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Raskolnikow war an das Zusammensein mit einer größern Anzahl von Menschen nicht gewöhnt und mied, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, namentlich in der letzten Zeit. Aber jetzt fühlte er sich auf einmal zu den Menschen hingezogen. Es ging eine Art Wandlung in ihm vor, und zugleich machte sich bei ihm geradezu ein Durst nach menschlicher Gesellschaft spürbar. Er war von seiner nun schon einen ganzen Monat dauernden heftigen Unruhe und düstern Aufregung so erschöpft, daß er sich danach sehnte, wenigstens für einen Augenblick in einer andern Welt – mochte sie sein, wie sie wollte – aufzuatmen, und so blieb er denn jetzt trotz aller Unsauberkeit der Umgebung mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.
Der Wirt hielt sich in einem andern Zimmer auf, kam aber häufig in den Hauptraum, zu dem er einige Stufen herabstieg. Dabei wurden zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit großen roten Stulpen sichtbar. Er trug einen langschößigen ärmellosen Überrock und eine furchtbar fettige schwarzseidene Weste; die Krawatte fehlte, und sein ganzes Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; auch war noch ein andrer, jüngerer da, der den Gästen das Bestellte hintrug. An Speisen waren aufgestellt: in Scheiben geschnittene Gurken, schwarzer Zwieback und in kleine Bissen zerlegter Fisch; alles roch sehr übel. Es herrschte eine solche Schwüle, daß es geradezu unerträglich war, hier zu sitzen, und die gesamte Atmosphäre war derart mit Branntweindunst geschwängert, daß man schon allein von dieser Luft in fünf Minuten betrunken werden konnte.
Man begegnet mitunter ganz unbekannten Leuten, für die man sich auf den ersten Blick, plötzlich, ehe man noch ein Wort mit ihnen gesprochen hat, lebhaft interessiert. Einen derartigen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits saß und wie ein ehemaliger Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich in der Folgezeit öfters an diesen ersten Eindruck und führte ihn sogar auf eine Vorahnung zurück. Er sah den Beamten mit unverwandtem Blicke an, auch schon deswegen, weil auch dieser ihn starr anschaute und offenbar große Lust hatte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Die übrigen Menschen in der Kneipe, den Wirt eingeschlossen, waren dem Beamten jedenfalls ein gewohnter und recht langweiliger Anblick; er hatte für sie sogar einen leisen Ausdruck hochmütiger Geringschätzung, als seien sie Menschen von niedrigerer Stellung und tieferer Bildungsstufe, mit denen er nicht wohl reden könne. Er mochte schon über fünfzig Jahre alt sein, war von mittlerer Statur und stämmigem Körperbau, hatte ergrautes Haar und eine große kahle Stelle auf dem Kopf; sein Gesicht war von ständiger Trunkenheit aufgedunsen und sah gelb, ja grünlich aus; unter den geschwollenen Augenlidern glänzten aus schmalen Spalten kleine, aber sehr lebendige gerötete Augen hervor. Aber es war an ihm etwas Seltsames: in seinem Blicke lag eine Art von schwärmerischem Leuchten – auch Verstand und Klugheit mochte man darin finden –, aber gleichzeitig schimmerte es darin wie von Irrsinn. Bekleidet war er mit einem alten, vollständig zerrissenen schwarzen Frack, an dem die Knöpfe fehlten. Nur ein einziger Knopf saß noch notdürftig fest, und mit diesem hatte er das Kleidungsstück zugeknöpft, sichtlich bemüht, den Anstand zu wahren. Aus einer Nankingweste schaute ein ganz zerknittertes, beschmutztes und begossenes Vorhemd heraus. Er war, nach Art der Beamten, rasiert; jedoch mußte dies schon vor geraumer Zeit zum letzten Male geschehen sein, da das Gesicht von graublauen Stoppeln bereits wieder dicht bedeckt war. Auch in seinen Manieren lag tatsächlich etwas, was an einen gesetzten Beamten erinnerte. Aber er befand sich in starker Unruhe, wühlte sich im Haar, stemmte manchmal die zerrissenen Ellbogen auf den begossenen, schmierigen Tisch und stützte kummervoll den Kopf in beide Hände. Endlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und mit fester Stimme:
»Darf ich mir die Freiheit nehmen, mein Herr, mich mit einem anständigen Gespräche an Sie zu wenden? Denn obgleich Sie nach Ihrem Äußern nicht den Eindruck eines hochgestellten Mannes machen, so erkenne ich bei meiner Erfahrung doch in Ihnen einen gebildeten und des Trinkens ungewohnten Menschen. Ich habe eine mit edlen Charaktereigenschaften verbundene Bildung stets hochgeschätzt, und außerdem bin ich Titularrat. Mein Name ist Marmeladow, Titularrat. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie ein Amt bekleiden?«
»Nein, ich studiere«, antwortete der junge Mann, einigermaßen verwundert sowohl über diese sonderbare, hochtrabende Redeweise, als auch darüber, daß er so geradezu, so ohne weiteres angeredet worden war. Obgleich er noch soeben das Verlangen nach irgendwelchem Verkehr mit andern Menschen verspürt hatte, empfand er plötzlich bei dem ersten Worte, das nun wirklich an ihn gerichtet wurde, sein gewohntes unangenehmes und gereiztes Gefühl des Widerwillens gegen jeden Fremden, der mit ihm in Berührung kam oder dies auch nur zu beabsichtigen schien.
»Also ein Student oder ein ehemaliger Student!« rief der Beamte. »Hatte ich es mir doch gedacht! Ja, ja, die Erfahrung, mein Herr, die langjährige Erfahrung!« Und prahlerisch legte er einen Finger an die Stirn. »Sie waren Student, widmeten sich den Wissenschaften! Aber gestatten Sie . . .«
Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Manne, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, redete aber deutlich und fließend; nur ab und zu verwirrte er sich einmal und zog dann die Worte in die Länge. Mit einer gewissen Gier fiel er über Raskolnikow her, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit keinem Menschen gesprochen.
»Verehrter Herr«, begann er pathetisch, »Armut ist kein Laster; wahrlich, so ist es. Ich weiß, daß andrerseits die Trunksucht keine Tugend ist, und das ist noch richtiger. Aber das Bettelelend, mein Herr, das Bettelelend – das ist allerdings ein Laster. In der Armut bewahren Sie noch den Adel der angeborenen Empfindungen; aber im Bettelelend tut das niemand. Für Bettelelend wird man nicht einmal mit einem Stocke hinausgejagt, sondern, um die Beleidigung noch ärger zu machen, mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt. Und das mit Recht; denn beim Bettelelend bin ich selbst der erste, der bereit ist, mich zu beleidigen. Daher kommt dann das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gattin krumm und lahm geprügelt, und meine Gattin steht hoch über mir! Verstehen Sie wohl? . . . Gestatten Sie mir noch die Frage, nur so aus bloßer Neugier: haben Sie schon auf der Newa, auf den Heukähnen, übernachtet?«
»Nein, das ist mir noch nicht vorgekommen«, antwortete Raskolnikow. »Wieso?«
»Nun, mein Herr, ich komme von dort; ich habe schon fünf Nächte . . .«
Er füllte sein Glas, trank es aus und versank in Gedanken. Tatsächlich hingen an seinem Anzuge und sogar in seinen Haaren hier und da Heuhälmchen. Sehr wahrscheinlich, daß er sich fünf Tage lang weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Ganz besonders schmutzig waren die fettigen, roten Hände mit den schwarzen Fingernägeln.
Was er sagte, schien in dem Lokale eine allgemeine, aber nicht besonders lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Die Knaben hinter dem Schenktische kicherten. Der Wirt war, wohl absichtlich, aus dem oberen Zimmer herabgekommen, um den »komischen Kerl« zu hören, hatte sich abseits hingesetzt und gähnte lässig, aber würdevoll. Offenbar war Marmeladow hier schon lange bekannt. Ja, auch seine Neigung zu hochtrabender Ausdrucksweise hatte sich wohl dadurch entwickelt, daß er gewohnt war, mit allen möglichen unbekannten Leuten in der Kneipe Gespräche zu führen. Diese Gewohnheit geht bei manchen Trinkern geradezu in ein Bedürfnis über, und namentlich bei solchen, mit denen zu Hause streng verfahren und kurzer Prozeß gemacht wird. Daher suchen sie, wenn sie mit andern Trinkern zusammen sind, sich zu rechtfertigen oder sich sogar womöglich die Achtung der andern zu erwerben.
»Du komischer Kerl!« sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du denn nicht, warum bist du denn nicht im Dienst, wenn du doch Beamter bist?«
»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr«, entgegnete Marmeladow, indem er sich ausschließlich an Raskolnikow wendete, als ob dieser es wäre, der die Frage an ihn gerichtet hatte, »warum ich nicht im Dienste bin? Ist es mir denn nicht der größte Schmerz, daß ich mich so nutzlos umhertreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin prügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Erlauben Sie eine Frage, junger Mann, ist es Ihnen schon einmal begegnet, daß Sie . . . hm . . . daß Sie ohne Hoffnung jemand baten, Ihnen Geld zu leihen?«
»O ja, . . . das heißt, was meinen Sie damit: ohne Hoffnung?«
»Nun, ich meine eben: völlig ohne Hoffnung, so daß man schon im voraus weiß, daß nichts dabei herauskommt. Ein Beispiel: Sie wissen bestimmt im voraus, daß dieser sehr gutgesinnte und überaus nützliche Bürger Ihnen unter keinen Umständen Geld geben wird; denn warum, frage ich, sollte er es tun? Er weiß ja, daß ich es ihm doch niemals wiedergebe. Etwa aus Mitleid? Aber Herr Lebesjatnikow, der alle neuen Ideen mit Interesse verfolgt, hat neulich erst erklärt, daß das Mitleid neuerdings sogar von der Wissenschaft verboten worden sei und daß man in England, wo die Nationalökonomie herrscht, bereits danach verfahre. Warum also, frage ich, sollte er Ihnen Geld geben? Und wohlgemerkt: obwohl Sie im voraus wissen, daß er Ihnen nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und . . .«
»Wozu soll man denn dann noch hingehen?« bemerkte Raskolnikow.
»Wenn aber niemand sonst da ist? Wenn Sie sonst nirgendwohin gehen können? Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen könnte. Denn es kommen Zeiten vor, wo man unbedingt irgendwohin gehen muß! Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit dem gelben Schein ging, da ging auch ich . . . Meine Tochter lebt nämlich mit dem gelben Schein«, fügte er als erklärende Einschaltung hinzu und blickte dabei den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Das macht nichts, verehrter Herr, das macht nichts!« beeilte er sich schleunigst und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem Schenktische losprusteten und selbst der Wirt lächelte. »Das macht nichts! Durch dieses ›Schütteln der Häupter‹ lasse ich mich nicht verwirren; denn alles ist schon längst allen bekannt, und ›es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde‹; und nicht mit Verachtung, sondern mit Demut tue ich dessen Erwähnung. Mögen sie, mögen sie! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie eine Frage, junger Mann: Sind Sie imstande . . . Aber nein, ich will mich stärker und bezeichnender ausdrücken: nicht sind Sie imstande, sondern wagen Sie, wenn Sie mich in diesem Augenblicke ansehen, die bestimmte Versicherung abzugeben, daß ich kein Lump bin?«
Der junge Mann erwiderte kein Wort.
Der Redner wartete zunächst, bis das Kichern, das wieder im Zimmer auf seine Worte gefolgt war, aufhörte, und fuhr dann erst gesetzt und diesmal sogar noch mit erhöhter Würde fort:
»Nun, mag ich immerhin ein Lump sein; sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie ein Stück Vieh; aber meine Gattin, Katerina Iwanowna, ist eine gebildete Person und als Tochter eines Stabsoffiziers geboren. Mag ich auch ein Schuft sein; aber sie ist ein hochherziges Weib und durch ihre Erziehung von edlen Gefühlen erfüllt. Und trotzdem . . . ach, wenn sie Mitleid mit mir hätte! Verehrter Herr, verehrter Herr, es müßte doch in der Welt so eingerichtet sein, daß jeder Mensch wenigstens eine Stelle hätte, wo man ihn bemitleidete! Indessen, Katerina Iwanowna ist zwar eine hochgesinnte Dame, aber ungerecht . . . Ich weiß freilich selbst sehr wohl, daß, wenn sie mich an den Haaren reißt, sie das lediglich aus mitleidigem Herzen tut (denn – ich wiederhole es ohne Verlegenheit –: sie reißt mich an den Haaren, junger Mann!« versicherte er in noch würdevollerem Tone, als er ein neues Gekicher hörte), »aber, mein Gott, wenn sie doch nur ein einziges Mal . . . Aber nein, nein! Das ist alles vergebens, und es hat keinen Zweck, davon zu sprechen! Gar keinen Zweck! Denn das, was ich soeben als Wunsch aussprach, ist schon mehrmals dagewesen, und ich bin mehrmals bemitleidet worden; aber . . . das ist nun einmal meine Natur so; ich bin ein geborenes Vieh!«
»Na, und ob!« bemerkte der Wirt gähnend.
Marmeladow schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.
»Das ist nun einmal meine Natur so! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, denn das wäre ja noch so einigermaßen in der Ordnung, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Ihr Halstuch aus Baumwolle habe ich auch vertrunken (sie hat es einmal geschenkt bekommen, schon früher, es war ihr persönliches Eigentum und gehörte mir nicht), und dabei wohnen wir in einem kalten, kleinen Loche, und sie hatte sich in diesem Winter erkältet und angefangen zu husten, schon Blut zu husten. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna ist vom Morgen bis in die Nacht hinein bei der Arbeit; sie scheuert, sie wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von klein auf an Reinlichkeit gewöhnt; aber sie hat eine schwache Brust und Anlage zur Schwindsucht, und darüber gräme ich mich! Gräme ich mich etwa nicht darüber? Und je mehr ich trinke, desto mehr gräme ich mich. Darum eben trinke ich, weil ich aus diesem Getränke die Empfindungen des Mitleides und des Grames schöpfe . . . Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!«
Wie in Verzweiflung neigte er den Kopf auf den Tisch.
»Junger Mann«, fuhr er, sich wieder aufrichtend, fort, »auf Ihrem Gesichte lese ich so etwas wie Kummer. Schon als Sie eintraten, machte ich diese Beobachtung, und darum habe ich mich auch sogleich an Sie gewandt. Denn wenn ich Ihnen meine Lebensgeschichte mitteile, so verfolge ich dabei nicht den Zweck, mich vor diesen Tagedieben, denen übrigens alles schon ohnehin bekannt ist, an den Pranger zu stellen, sondern ich suche einen Menschen von Gefühl und Bildung. Vernehmen Sie also, daß meine Gattin in einem vornehmen, für den Adel des Gouvernements bestimmten Pensionate erzogen wurde und bei der Entlassungsfeier in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten einen Schleiertanz getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein Belobigungszeugnis erhielt. Die Medaille . . . nun, die Medaille haben wir verkauft . . . schon lange . . . hm! . . . Das Belobigungszeugnis aber liegt noch bis auf den heutigen Tag in ihrem Kasten, und noch neulich hat sie es unsrer Wirtin gezeigt. Und obgleich sie mit der Wirtin unaufhörlich Zank und Streit hat, so wollte sie sich doch wenigstens vor einem Menschen rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen reden. Und ich richte nicht, ich richte nicht; denn dies ist das letzte, was ihr noch als Erinnerung geblieben ist, alles übrige ist fort und dahin. Ja, ja, sie ist eine temperamentvolle Dame, stolz und unbeugsam. Den Fußboden wäscht sie selbst auf und lebt von Schwarzbrot; aber eine Verletzung der ihr gebührenden Achtung duldet sie nicht. Deshalb wollte sie auch von Herrn Lebesjatnikow keine Grobheit dulden, und als Herr Lebesjatnikow sie nun dafür prügelte, da legte sie sich ins Bett, nicht sowohl wegen der Schläge als wegen des Gefühls der Kränkung. Ich habe sie geheiratet, als sie Witwe war, mit drei Kinderchen, eines kleiner als das andre. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhause davongelaufen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos; aber er ergab sich dem Kartenspiele, kam vor Gericht und starb während der Untersuchung. In der letzten Zeit schlug er sie häufig, und obwohl sie ihm auch nichts hingehen ließ, was mir zuverlässig und aus sicheren Bezeugungen bekannt ist, so erinnert sie sich seiner doch bis auf den heutigen Tag mit Tränen und macht mir im Gegensatze zu ihm häufig Vorwürfe, und ich freue mich darüber, ja, ich freue mich darüber, weil sie sich wenigstens einbildet, einmal glücklich gewesen zu sein . . . Als er gestorben war, blieb sie mit den drei kleinen Kindern in einer abgelegenen, unzivilisierten Kreisstadt zurück, wo auch ich mich damals befand, und sie lebte in so trostlosem Elend, daß ich gar nicht imstande bin, es zu beschreiben, wiewohl ich viel und mancherlei Unglück in meinem Leben mit angesehen habe. Die Verwandten hatten sich alle von ihr losgesagt. Und sie war auch stolz, über alle Maßen stolz. Und da, verehrter Herr, bot ich, der ich gleichfalls Witwer war und von meiner ersten Frau eine vierzehnjährige Tochter hatte, ihr meine Hand an, weil ich einen solchen Jammer nicht ansehen konnte. Welchen Grad ihr Elend erreicht hatte, das können Sie daraus beurteilen, daß sie, eine gebildete, wohlerzogene Frau aus angesehener Familie, sich bereit fand, mich zu nehmen. Jawohl, sie heiratete mich! Sie weinte und schluchzte und rang die Hände; aber sie heiratete mich! Denn sie wußte nicht, wo sie bleiben sollte. Verstehen Sie, verstehen Sie, verehrter Herr, was das besagen will, wenn man nicht weiß, wo man bleiben soll? Nein! Das verstehen Sie noch nicht . . . Ein ganzes Jahr lang erfüllte ich im Dienste meine Pflicht treu und gewissenhaft und rührte das da« (er tippte mit dem Finger an die Branntweinflasche) »nicht an; denn ich habe ein fühlendes Herz. Aber trotzdem hatte sie immer an mir etwas auszusetzen; und nun verlor ich gar meine Stelle, gleichfalls ohne mein Verschulden, vielmehr infolge einer Etatveränderung der Behörden, und da fing ich an zu trinken! . . . Es wird jetzt anderthalb Jahr her sein, daß wir endlich nach langen Irrfahrten und vielen Drangsalen in dieser prächtigen, mit zahlreichen Denkmälern geschmückten Residenz anlangten . . . Ich bekam hier eine Stelle; ich bekam sie und verlor sie wieder. Verstehen Sie wohl? Diesmal verlor ich sie nun schon durch meine eigene Schuld; denn meine Natur machte sich geltend . . . Wir haben jetzt eine Schlafstelle bei der Zimmervermieterin Amalia Fjodorowna Lippewechsel; wovon wir aber leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Es wohnen da noch viele Leute außer uns, . . . ein ganz scheußliches Sodom und Gomorrha . . . hm! . . . ja . . . Unterdessen war auch mein Töchterchen aus erster Ehe herangewachsen; was sie, mein Töchterchen, während sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles zu erdulden hatte, davon will ich schweigen. Denn obgleich Katerina Iwanowna ganz von hochherzigen Gefühlen erfüllt ist, so ist sie doch eine temperamentvolle, reizbare Dame und kann einem die Hölle heiß machen . . . Ja! Na, es hat keinen Zweck, davon zu reden. Ordentlichen Unterricht hat Sonja, wie Sie sich leicht denken können, nicht erhalten. Vor vier Jahren machte ich den Versuch, Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen; aber da ich selbst in diesen Wissenschaften nicht fest war und wir keine geeigneten Leitfäden dazu besaßen – denn was waren das für elende Büchelchen, die wir hatten . . . hm! nun, die sind jetzt nicht mehr vorhanden, diese Büchelchen –, so war der ganze Unterricht auch bald zu Ende. Wir kamen nur bis zu dem persischen König Cyrus. Später, als sie zu reiferem Alter gelangt war, las sie einige Bücher, in denen Romane standen, und noch kürzlich las sie mit großem Interesse ein Buch, das sie durch Herrn Lebesjatnikows Vermittlung bekommen hatte, die Physiologie von Lewes (kennen Sie es?), und sie las uns sogar einige Partien daraus vor. Das ist ihre ganze Bildung. Jetzt wende ich mich an Sie, mein verehrter Herr, ganz privatim mit einer rein persönlichen Frage: Kann Ihrer Ansicht nach ein armes, aber anständiges Mädchen durch ehrliche Arbeit etwas Erkleckliches verdienen? Sie wird noch nicht fünfzehn Kopeken den Tag verdienen, mein Herr, wenn sie sich anständig hält und keine besonderen Talente besitzt, und auch das nur, wenn sie bei der Arbeit die Hände keinen Augenblick ruhen läßt. Und dabei ist noch der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock (haben Sie vielleicht von ihm gehört?) ihr nicht nur das Nähgeld für ein halbes Dutzend leinener Hemden bis heute schuldig geblieben, sondern er hat sie sogar mit Schimpf und Schande hinausgejagt, hat mit den Füßen gestampft und sie mit unanständigen Schimpfnamen belegt, unter dem Vorwande, ein Kragen wäre verpaßt und schief genäht. Und zu Hause die hungernden kleinen Kinder . . . Und Katerina Iwanowna ging händeringend im Zimmer auf und ab, und auf ihren Backen traten die roten Flecke hervor, wie das bei dieser Krankheit immer so zu gehen pflegt. ›Du Schmarotzerin‹, sagte sie zu Sofja, ›da wohnst du nun bei uns und ißt und trinkst und genießt die Wärme‹ – freilich, von Essen und Trinken konnte eigentlich kaum die Rede sein, wo auch die Kleinen drei Tage lang keine Brotrinde bekommen hatten! Ich lag damals gerade da . . . – ach was, warum soll ich es nicht sagen? – ich lag gerade betrunken da und hörte, wie meine Sonja antwortete (sie ist immer so bescheiden und hat so ein sanftes Stimmchen, . . . hellblondes Haar hat sie, und ihr Gesichtchen ist immer so blaß und mager), also ich hörte, wie sie antwortete: ›Aber Katerina Iwanowna, soll ich mich denn wirklich auf so etwas einlassen?‹ Darja Franzowna nämlich, ein nichtswürdiges und der Polizei sehr wohlbekanntes Frauenzimmer, hatte schon dreimal durch unsre Wirtin anfragen lassen. ›Ach was‹, antwortete Katerina Iwanowna spöttisch, ›wozu willst du's bewahren! Als ob's ein großes Kleinod wäre!‹ Aber verurteilen Sie sie deswegen nicht, verehrter Herr, verurteilen Sie sie deswegen nicht! Sie sagte das nicht bei gesunder Überlegung, sondern bei größter Aufregung ihrer Empfindungen und unter der Einwirkung ihrer Krankheit und angesichts der hungrigen Kinder, und sie sagte es auch mehr, um Sofja zu kränken, als in ernstlicher Absicht . . . Denn Katerina Iwanowna hat nun einmal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, sei es auch vor Hunger, so schlägt sie sie sofort. Und da sah ich (es war so zwischen fünf und sechs), wie meine Sonjetschka aufstand, sich ein Tuch umband, ihre Pelerine anzog und die Wohnung verließ; und nach acht kam sie wieder zurück. Sie ging geradeswegs auf Katerina Iwanowna zu und legte stillschweigend dreißig Silberrubel vor ihr auf den Tisch. Kein einziges Wort sagte sie dabei, sie blickte nicht einmal auf; sie nahm nur unser großes grünes Tuch von drap de dame (wir haben so ein Tuch zu gemeinsamer Benutzung, von drap de dame), verhüllte sich damit vollständig den Kopf und das Gesicht und legte sich auf das Bett, mit dem Gesicht zur Wand; nur die kleinen Schultern und der ganze Körper zuckten immer . . . Ich aber lag wie vorher da, in demselben Zustande . . . Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, an Sonjas Bettchen trat und den ganzen Abend zu ihren Füßen auf den Knien lag, ihr die Füße küßte, nicht aufstehen wollte, und wie sie dann beide zusammen einschliefen, eng umschlungen . . ., beide . . ., beide . . ., ja . . ., und ich . . . ich lag betrunken da.«
Marmeladow schwieg, wie wenn ihm die Stimme versagte. Dann goß er hastig sein Glas voll, trank es aus und räusperte sich.
»Seit der Zeit, mein Herr«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, »seit der Zeit ist infolge eines einzigen bedauerlichen Falles und infolge einer Denunziation seitens böswilliger Personen (wobei Darja Franzowna besonders mitgewirkt hat, angeblich, weil man es ihr gegenüber an der gebührenden Achtung habe fehlen lassen), also seit der Zeit ist meine Tochter, Sofja Semjonowna, gezwungen, den gelben Schein zu nehmen, und konnte aus diesem Grunde nicht mehr bei uns wohnen bleiben. Denn unsre Wirtin, Amalia Fjodorowna, wollte es nicht dulden (und doch hatte sie früher die Bemühungen Darja Franzownas unterstützt), und auch Herr Lebesjatnikow . . . hm! . . . Sonja war ja auch der Anlaß gewesen, weswegen er die böse Geschichte mit Katerina Iwanowna hatte. Ursprünglich hatte er selbst sich an Sonja herangemacht, und nun auf einmal kehrte er sein Ehrgefühl heraus: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mann, mit so einer in derselben Wohnung leben?‹ Aber Katerina Iwanowna ließ es nicht zu, sondern nahm Sonja in Schutz, . . . nun, und so kam es also . . . Sonjetschka besucht uns jetzt meistens in der Dämmerstunde, hilft Katerina Iwanowna bei der Arbeit und versieht uns nach ihren Kräften mit Geldmitteln . . . Wohnen tut sie bei dem Schneider Kapernaumow; dem hat sie eine Stube abgemietet. Dieser Kapernaumow ist lahm und stottert, und seine ganze außerordentlich zahlreiche Nachkommenschaft stottert gleichfalls. Und seine Frau stottert auch . . . Sie hausen alle in einer einzigen Stube; aber Sonja hat ihr besonderes Zimmer, es ist abgetrennt . . . Hm, ja . . . Es sind ganz arme Leute, und sie stottern . . . ja . . . Sobald ich damals am Morgen aufgestanden war, zog ich meine Lumpen an, hob die Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanasjewitsch. Kennen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanasjewitsch? . . . Nein? Nun, dann kennen Sie einen gottwohlgefälligen Menschen nicht! Er ist geradezu Wachs . . . Wachs in der Hand des Herrn; weich wie Wachs wird er! . . . Er weinte sogar, nachdem er geruht hatte, alles anzuhören. ›Nun‹, sagte er, ›Marmeladow, einmal hast du schon meine Erwartungen getäuscht . . . Ich will dich noch einmal nehmen, auf meine persönliche Verantwortung‹, so drückte er sich aus. ›Denke daran‹, sagte er, ›und nun geh!‹ Ich küßte ihm den Staub von den Füßen, in Gedanken; denn in Wirklichkeit hätte er es nicht zugelassen, als hoher Würdenträger und Vertreter der neuen Ideen über Staat und Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich da erzählte, daß ich mein Amt wiedererhalten hätte und wieder Gehalt bekommen würde – o Gott, was da vor sich ging! . . .«
Marmeladow hielt abermals in großer Erregung inne. In diesem Augenblicke kam eine ganze Bande schon bezechter Trunkenbolde von der Straße herein, und am Eingange ertönten die Klänge eines Leierkastens, den sie mitgebracht hatten, und ein siebenjähriges Kind sang dazu mit seinem dünnen, kraftlosen Stimmchen »das Dörfchen«. Es ging laut her. Der Wirt und die Bedienung beschäftigten sich mit den neuen Gästen. Marmeladow fuhr, ohne sich um die Eingetretenen zu kümmern, in seiner Erzählung fort. Er schien schon sehr schwach geworden zu sein, aber zugleich mit seiner Trunkenheit wuchs auch seine Redseligkeit. Die Erinnerung an den Erfolg, den er kürzlich in bezug auf seine dienstliche Stellung gehabt hatte, machte ihn ordentlich lebendig und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte wie eine Art von leuchtendem Schimmer wider. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.
»Dies begab sich vor fünf Wochen, mein Herr, . . . ja . . . Sowie die beiden, Katerina Iwanowna und Sonjetschka, das nur erfahren hatten, da war's auf einmal, als ob ich in das Himmelreich versetzt wäre. Früher, wenn ich wie ein Stück Vieh dalag, hatte ich immer nur Schimpfwörter zu hören bekommen. Aber jetzt! Jetzt gingen sie auf den Zehen und ermahnten die Kinder zur Ruhe: ›Semjon Sacharowitsch ist müde vom Dienst und muß sich ausruhen; pst!‹ Morgens, ehe ich zum Dienst ging, bekam ich Kaffee zu trinken; Sahne wurde gekocht! Richtige Sahne beschafften sie, hören Sie nur! Und wie sie das Geld zu einem anständigen Dienstanzuge für mich aufbrachten, elf Rubel fünfzig Kopeken, das ist mir unbegreiflich. Stiefel, mehrere baumwollene Vorhemdchen, alles aufs feinste, eine herrliche Uniform, alles brachten sie für elf und einen halben Rubel zustande, und es sah vorzüglich aus. Am ersten Tage kam ich zum Mittag aus dem Dienste, und was sah ich: Katerina Iwanowna hatte zwei Gänge gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, woran früher nicht im entferntesten zu denken gewesen war. Kleider besitzt sie keine, überhaupt keine; aber nun hatte sie sich angezogen, wie wenn sie zu Besuch gehen wollte, ordentlich geputzt hatte sie sich. Nicht daß sie wirklich etwas gehabt hätte; sie verstehen es eben, aus nichts etwas zu machen; sie machen sich das Haar hübsch zurecht, dann ein sauberes Krägelchen und Manschetten, und ein ganz andres Wesen ist fertig, jünger und schöner. Sonjetschka, mein Herzenskind, hatte sich nur mit Geld hilfreich gezeigt. ›Daß ich selbst jetzt häufig zu euch komme‹, sagte sie, ›paßt sich nicht; nur etwa so in der Dämmerung, damit es niemand sieht.‹ Hören Sie wohl? Hören Sie wohl? Nach dem Mittagessen machte ich ein Schläfchen, und was meinen Sie wohl, was da geschah? Obwohl es erst eine Woche her war, daß Katerina Iwanowna sich mit unsrer Wirtin, Amalia Fjodorowna, aufs ärgste gezankt hatte, so konnte sie es sich doch nicht versagen, sie zu einem Täßchen Kaffee einzuladen. Zwei Stunden lang saßen sie zusammen und unterhielten sich flüsternd: ›Semjon Sacharowitsch bekleidet jetzt ein Amt und bezieht Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz ist selbst herausgekommen und hat allen geheißen, sie sollten warten, aber Semjon Sacharowitsch hat er an allen vorbei in sein Arbeitszimmer geführt.‹ Hören Sie wohl? Hören Sie wohl? ›Und da hat er gesagt: ‚Ich erinnere mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Semjon Sacharowitsch. Nun freilich, es haftet Ihnen ja diese leichtsinnige Schwäche an; aber da Sie es mir jetzt versprechen und da es außerdem ohne Sie bei uns nicht recht gehen wollte‘, (hören Sie nur, hören Sie nur!) ‚so verlasse ich mich jetzt, hat er gesagt, auf Ihr Ehrenwort.‘‹ Das heißt, ich muß Ihnen sagen, das alles hatte sie sich einfach ausgedacht, aber nicht etwa aus Leichtfertigkeit oder lediglich um zu prahlen! Nein, sie glaubt an all dergleichen selbst, sie hat selbst ihre Freude an den eignen Phantasiegebilden, wahrhaftiger Gott! Und ich verurteile das nicht; nein, das verurteile ich nicht! . . . Als ich vor sechs Tagen mein erstes Gehalt, dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken, ihr vollzählig nach Hause brachte, da hat sie mich Schnuckchen genannt. ›Du mein Schnuckchen!‹ hat sie gesagt. Und wir beide waren ganz allein, verstehen Sie wohl? Nun, hübsch bin ich doch wahrhaftig nicht und ein guter Gatte auch nicht. Aber in die Backe hat sie mich gekniffen, und ›Du mein Schnuckchen!‹ hat sie zu mir gesagt.«
Marmeladow hielt inne und machte einen Versuch zu lächeln, aber auf einmal begann sein Kinn unwillkürlich auf und nieder zu gehen. Indessen behielt er sich in der Gewalt. Diese Kneipe, das verlotterte Aussehen des Mannes, die fünf Nächte auf den Heukähnen und die Branntweinflasche auf der einen Seite und auf der andern diese grenzenlose Liebe zu seiner Frau und zu seiner Familie – das verwirrte den Zuhörer völlig. Raskolnikow hörte aufmerksam zu, aber mit einer krankhaften Empfindung. Er bedauerte, hier eingekehrt zu sein.
»Verehrter Herr, verehrter Herr!« rief Marmeladow, als er sich wieder gefaßt hatte. »O mein Herr, das alles kommt vielleicht Ihnen, gerade wie so vielen andern, einfach lächerlich vor, und Sie empfinden meine dumme Erzählung von all diesen kläglichen Einzelheiten meines häuslichen Lebens lediglich als Belästigung; aber mir ist es nicht lächerlich! Denn ich habe für all das eine tiefe Empfindung . . . Und jenen ganzen paradiesischen Tag meines Lebens und jenen ganzen Abend schwelgte ich in hochfliegenden Plänen, wie ich nämlich das alles einrichten würde und den Kinderchen Kleider kaufen und ihr ein ruhiges Dasein ermöglichen und meine einzige Tochter aus dem Leben der Schande wieder in den Schoß der Familie zurückführen würde . . . Und so noch vieles, vieles . . . Das durfte ich mir ja erlauben, mein Herr. Nun, mein Herr«, hier fuhr Marmeladow auf einmal zusammen, hob den Kopf und blickte seinem Zuhörer gerade ins Gesicht, »nun, am andern Tage, nach all diesen wonnigen Träumereien (jetzt ist es gerade fünf Tage her), gegen Abend, entwendete ich durch eine listige Täuschung, wie ein Dieb in der Nacht, meiner Frau den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm heraus, was von dem heimgebrachten Gehalte noch übrig war (wieviel es war, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen) – und nun sehen Sie mich an! Alle mögen mich ansehen! Seit fünf Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen, und da suchen sie nun nach mir, und mit dem Dienst ist's zu Ende, und meine Uniform liegt in einer Schenke an der Ägyptischen Brücke als Pfand, und stattdessen habe ich diese Kleider bekommen, . . . und alles ist aus!«
Marmeladow schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, preßte die Zähne aufeinander, schloß die Augen und stützte sich heftig mit dem Ellbogen auf den Tisch. Aber einen Augenblick darauf veränderte sich sein Gesicht wieder; mit gekünstelter Schlauheit und gemachter Frechheit blickte er Raskolnikow an, lachte auf und sagte:
»Aber heute bin ich bei Sonja gewesen und habe sie um Geld zum Weitertrinken gebeten! He, he, he!«
»Hat sie dir wirklich was gegeben?« schrie einer von den kurz vorher eingetretenen Gästen und lachte aus vollem Halse.
»Die Flasche, die Sie hier sehen, ist für ihr Geld gekauft«, erwiderte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken hat sie mir herausgebracht, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte; ich habe es selbst gesehen . . . Kein Wort hat sie dabei gesagt, sondern mich nur schweigend angesehen . . . Das war schon nicht mehr, wie's auf Erden zugeht, sondern wie im Jenseits, . . . daß man sich über jemand grämt und über ihn weint, aber ihm keinen Vorwurf macht, keinen Vorwurf! Das schmerzt noch mehr, wenn man keine Vorwürfe hört! . . . Dreißig Kopeken, ja. Und sie hat sie doch jetzt selbst nötig, nicht wahr? Was meinen Sie wohl, mein lieber Herr? Sie muß doch jetzt auf Sauberkeit bedacht sein. Und diese Sauberkeit kostet Geld, so eine besondere Sauberkeit, verstehen Sie wohl? Verstehen Sie wohl? Da muß sie sich Pomade kaufen, das ist nun einmal erforderlich, gestärkte Unterröcke, solche kleinen Stiefelchen, recht kokette, um das Füßchen zu zeigen, wenn sie einmal eine Pfütze zu überschreiten hat. Verstehen Sie wohl, verstehen Sie wohl, mein Herr, was es mit dieser Sauberkeit für eine Bewandtnis hat? Und nun sehen Sie: ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken abgenommen, um weitertrinken zu können! Und ich trinke dafür, ich habe sie schon vertrunken! Na, wer kann mit einem solchen Menschen, wie ich bin, noch Mitleid haben? He? Bedauern Sie mich jetzt, mein Herr, oder nicht? Antworten Sie, mein Herr, ob Sie mich bedauern oder nicht! Ha-ha-ha-ha!«
Er wollte sich noch einmal einschenken; aber es war nichts mehr da – die Flasche war leer.
»Warum soll man dich auch noch bedauern?« rief der Wirt, der sich gerade wieder in ihrer Nähe befand.
Gelächter erscholl, auch Schimpfwörter. Wer zugehört hatte, lachte und schimpfte, und auch diejenigen, die nicht zugehört hatten, schlossen sich an, schon beim bloßen Anblicke der Gestalt des früheren Beamten.
»Bedauern! Wozu soll man mich bedauern!« heulte Marmeladow weinerlich auf. Er erhob sich plötzlich und streckte in stärkstem Affekt den Arm nach vorn aus, als ob er nur auf diese Worte gewartet hätte. »Warum man mich bedauern soll, sagst du? Ja, ich verdiene kein Mitleid. Kreuzigen sollte man mich, kreuzigen, aber nicht bedauern! Kreuzige, Richter, kreuzige, und nachher bemitleide den Gekreuzigten! Dann will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen; denn ich lechze nicht nach Freuden, sondern nach Leid und Tränen! . . . Meinst du, Schankwirt, daß deine Flasche Schnaps mir ein Genuß war? Leid, Leid habe ich auf ihrem Grunde gesucht, Leid und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; Mitleid aber wird mit uns der haben, der mit allen Mitleid hat und alle und alles versteht, er, der Einzige, er wird Richter sein. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich um der bösen, schwindsüchtigen Stiefmutter und der fremden Kinderchen willen zum Opfer gebracht hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, einem verkommenen Trunkenbolde, Mitleid hatte, ohne vor seiner Verrohung zu erschrecken?‹ Und er wird sagen: ›Komm her zu mir! Ich habe dir schon damals vergeben . . . dir schon damals vergeben. Vergeben wird dir auch jetzt deiner Sünden Menge, denn du hast viel geliebt . . .‹ Und er vergibt meiner Sonja, er vergibt ihr; ich weiß, daß er ihr vergibt . . . Das habe ich noch eben erst, als ich heute bei ihr war, in meinem Herzen gefühlt! . . . Und alle wird er richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Einfältigen . . . Und wenn er dann mit allen fertig sein wird, dann wird er auch zu uns sprechen: ›Kommet her‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommet her, ihr Säufer, kommet her, ihr Willensschwachen, kommet her, ihr Schamlosen.‹ Und wir werden alle kommen, ohne Scheu, und vor ihn hintreten. Und er wird sagen: ›Schweine seid ihr, Ebenbilder des Viehes; aber kommet auch ihr zu mir!‹ Da werden die Weisen und die Klugen sprechen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird sagen: ›Darum nehme ich sie auf, ihr Weisen, darum nehme ich sie auf, ihr Klugen, weil auch nicht einer von ihnen sich dessen selbst für würdig gehalten hat . . .‹ Und er wird uns seine Hände entgegenstrecken, und wir werden vor ihm niederfallen . . . und werden weinen . . . und werden alles verstehen! Dann werden wir alles verstehen! . . . Und alle werden es verstehen, . . . auch Katerina Iwanowna, . . . auch die wird es verstehen! . . . Herr, dein Reich komme!«
Kraftlos und erschöpft sank er auf die Bank nieder; er blickte niemand an, als hätte er seine ganze Umgebung vergessen und wäre tief in Gedanken versunken. Seine Worte hatten einigermaßen Eindruck gemacht; ein kleines Weilchen herrschte Schweigen; aber bald erscholl wieder das frühere Lachen und Schimpfen.
»Das war mal fein geredet!«
»Das ist nun ein Beamter!«
Und so weiter und so weiter.
»Kommen Sie, wir wollen gehen, mein Herr«, sagte Marmeladow plötzlich, indem er den Kopf hob und sich an Raskolnikow wandte, »begleiten Sie mich . . . Ich wohne im Koselschen Hause, auf dem Hofe. Es wird Zeit, daß ich . . . zu Katerina Iwanowna . . .«
Raskolnikow hatte schon lange beabsichtigt fortzugehen und auch selbst daran gedacht, ihm behilflich zu sein. Es stellte sich heraus, daß Marmeladow auf den Beinen erheblich schlechter war als mit dem Mund, und er lehnte sich mit seinem ganzen Gewichte auf den jungen Mann. Sie hatten nur zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je näher sie dem Hause kamen, um so unruhiger und ängstlicher wurde der Säufer.
»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna«, murmelte er in großer Aufregung, »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren reißen wird. Was macht das schon! . . . Auf die Haare kommt es nicht an! . . . Das ist meine aufrichtige Meinung! Es ist sogar besser, wenn sie mich an den Haaren reißt, und davor fürchte ich mich weiter nicht . . . Wovor ich mich fürchte, das sind ihre Augen, . . . ja, . . . ihre Augen . . . Die roten Flecke auf ihren Backen, vor denen fürchte ich mich auch, . . . und dann noch . . . vor ihrem Atem fürchte ich mich. Haben Sie schon einmal gesehen, wie die Menschen bei dieser Krankheit atmen, wenn sie sich aufregen? Auch vor dem Weinen der Kinder fürchte ich mich. Denn wenn Sonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, dann . . . weiß ich gar nicht, wie es geworden sein mag! Aber vor Schlägen fürchte ich mich nicht . . . Sie können mir glauben, mein Herr, daß mir solche Schläge nicht nur kein Schmerz, sondern eine wahre Wonne sind. Denn das ist mir selbst geradezu ein Bedürfnis. Es ist besser so. Mag sie mich schlagen, das macht ihr das Herz leichter . . . Es ist besser so . . . Aber da ist das Haus, das Koselsche Haus. Herr Kosel ist Schlosser, ein reicher Deutscher . . . Kommen Sie mit!«
Sie traten auf dem Hofe in eine Tür und stiegen zum dritten Stockwerke hinauf. Je weiter sie kamen, um so dunkler wurde die Treppe. Es war schon beinahe elf Uhr, und obgleich es um diese Stunde in Petersburg zur Sommerzeit noch nicht wirklich Nacht ist, so war doch die Treppe oben sehr dunkel.
Eine kleine, vom Rauche geschwärzte Tür am Ende der Treppe, ganz oben, stand offen. Ein Lichtstummel erleuchtete ein überaus ärmliches, etwa zehn Schritt langes Zimmer; man konnte es vom Flur aus ganz übersehen. Allerlei Sachen lagen darin unordentlich herum, namentlich zerlumpte Kinderkleider. Hinten hing vor einer Ecke als Vorhang ein löcheriges Bettlaken; dahinter stand wahrscheinlich ein Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein mit Wachstuch bezogenes, sehr zerrissenes Sofa, vor dem ein alter fichtener Küchentisch, ohne Anstrich und ohne Decke, stand. Auf dem Rande des Tisches brannte in einem Blechleuchter ein Endchen Talglicht. Marmeladow bewohnte also mit seiner Familie ein besonderes Zimmer und nicht, wie er vorher gesagt hatte, eine bloße Schlafstelle; aber es war ein Durchgangszimmer. Die Tür nach den übrigen Räumen oder richtiger Käfigen, in welche Amalia Lippewechsel ihre Wohnung parzelliert hatte, stand ein wenig offen. Dort ging es geräuschvoll und lärmend zu; fortwährend wurde gelacht. Anscheinend spielte man dort Karten und trank Tee. Manchmal waren sehr ungenierte Ausdrücke zu hören.
Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine schrecklich abgemagerte Frau, schlank, recht groß und wohlgebaut, mit noch immer schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen traten wirklich die roten Flecke stark hervor. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer hin und her, die Arme gegen die Brust gepreßt, mit glühenden Lippen; ihr Atem ging ungleich und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber; aber der Blick war scharf und starr; dieses schwindsüchtige, aufgeregte Gesicht, über das der matte Schein des heruntergebrannten Lichtstümpfchens hinzitterte, machte einen schmerzlichen Eindruck. Raskolnikow schätzte sie auf etwa dreißig Jahre; sie paßte allerdings nicht zu Marmeladow . . . Die Eintretenden hörte und bemerkte sie nicht; sie war wie geistesabwesend, hörte nicht und sah nicht. Im Zimmer war eine schwüle Luft; aber sie hatte das Fenster nicht geöffnet. Von der Treppe her kam ein abscheulicher Geruch; aber die Tür nach der Treppe zu war nicht geschlossen. Aus den inneren Zimmern drangen Wolken von Tabaksrauch durch die offenstehende Verbindungstür; sie hustete, machte aber die Tür nicht zu. Das kleinste, etwa sechsjährige Mädchen schlief auf dem Fußboden, in halb sitzender Stellung, zusammengekauert und den Kopf an das Sofa gelehnt. Der um ein Jahr ältere Knabe stand, am ganzen Leibe zitternd, in einer Ecke und weinte. Er hatte wahrscheinlich eben erst Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, das etwa neun Jahre alt sein mochte, hoch aufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, hatte als Kleidung nur ein schlechtes, überall zerrissenes Hemdchen und um die nackten Schultern eine alte Pelerine von drap de dame, die wahrscheinlich vor zwei Jahren für sie gemacht war, da sie jetzt nicht einmal bis an die Knie reichte. Sie stand in der Ecke neben dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, mageren Arme umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und suchte ihn auf jede Weise von erneutem Losschluchzen abzuhalten; dabei verfolgte sie ängstlich die unruhige Wanderung ihrer Mutter mit ihren großen, dunklen Augen, die in ihrem abgemagerten, furchtsamen Gesichtchen noch größer erschienen. Marmeladow fiel, ohne das Zimmer zu betreten, in der Tür auf die Knie und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den unbekannten Mann erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen und suchte auf einen Augenblick ihre Gedanken zu sammeln, wie wenn sie überlegte: warum ist denn der hereingekommen? Aber es kam ihr wohl sofort die Vermutung, daß er nach den anderen Zimmern wolle, da ja das ihrige ein Durchgangszimmer war. In dieser Meinung beachtete sie ihn gar nicht weiter, sondern ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; da schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren Mann knien sah.
»Ah!« schrie sie in höchster Wut. »Da bist du ja wieder! Du Kanaille, du Unmensch! . . . Und wo ist das Geld? Wieviel hast du noch in der Tasche, zeige mal her! Und das sind ja auch andere Kleider! Wo ist dein Anzug? Wo ist das Geld? Sprich!«
Sie stürzte auf ihn zu, um ihn zu untersuchen. Marmeladow streckte sofort gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um dadurch die Untersuchung seiner Taschen zu erleichtern. Geld war auch nicht eine Kopeke darin zu finden.
»Wo ist das Geld?« kreischte sie. »O Gott, hat er wirklich alles vertrunken? Es lagen doch noch zwölf Rubel im Kasten! . . .«
Und plötzlich packte sie ihn in ihrer Raserei bei den Haaren und zog ihn ins Zimmer hinein. Marmeladow selbst erleichterte ihr diese Anstrengung, indem er demütig auf den Knien hinter ihr herkroch.
»Das ist mir eine Wonne! Das ist mir nicht ein Schmerz, sondern eine Won-ne, . . . ver-ehr-ter . . . Herr!« rief er, während er an den Haaren vorwärtsgeschleppt wurde und sogar einmal mit der Stirn auf die Diele aufschlug.
Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, wachte auf und fing an zu weinen. Der Knabe in der Ecke konnte sich nicht länger beherrschen, ein Zittern durchlief ihn; er schrie auf und klammerte sich in furchtbarem Schreck an seine Schwester; es sah fast wie ein Krampfanfall aus. Das älteste Mädchen bebte wie Espenlaub.
»Er hat es vertrunken! Alles hat er vertrunken, alles!« schrie das arme Weib in heller Verzweiflung. »Auch sein Anzug ist fort. Und die da hungern!« Sie wies händeringend auf die Kinder. »O dieses dreimal verfluchte Leben! Und Sie, schämen Sie sich denn gar nicht?« fuhr sie plötzlich auf Raskolnikow los. »Aus der Kneipe! Du hast mit ihm getrunken? Freilich hast du mit ihm getrunken. Raus!«
Der junge Mann ging eiligst fort, ohne ein Wort zu erwidern. Zudem war inzwischen die innere Tür weit geöffnet worden, und einige Neugierige blickten von dort herein. Freche, lachende Gesichter mit Zigaretten und Pfeifen im Munde und Käppchen auf dem Kopf schoben sich vor. Es zeigten sich Gestalten in ganz offenstehenden Schlafröcken, in unanständig leichter, sommerlicher Kleidung; manche hielten Karten in den Händen. Besonders vergnügt lachten sie, als Marmeladow, während er an den Haaren gezerrt wurde, rief, daß ihm das eine Wonne sei. Sie schickten sich sogar schon an, ins Zimmer einzudringen; da erscholl ein unheilverkündendes Kreischen, und Amalia Lippewechsel selbst drängte sich nach vorn, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Male die arme Frau unter Schimpfworten durch den Befehl zu erschrecken, sie solle morgen die Wohnung räumen. Beim Hinausgehen fuhr Raskolnikow noch schnell mit der Hand in die Tasche, ergriff von den Kupfermünzen, die er in der Kneipe auf den gewechselten Rubel herausbekommen hatte, so viele, wie ihm in die Finger kamen, und legte sie unbemerkt auf das Fensterbrett. Als er dann bereits auf der Treppe war, tat es ihm wieder leid, und er war nahe daran, umzukehren.
›Was habe ich da für eine Dummheit gemacht‹, dachte er. ›Die haben ja ihre Sonja, und ich habe das Geld ja selbst nötig.‹ Aber er sagte sich, daß es nicht mehr möglich sei, das Geld wieder zurückzunehmen, und daß er es, selbst wenn es möglich wäre, doch nicht tun würde, machte eine Handbewegung, als sei die Sache nun abgetan, und ging nach seiner Wohnung. ›Sonja braucht ja doch auch Pomade‹, fuhr er fort, während er auf der Straße dahinschritt, und lächelte dabei bitter. ›Diese Sauberkeit kostet Geld . . . hm! Aber vielleicht tritt bei der braven Sonja selbst heute Ebbe ein; denn der Erfolg ist bei ihrem Geschäft ebenso unsicher wie bei der Jagd auf Rotwild oder beim Goldgraben. Und dann würden sie ohne dieses Geld von mir morgen alle auf dem Trockenen sitzen . . . Ei ja, diese Sonja! Was für einen schönen Brunnen haben sie sich da doch zu graben verstanden! Und sie benutzen ihn! Erst haben sie ein bißchen geweint, und dann haben sie sich daran gewöhnt. Der Mensch ist eben ein Schuft und gewöhnt sich an alles!‹
Er versank in Nachdenken.
»Nun, wenn es aber nicht wahr ist«, rief er plötzlich unwillkürlich aus, »wenn der Mensch kein Schuft ist (der Mensch, das heißt das ganze Menschengeschlecht): so folgt daraus, daß alles übrige nur leere, vorgefaßte Meinung ist, lediglich eitle Schreckgebilde, und daß es keinerlei Schranken gibt. Und so wird das auch richtig und in der Ordnung sein . . .«