Charles Dickens
Schwere Zeiten
Charles Dickens

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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Luise erwachte aus der Ohnmacht, und ihre Augen öffneten sich matt auf ihrem alten Bett daheim und in ihrem alten Zimmer. Es schien ihr anfangs, als wenn all die Ereignisse seit dem Tage, wo diese Gegenstände ihr vertraut waren, Schatten eines Traumes gewesen. Aber allmählich, als die Umgebung sich bestimmter vor ihren Augen gestaltete, traten auch die Ereignisse bestimmter vor ihren Sinn.

Sie vermochte kaum ihren Kopf vor Schmerz und Schwere zu bewegen; ihre Augen waren entzündet und wund, sie war sehr schwach. Eine auffallende Teilnahmslosigkeit hatte sich ihrer so vollständig bemächtigt, daß selbst die Anwesenheit ihrer kleinen Schwester im Zimmer eine Zeitlang ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zog. Ja, als ihre Augen sich begegnet und ihre Schwester ans Bett getreten war, lag Luise noch mehrere Minuten lang im Schweigen, sah sie nur an und ließ es widerstandslos geschehen, daß diese schüchtern ihre Hand ergriff. Dann fragte sie:

»Wann bin ich in dies Zimmer gebracht worden?«

»Letzte Nacht, Luise.«

»Wer brachte mich hierher?«

»Cili, glaube ich.«

»Warum glaubst du das?«

»Weil ich sie diesen Morgen hier fand. Sie kam nicht an mein Bett, um mich zu wecken, wie sie immer tut, und ich machte mich deshalb auf, sie zu suchen. Sie war auch nicht in ihrem eigenen Zimmer, und ich mußte das ganze Haus durchsuchen, bis ich sie hier fand, um dich beschäftigt. Sie machte kalte Umschläge auf deinen Kopf. Willst du Vater sehen? Cili sagte, ich sollte es ihm mitteilen, wenn du erwachtest.«

»Wie du schön und gesund aussiehst, Jane!« sagte Luise, als sich ihre kleine Schwester, noch immer schüchtern, niederbeugte, um sie zu küssen.

»Wirklich? Es freut mich, daß du so denkst. Ich bin gewiß, daß es Cilis Werk ist.«

Der Arm, den Luise im Begriff war um ihren Nacken zu schlingen, zog sich zurück. »Du kannst es dem Vater sagen, wenn du willst.« Dann, sie noch einen Augenblick zurückhaltend, sagte sie: »Hast du mein Zimmer so freundlich eingerichtet, daß es fast wie ein Willkommengruß aussieht?«

»O nein, Luise, das war getan, ehe ich kam. Es war –«

Luise wandte sich auf ihrem Kissen um und hörte nicht weiter. Als sich ihre Schwester zurückgezogen hatte, drehte sie ihren Kopf wieder um und lag mit ihrem Gesicht gegen die Tür, bis diese sich öffnete und ihr Vater eintrat.

Er hatte ein verquältes und ängstliches Aussehen; und seine Hand, gewöhnlich so ruhig, zitterte in der ihren. Er setzte sich an ihr Bett, zärtlich fragend, wie sie sich befinde. Er schärfte ihr ein, sich ruhig zu verhalten, nachdem sie in vergangener Nacht so aufgeregt und dem Unwetter ausgesetzt gewesen sei. Er sprach in mildem und zitterndem Ton, ganz verschieden von seiner gewöhnlichen diktatorischen Weise: und oft war er verlegen um Worte.

»Meine liebe Luise. Meine arme Tochter!« Die Sprache ging ihm an dieser Stelle so vollständig aus, daß er ganz innehielt. Er versuchte von neuem.

»Mein unglückliches Kind.« Über diese Stelle war so schwierig hinwegzukommen, daß er nochmals begann.

»Es würde ein vergebliches Bemühen sein, Luise, wenn ich dir erzählen wollte, wie erschüttert ich war und noch bin durch das, was letzte Nacht auf mich eingestürmt ist. Der Boden, auf dem ich stand, hat zu wanken begonnen unter meinen Füßen. Die einzige Stütze, auf die ich mich lehnte, und die Stärke, die sie zu haben schien und ohne alle Frage noch zu haben scheint, ist in einem Augenblick gefallen. Ich bin betäubt von diesen Entdeckungen. Ich habe keine selbstischen Empfindungen bei dem, was ich sage, aber ich muß gestehen, daß der Schlag, der mich in vergangener Nacht betroffen hat, in der Tat sehr stark war.«

Sie konnte ihm zu alldem keinen Trost geben. Ihr ganzes Leben hatte auf dem Felsen Schiffbruch gelitten.

»Ich will nicht sagen, Luise, daß, wenn du dich mir bei einer passenden Gelegenheit früher entdeckt hättest, es besser für uns beide gewesen sein würde, besser für deine Ruhe und besser für die meine, denn ich fürchte, daß es nicht in mein Erziehungssystem gepaßt haben würde, ein derartiges Vertrauen zu ermuntern. Ich habe mein – mein System bei mir selbst geprüft und es streng durchgeführt; ich muß die Verantwortlichkeit seines Fehlschlages auf mich nehmen. Nur bitte ich dich zu glauben, mein vor allen geliebtes Kind, daß ich die Überzeugung hatte, recht zu handeln.«

Er sagte das im Ernste, und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er hatte diese Überzeugung wirklich. Indem er unergründliche Tiefen mit seinem kleinen, schlechten Metermaß ausrechnen wollte und über das Weltall mit seinem verrosteten Zirkel hintaumelte, glaubte er große Dinge zu tun. Soweit er sich in seinem beschränkten Gesichtskreis ergehen konnte, vernichtete er die Blüten der Existenz in aufrichtigerer Absicht, als viele von den blökenden Personen, mit denen er Umgang pflegte.

»Ich bin vollkommen von der Aufrichtigkeit deiner Worte überzeugt, Vater. Ich weiß, daß ich dein Lieblingskind gewesen bin. Ich weiß, du hattest die Absicht, mich glücklich zu machen. Ich habe dich nie getadelt und ich werde dies nie tun.«

Er faßte ihre ausgestreckte Hand und behielt sie in der seinen.

»Mein liebes Kind, ich habe die ganze Nacht an meinem Tisch gesessen, und die Dinge, die so schmerzvoll zwischen uns getreten sind, hin und her überlegt. Wenn ich deinen Charakter bedenke, daß das, was vor wenigen Stunden zu meiner Kenntnis gelangt, jahrelang in deiner Brust verschlossen gewesen ist; wenn ich bedenke, unter welchem unmittelbaren Druck es dir endlich herausgepreßt wurde, so komme ich zu dem Schlusse, daß ich nur Mißtrauen gegen mich selbst haben kann.«

Er hätte mehr sagen können, als er das jetzt auf ihn gewandte Gesicht sah. Er sagte es vielleicht in seinem Herzen still vor sich hin, als er mit sanfter Hand das wirre Haar von ihrer Stirne strich. Solche kleine Handlungen, bedeutungslos bei einem anderen Manne, waren sehr bezeichnend bei ihm; und seine Tochter nahm sie auf, als wären es Worte der Reue.

»Aber«, sagte Mr. Gradgrind langsam und stockend, mit dem traurigen Gefühle der Hilflosigkeit, wenn ich Grund sehe, mir für die Vergangenheit zu mißtrauen, Luise, so dürfte ich mir auch für die Gegenwart und Zukunft mißtrauen. Um offen mit dir zu sprechen, ich tue es wirklich. Ich bin weit entfernt, mir sicher zu sein, so verschieden ich auch noch gestern um diese Stunde darüber gedacht habe, daß ich dein Vertrauen verdiene. Ich weiß ja nicht, ob ich deinem Begehren, das du bei deiner Heimkehr ins Elternhaus an mich gestellt hast, entsprechen soll, ob ich den richtigen Instinkt habe – nehmen wir für den Augenblick eine derartige Eigenschaft an –, wie dir zu helfen und dich auf den rechten Weg zu bringen, mein Kind.«

Sie hatte sich auf dem Kissen umgewandt und lag mit dem Gesicht auf ihrem Arm, so daß er es nicht sehen konnte. All ihre Aufregung und Leidenschaft hatte sich gelegt; aber, obgleich besänftigt, hatte sie doch keine Tränen. Ihr Vater war in nichts so sehr verändert, als darin, daß er froh gewesen wäre, sie weinen zu sehen.

»Einige Menschen glauben«, fuhr er noch zögernd fort, »daß es eine Weisheit des Kopfes, und daß es eine Weisheit des Herzens gäbe. Ich habe nicht so gedacht; aber, wie gesagt, ich habe jetzt Mißtrauen gegen mich selbst. Ich nahm an, der Kopf reiche zu allen Dingen aus, er mag vielleicht nicht ausreichend sein. Wie kann ich diesen Morgen zu behaupten wagen, daß es so ist. Wenn die andere Art von Weisheit das sein sollte, was ich vernachlässigt habe, und der Instinkt, der vonnöten ist, dann Luise –«

Er brachte das sehr zweifelhaft vor, als wenn er halb unwillig wäre, es jetzt selbst einzugestehen. Sie gab ihm keine Antwort; während sie vor ihm auf ihrem Bette dalag, noch halb angekleidet, fast ganz so, wie er sie in vergangener Nacht auf dem Boden seines Zimmers liegen gesehen hatte.

»Luise«, und seine Hand ruhte wieder auf ihrem Haar, »ich bin in letzter Zeit oft abwesend gewesen, meine Liebe, und obgleich die Erziehung deiner Schwester gemäß dem – System verfolgt worden ist«, er schien immer mit großem Widerstreben auf dies Wort zurückzukommen, »so sind doch tägliche Berührungen mit gefühlsmäßigen Dingen, die sie von Kindheit an gehabt hat, nicht ohne Einfluß auf sie geblieben. Nun frage ich dich, in meiner Unwissenheit demütig, liebe Tochter, – denkst du, daß dies zum bessern ausgeschlagen sei?«

»Vater«, antwortete sie, ohne sich zu regen, »wenn in ihrer Brust irgendeine Harmonie geweckt worden ist, die in der meinigen verstummte, bis sie sich in Disharmonie auflöste, so mag sie dem Himmel dafür danken, ihren glücklicheren Lebensweg wandeln und es für ihren größten Segen halten, meinen Weg vermieden zu haben.«

»O! mein Kind, mein Kind!« rief er in trostlosem Schmerz aus, »ich bin ein unglücklicher Mann, daß ich dich so sehen muß. Was hilft es mir, daß du mir keine Vorwürfe machst, wenn ich mir selbst so bittere machen muß!« Er senkte sein Haupt und sprach leise zu ihr. »Luise, ich habe die Ahnung, daß bei lauterer Liebe und Dankbarkeit in diesem Hause sich allmählich eine Veränderung um mich würde geltend gemacht haben; daß das, was der Kopf versäumt und nicht zu tun vermochte, das Herz schweigend getan haben möchte. Ist das wahrscheinlich?«

Sie gab ihm keine Antwort.

»Ich bin nicht zu stolz, es zu glauben, Luise. Wie könnte ich so anmaßend sein, und du vor meinen Augen! Kann es so sein? Ist es so?«

Er richtete von neuem seinen Blick auf sie, wie sie so in sich versunken dalag, und ging still aus dem Zimmer. Er hatte sich noch nicht lange entfernt, als sie einen leichten Schritt an der Tür vernahm und bemerkte, daß jemand neben ihr stand.

Sie erhob den Kopf nicht. Ein unklarer Groll, daß sie in ihrem Leiden gesehen worden, und daß die unwillkommene Beobachtung, von der sie sich so schmerzlich berührt fühlte, zu ihrem Zwecke gelangen sollte, arbeitete in ihr wie ein krankhaftes Feuer. Alle in ihr verschlossenen Kräfte kamen zu einem zerstörenden Durchbruch. Die Luft, die der Erde heilsam sein, das Wasser, das ihr erfrischende und die Hitze, die ihr befruchtende Kraft geben sollen, zerfleischen sie, wenn diese Elemente zurückgedämmt werden. So eben jetzt in ihrer Brust; die stärksten Seelenkräfte, die sie besaß, solange gegen sich selbst gerichtet, verstockten sich und wurden gewalttätig gegen ein befreundetes Herz.

Es war gut, daß sie eine sanfte Hand auf ihrem Nacken fühlte, und daß sie merkte, man glaube sie eingeschlafen. Die teilnehmende Hand hatte nichts mit ihrem Verdruß zu schaffen. Laßt sie da liegen, die Hand, laßt sie liegen.

So blieb sie denn liegen, eine Menge freundlicherer Gedanken weckend; und Luise verhielt sich still. Als sie durch die Ruhe und das Bewußtsein einer so liebreichen Huld milder gestimmt wurde, fanden Tränen den Weg in ihre Augen. Ein Gesicht berührte das ihre, und sie ward inne, daß sich auf diesem Tränen befanden, und daß sie die Ursache dieser Tränen war.

Als Luise sich stellte, wie wenn sie erwache, und sich aufrecht setzte, zog sich Cili zurück und stand ruhig an der Seite des Bettes.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört. Ich habe Sie fragen wollen, ob ich bei Ihnen bleiben darf.«

»Warum willst du bei mir bleiben? Meine Schwester wird dich vermissen. Du bist ihr alles.«

»Bin ich wirklich?« erwiderte Cili, den Kopf schüttelnd. »Ich möchte gern Ihnen etwas sein, wenn ich dürfte.

»Was?« fragte Luise fast strenge.

»Das, was Ihnen am meisten not tut, wenn ich es vermöchte. Auf alle Fälle möchte ich mein Möglichstes versuchen. Wollen Sie es mir gestatten?«

»Mein Vater schickt dich her, mich darum zu fragen?«

»Ganz gewiß nicht«, antwortete Cili. »Er sagte mir, daß ich jetzt hereinkommen dürfte; aber diesen Morgen schickte er mich aus dem Zimmer – oder wenigstens –« sie stockte und schwieg.

»Was wenigstens?« sagte Luise, ihre forschenden Augen auf sie gelichtet.

»Ich hielt es selbst für das Beste, hinausgeschickt zu werden, denn ich war sehr zweifelhaft, ob Sie mich gern hier sehen würden.«

»Habe ich dich immer so sehr gehaßt?«

»Ich hoffe es nicht; denn ich habe Sie immer geliebt und immer gewünscht, daß Sie es erkennen möchten. Aber Sie nahmen ein etwas verändertes Benehmen gegen mich an, kurz ehe Sie das Elternhaus verließen. Sie wußten so viel und ich so wenig, und es war in vielen Beziehungen so natürlich, da Sie neuen Freunden entgegengingen, daß ich mich nicht darüber zu beklagen hatte und durchaus nicht verletzt fühlte.«

Sie wurde rot, als sie das bescheiden und hastig sagte. Luise verstand die liebevolle Schonung, und ihr Herz ward gerührt.

»Darf ich versuchen?« sagte Cili, so viel ermutigt, daß sie die Hand auf ihren Nacken legte, der sich unmerklich nach ihr hinneigte. Luise nahm die Hand, die sie im nächsten Augenblicke umschlungen haben würde, herunter, hielt sie in der ihrigen und antwortete:

»Vor allem, Cili, weißt du, was ich bin? Ich bin so stolz und verhärtet, so verwirrt und verstört, so verdrießlich und ungerecht gegen jedermann und gegen mich selbst, daß alles ungestüm, finster und böse in mir ist. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

»Ich bin so unglücklich, und alles das, was mich hätte anders machen können, ist so vollständig verstört in mir, daß, wenn ich bis zu dieser Stunde meiner Vernunft beraubt gewesen wäre, und wenn ich anstatt so gelehrt zu sein wie du denkst, noch anfangen müßte die ersten Wahrheiten zu erlernen, ich einen Führer zum Frieden, zur Zufriedenheit, Ehre und all den Gütern, deren ich gänzlich bar bin, nicht dringender nötig hätte, als ich in meiner Armseligkeit wirklich habe. Stößt dich das nicht zurück?«

»Nein!«

In der Unschuld ihrer natürlichen Liebe und in der Fülle ihrer alten Anhänglichkeit leuchtete das einst verlassene Mädchen wie ein schönes Licht in das dunkle Leben der anderen hinein.

Luise erhob die eine Hand, ihren Nacken zu streicheln, und flocht sie dann in die andere. Sie fiel auf ihre Knie, und sich an des Artisten Kind hängend, blickte sie zu ihm auf, beinahe mit Verehrung.

»Vergib mir, habe Mitleid mit mir, hilf mir! Blicke teilnehmend auf meine große Not und laß mich meinen armen Kopf an ein liebendes Herz legen.«

»O! laß es hier ruhen!« rief Cili, »laß es hier ruhen, geliebte Freundin!«



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