Charles Dickens
Schwere Zeiten
Charles Dickens

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Vierunddreißigstes Kapitel.

Es war ein strahlender Herbstsonntag, klar und kühl, als Cili und Rachael früh am Morgen sich trafen, um einen Spaziergang aufs Land zu machen.

Da Coketown nicht nur sein eigenes Haupt, sondern auch das der Nachbarschaft mit Asche bestreute – nach Art jener frommen Menschen, die für ihre eigenen Sünden Buße tun, indem sie andere Leute in den Sack stecken – so pflegten diejenigen, die dann und wann nach einem Zug frischer Luft dürsteten (nicht gerade die schlimmste von den Eitelkeiten des menschlichen Lebens) erst einige Meilen weit auf der Eisenbahn zu fahren und dann ihren Spaziergang zu beginnen oder sich gemächlich im Freien zu lagern.

Cili und Rachael halfen sich aus dem Rauche durch das übliche Mittel und stiegen auf der Station, die auf halbem Wege zwischen der Stadt und Mr. Bounderbys Landsitz lag, aus.

Obgleich die grüne Landschaft hier und da mit Kohlenhaufen befleckt war, so war sie doch an andern Orten grün, und es waren Bäume zu sehen, und Lerchen sangen (obgleich es Sonntag war) und angenehme Düfte erfüllten die Luft, und alles war von einem glänzend blauen Himmel überwölbt. Nach einer Richtung hin zeigte sich Coketown wie ein schwarzer Nebel; nach einer andern begannen Hügel emporzusteigen; nach einer dritten machte sich eine leise Veränderung in der Beleuchtung des Horizontes bemerkbar, da wo er auf das ferne Meer schien. Unter ihren Füßen war das Gras frisch, schöne Schatten von Baumzweigen spielten auf ihm hin und her und sprenkelten es; die Laubhecken waren üppig; über alles verbreitete sich Friede. Grubenmaschinen und magere alte Pferde, welche den Kreislauf ihrer täglichen Arbeit auf dem Felde unterbrochen hatten, waren gleichfalls ruhig; die Räder hatten für eine kurze Zeit aufgehört, sich zu drehen, und das große Erdrad schien sich ohne seine gewöhnlichen Stöße und lärmenden Töne umzuwälzen.

Sie wanderten weiter durch die Felder und die schattigen Heckenwege hinunter, zuweilen stiegen sie über die Reste eines Zaunes, so modrig, daß sie unter der Berührung ihres Fußes zusammenfielen, zuweilen kamen sie an mit Gras bewachsenen Trümmern von Ziegelsteinen und Balken vorbei, die die Stelle verlassener Werkstätten bezeichneten. Sie folgten Pfaden und Spuren, so unbedeutend sie auch sein mochten. Schlünde, wo das Gras dicht und hoch, und wo Brombeersträucher, Ampferkraut und ähnliche Vegetation verworren zusammengehäuft war, vermieden sie immer; denn man erzählte sich in dieser Gegend schreckliche Geschichtchen von alten Gruben, die unter solchen Kennzeichen verborgen lägen.

Die Sonne stand hoch, als sie sich zur Ruhe niedersetzten. Sie hatten seit lange keinen Menschen, weder nah noch fern, gesehen; und die Einsamkeit blieb ununterbrochen. »Es ist so still hier, Rachael, und der Weg ist so unbetreten, daß ich glaube, wir müssen die ersten sein, die den ganzen Sommer über hier gewesen sind.«

Als Cili das sagte, wurden ihre Augen von einem andern dieser verrotteten Gehegeüberbleibsel auf dem Felde angezogen. Sie stand auf, um es in Augenschein zu nehmen. »Ich weiß nicht, dies ist noch nicht lange abgebrochen worden. Das Holz ist ganz frisch, wo es gebrochen. Hier sind auch Fußtapfen. – O, Rachael!«

Sie lief zurück und fiel ihr um den Hals. Rachael war schon aufgesprungen.

»Was gibt's?«

»Ich weiß nicht. Da liegt ein Hut im Grase.«

Sie gingen zusammen vorwärts. Rachael nahm ihn auf, am ganzen Leibe zitternd. Sie brach in eine Flut von Tränen und Wehklagen aus. »Stephen Blackpool« stand auf der Innenseite von seiner eigenen Hand geschrieben.

»O, der arme Junge, der arme Junge! Er ist also doch auf die Seite geschafft worden; er liegt ermordet hier!«

»Hat denn – hat der Hut eine Blutspur an sich?« stammelte Cili.

Sie fürchteten sich, darauf zu blicken; gleichwohl untersuchten sie ihn und fanden kein Merkmal von Gewalttätigkeit, weder auswendig noch inwendig. Er mußte hier einige Tage gelegen haben, denn Regen und Tau hatten ihn gehärtet, und der Abdruck seiner Form befand sich auf dem Grase, da, wo er gefallen war. Sie blickten angstvoll um sich, ohne sich von der Stelle zu rühren, aber sie konnten nichts weiter bemerken. »Rachael«, flüsterte Cili, »ich will allein ein wenig vorwärts gehen.«

Sie hatte ihre Hand losgemacht und war im Begriff, vorwärtszuschreiten, als Rachael sie mit beiden Armen umschloß und einen Schrei ausstieß, der weithin über das Feld ertönte. Gerade vor ihren Füßen war der Abgrund eines schwarzen, zerrissenen Schlundes, unter dichtem Grase verborgen. Sie sprangen zurück und fielen auf ihre Knie, indem jede ihr Gesicht auf der Schulter der andern verbarg.

»O, mein guter Gott, er liegt dort unten, dort unten!« Dies und ihre schrecklichen Schmerzensrufe waren fürs erste alles, was von Rachael herausgebracht werden konnte, trotz aller Tränen, Bitten, Vorstellungen und Versuche. Es war unmöglich, sie zu besänftigen, und dringend notwendig, sie zu halten, oder sie würde sich selbst in den Abgrund gestürzt haben.

»Rachael, liebe Rachael, gute Rachael, bei der Liebe des Himmels, nicht diese fürchterlichen Schreie! Denk an Stephen, denk an Stephen, denk an Stephen!«

Durch eine ernstliche Wiederholung dieser Beschwörung, die mit all der Verzweiflung eines solchen Augenblickes ausgesprochen wurde, brachte es Cili endlich dahin, daß sie schwieg und sie mit einem tränenlosen, versteinerten Gesichte anblickte.

»Rachael, Stephen kann noch leben. Du würdest ihn doch nicht einen Augenblick verstümmelt auf dem Grunde dieses fürchterlichen Ortes liegen lassen wollen, wenn du ihm Hilfe bringen könntest?«

»Nein, nein, nein!«

»Rühre dich nicht von der Stelle, ihm zu Liebe! Ich will gehen und horchen.«

Sie schauderte, sich der Grube zu nähern; aber sie kroch auf Händen und Knien auf sie zu und rief seinen Namen, so laut sie nur rufen konnte. Sie lauschte, aber kein Schall antwortete. Sie rief wieder und horchte wieder, und immer kein antwortender Ton. Sie tat das zwanzig-, dreißigmal. Sie nahm eine Erdscholle von dem aufgewühlten Boden, worüber er gestolpert war, und warf sie hinein. Sie konnte ihren Fall nicht hören.

Die weite Aussicht, noch vor wenigen Minuten so schön in ihrer Stille, erfüllte jetzt ihr mutiges Herz fast mit Verzweiflung, als sie sich erhob und nach allen Seiten blickte, ohne Hilfe zu sehen. »Rachael, wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Wir müssen nach verschiedenen Richtungen gehen und Hilfe suchen. Du wirst den Weg gehen, den wir gekommen, und ich will auf dem Pfade vorwärts gehen. Erzähle jedermann, den du triffst, was sich ereignet hat, wer es auch sei. Denk an Stephen, denk an Stephen!«

Sie sah an Rachaels Gesicht, daß sie jetzt Vertrauen auf sie setzen konnte. Nachdem sie ihr eine Zeitlang nachgesehen, während sie so dahinlief und die Hände rang, wandte sie sich um und ging fort, um selbst nachzusuchen: sie hielt an der Hecke an, um hier ihren Schal zu befestigen, als einen Wegzeiger zu dem Platze, dann warf sie ihren Hut zur Seite und lief, wie sie nie zuvor gelaufen war.

Laufe, Cili, laufe, in des Himmels Namen! Halte nicht an, um Atem zu schöpfen. Lauf, lauf! Sich selbst zur Eile antreibend, indem sie sich solche Ermahnungen in ihren Gedanken gab, lief sie von Feld zu Feld, von Heckenweg zu Heckenweg, von Platz zu Platz, wie sie noch nie zuvor gelaufen war: bis sie zu einem Schuppen an einem Maschinenhause kam, in dessen Schatten zwei Männer lagen und auf Stroh schliefen.

Erst sie zu wecken, und dann ihnen zu erzählen, so verstört und atemlos wie sie war, was sie hierhergeführt, hatte seine Schwierigkeiten; aber kaum hatten sie verstanden, warum es sich handelte, als ihre Lebensgeister von gleichem Feuer ergriffen wurden, wie die ihrigen. Einer der Männer war in einem betrunkenen Dusel, aber als sein Kamerad ihm laut zuschrie, daß ein Mann in den »Alten Höllenschacht« gefallen sei, sprang er fort zu einem Pfuhle schmutzigen Wassers, steckte seinen Kopf hinein und kam nüchtern zurück.

Mit diesen zwei Männern lief sie zu einem andern eine halbe Meile weiter, und mit diesem noch zu einem andern, während die ersten wieder zu andern liefen. Dann wurde ein Pferd gefunden, und sie gab einem andern Mann den Auftrag, auf Leben und Tod zur Eisenbahn zu reiten und Luise eine Botschaft zu übermitteln, die sie schrieb und ihm einhändigte. Mittlerweile war die Bevölkerung eines ganzen Dorfes auf den Beinen, und Winden, Stricke, Stangen, Lichter, Laternen und alle notwendigen Sachen wurden schnell herbeigeschafft, um zu dem »Alten Höllenschacht« gebracht zu werden.

Es schienen ihr bereits Stunden verflossen zu sein, seitdem sie den unglücklichen Mann in dem Grabe liegend, worin er lebendig begraben worden war, verlassen hatte. Sie konnte nicht länger ertragen, von ihm entfernt zu bleiben – das schien ihr wie ein Imstichlassen – und sie eilte schnell zurück, von einem halben Dutzend Arbeiter begleitet, einschließlich des betrunkenen Mannes, den die Nachricht nüchtern gemacht hatte, und welcher der tüchtigste von allen war. Als sie zu dem »Alten Höllenschacht« kamen, fanden sie ihn so einsam, als sie ihn verlassen hatten. Die Leute riefen und horchten, wie sie getan hatte, untersuchten den Rand des Abgrundes, besprachen, wie es hätte gekommen sein können, und setzten sich dann nieder, um zu warten, bis die Werkzeuge, die sie brauchten, herankämen.

Jedes Schwirren der Insekten in der Luft, jede Bewegung der Blätter, jedes Geflüster unter diesen Männern machte Cili erzittern, denn sie hielt es für einen Schrei in der Tiefe der Grube. Aber der Wind blies lässig darüber hin und kein Ton drang zur Oberfläche, und sie saßen auf dem Grab, wartend und wartend. Nachdem sie eine Zeitlang so gewartet hatten, begannen herumstreifende Leute, welche von dem Unfall gehört hatten, heranzukommen, dann langte die wahre Hilfe der Werkzeuge an. Mitten unter ihnen kehrte Rachael zurück, und mit ihr kam ein Wundarzt mit Wein und Arzneien. Aber die Hoffnung unter den Leuten, daß der Mann noch am Leben gefunden werden könnte, war in der Tat sehr klein.

Da jetzt genug Leute da waren, um die Arbeit zu beginnen, so stellte sich der nüchtern gewordene Mann an die Spitze des Ganzen, oder wurde durch allgemeine Zustimmung dazu berufen, zog einen weiten Kreis um den »Alten Höllenschacht« und stellte Männer an, ihn zu hüten. Außer solchen Freiwilligen, die zur Hülfeleistung angenommen worden waren, wurde vorerst nur Cili und Rachael gestattet, sich in diesem Kreis aufzuhalten: aber im Verlaufe des Tages, als die Nachricht einen Extrazug von Coketown brachte, befanden sich auch Mr. Gradgrind und Luise und Mr. Bounderby und der Bengel da.

Die Sonne stand vier Stunden tiefer als zu der Zeit, wo sich Rachael und Cili zuerst in das Gras niedergesetzt hatten, ehe eine Maschine von Stangen und Stricken errichtet war, vermittels deren zwei Männer mit Sicherheit hinabsteigen konnten. Bei dem Bau dieser Maschine hatten sich Schwierigkeiten erhoben, so einfach sie auch war: man hatte gefunden, daß gewisse Erfordernisse mangelten, und Botschafter mußten hin und zurück geschickt werden. Es war fünf Uhr am Nachmittage dieses heitern Sonntags, ehe ein Licht hinuntergelassen werden konnte, um die Luft zu prüfen, während drei bis vier rauhe Gesichter dicht zusammengedrängt standen, um es aufmerksam zu beobachten, und die Männer an der Winde drehten, wie sie angewiesen wurden. Das Licht wurde wieder herausgebracht, noch schwach brennend, dann wurde etwas Wasser hineingeschüttet. Hierauf wurde der Eimer angehakt, und der nüchtern gewordene Mann stieg in Begleitung eines anderen mit Lichtern hinein und gab das Kommando »Niedergelassen!«

Als das Seil auslief, fest gespannt und angezogen und die Winde knarrte, war kein Atem unter den ein- oder zweihundert männlichen und weiblichen Zuschauern, der so ging, wie er zu gehen gewohnt war. Das Signal wurde gegeben, und die Winde hielt an, ein ansehnliches Stück Tau war unbenutzt. Jetzt folgte dem Anscheine nach ein so langer Zwischenraum, während dessen die Männer an der Winde müßig standen, daß einige Weiber schrien, es habe sich ein zweites Unglück ereignet! Aber der Arzt, welcher die Uhr in der Hand hielt, erklärte, daß noch nicht fünf Minuten verflossen wären und forderte sie streng auf, sich still zu verhalten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als die Winde sich umdrehte und von neuem arbeitete. Geübte Augen bemerkten, daß sie nicht so schwer ging, als wenn beide Arbeiter heraufkämen, und daß nur einer zurückkehrte. Das Seil kam an, fest und stramm, Ring auf Ring wurde um den Windebaum gewunden, und alle Augen waren auf die Grube gerichtet. Der ernüchterte Mann wurde herausgebracht und sprang lebhaft auf das Gras. Jetzt erhob sich ein allgemeiner Schrei: »Lebendig oder tot?« und dann tiefe, atemlose Stille.

Als er antwortete: »Lebendig!« erhob sich ein allgemeiner Ausruf der Freude, und manches Auge füllte sich mit Tränen.

»Aber er ist sehr schwer verletzt«, fügte er hinzu, sobald er sich wieder Gehör verschaffen konnte. »Wo ist der Doktor? Er ist so außerordentlich schwer verletzt, daß wir nicht wissen, wie wir ihn herausbringen sollen.«

Sie beratschlagten gemeinsam miteinander und blickten gespannt auf den Arzt, als er einige Fragen tat und bei den erhaltenen Antworten seinen Kopf schüttelte. Die Sonne neigte sich jetzt, und die rote Beleuchtung des Abendhimmels fiel auf jedes Gesicht, so daß es genau in all seiner zweifelnden Spannung beobachtet werden konnte.

Das Ergebnis der Beratung war, daß die Männer zur Winde zurückkehrten und der Grubenmann nochmals hinunterstieg und den Wein und einige Kleinigkeiten mit sich nahm. Dann kam der andere Mann herauf. Mittlerweile brachten einige Männer unter Anleitung des Wundarztes eine Hürde herbei, auf welche andere ein dickes Bett von mit Tüchern überdecktem losen Stroh machten; er selbst verfertigte sich einige Bandagen und Binden aus Schals und Taschentüchern. Als diese fertig waren, wurden sie dem Grubenmanne, der zuletzt heraufgekommen war, über den Arm gehängt, mit Anweisungen, wie er sie gebrauchen solle. Als er so dastand, von dem Lichte, das er bei sich führte, beleuchtet, während er seine kräftige Hand leicht auf einen der Pfähle stützte, bald in die Grube hinunterblickend, bald auf das Volk im Kreise umher, war er nicht die am wenigsten hervorragende Gestalt in der Szene. Es war jetzt finster, und man zündete Fackeln an.

Nach dem wenigen, was der Mann zu den Umstehenden sagte, und was schnell über den ganzen Kreis hin wiederholt wurde, schien es, daß der verunglückte Mann auf einen Haufen zerkrümelten Schuttes gefallen war, mit dem die Grube halb verstopft war. Ferner war die Gewalt seines Falles durch Erdunebenheiten an der Seite gebrochen worden. Er lag auf seinem Rücken, den einen Arm gequetscht unter sich, und hatte seinem eigenen Glauben nach kaum sich geregt, seitdem er gefallen, außer daß er seine freie Hand zu einer Seitentasche geführt, worin er sich erinnerte, etwas Fleisch und Brot zu haben. Er verschluckte ein paar Krumen davon und tunkte damit ab und zu etwas Wasser auf. Er war geradenwegs von seiner Arbeit gegangen, sobald man an ihn geschrieben hatte, und war den ganzen Tag über marschiert; er befand sich gerade auf dem Wege zu Mr. Bounderbys Landsitz nach Einbruch der Dunkelheit, als er fiel. Er durchschritt diese gefährliche Gegend zu einer so gefährlichen Zeit, weil er unschuldig an dem war, was man ihm zur Last legte, und den nächsten Weg einschlagen wollte, auf dem er sich stellen konnte. Der »Alte Höllenschacht«, sagte der Grubenmann, mit einem Fluche auf ihn, hätte sich endlich seines bösen Namens würdig gezeigt, denn obgleich Stephen jetzt noch nicht sprechen könne, so glaubte er doch, man würde bald sehen, wie er ihn ums Leben gebracht.

Als alles bereit war, verschwand dieser Mann in der Grube. Er empfing noch die letzten hastigen Aufträge von seinen Kameraden und dem Arzte, nachdem die Winde schon begonnen hatte, ihn hinabzulassen. Das Tau lief aus wie zuvor, das Signal wurde gegeben wie zuvor, und die Winde hielt an. Kein Arbeiter zog jetzt seine Hand von ihr zurück. Jeder wartete, seine Hand am Griffe und seinen Körper zur Maschine niedergebeugt, bereit, umzuwinden und aufzuwinden. Endlich wurde das Zeichen gegeben, und der ganze Kreis neigte sich vorwärts.

Denn jetzt wand sich das Seil ein, wie es schien, aufs äußerste angespannt und stramm gezogen. Die Männer drehten mit Anstrengung, und die Winde ächzte. Es war fast unerträglich, auf das Seil zu blicken und zu denken, daß es reißen könnte. Aber Ring auf Ring schlang sich sicher um den Windebaum, und die Verbindungsketten erschienen, und endlich der Eimer mit den zwei Männern, die sich an den Seiten festhielten – ein Anblick, um den Kopf schwindeln zu machen und das Herz zu erdrücken –, und die Gestalt eines armen, zerschlagenen, menschlichen Wesens, sorgsam von ihnen unterstützt, umschlungen und angeknüpft.

Ein leises Gemurmel des Mitleids erhob sich rings aus dem Gedränge. Die Weiber weinten laut, als diese Gestalt, beinahe ohne Gestalt, ganz langsam von seiner eisernen Transportmaschine befreit und auf das Strohbett gelegt wurde. Zuerst trat niemand als der Wundarzt heran. Er tat, was er konnte, bei seinem Niederlegen auf das Ruhebett, aber das beste, was er tun konnte, war ihn zuzudecken. Als er das sanft getan hatte, rief er Rachael und Cili herbei. Und jetzt sah man das bleiche, abgehärmte, leidende Gesicht zum Himmel emporblicken, während die gebrochene rechte Hand bloß auf der Außenseite der Kleiderdecken lag, als wenn sie darauf wartete, von einer anderen Hand ergriffen zu werden.

Sie gaben ihm zu trinken, besprengten sein Gesicht mit Wasser und reichten ihm einige Tropfen zur Herzstärkung und etwas Wein. Obgleich er ganz bewegungslos dalag und zum Himmel blickte, lächelte er und sagte: »Rachael.«

Sie fiel nieder aufs Gras an seine Seite und beugte sich über ihn, bis sich ihre Augen zwischen den seinigen und dem Himmel befanden, denn er war nicht imstande, sie zu bewegen, um Rachael anzublicken.

»Rachael, meine Geliebte!«

Sie nahm seine Hand. Er lächelte wieder und sagte: »Laß sie nicht wieder los.«

»Du hast viele Schmerzen, mein einzig lieber Stephen?«

»Ich habe sie gehabt, aber jetzt nicht mehr. Ich habe sie gehabt – schrecklich und lang gelitten – aber es ist jetzt vorüber. Ah, Rachael, und alles ein trüber Schlamm! Ein trüber Schlamm, von Anfang bis zu Ende!«

Ein Schatten seines früheren Wesens schien zurückzukehren, als er diese Worte sprach.

»Ich bin in die Grube gefallen, Liebe, wie, nach den Erzählungen alter Leute, bereits Hunderte und Hunderte von Menschenleben – Väter, Söhne, Brüder, die Tausenden und Tausenden teuer waren, die sie vor Mangel und Hunger schützten. Ich bin in eine Grube gefallen, die mit Feuerdampf angefüllt war, schrecklicher als eine Schlacht. Ich habe in der öffentlichen Bittschrift gelesen, wie jedermann lesen konnte, von den Männern, die in den Gruben arbeiten. Darin flehten sie die Gesetzgeber um Christi willen an, ihre Arbeit nicht zum Mörder an ihnen werden zu lassen, sondern sie zu schonen für Weib und Kind, die sie ebensosehr lieben, wie vornehme Leute die ihren. Als die Grube in Betrieb war, tötete sie ohne Not: jetzt, wo sie verlassen ist, tötet sie auch ohne Not. Sieh, wie wir sterben ohne unser Verschulden, so oder so – in einem trüben Schlamme – alle Tage!«

Er sagte das matt, ohne den geringsten Zorn gegen irgendwen. Lediglich als Wahrheit.

»Du hast deine kleine Schwester nicht vergessen, Rachael. Du wirst sie nicht so leicht vergessen und mich, der ich ihr so nahe bin. Du weißt – arme, stille, liebe Dulderin – wie du für sie arbeitetest, während sie alle Tage lang in ihrem kleinen Stuhl an deinem Fenster saß. Sie starb, jung und ungestaltet, hinsiechend an krankhafter Luft, wie es doch nicht zu sein brauchte, und hinsiechend an den elenden Wohnungen des Arbeitervolkes. Ein schmutziger Schlamm! Alles ein schmutziger Schlamm!«

Luise näherte sich ihm; aber er konnte sie nicht sehen, da er mit seinem Antlitze gegen den nächtlichen Himmel gerichtet lag.

»Wenn nicht alle Dinge, die sich auf uns beziehen, Liebe, so finster und schmutzig wären, so hätte ich nicht brauchen hierherzukommen. Wenn wir uns nicht unter uns selbst im Schlamme bewegten, so würde ich nicht von meinen eigenen Webergenossen und Arbeiterbrüdern so mißverstanden worden sein. Wenn Mr. Bounderby mich jemals recht gekannt hätte – wenn er mich überhaupt gekannt hätte, so würde er sich niemals gegen mich erzürnt haben. Er hätte mich nicht in Verdacht haben können. Aber sieh nur dort, Rachael! Blicke nach oben hin!«

Indem sie seinen Augen folgte, bemerkte sie, daß er auf einen Stern blickte.

»Der hat auf mich geschienen«, sagte er ehrfurchtsvoll, »in meinen Leiden und meinem Elend da unten. Er hat in mein Herz geschienen. Ich habe auf ihn geblickt und habe an dich gedacht, Rachael, bis das Dunkel in meinem Geist sich zerstreute. Wenn manche sich die Mühe genommen hätten, mich besser zu verstehen, so würde ich mir auch die Mühe genommen haben, sie besser zu verstehen. Als ich deinen Brief erhielt, glaubte ich leicht, daß das, was die junge Lady mir sagte und tat, und was ihr Bruder mir sagte und tat, ein und dasselbe wäre, und daß eine böse Übereinkunft zwischen ihnen bestände. Als ich fiel, war ich sehr aufgebracht auf sie und ließ mich verleiten, so ungerecht gegen sie zu sein, wie andere gegen mich waren. Aber in unseren Urteilen wie in unseren Handlungen müssen wir duldsam und geduldig sein. Als ich in meiner Not und Trübsal so nach oben blickte und – der Stern über mir leuchtete – habe ich klarer gesehen und habe es zu meinem Sterbegebet gemacht, daß die ganze Welt nur näher zusammenrücken und ein besseres gegenseitiges Verständnis gewinnen möge, als es meinem armen schwachen Selbst vergönnt war.«

Als Luise hörte, was er sagte, beugte sie sich auf der andern Seite, Rachael gegenüber, auf ihn herunter, so daß er sie sehen konnte.

»Ihr habt gehört?« sagte er nach einem Schweigen von einigen Augenblicken. »Ich habe Euch nicht vergessen, Lady.«

»Ja, Stephen, ich habe Euch gehört; und Euer Gebet ist das meinige.«

»Ihr habt einen Vater. Wollt Ihr einen Auftrag für ihn übernehmen?«

»Er ist hier«, sagte Luise mit Schrecken. »Soll ich ihn zu Euch bringen?«

»Bitte.«

Luise kehrte mit ihrem Vater zurück. Hand in Hand dastehend, blickten beide nieder auf das feierliche Gesicht.

»Sir, Ihr werdet mich rechtfertigen und meinen ehrlichen Namen bei allen Menschen wieder herstellen. Das überlasse ich Euch als mein Vermächtnis.«

Mr. Gradgrind war betroffen und fragte: »Wie?«

»Sir«, war die Antwort, »Euer Sohn wird Euch sagen, wie. Fragt ihn. Ich klage nicht an: ich lasse nichts hinter mir, nicht ein einziges Wort. Ich habe Euren Sohn gesehen und mit ihm gesprochen eines Nachts. Ich verlange nicht mehr von Euch, als daß Ihr mich rechtfertigt, – und ich habe das Vertrauen zu Euch, daß Ihr es tun werdet.«

Da die Träger nun bereit waren, ihn wegzuschaffen und der Arzt auf seine Entfernung drang, so schickten sich diejenigen, die Laternen und Fackeln hatten, an, sich vor der Tragbahre in Marsch zu setzen. Bevor sie erhoben wurde und während sie darüber übereinkamen, wie sie gehen sollten, sagte er zu Rachael, zum Stern hinaufblickend:

»So oft ich zu mir selbst kam und ihn auf mein Elend herniederscheinend fand, dachte ich, es wäre der Stern, der zu unseres Erlösers Heimat führte; ich glaube fast, es ist der Stern wirklich.«

Sie nahmen ihn jetzt auf, und er war innig erfreut, als er fand, daß sie im Begriff waren, ihn nach der Richtung hinzutragen, wohin der Stern ihn zu führen schien.

»Rachael, geliebtes Mädchen! Laß meine Hand nicht los. Wir wollen heute abend zusammengehen, meine Liebe.«

»Ich will deine Hand halten und an deiner Seite bleiben, den ganzen Weg über, Stephen.«

»Gott lohne es dir! Will jemand so gut sein, mein Gesicht zuzudecken?«

Sie trugen ihn sehr sanft über die Felder, die Zaunpfade herab durch die weite Landschaft. Rachael hielt immer seine Hand in ihrer. Selten unterbrach ein Flüstern das traurige Schweigen. Es war bald ein Leichenzug. Der Stern hatte ihm gezeigt, wo der Gott des Armen zu finden, und durch Erniedrigung, Not und Vergebung war er zur Ruhe seines Erlösers eingegangen.



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