Hans Dominik
Geballte Kraft
Hans Dominik

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Eine Idee . . . (1866)

In gespannter Erwartung harrt die Bevölkerung Berlins während der letzten Junitage des Jahres 1866 auf Nachrichten vom Kriegsschauplatz, denn Krieg ist zwischen Preußen und Österreich. Schon haben preußische Heeresgruppen den Gegner in einer Reihe von Vorgefechten geworfen und das böhmische Grenzgebirge überschritten. Jeder Tag kann nun den Zusammenstoß der Hauptkräfte und eine große Entscheidungsschlacht bringen.

Anders, als noch wenige Wochen vorher, läuft in dieser schicksalsschwangeren Zeit das Leben in der preußischen Hauptstadt. Die Reservisten sind zu den Fahnen geeilt, halbleer stehen die Werkstätten und Fabriksäle von Borsig, von Schwartzkopff und auch diejenigen der Telegraphenanstalt von Siemens u. Halske. Schwächer als sonst laufen Handel und Wandel. –

Heiß brennt die Nachmittagssonne auf das Kopfsteinpflaster der Markgrafenstraße. Durch Vorhänge gedämpft fällt das Tageslicht in das schlichte Arbeitszimmer, in dem Werner Siemens in einem mit schwarzem Leder bezogenen Lehnstuhl sitzt und schon seit geraumer Zeit nachdenklich den kleinen Magnetinduktor in seinen Händen betrachtet. Jetzt hat er ja mehr Zeit als sonst, seinen wissenschaftlichen Spekulationen nachzugehen. In diesen Kriegswochen braucht er sich nicht vom frühen Morgen bis zum spätem Abend um hundert Einzelheiten des Betriebes zu kümmern, braucht nicht an einer Stelle Anregungen als Konstrukteur zu geben, an einer anderen Anordnungen als Organisator zu treffen und an einer dritten schwerwiegende Entscheidungen als Kaufmann zu fällen. Konzentriert kann er das physikalische Problem durchdenken, das ihn schon seit langem beschäftigt. –

Der Anker? . . . Der Doppel-T-Anker?! . . . Wie absonderlich benimmt sich der Bursche, wenn er nicht als Generator, sondern als Motor arbeiten soll! Wohl an die hundert Male hat Dr. Siemens sich die Frage vorgelegt, ohne eine Antwort darauf zu finden. Auch jetzt wieder scheint alles Grübeln vergeblich. Mit einem Ruck erhebt er sich und geht in den Nachbarraum hinüber, der ihm als Laboratorium dient.

Säuregeruch, der von Bunsenelementen herrührt, macht sich hier bemerkbar. Werner Siemens stellt den Induktor neben die Elemente, holt aus einem Repositorium Drähte, einen Ausschalter und ein Galvanometer und baut sich wieder einmal . . . zum wievielten Male wohl nun schon . . . die wohlbekannte Schaltung auf, um die Erscheinungen noch einmal zu beobachten.

Eine Schalterbewegung danach, Strom fließt aus den Elementen durch den Anker des Induktors und das Galvanometer. Weit schlägt der Zeiger des Instrumentes aus, während der Anker sich schnurrend in Bewegung setzt, und dann . . . dann geht es ebenso wie auch vorher schon immer. Der Instrumentenzeiger fällt zurück, während der Anker des Induktors immer schneller läuft. Einen hohen singenden Ton läßt der Anker jetzt vernehmen, das Zeichen, daß er auf Höchsttouren gekommen ist. Nur noch einen geringen Bruchteil der früheren Stromstärke zeigt das Galvanometer an. Mit zusammengekniffenen Lippen steht Siemens davor, fieberhaft arbeitet sein Hirn, formt Gedanken, bildet Schlüsse.

Der Batteriestrom ist schwächer geworden . . . ergo muß eine Kraft da sein, die ihn schwächt . . . Sie ist nicht da, wenn der Anker stillsteht . . . also muß der Anker selbst sie bei seiner Drehung erzeugen . . . Bis dahin ist die Kette der Folgerungen geschlossen. Doch schon taucht die neue Frage auf: Wie kann der rotierende Anker diese Gegenkraft erzeugen? Lange Minuten verstreichen, bis es plötzlich wie eine Erleuchtung über den Grübelnden kommt, bis die gepreßten Lippen sich öffnen und Worte formen: »Es ist der Extrastrom! Es muß ja so sein nach allem, was wir durch Ampère und Faraday wissen. In den Windungen eines bewegten Ankers muß ein Extrastrom auftreten, der dieser Bewegung entgegenwirkt . . . gleichviel, ob ich den Anker von außen her drehe oder ob ich ihn durch einen hineingesandten Strom antreibe . . . Wenn das aber so ist . . . dann muß ja . . . dann muß, wenn ich den Anker in entgegengesetzter Richtung drehe, auch der Extrastrom seine Richtung wechseln. Dann muß er den Batteriestrom verstärken.« –

Noch ehe das letzte Wort von seinen Lippen fällt, hat er den Batteriestrom wieder unterbrochen. Der Anker kommt zur Ruhe. Er greift zu einem Schraubenzieher und fügt die Kurbel, die für den Versuch abgenommen war, wieder an den Apparat. Mit der einen Hand hält er sie fest, mit der anderen schaltet er von neuem den Strom der Batterie ein. Mit der so oft schon beobachteten Anfangsstärke ergießt sich der Strom durch die Drähte, und nun beginnt Werner Siemens die Kurbel zu drehen; dreht sie so, daß der Anker jetzt in umgekehrter Richtung wie vorher rotiert, und sieht, wie der Zeiger des Galvanometers weit und immer weiter ausschlägt, wie der vom Induktor erzeugte Strom sich jetzt zu dem Batteriestrom addiert.

Das ist's also, das ist die Antwort auf die Frage, die ihn so lange bewegt hat. Jetzt weiß er, worum es geht. Jetzt kann er auf der gewonnenen Erkenntnis weiterbauen.

Noch ganz erfüllt von der neuen Idee eilt er aus dem Laboratorium in das Arbeitszimmer zurück, greift nach einem Bogen Papier und fängt an zu skizzieren. Die Form des Induktors entsteht auf der weißen Fläche. In wenigen Strichen wirft er sie hin. So genau kennt ja Werner Siemens den Magnetinduktor, diese seine vor zehn Jahren entstandene Schöpfung, daß er ihn zur Not auch im Dunkeln aufzeichnen könnte. Doch in einem weicht der Entwurf, der nun entsteht, von der hergebrachten Anordnung ab. Nicht permanente Stahlmagnete sind vorgesehen, sondern Elektromagnete, Kerne aus Weicheisen, die von Drahtspulen umgeben sind. Elektromagnete, in ihrer Wirkung viel stärker als die bisher gebräuchlichen Stahlmagnete, sollen den induzierenden Teil der kleinen Maschine bilden, die an diesem Junitag unter den Händen von Werner Siemens auf dem Papier entsteht.

Nun ist der letzte Strich getan, und prüfend beobachtet der Sinnende sein Werk. Er schließt die Augen und preßt die Hände vor die Stirn, während seine Gedanken unablässig weiterströmen . . . Im Geist sieht er die neue Maschine schon arbeiten, sieht Ströme in ihrem Anker entstehen, sieht diese den Magnetismus der Elektromagnete verstärken, sieht das gegenseitige Spiel im Wechsel weitergehen, bis – er öffnet die Augen und sieht, daß Dämmerung das Gemach erfüllt.

Der Abend ist hereingebrochen. Längst sind die Werkstätten geschlossen; heute ist nichts mehr zu unternehmen. Aber sehr bald, vielleicht schon morgen, wird er Auftrag geben, das Gebilde, das heute auf dem Papier entstand, in Stahl und Kupfer Wirklichkeit werden zu lassen. Den Meister Müller wird er damit betrauen. Das ist ein geschickter Mann, ein Künstler in seinem Fach, der schon manchen Apparat für ihn gebaut hat; der wird auch diese Aufgabe gut zu lösen wissen. –

Es kommt nicht so schnell zur Ausführung, wie Werner Siemens es sich an jenem Junitag vorgenommen hat. Schon am Abend des 3. Juli ticken Telegraphenapparate, die fast alle aus der Markgrafenstraße in Berlin stammen, in den Postämtern zu London und Paris, zu Rom und zu Petersburg und geben Kunde von dem preußischen Sieg bei Königgrätz. Eine alte Welt ist an diesem historischen Tage zusammengebrochen. Wird es gelingen, die notwendige Neuordnung ohne weitere kriegerische Auseinandersetzungen zu erreichen, oder werden noch andere Länder in den Konflikt hineingezogen werden? Die Haltung des französischen Kaisers ist mehr als verdächtig. Wie werden sich England und Rußland, in denen die Telegraphenbauanstalt von Siemens u. Halske so große Interessen hat, zu der neuen Lage stellen? Das sind für die Firma lebenswichtige Fragen, die Werner Siemens in den nächsten Wochen ganz in Anspruch nehmen. Alle Erfinderpläne müssen dagegen zurücktreten, und einige Wochen vergehen noch, bevor er sich wieder jenem Problem zuwenden kann, dessen theoretische Lösung er in den Junitagen fand.

 


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