas ärgerlich, »und kümmern Sie sich nicht darum, wie ich aussehe. Wenn ich nur die Zähne zeigen kann – und das kann ich, wenn's not tut – die Farbe meiner Lippen ist wirklich gleichgültig.«

»Da haben Sie recht«, gab Mr. Tigg fröhlich zu. »Ich wollte nur sagen, daß Sie zu scharf für Mr. Nadgett sind; er ist zu schüchtern, um sich nicht vor einem Manne wie Ihnen zu fürchten. Aber sonst ist er immerhin ganz brauchbar. Also, wieso haben Sie einen schlechten Schlaf!« »Zum Teufel mit Ihrem schlechten Schlaf!« rief Jonas ärgerlich.

»Nun, nun«, besänftigte Mr. Tigg, »ich hab's doch nicht so bös gemeint.«

»Ein schlechter Schlaf ist eben kein guter«, versetzte Jonas in seiner verdrießlichen Weise. »Wer schlecht schläft, schläft eben nicht gut und schläft nicht fest.«

»Und dann träumt man, wie?« rief Mr. Tigg mit einem Anflug von Hohn. »Und redet wüste Sachen im Traum, und wenn die Kerze des Nachts heruntergebrannt ist, steht man Todesängste aus, und der kalte Schweiß steht einem auf der Stirne. Nicht wahr, so ist es?«

Sie schwiegen eine Weile, dann nahm Jonas wieder seine Rede auf:

»Na, sind Sie jetzt mit Ihrem Altweibergeplapper fertig? Wenn ja, dann möchte ich ein paar Worte mit Ihnen reden. Ich hätte so allerlei mit Ihnen zu besprechen, bevor wir uns heute im Bureau treffen. Ich bin nicht sonderlich zufrieden mit den Geschäften.«

»Nicht zufrieden?« rief Mr. Tigg. »Aber wir haben doch brillante Einnahmen!«

»Ja, das wohl«, gab Jonas zu, »aber mir sind die Hände zu sehr gebunden. Das paßt mir nicht. Da haben wir einen Paragraphen und dort wieder einen Paragraphen, und Sie haben eine Stimme in dieser Eigenschaft und dann wieder eine in jener, und dann haben Sie wieder Rechte als Präsident und wieder Rechte als bloßes Mitglied, und über die Rechte der andern Mitglieder haben Sie auch zu verfügen – kurz und gut, jeder hat Rechte, nur ich nicht. Was zum Teufel nützt es mir, daß ich eine Stimme habe, wenn ich immer überstimmt werde? Mir paßt das nicht! Ich mache da nicht mehr länger mit, wissen Sie.«

»So? Nicht?« sagte Mr. Tigg spöttisch.

»Nein. Ich habe keine Lust mehr dazu. Es wird noch so weit kommen, daß ihr froh sein müßt, mich mit einer runden Summe abzufinden, wenn ihr mir weiter so auf dem Kopf herumtanzt.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –« begann Mr. Montague.

»Hol Sie der Henker mit Ihrem Ehrenwort«, unterbrach ihn Jonas, immer rüder und streitsüchtiger werdend, was übrigens Mr. Montague ganz gut zu passen schien. »Ich will ein bißchen mehr Kontrolle über das Geld haben. Die Ehre überlasse ich Ihnen gern. Die können Sie für sich in Anspruch nehmen, wenn Sie wollen. Aber so, wie die Sachen stehen, mache ich nicht mehr mit. Was zum Beispiel, wenn Sie sich in den Kopf setzen, eines Tags mit der Kasse durchzubrennen? Könnte ich das verhindern? Nein. Und das geht nicht mehr länger so. Ich habe hier ein paarmal recht gut gegessen, aber um den Preis ist es mir zu teuer, Sir. Deshalb sage ich, ich tue nicht mehr mit.«

»Und mir tut es wirklich sehr leid, daß Sie so schlecht aufgelegt sind«, sagte Mr. Tigg mit einem spöttischen Lächeln. »Ich wollte Ihnen nämlich gerade heute vorschlagen – zu Ihrem eigenen Besten, lediglich zu Ihrem eigenen Besten! –, noch ein bißchen mehr Geld in die Sache hineinzustecken.«

»So, waren Sie im Begriffe, mir das vorzuschlagen! Wirklich ausgezeichnet!« rief Jonas und lachte schrill auf.

»Jawohl, und Ihnen anzudeuten«, fuhr Mr. Montague fort, »daß Sie doch Freunde haben – und ich weiß, Sie haben Freunde, die ausgezeichnet für unsere Zwecke passen würden und die wir mit Vergnügen in die Kompagnie aufnehmen würden.«

»Wirklich sehr gütig von Ihnen. Sie würden sie also mit Vergnügen aufnehmen, was?« höhnte Jonas.

»Mein Ehrenwort darauf, ich wäre ganz entzückt. Natürlich bloß, weil es Ihre Freunde sind.«

»Selbstverständlich«, spöttelte Jonas. »Selbstverständlich, weil sie meine Freunde sind! Ich zweifle durchaus nicht, daß Sie sehr entzückt wären, wenn Sie sie drankriegen könnten. Und das alles soll zu meinem Vorteil geschehen, was?«

»Unbedingt zu Ihrem Vorteil«, antwortete Mr. Montague und wägte in jeder Hand eine Bürste, dabei seinen Gast fest ins Auge fassend. »Ich versichere ihnen, es würde nur zu Ihrem Vorteil sein.«

»Und können Sie mir vielleicht sagen, wieso?« fragte Jonas. »Sind Sie dazu imstande?«

»Soll ich es Ihnen sagen?« rief Mr. Montague.

»Es wird wohl das beste sein. Es sind schon ganz kuriose Dinge in Versicherungsanstalten geschehen. Man muß da verdammt scharf aufpassen.«

»Mr. Chuzzlewit«, begann Mr. Montague ernst, lehnte sich, die Ellbogen auf beide Knie gestützt, ein wenig vor und blickte Jonas starr in die Augen, »allerdings sind schon sehr kuriose Sachen passiert, und noch täglich passieren welche. Aber nicht bloß bei uns, sondern da, wo man es am wenigsten erwartet. Und vielleicht noch kurioser ist, daß wir so manchmal hinter dergleichen Dinge – – kommen.«

Er winkte Jonas, seinen Stuhl näherzurücken, warf einen Blick zum Kamin, als wolle er ihn an Nadgetts Gegenwart erinnern, und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Jonas fuhr zurück, wurde totenblaß, dann blutrot, dann gelb, dann blau, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne. Eine so furchtbare Veränderung brachten die wenigen Worte, die ihm Mr. Tigg ins Ohr geflüstert hatte, hervor. Als er ihm schließlich die Hand auf den Mund legte, Todesangst im Blick, daß nur ja keine Silbe an das Ohr Mr. Nadgetts schlüge, war sie so blutlos und eiskalt wie die Hand einer Leiche.

Dann rückte er seinen Stuhl weg und saß da, ein Bild des Entsetzens, der Todesangst und hilfloser Wut. Er konnte weder sprechen noch aufsehen oder sich bewegen. Mr. Tigg nahm mit Muße seine Toilette wieder auf und beendigte sie, nur manchmal mühsam ein Lächeln unterdrückend.

»Also, ich denke, Sie haben gewiß nichts dagegen, mein lieber Freund Chuzzlewit, noch ein bißchen mehr Kapital anzulegen. Wie?« brach er endlich das Schweigen.

Mit blassen Lippen stammelte Jonas ein schwaches »Nein«.

»Vorzüglich! Bravo! So, jetzt sind Sie ja wieder der alte. Und jetzt hören Sie mal. Ich habe mir gestern gedacht, Ihr Schwiegervater wird gewiß Ihren Rat in Geldangelegenheiten sehr zu schätzen wissen, und ich zweifle auch nicht, daß er sich bei uns beteiligen wird, wenn man ihm die Sache in entsprechender Weise darstellt. Er hat doch Geld?«

»Ja, er hat Geld.«

»Soll ich also die Sache mit Mr. Pecksniff Ihnen überlassen? Wollen Sie sie auf sich nehmen?«

»Ich will es versuchen – will wenigstens mein Bestes tun.«

»Tausend Dank«, rief Mr. Tigg und klopfte Jonas herablassend auf die Schulter. »Wollen wir jetzt gehen? – Mr. Nadgett, folgen Sie uns gefälligst.«

Sie gingen. Was Jonas Chuzzlewits Gedanken über Mr. Montague sein mochten, wie rettungslos gefangen, in ein Netz verstrickt und ins tiefste Verderben gestürzt er sich sah, was immer für Ahnungen, Hoffnungen und Gedanken der Verzweiflung ihn bestürmen mochten, welche letzte schreckliche Aussicht auf Rettung wie ein einziger blutroter Schimmer an dem völlig verdüsterten Horizont seiner Seele auftauchen mochte – er dachte ebensowenig daran, daß die gebeugte Gestalt, die einige Stufen hinter ihnen herunterkroch, das ihn verfolgende Fatum sei, wie er wohl die andere Gestalt neben ihm für seinen guten Engel hielt.


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