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»Au! Wahrhaftig Elektrizität! Au, Junge, eben habe ich 'nen dollen Schlag jekriegt!«
»Du, Justav, ik ooch. Det is keen Schwindel! Die fahren wirklich mit Elektrizität.«
So tönt es an einem Sommertag des Jahres 1879 aus den Mündern waschechter Berliner, die an einer Schmalspurbahn hocken und die Schienen betasten. Die Unterhaltung findet auf dem Gelände der Berliner Gewerbeausstellung statt. Kurz vorher ist etwas an den so Redenden vorbeigefahren, zu schnell eigentlich, um es so ganz richtig ins Auge zu fassen und zu begreifen. Offene Wägelchen waren es. Fast wie die bequemen Bänke in den breiten Wegen des Ausstellungsparkes sahen die Dinger aus, und Leute saßen darauf, behaglich hingelehnt, die sich mit der neuen Kraft durch den Park kutschieren ließen.
Ja, ist es denn wirklich Elektrizität? Das wollen die Ausstellungsbesucher noch nicht so recht glauben. Deshalb hocken sie jetzt überall an der Bahnstrecke, befühlen die Schienen und freuen sich wie die Kinder über die schwachen Schläge von 140 Volt, die sie bei ihrer Spielerei in die Finger bekommen. Die Gelegenheit, sich umsonst elektrisieren zu lassen, will sich kein richtiger Spree-Athener entgehen lassen.
Es ist tatsächlich Elektrizität, denn hier fährt die erste elektrische Bahn der Welt. Hier wird sie von Siemens u. Halske zum erstenmal im Betrieb vorgeführt und, soweit Plätze frei sind, kann sie jeder Ausstellungsbesucher für 20 Pfennig benutzen. Werner Siemens schreibt darüber an Bruder Karl nach London:
»Die elektrische Eisenbahn ist nichts wie zwei große dynamo-elektrische Maschinen, von denen die eine auf kleinen Rädern montiert ist. Eine dritte Mittelschiene (Eisenbahn oder Flacheisen) ist angebracht, gegen welche von beiden Seiten Räder oder Bürsten schleifen, die den Kontakt vermitteln. Die äußeren Schienen bilden die Rückleitung durch die Räder der Lokomotive und des Zuges. Die Bahn läuft in sich selbst zurück, ist etwa 800 Meter lang, und der Zug passiert sie mit 18 bis 24 Personen und Lokomotivführer, der auf der Lokomotive reitet, in ein bis zwei Minuten, je nach der Geschwindigkeit der arbeitenden Maschine. Bei sehr starkem Regen geht es etwas langsamer. Die Sache macht allen gewaltigen Spaß, und bei zwei Silbergroschen Fahrgeld für wohltätige Zwecke kommen täglich in vier Stunden gegen 1000 Mark ein!
Die Sache ist nicht ohne Wichtigkeit, namentlich wenn man die Bahn hängend baut! Ich denke, künftig die Mittelschienen fortzulassen und die rechten Räder des ganzen Zuges von den linken zu isolieren, sowie die Schienen selbst. Dann bilden die Räder des Zuges den Kontakt. Bei langen Linien müßte man alle ein bis zwei Kilometer eine stehende Relaismaschine aufstellen, welche die Potentialdifferenz zwischen äußeren und inneren Schienen (oder rechter und linker) wieder herstellt, so daß auch kleine Schienen ausreichen. Das Geleise ist 50 Zentimeter (Spurweite) und die Schienen kleinste Grubenschienen mit eiserner Auflage (ohne Schwellen).
Der Tivolibesitzer in Kopenhagen will die Anlage kaufen und unzählige Anfragen sind eingelaufen. Interessant für Eisenbahntechniker ist das schnelle und kräftige Anfahren des Zuges. Festhalten können fünf kräftige Männer den Zug nicht. Das ist ein großer Vorteil der elektrischen Maschinen vor den Dampfmaschinen, da bei jenen die Zugkraft umgekehrt proportional der Geschwindigkeit ist. Glaubt Ihr vielleicht, daß ein Patent in England sich nehmen ließe? Dann vorwärts!«
Der in diesem Brief ausgesprochene Gedanke, die dritte Schiene wegzulassen und den Strom durch die eine Fahrschiene hin und durch die andere zurückzuleiten und dem Wagen durch ein von der Achse isoliertes Rad zuzuleiten, wird schon zwei Jahre später bei der Anlage der ersten dem öffentlichen Dauerverkehr dienenden Bahn verwirklicht. Da ist auf dem ehemaligen Rittergut Lichterfelde südwestlich von Berlin in den Gründerjahren 1870/71 die Villenkolonie Groß-Lichterfelde entstanden. Sie liegt zwischen zwei Bahnhöfen der Anhalter und Potsdamer Bahn. Auf dem halben Wege zwischen diesen Bahnhöfen hat man das neue Gebäude der Kadettenanstalt errichtet, die sich bisher in der Berliner Innenstadt in beengten Räumen befand.
Raum ist jetzt reichlich vorhanden, nicht nur drinnen, sondern auch draußen. Wer zur Kadettenanstalt will, muß zwei Kilometer über Land laufen. Eine Pferdebahn wird hier auch der wagehalsigste Unternehmer nicht hinbauen, denn eine Rentabilität ist nicht zu erwarten. Aber für eine elektrische Versuchsbahn könnte das hier die richtige Gelegenheit sein. Siemens u. Halske bauen sie, und bald ereignet sich das Wunder, daß sie sich sogar rentiert. –
»Zastrow, schnell! Bredow, machen Sie! Ziethen, allons!« Der Stubenälteste von Dohna ruft es den drei anderen Kadetten zu, die mit ihm in der zehnten Abendstunde auf dem Bahnhof Lichterfelde-Ost aus dem Zug springen. In forschem Trab laufen sie zu dem zweiachsigen Straßenbahnwagen, der vor dem Bahnhof hält. Kaum sind sie auf dem Hinterperron, als das Fahrzeug sich so schnell in Bewegung setzt, daß sie sich festhalten müssen. In flotter Fahrt rollt es davon.
»Feudale Sache von dem ollen Siemens«, meint von Zastrow.
»Noch dazu elektrisch! Komische Geschichte«, sagt von Bredow.
»Is mir bloß nich klar, wo die Pferde in dem Wagen stecken«, äußert sich von Ziethen.
»An der Achse im Motor«, entscheidet Graf von Dohna, und weil er der Stubenälteste ist, wird ihm nicht widersprochen. Viel Zeit zum Widerspruch wäre sowieso nicht vorhanden, denn schon taucht die hohe Kuppel der Kadettenanstalt auf. Kurz danach hält der Wagen.
»Zehn Minuten vor zehn! Kommen noch anständig nach Hause«, sagt von Dohna beim Verlassen des Fahrzeuges.
»Gott sei getrommelt und gepfiffen, daß wir die zwei Kilometer nicht zu latschen brauchten«, bemerkt von Zastrow.
»Sonst hätten wir mal wieder über den Zappen gewichst«, sagt ganz für sich von Ziethen. –
Die elektrische Bahn in Lichterfelde rentiert sich. Nicht nur die Kadetten und ihre Angehörigen, die zu Besuch kommen, benutzen sie; auch für die vielen Kolonisten ist sie bald unentbehrlich und muß schon kurze Zeit nach der Eröffnung den 20-Minuten-Verkehr einführen. Kinderkrankheiten bleiben dabei nicht aus.
So will der Bauer Rothe aus Lankwitz eines schönen Tages seinen Schwager Zinnow in Zehlendorf besuchen und kommt mit seinem Fuhrwerk durch Lichterfelde gezottelt. Rothe döst auf seinem Wagen, als er die Schienen der neuen elektrischen Bahn kreuzt. Aber plötzlich wird er munter und hat alle Hände voll zu tun, seinen Gaul, die alte Liese, im Zaum zu halten. Weiß der Teufel, was in das Tier gefahren ist. In dem Moment, in dem es mit seinen Hufen beide Schienen berührte, hat es einen mächtigen Sprung gemacht und galoppiert dann in einem Tempo los, das Rothe dem alten Zossen niemals zugetraut hätte. Erst allmählich bekommt Bauer Rothe sein Fuhrwerk wieder in die Gewalt, und lange noch liegt ihm das Abenteuer in den Knochen. Er bleibt auch nicht der einzige, dem so etwas passiert. Andere Gespanne müssen etwas Ähnliches durchmachen, denn Hufeisen und Hufnägel sind gute Leiter, und das Pferd ist gegen elektrische Schläge noch wesentlich empfindlicher als der Mensch.
So muß seitens der Straßenbahn etwas gegen derartige Vorkommnisse geschehen, und man hilft sich in Lichterfelde auf recht einfache Weise. An der Wegkreuzung werden die Schienen einfach stromlos gemacht. Die Stromverbindung wird an dieser Stelle durch ein kurzes unterirdisches Kabel hergestellt, und die Straßenbahnwagen müssen das kurze Stückchen ohne Strom mit eigenem Schwung überfahren.
Bei der Lichterfelder Bahn genügt dies Mittel, da sie zum größten Teil auf einem vorhandenen alten Bahndamm verläuft und die öffentlichen Straßen nur an wenigen Stellen kreuzt. Für eigentliche Straßenbahnen wird die Anlage jedoch grundsätzlich anders werden müssen, und sehr schnell kommt man hier zur Oberleitung. Schon 1882 läuft eine elektrische Straßenbahn von Siemens u. Halske auf der Strecke Westend–Spandauer Bock. Über der Strecke hat man dicht nebeneinander zwei parallele Drahtseile gespannt, von denen das eine die Stromzuführung, das andere die Stromrückleitung bildete. Auf diesen Seilen läuft gewissermaßen wie auf Schienen ein kleiner Kontaktwagen, der durch Kabel mit dem Motor des Straßenbahnwagens in Verbindung steht. Nach demselben Prinzip wird im gleichen Jahr auch bei Halensee in den neu angelegten Straßen 5 und 13, der heutigen Joachim- und Johann-Georg-Straße, ein Probebetrieb mit der »Elektromote« eröffnet. Es ist der erste Oberleitungs-Omnibus der Welt, der hier im Sommer 1882 seine Fahrten macht. Ebenso wie die Straßenbahn in Westend erhält auch er den Strom aus einer doppelten Oberleitung, auf der er einen kleinen Kontaktwagen hinter sich herzieht. Diese Art der Stromzuführung bewährt sich jedoch nicht, und bald kommt man zu der heute noch allgemein üblichen Anordnung, bei welcher der Strom durch die Oberleitung und einen Kontaktbügel oder eine Kontaktstange mit Rolle dem Motor zugeführt und durch die Straßenbahnschiene zur Kraftstation zurückgeleitet wird.
Die Allgemeine Elektricitätsgesellschaft rüstet ihre Bahnanlagen mit der aus Amerika stammenden Trolley-Stange, der Rolle aus, während Siemens und Halske den Bügel bevorzugen. So kommt das Scherzwort auf: Die AEG. rollt und Siemens bügelt.
Werner Siemens hat ja von Anfang an übrigens an eine ganz andere Ausführungsform elektrischer Bahnen gedacht. So äußert er sich über die Lichterfelder Bahn einmal:
»Sie ist als eine von ihren Säulen und Längsträgern herabgenommene und auf den Erdboden verlegte Hochbahn aufzufassen.«
Bereits damals geht er mit der Idee einer elektrischen Hochbahn um. Schon zu Beginn des Jahres 1880 arbeitet er einen vollständigen Plan einer elektrischen Hochbahn aus, die vom Wedding bis zum Belle-Alliance-Platz in Berlin durch die Friedrichstraße führen soll. Die Zeichnungen dieses Projekts sehen einzelne in zehn Meter Abstand voneinander an den Kanten der Bürgersteige errichtete starke Säulen vor, auf die eine eingleisige Strecke aufmontiert werden soll. Am 14. Februar 1880 wird dieser Plan dem Magistrat der Stadt Berlin eingereicht. Der Magistrat ist der Ausführung nicht abgeneigt, und auch das Eisenbahnministerium hat gegen den Entwurf keine Bedenken; doch wie ein Mann erheben sich die Anwohner und Grundbesitzer der Friedrichstraße dagegen. Alle möglichen Gründe führen sie ins Feld und bringen das Projekt durch ihren Einspruch zum Scheitern.
Noch 13 Jahre werden vergehen müssen, bevor endlich der Plan einer Berliner Hochbahn der Firma Siemens u. Halske genehmigt wird. Aber diese Bahn läuft nicht mehr in nordsüdlicher Richtung, sondern folgt den großen Gürtelstraßen vom Stralauer Tor an bis nach Charlottenburg in ostwestlicher Richtung. Werner Siemens selbst hat die Ausführung dieses seines Lieblingsprojekts nicht mehr erlebt, aber als Hochbahn und später als Untergrundbahn ist die elektrische Bahn in unserem Jahrhundert ein aus dem Bild der Großstädte nicht mehr wegzudenkendes Schnellverkehrsmittel geworden.
Hochbahnen sind zwar für die Fahrgäste das angenehmere Verkehrsmittel, denn sie sehen etwas von den Stadtvierteln, die der Zug durcheilt. Für die städtischen Straßen aber, mögen sie auch noch so breit sein, ist der Hochbahnviadukt eine Zugabe, die nicht immer angenehm empfunden wird. Schon frühzeitig hat sich Werner Siemens deshalb auch mit Plänen zu einer Untergrundbahn oder, genauer gesagt, Unterpflasterbahn befaßt, bei der die Züge in einem unmittelbar unter dem Straßenpflaster liegenden Tunnel verkehren.
Die schwierigen Grundwasserverhältnisse Berlins waren ihm bekannt; in den achtziger Jahren dachte er daran, sie mit dem Gefrierverfahren des deutschen Ingenieurs Poetsch zu bewältigen, das er auf einer eigenen Braunkohlengrube bei Königswusterhausen bei der Schachtabteufung durch schwimmendes Gebirge gründlich erprobt hatte.
Die spätere Entwicklung geht einen anderen Weg und wird des Grundwassers durch Absenkung Herr. Man schlägt dabei einfach im Zuge der geplanten Untergrundbahn Rohrbrunnen in die Erde und wirft durch Maschinenkraft große Grundwassermengen in die benachbarten Flußläufe. Da das Wasser durch den Boden der Umgebung nur sehr langsam nachströmen kann, erfährt der Grundwasserspiegel dabei an der mit Brunnen besetzten Strecke eine talartige Einsenkung von solcher Tiefe, daß der Bahntunnel in trockener Baugrube hergestellt werden kann.
Auch die dabei benutzte Wasserhebung ist eine Erfindung von Werner Siemens. Als Physiker interessierte ihn die scheinbar recht triviale Frage, warum das Wasser aus einer geöffneten Seltersflasche hinaussprudelt. Das haben schon viele Leute vor ihm gesehen, ohne sich besondere Gedanken darüber zu machen. Bei ihm kristallisiert sich aus den Überlegungen, die er über die doch sehr alltägliche Angelegenheit anstellt, die Idee einer pneumatischen Wasserhebung heraus, die bei der Erbauung der Untergrundbahnen später wertvollste Dienste leisten wird. In der Ausführung ist die Sache verblüffend einfach. In solchem Rohrbrunnen steht das Grundwasser bis zu einer gewissen Höhe, etwa zwei oder drei Meter unter dem Straßenniveau. Nun steckt man in das Brunnenrohr ein wesentlich dünneres Rohr, durch das man Druckluft nach unten strömen läßt. Die Luft vermengt sich in der Tiefe mit dem Wasser, und wie aus der Seltersflasche sprudelt aus dem Brunnenrohr ein Wasser-Luft-Gemisch, und zwar bis zu solcher Höhe, daß es direkt durch Rinnen zum nächsten Flußlauf abströmen kann. Als Mammutpumpe findet diese Einrichtung in der Technik Eingang. Hunderte derartiger Brunnen kommen beim Bau der Berliner Unterpflasterbahnen zur Verwendung.
Als ein ausgesprochenes Schnellverkehrsmittel bewähren sich die städtischen Hoch- und Untergrundbahnen. Die elektrisch betriebenen Züge fahren viel schneller an als Dampfzüge (0,7 gegen 0,3 Meter Beschleunigung je Sekunde). Sie erreichen daher so schnell hohe Fahrgeschwindigkeiten, daß auch bei einer dichten Stationsfolge noch ansehnliche Reisegeschwindigkeiten herauskommen. Hier setzt der elektrische Bahnbetrieb sich daher schnell durch. Schon 1894 können Siemens u. Halske die Budapester Unterpflasterbahn eröffnen.
Wesentlich anders geht die Entwicklung der Bahnen, die das Planum der öffentlichen Straßen benutzen, der eigentlichen Straßenbahnen, vor sich. Diese Schöpfung deutschen Geistes muß erst über das große Wasser gehen und von dort als amerikanische Angelegenheit zurückkommen, um in Deutschland allgemeine Verbreitung zu finden. Es ist der gleiche bedauerliche Vorgang, der sich ungefähr um dieselbe Zeit auch mit dem Auto abspielt. Unabhängig voneinander lassen die deutschen Ingenieure Karl Benz und Gottlieb Daimler schon 1885 ihre ersten Motorfahrzeuge laufen, aber auch diese deutsche Erfindung muß erst ins Ausland gehen, um nach einem Jahrzehnt als Leistung der französischen Technik nach Deutschland importiert zu werden. Fast ein volles Jahrzehnt auch stagniert die elektrische Straßenbahn in Deutschland. Nur für Zechen und Hütten liefern deutsche Elektrofirmen Gruben- und Industriebahnen, für die auch alle technischen Einzelheiten entwickelt werden, die später dann auch den elektrischen Straßenbahnen zugute kommen. Kennzeichnend für diese bedauerliche Entwicklung ist es, daß noch im Jahre 1896 die Elektrifizierung der großen Berliner Pferdeeisenbahngesellschaft einer amerikanischen Gesellschaft übertragen wird, obwohl doch schon seit 1895 die von Siemens u. Halske erbaute Straßenbahn Berlin – Pankow in Betrieb ist. –
Nach den Straßenbahnen und den städtischen Schnellbahnen kommen die großen Fernbahnen an die Reihe. Bei ihnen sind die Betriebsverhältnisse grundsätzlich anders. Die Stationen liegen hier viel weiter auseinander, und auf freier Strecke wird der Elektromotor auf viele Kilometer hin zeigen müssen, welche Geschwindigkeiten sich mit ihm erreichen lassen. Viel größere Entfernungen sind hier zu überwinden, und von Anfang an ist es klar, daß die elektrische Energie hier in einer anderen Form zur Verwendung kommen muß.
Für den städtischen Verkehr hat sich der Gleichstrom bewährt und ist bis zum heutigen Tage das ausschließliche Betriebsmittel geblieben. Mit einer Spannung von 500 bis 600 Volt wird er den Oberleitungen der Straßenbahn, mit 800 Volt den Stromschienen der Hoch- und Untergrundbahn zugeführt. Auch bei den inzwischen vom Dampfbetrieb zum elektrischen Betrieb übergegangenen Vorortestrecken kommt er zur Anwendung und bewährt sich bei Entfernungen bis zu 50 Kilometer tadellos. Aber für die Fernbahn mit ihren größeren Streckenlängen und Leistungsanforderungen wird man viel höhere Spannungen benutzen müssen, die nur dem Wechselstrom vorbehalten sind.
Etwas vollkommen Neues muß hier geschaffen, eine ganz neue Technik entwickelt werden, und so begründen denn die beiden großen deutschen Elektrofirmen Siemens u. Halske und die AEG. im Herbst des Jahres 1898 eine »Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen«. Da der einfache Wechselstrommotor zu dieser Zeit noch nicht genügend entwickelt ist, wählt man für die Versuchsstrecke Berlin – Zossen den dreiphasigen verketteten Wechselstrom, den sogenannten Drehstrom, welcher der Oberleitung mit einer Spannung von 10 000 Volt zugeführt wird. Bei dieser Stromart muß freilich die Oberleitung für die drei Stromphasen dreidrähtig ausgeführt werden, doch muß man diese Komplikation vorläufig noch mit in Kauf nehmen. Dafür entsprechen die Versuchswagen, die von den beiden Gründern der Studiengesellschaft erbaut werden, aber auch allen Erwartungen. Auf den Probefahrten in den Jahren 1901 bis 1903 erreichen sie Geschwindigkeiten von mehr als 200 Kilometer je Stunde. Gegenüber den Höchstgeschwindigkeiten der Dampfzüge von 90 bis 100 Kilometer ist das ein bedeutsamer Fortschritt.
Nicht nur die Elektriker, sondern auch die Eisenbahntechniker lernen unendlich viel aus diesen Probefahrten. Die Eisenbahntechniker müssen erkennen, daß eine Strecke für 200 Kilometer je Stunde ganz anderen Ansprüchen gewachsen sein muß als die bisher üblichen Streckenbauten. Stärkere Schienen, längere Schienen, andere Überhöhungen, ein wesentlich verstärkter Oberbau, das alles ergibt sich für die Eisenbahntechniker aus diesen Versuchen. Und wenn ein Menschenalter später 200 Kilometer je Stunde eine betriebsmäßige Höchstgeschwindigkeit werden können, so liegen die Anfänge zu dieser Entwicklung schon in jenen Versuchsjahren zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
Aber auch die Elektriker müssen gründlich umlernen. So nützlich der Drehstrom auch in ortsfesten Anlagen sein mag, für den Bahnbetrieb bringt er eine Reihe von Unzuträglichkeiten mit sich, die gebieterisch dazu zwingen, einen Bahnmotor für einphasigen Wechselstrom zu entwickeln. Fieberhaft wird an dieser Aufgabe gearbeitet. Gleichmäßig haben Elektriker und Maschinenbauer mit der Tücke des Objekts zu kämpfen. Immer neue, unerwartete Schwierigkeiten türmen sich auf, wenn man eben glaubt, das Problem glücklich gelöst zu haben. Viele Millionen werden allein von der deutschen Elektroindustrie für Versuche und Entwicklungsarbeiten ausgegeben, aber nach zehnjährigem Kampf ist wenigstens eine Etappe geschafft. 1912 auf 1913 laufen die ersten einphasigen Wechselstrom-Lokomotiven auf preußischen und bayrischen Bahnen.
Es sind bereits recht schwere Maschinen mit Leistungen von 2000 und mehr Pferden, den größten Dampflokomotiven jener Zeit an Geschwindigkeit und Zugkraft durchaus ebenbürtig, ja zum Teil schon überlegen. Als Betriebskraft dient hochgespannter Wechselstrom von 16 000 Volt, welcher den Maschinen durch eine über die Strecke gespannte Oberleitung zugeführt wird. An drei Stellen Deutschlands entstehen die ersten derartigen Eisenbahnoberleitungen, in Schlesien auf der Strecke Lauban–Königszelt, um Halle herum und auf der Strecke München–Garmisch in Bayern. Später einmal sollen und werden diese Leitungen ebenso zu einem sich über alle deutschen Vollbahnen streckenden Netz zusammenwachsen, wie fast ein Jahrhundert früher die ersten Schienenwege schnell zu einem zusammenhängenden großen Schienennetz verflochten wurden. Einstweilen hat die elektrische Vollbahnlokomotive Gelegenheit, sich in der Ebene des Halleschen Braunkohlengebietes als Schnellzugmaschine zu bewähren und in den bayrischen Alpen und in den schlesischen Bergen ihre Fähigkeiten in der Überwindung von Steigungen zu beweisen.
Begreiflicherweise ist der 2000pferdige Wechselstrommotor dieser Vollbahnlokomotiven beträchtlich größer als die 50pferdigen Motoren der städtischen Straßenbahnen. Man kann dessen Anker nicht mehr unter den Wagenkasten neben der Achse unterbringen. Er findet seinen Platz hoch darüber an der Stelle etwa, wo bei den Dampflokomotiven der Kessel liegt, und überträgt seine Leistung durch einen Kurbeltrieb und eine Kurbelstange nach unten auf die Lokomotivräder. Gerade dieser mechanische Teil der Anlage macht in den ersten Jahren noch unerwartete Schwierigkeiten, und es gibt viele, zunächst ganz unerklärliche Stangen- und Kurbelbrüche, bis es gelingt, auch diese Verhältnisse zu meistern.
Ein Kompromiß wird auch wegen der Periodenzahl notwendig. Die Wechselstromanlagen für die Licht- und Kraftversorgung arbeiten bekanntlich mit 50 Perioden in der Sekunde. Zu diesem Wert ist man seinerzeit gekommen, indem man die Periodenzahl so lange erhöhte, bis ein Flimmern der mit Wechselstrom gespeisten Lampen nicht mehr zu bemerken war. Bei der Konstruktion der ersten Lokomotiv-Wechselstrommotoren ist man jedoch gezwungen, auf den dritten Teil dieses Wertes hinabzugehen. Die ersten elektrischen Wechselstrombahnen werden mit 16⅔ Perioden pro Sekunde betrieben. Sie können also nicht aus dem allgemeinen Wechselstromnetz gespeist werden, sondern es wird notwendig, besondere Kraftwerke für ihre Stromversorgung zu errichten und den elektrifizierten Strecken die Energie auch durch besondere Leitungen zuzuführen. Das bedeutet eine Komplikation, die vorläufig aber mit in Kauf genommen werden muß. Dabei ergibt sich ein interessantes Bild, wenn etwa eine Dampflokomotive unter einer derartigen Wechselstromoberleitung Dampfwolken ausstößt. Es ist dann deutlich zu sehen, wie die Dampfmasse in der Nähe dieser Hochspannungsleitungen im Rhythmus der 16⅔ Perioden erzittert, und man begreift wohl, daß ein Licht, das in diesem Rhythmus flimmert, für die Augen unerträglich sein muß.
Weltkrieg und Nachkriegszeit unterbrechen auch die Entwicklung der elektrischen Vollbahnen in Deutschland für eine Reihe von Jahren. Doch danach geht es in beschleunigtem Tempo weiter. Kleiner, gedrungener und immer leistungsfähiger werden die Motoren. Stetig wachsen Zugkraft und Schnelligkeit der elektrischen Vollbahnlokomotiven. Während der Dampfzug noch reichlich drei Stunden benötigt, um die ansteigende Strecke München – Garmisch zu bewältigen, legt der elektrische Zug sie 1930 bereits in fünf Viertelstunden zurück und braucht für die Talfahrt sogar nur eine Stunde. Auch in der Ebene wächst die Geschwindigkeit und überschreitet sehr bald die 100 Kilometer, um auf 150 und noch mehr zu kommen. Dabei handelt es sich nicht mehr um gelegentliche Rekorde, sondern um Betriebsgeschwindigkeiten.
Im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts setzt ein Wettkampf zwischen der elektrischen und der Dampflokomotive ein, in dem auf beiden Seiten Großes geleistet wird. Auch die Dampflokomotive erreicht die 150 Kilometer je Stunde, aber die elektrische Lokomotive liegt in diesem Rennen doch an der Spitze. Nur den einen großen Vorzug der Freizügigkeit kann die Dampflokomotive für sich in Anspruch nehmen. Sie ist unabhängig von einer äußeren Energiezuführung.
Diese Freizügigkeit bietet aber auch dem diesel-elektrischen Zug eine neue Möglichkeit. Der Fliegende Hamburger, dem bald ein Fliegender Kölner und ein Fliegender Münchner folgte, haben auch das große Publikum mit dieser neuen Type bekannt gemacht. Die Energie wird hier von einem schweren Teeröl geliefert, von dem der Zug bequem genügenden Vorrat für eine Fahrt von 1000 Kilometer mit sich führen kann. Ein erstaunlich kompendiöses Aggregat, bestehend aus einem Dieselmotor und einer Gleichstromdynamo, erzeugt die elektrische Betriebskraft, die den einzelnen auf den Triebachsen des Zuges sitzenden Motoren ebenso wie bei den städtischen Schnellbahnen zugeführt wird. Technisch bedeutet es vielleicht einen Umweg, aber wegen ihrer Freizügigkeit und ihres Anpassungsvermögens an wechselnde Verkehrsbedingungen werden diesel-elektrische Züge wahrscheinlich noch eine bedeutende Rolle spielen, wenn die Dampflokomotive wirklich einmal endgültig ins Hintertreffen geraten sollte.
Während sich hier die Entwicklung kommender Jahrzehnte abzeichnet, beginnen die Oberleitungen der ersten Vollbahnstrecken bereits zusammenzuwachsen. Schon sind die bayrischen Leitungen mit den mitteldeutschen zu einem Strang verbunden, und die Verlängerung nach Berlin soll in Angriff genommen werden, als ein neuer, gewaltiger Krieg die Entwicklung zum zweitenmal unterbricht. Nach seiner Beendung wird die Verstromung der Vollbahnen unaufhaltsam weitergehen, bis einmal das ganze europäische Schienennetz von einem konformen Oberleitungsnetz überspannt ist.