Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

›Aber wenn nun die Haussuchung schon stattgefunden hat? Wenn ich sie gerade in meiner Kammer antreffe?‹

Indes, da war er ja schon in seiner Kammer. Nichts war vorgefallen; niemand war da; niemand hatte einen Blick hineingeworfen. Auch Nastasja hatte nichts angerührt. Aber, o Gott! Wie hatte er nur vorhin alle diese Wertsachen in dieser Höhlung liegen lassen können!

Er stürzte nach der Ecke hin, steckte die Hand unter die Tapete, holte die einzelnen Gegenstände heraus und stopfte sie sich in die Taschen. Es waren zusammen acht Stück: zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas Ähnlichem (genau sah er es nicht an), ferner vier kleine Etuis aus Saffian. Ein Kettchen war einfach in Zeitungspapier gewickelt. Und dann noch etwas in Zeitungspapier, anscheinend ein Orden.

Er brachte alles in den verschiedenen Taschen unter, in den Paletottaschen und in der heil gebliebenen rechten Hosentasche, und achtete darauf, daß es nicht auffällig aussähe. Auch den Beutel nahm er, mit den Wertsachen zusammen, mit. Dann ging er aus dem Zimmer; diesmal ließ er die Tür absichtlich weit offen stehen.

Er ging schnellen, festen Schrittes, und obgleich er sich ganz erschöpft fühlte, so war doch sein Denken klar. Er fürchtete Verfolgung, fürchtete, daß vielleicht schon in einer halben, in einer Viertelstunde Befehl erteilt werden würde, ihn zu beobachten, also mußte er unter allen Umständen vorher noch alle Spuren vertilgen. Er mußte das erledigen, solange ihm noch ein Rest von Kraft und von Überlegung zur Verfügung stand . . . Wohin sollte er nun gehen?

Das stand bei ihm schon längst fest: ›Ich werfe alles in den Kanal; dann kräht kein Hahn mehr danach, und die Sache ist zu Ende.‹ Dazu hatte er sich bereits in der Nacht, als er im Fieber lag, entschlossen, in den Momenten, wo er (das war ihm erinnerlich) ein paarmal hatte aufspringen und weggehen wollen: ›Nur schnell, nur schnell, und alles wegwerfen!‹ Aber es zeigte sich jetzt, daß das Wegwerfen nicht so leicht war.

Er ging schon eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, am Ufer des Katharinenkanals entlang und blickte prüfend nach den zum Kanal hinabführenden Treppen, an denen er vorbeikam. Aber an eine Ausführung seiner Absicht war gar nicht zu denken: entweder lagen unmittelbar am Fuße der Treppen Flöße, auf denen Waschfrauen ihre Wäsche wuschen, oder es hatten dort Kähne angelegt, und überall wimmelte es nur so von Menschen. Von den Ufern aus konnte man von überall, von allen Seiten, zu ihm hinsehen: wenn da ein Mensch ohne verständlichen Anlaß hinunterging, sich hinstellte und etwas ins Wasser warf, so mußte das ja Verdacht erwecken. Und wie, wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf schwammen? Und das hielt er für sehr wahrscheinlich. Dann sah es jeder. Ohnedies sahen ihn alle Begegnenden schon so an und betrachteten ihn, als ob sie sich um weiter nichts als um ihn zu kümmern hätten. ›Woher das nur kommt?‹ dachte er. ›Oder ob es mir nur so scheint?‹

Schließlich fiel ihm ein, ob es nicht das beste wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort seien weniger Menschen, und man werde nicht so beobachtet, und es sei in jedem Falle bequemer und vor allen Dingen von dem Stadtteil, in dem er wohnte, weiter entfernt. Er wunderte sich, wie er eine halbe Stunde voll Angst und Unruhe in dieser gefährlichen Gegend hatte herumwandern können und ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war. Und nur deshalb hatte er schon eine halbe Stunde nutzlos vergeudet, weil er sich das nun einmal im Halbschlaf, in seinem Fieberzustande so zurechtgelegt hatte. Er war sehr zerstreut und vergeßlich geworden und war sich dessen bewußt! Eile war unbedingt nötig!

Er ging den Wosnessenskij-Prospekt entlang nach der Newa zu. Aber unterwegs stellte er doch noch wieder eine andre Überlegung an. ›Warum muß ich denn gerade nach der Newa gehen und es ins Wasser werfen? Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit wegzugehen, etwa nach den »Inseln«, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle im Walde, unter einem Strauche oder Baume, alles zu vergraben und sich den Platz zu merken?‹ Und obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu erwägen, so erschien ihm dieser Gedanke doch als ein sehr glücklicher.

Aber auch nach den »Inseln« zu gelangen war ihm nicht beschieden, sondern es ereignete sich etwas anderes. Als er vom Wosnessenskij-Prospekt auf einen freien Platz heraustrat, sah er links den Eingang zu einem Hofe, der von ganz fensterlosen Mauern umgeben war. Rechts, gleich vom Tore an, zog sich die fensterlose, ungestrichene Seitenwand des vierstöckigen Nachbarhauses weit in den Hof hinein. Links, parallel mit der fensterlosen Hauswand und gleichfalls gleich vom Tore an, erstreckte sich ein Bretterzaun etwa zwanzig Schritte weit in den Hof und machte dann einen Knick nach links. Der Hof war ein nur durch dieses Tor zugänglicher umzäunter Raum, auf dem allerlei Baumaterialien lagerten. Weiter hinten im Hofe blickte hinter dem Zaune eine Ecke eines niedrigen, verräucherten, gemauerten Gebäudes hervor, wahrscheinlich einer Werkstatt. Es mochte hier wohl ein Wagenbauer oder ein Schlosser oder ein anderer derartiger Handwerker hausen; denn überall, fast vom Torweg an, war alles schwarz von Kohlenstaub. ›Hier könnte man es heimlich hinwerfen und dann davongehen!‹ dachte er plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, schlüpfte er durch das Tor hindurch. Gleich dicht am Tore erblickte er eine an den Zaun angenagelte Rinne (wie sie oft in solchen Häusern angebracht werden, wo es viele Arbeiter, Gesellen, Kutscher usw. gibt), und über der Rinne war am Zaune der an solchen Orten überall zu findende Witz mit Kreide angeschrieben: »Hir ist es ferbohten stehen zu bleiben.« Auch das traf sich also gut: es konnte keinen Verdacht erregen, daß er hier hereingegangen und stehengeblieben war. ›Hier will ich schnell alles zusammen irgendwo hinwerfen und weggehen‹, sagte er sich.

Er blickte sich noch einmal um und steckte bereits die Hand in die Tasche, da bemerkte er an der Außenmauer, zwischen dem offenstehenden Torflügel und der Rinne, wo der Abstand nur etwa zwei Fuß betrug, einen großen, unbehauenen Stein, der wohl einen halben Zentner schwer sein mochte und sich unmittelbar gegen diese nach der Straße zu gelegene Mauer lehnte. Auf der andern Seite dieser Mauer war die Straße, das Trottoir; man konnte die Schritte der hier immer recht zahlreichen Passanten hören; aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht etwa jemand von der Straße hereinkam. Da dies sich indes sehr leicht ereignen konnte, mußte er sich beeilen.

Er bückte sich zu dem Steine nieder, faßte ihn mit beiden Händen fest am oberen Ende, nahm alle seine Kraft zusammen und kippte den Stein um. Unter dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; schleunigst warf er den ganzen Inhalt seiner Taschen dort hinein. Der Beutel kam obenauf zu liegen; es blieb aber doch noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein von neuem und kippte ihn mit einem Ruck wieder nach der Mauer zu, so daß er genau wieder auf seine frühere Stelle zu liegen kam, nur daß er ein klein wenig höher schien. Aber er scharrte Erde zusammen und trat sie an den Rändern des Steines mit dem Fuße fest. Es war nichts mehr zu bemerken.

Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick ein starkes, kaum zu ertragendes Gefühl der Freude, gerade wie vorher auf dem Polizeibureau. ›Nun ist alles beseitigt! Wem in aller Welt kann es in den Sinn kommen, unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebensolange daliegen. Und selbst wenn es gefunden wird, wer kann auf mich verfallen? Alles ist erledigt. Es sind keine Beweise vorhanden.‹ Er lachte auf. Ja, er erinnerte sich später deutlich an dieses nervöse, unhörbar leise, lange Lachen, und daß er die ganze Zeit über gelacht hatte, während er über den Platz ging. Aber als er auf den K . . . -Boulevard gelangte, wo er vor zwei Tagen das junge Mädchen getroffen hatte, brach sein Lachen plötzlich ab. Andre Gedanken kamen ihm in den Sinn. Er hatte die Empfindung, daß es ihm jetzt gräßlich zuwider sein würde, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das junge Mädchen weggegangen war, gesessen und nachgedacht hatte, und daß er sich auch sehr darüber ärgern würde, jenem schnurrbärtigen Schutzmann wieder zu begegnen, dem er damals die zwanzig Kopeken gegeben hatte. ›Hol ihn der Teufel!‹

Er ging und blickte zerstreut und verdrießlich um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um den einen Hauptpunkt, und er fühlte selbst, daß dies der Hauptpunkt war und daß er jetzt, gerade jetzt, gleichsam Auge in Auge diesem Hauptpunkte gegenüberstand, und daß dies sogar das erstemal in diesen zwei Monaten war.

›Ach was, hol der Teufel die ganze Geschichte!‹ dachte er plötzlich in einem Anfalle maßloser Wut. ›Na, da es nun einmal angefangen hat, ist nichts weiter zu machen; hol der Teufel das neue Leben! O Gott! wie dumm das alles ist! Und wieviel habe ich heute schon gelogen, und wie unwürdig habe ich mich benommen! In wie gemeiner Weise habe ich vorhin vor diesem garstigen Ilja Petrowitsch geliebedienert und zu ihm freundlich getan! Übrigens ist auch das eine Dummheit, daß ich mich darüber ärgere. Ganz egal sollten sie mir alle sein, und ganz egal sollte es mir auch sein, daß ich geliebedienert und freundlich getan habe. Es handelt sich um anderes, um ganz anderes.‹

Plötzlich blieb er stehen; eine ganz unerwartet auftauchende, überaus einfache Frage versetzte ihn in Verwirrung und peinliches Staunen:

›Wenn du wirklich diese ganze Tat als denkender Mensch und nicht als Narr ausgeführt hast, wenn du wirklich ein bestimmtes, festes Ziel hattest, warum hast du denn dann bis jetzt nicht einmal in den Beutel hineingeblickt und weißt gar nicht, was dir in die Hände gefallen ist und weswegen du alle diese Qualen auf dich genommen und dich auf eine so gemeine, garstige, niedrige Tat mit vollem Bewußtsein eingelassen hast? Du wolltest ihn ja noch soeben ins Wasser werfen, diesen Beutel, mitsamt all den andern Sachen, die du auch noch nicht angesehen hattest. Wie geht denn das zu?‹

Ja, das war richtig, ganz richtig. Übrigens war er sich dieses Widerspruchs schon früher bewußt geworden, und diese Frage war für ihn keineswegs neu. Dieser Gedanke war ihm schon in der Nacht gekommen, als er sich ohne alles Schwanken und Widerstreben dafür entschieden hatte, sich der Sachen zu entäußern, wie wenn das so sein müßte und gar nicht anders sein könnte. Ja, er wußte das alles und erinnerte sich daran; ja, er hatte sich beinahe gestern schon dafür entschieden, in dem Augenblicke, wo er neben der Truhe saß und die Etuis hervorholte . . . Jawohl, so war es! . . .

›Das kommt alles nur daher, weil ich sehr krank bin‹, sagte er sich schließlich ingrimmig; ›ich habe mich selbst gepeinigt und gemartert und weiß gar nicht mehr, was ich tue. Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit her habe ich mich gepeinigt . . . Ich werde wieder gesund werden, und dann werde ich mit dieser Selbstquälerei aufhören . . . Aber wenn ich nun gar nicht wieder gesund werde? O Gott, wie mir das alles zum Ekel geworden ist! . . .‹ Er ging weiter, ohne nur einmal stehenzubleiben. Er hätte sich sehr gern irgendeine Zerstreuung verschafft; aber er wußte nicht, was er zu diesem Zwecke tun und beginnen sollte. Eine neue, unbezwingbare Empfindung gewann in ihm mit jedem Augenblick immer mehr die Herrschaft: es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel gegen alles, was ihm entgegentrat und ihn umgab, ein heftiger, mit Grimm und Haß gepaarter Ekel. Widerwärtig waren ihm alle Begegnenden, ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Hätte ihn jemand angeredet, er hätte ihn geradezu angespien, wohl gar gebissen.

Er blieb stehen, als er zu der Uferstraße an der Kleinen Newa, auf der Wassilij-Insel nahe bei der Brücke, gelangt war. ›Hier wohnt er ja, hier, in diesem Hause‹, dachte er. ›Wie kommt das, ich bin doch nicht mit Absicht zu Rasumichin gegangen! Wieder dieselbe Geschichte wie damals . . . Es wäre mir doch interessant, zu wissen: bin ich mit Absicht hergegangen, oder bin ich nur einfach so gegangen und hierher geraten? Aber das ist schließlich gleichgültig; ich habe mir vorgestern vorgenommen, am Tage nach der betreffenden Sache zu ihm hinzugehen. Nun gut, da gehe ich eben zu ihm hin! Warum sollte ich ihn jetzt nicht besuchen können?‹

Er stieg zu Rasumichin nach dem vierten Stockwerke hinauf.

Dieser war zu Hause, in seinem Kämmerchen, er hatte gerade eine Arbeit vor: er schrieb. Die Tür öffnete er ihm selbst. Seit etwa vier Monaten hatten sie einander nicht gesehen. Rasumichin trug einen völlig zerlumpten Schlafrock, hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und war ungekämmt, unrasiert und ungewaschen. Auf seinem Gesichte malte sich das lebhafteste Erstaunen.

»Was ist denn mit dir los?« rief er und betrachtete den eintretenden Kommilitonen vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und pfiff leise vor sich hin.

»Geht es dir wirklich schon so schlecht, Bruder? Du hast wahrhaftig sogar unsereinen übertrumpft«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Aber setze dich, du wirst wohl müde sein.«

Als dieser sich auf das mit Wachstuch bezogene Schlafsofa fallenließ, das noch schlechter war als sein eigenes, merkte Rasumichin auf einmal, daß sein Gast krank war.

»Aber du bist ja ernstlich krank; weißt du das?«

Er wollte ihm den Puls fühlen, aber Raskolnikow riß ihm seine Hand weg.

»Wozu das?« sagte er. »Ich bin gekommen . . . der Grund ist der: ich habe keine Privatstunden . . . ich würde gern . . . übrigens, ich brauche gar keine Stunden . . .«

»Weißt du was? Du redest ja im Fieber!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam beobachtete.

»Nein, ich rede nicht im Fieber . . .«

Raskolnikow stand vom Sofa auf. Als er zu Rasumichin hinaufgestiegen war, hatte er nicht daran gedacht, daß er ihm werde Auge in Auge gegenübertreten müssen. Erst jetzt beim Versuche wurde er sich sofort darüber klar, daß er in diesem Augenblicke schlechterdings nicht fähig sei, irgend jemandem in der ganzen Welt so gegenüberzutreten. Die Galle stieg ihm auf. Er erstickte fast vor Ärger über sich selbst, darüber, daß er überhaupt Rasumichins Schwelle überschritten hatte.

»Leb wohl!« sagte er ganz unvermittelt und ging zur Tür.

»Aber so warte doch, warte, du schnurriger Kerl!«

»Wozu?« antwortete dieser wie vorhin und riß wieder seine Hand los, die jener ergriffen hatte.

»Zum Kuckuck, warum bist du denn dann gekommen? Du bist wohl verrückt geworden, was? Das nehme ich dir aber übel. Ich lasse dich so nicht weg.«

»Nun, dann höre: ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir niemand kenne, der mir helfen könnte . . . einen neuen Anfang zu machen; denn du bist besser, ich meine klüger, als die andern alle und kannst beurteilen . . . Aber jetzt sehe ich, daß ich gar nichts nötig habe, hörst du, absolut nichts, niemandes Gefälligkeiten und niemandes Teilnahme. Ich kann selbst . . . ganz allein . . . Na, damit genug! Laßt mich alle in Ruhe!«

»So warte doch noch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Ganz verrückt ist der Mensch! Meinetwegen kannst du ja tun, was du willst. Siehst du, Stunden habe auch ich keine, und das ist mir auch ganz egal. Aber auf dem Trödelmarkt wohnt ein Buchhändler Cheruwimow, von dem kann man ebensogut leben wie von einer Privatstunde. Ich möchte ihn jetzt nicht für fünf fette Privatstunden in Kaufmannsfamilien hingeben. Der hat so einen kleinen Verlag und läßt naturwissenschaftliche Büchelchen erscheinen; die werden horrende gekauft. Schon allein die Titel sind das Geld wert. Sieh mal, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; aber, weiß Gott, Bruder, es gibt noch dümmere, als ich bin! Jetzt hat er sich auf die neuere Richtung eingelassen; was Sachkenntnis anlangt, ist er das reine Hornvieh; nun, da bin ich es natürlich, der ihn zu diesem und jenem anregt. Sieh mal her, hier sind mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach das dümmste Geschwätz; den Inhalt bildet, kurz gesagt, die Erörterung der Frage, ob die Frau ein Mensch ist oder nicht. Es wird natürlich pomphaft bewiesen, daß sie ein Mensch ist. Gheruwimow bringt das als einen Beitrag zur Frauenfrage heraus; ich übersetze es; er streckt diese dritthalb Bogen so, daß es sechse werden; wir erfinden dazu einen grandiosen Titel, der eine halbe Seite füllt, und setzen den Preis des Exemplares auf einen halben Rubel fest. Das Buch wird vorzüglichen Absatz finden! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel je Bogen; also kommen für das Ganze gegen fünfzehn Rubel heraus; davon habe ich schon sechs Rubel als Vorschuß erhalten. Wenn ich damit fertig bin, übersetze ich etwas über die Walfische. Ferner haben wir bereits aus dem zweiten Teile der Confessions einige langweilige Klatschgeschichten notiert; die übersetze ich auch. Cheruwimow hat von jemandem gehört, Rousseau wäre so eine Art RadischtschewEr gab im Jahre 1790 eine »Reise von Petersburg nach Moskau« heraus, in der er die furchtbaren Leiden der Leibeigenen schilderte und auf die Schäden der Verwaltung und Rechtspflege hinwies. Anmerkung des Übersetzers. gewesen. Selbstverständlich fällt es mir nicht ein, ihm zu widersprechen. Na, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du Lust dazu hast, so nimm dir gleich den Text mit, auch Federn und Papier – das wird alles gratis mitgeliefert –, und empfange von mir drei Rubel; da ich den Vorschuß auf die ganze Übersetzung, den ersten und den zweiten Bogen, bekommen habe, so entfallen auf deinen Anteil gerade drei Rubel. Und wenn du den Bogen fertig hast, erhältst du noch drei Rubel. Und dann möchte ich noch bemerken: betrachte das nicht als eine Art Gefälligkeit von meiner Seite. Im Gegenteil, gleich als du eintratest, spekulierte ich darauf, daß du mir hierin von Nutzen sein könntest. Erstens bin ich in der Orthographie schlecht beschlagen, und zweitens bin ich im Deutschen sehr schwach, so daß ich das meiste selbst erfinde und mich nur damit tröste, daß das Buch dadurch eher besser als schlechter wird. Na freilich, wer weiß, vielleicht wird es dadurch auch nicht besser, sondern schlechter. Willst du meinen Vorschlag akzeptieren?«

Raskolnikow nahm schweigend den deutschen Druckbogen hin, desgleichen auch die drei Rubel, und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Erstaunt sah ihm Rasumichin nach. Aber als Raskolnikow schon bis auf die Straße gekommen war, kehrte er plötzlich um, stieg wieder die Treppen zu Rasumichin hinauf, legte den Druckbogen und die drei Rubel auf den Tisch und entfernte sich wieder, ohne ein Wort zu sprechen.

»Hast du denn das Delirium?« schrie Rasumichin, der nun schließlich doch wütend wurde. »Warum führst du hier so eine Komödie auf? Hast mich ordentlich wütend gemacht . . . Warum bist du denn dann eigentlich hergekommen, Mensch?«

»Ich brauche keine Übersetzungen«, murmelte Raskolnikow, während er schon die Treppe hinabstieg.

»Zum Kuckuck, was brauchst du denn?« rief Rasumichin von oben.

Jener stieg schweigend weiter hinunter.

»Hör mal, du, wo wohnst du denn?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Na, dann hol dich der Teufel!«

Aber Raskolnikow war schon auf der Straße. Auf der Nikolaus-Brücke gab es einen für ihn sehr unangenehmen Vorfall, der ihn wieder völlig zur Besinnung brachte. Der Kutscher einer Equipage verabreichte ihm einen gehörigen Schlag mit der Peitsche über den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten wäre, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angerufen hatte. Dieser Peitschenhieb versetzte ihn in eine solche Wut, daß er nach der Seite bis an das Geländer sprang (es war unverständlich, warum er ganz in der Mitte der Brücke gegangen war, auf dem für Wagen und nicht für Fußgänger bestimmten Raume) und ingrimmig mit den Zähnen knirschte. Die Passanten ringsherum lachten natürlich.

»Das war ihm ganz recht!«

»Gewiß eine abgefeimte Kanaille!«

»Natürlich, stellt sich betrunken, richtet es absichtlich so ein, daß er unter die Räder kommt, und unsereiner muß dann dafür aufkommen.«

»Das ist denen ihr Gewerbe, mein Lieber, das ist denen ihr Gewerbe.«

Aber in dem Augenblicke, als er am Geländer stand, sich den Rücken rieb und immer noch in sinnloser Wut der davonrollenden Equipage nachschaute, fühlte er auf einmal, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: es war eine schon ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und ziegenledernen Schuhen, und neben ihr stand ein junges Mädchen mit einem Hute und einem grünen Sonnenschirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Nach seinem Anzuge und seiner ganzen äußern Erscheinung hatten sie ihn wohl für einen richtigen Straßenbettler halten können, und daß sie ihm ein ganzes Zwanzigkopekenstück gegeben hatten, das hatte er jedenfalls dem Peitschenhiebe zu verdanken, der ihr Mitleid wachgerufen hatte.

Das Geldstück fest in der Hand haltend, ging er etwa zehn Schritt weiter und wandte sich mit dem Gesichte nach der Newa hin, in der Richtung nach dem Palaste. Am Himmel war auch nicht das kleinste Wölkchen zu sehen, und das Wasser hatte eine fast blaue Farbe, was bei der Newa nur selten vorkommt. Die Kuppel des Domes, die sich von keinem Punkte aus besser präsentiert, als wenn man auf dieser Brücke etwa zwanzig Schritt von der Brückenkapelle entfernt steht, leuchtete förmlich, und bei der reinen Luft war sogar jede einzelne kleine Verzierung deutlich zu erkennen. Der Schmerz von dem Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb bereits vergessen; ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und schaute lange mit starrem Blick in die Ferne; diese Stelle war ihm sehr bekannt. Als er noch die Universität besuchte, war er häufig, wohl hundertmal, namentlich auf dem Rückwege nach Hause, gerade an dieser Stelle stehengeblieben, um unverwandt dies wahrhaft großartige Panorama zu betrachten und sich fast jedesmal über ein unklares, undefinierbares Gefühl, das ihn bei diesem Anblicke überkam, zu wundern. Eine sonderbare Kälte wehte ihn immer von diesem großartigen Panorama an; nach seiner Empfindung lag eine Art von stummem, dumpfem Hauche über dieses prächtige Bild hingebreitet. Er wunderte sich jedesmal über diesen finstern, rätselhaften Eindruck, den es auf ihn machte, und verschob den Versuch, dieses Rätsel zu lösen, da er seiner eigenen Empfindung mißtraute, auf eine spätere Zeit. Jetzt erinnerte er sich auf einmal deutlich an diese Fragen und Zweifel, die ihn früher beschäftigt hatten, und es schien ihm, daß ihm diese Erinnerung nicht so ganz zufällig gekommen sei. Schon allein der Umstand kam ihm befremdend und wunderlich vor, daß er genau an derselben Stelle stehengeblieben war wie früher, als glaube er wirklich, daß er jetzt noch über denselben Gegenstand wie früher nachsinnen und sich für solche Themen und Bilder interessieren könne, wie sie ihn vor noch gar nicht so langer Zeit interessiert hatten. Dieser Gedanke brachte ihn beinahe zum Lachen und preßte ihm gleichzeitig schmerzlich die Brust zusammen. Ganz unten in einem Abgrunde, in einer kaum absehbaren Tiefe, lagen jetzt für ihn sein ganzes früheres Leben und seine früheren Interessen, Aufgaben, Probleme und Eindrücke und dieses ganze Panorama und er selbst und alles, alles . . . Es schien ihm, als fliege er aufwärts in eine ungewisse Ferne und als entschwinde alles seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung mit der Hand fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück, das er krampfhaft festhielt. Er öffnete die Hand, starrte die Münze an, holte aus und schleuderte sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Es war ihm, als hätte er in diesem Augenblicke wie mit einer Schere sich selbst von allen und von allem losgeschnitten.

Als er nach Hause kam, war es schon Abend; er mußte also im ganzen gegen sechs Stunden umhergewandert sein. Auf welchem Wege und wie er heimgegangen war, dafür hatte er keine Erinnerung. Er zog die Kleider aus und legte sich, am ganzen Leibe zitternd wie ein abgehetztes Pferd, auf das Sofa, deckte sich mit seinem Mantel zu und versank sofort in Bewußtlosigkeit.

Tief in der Nacht kam er von einem fürchterlichen Geschrei wieder zu sich. O Gott, was war das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen Töne, ein solches Geheul, Gewinsel, Zähneknirschen, solche Tränen, Schläge und Schimpfwörter hatte er noch nie gehört und gesehen. Eine solche Bestialität und Raserei hatte er überhaupt nie für menschenmöglich gehalten. Erschreckt richtete er sich auf und setzte sich in seinem Bette; das Herz drohte ihm jeden Augenblick vor Qual auszusetzen. Das Prügeln, Wimmern und Schimpfen wurde immer ärger. Da unterschied er auf einmal zu seinem höchsten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, winselte und jammerte, wobei sie die Worte so eilig und hastig hervorstieß, daß sie nicht zu verstehen waren; sie flehte um etwas, doch wohl, daß man aufhören möchte, sie zu schlagen; denn sie wurde ganz unbarmherzig auf der Treppe geprügelt. Die Stimme des Schlagenden war von Ingrimm und Wut so schrecklich entstellt, daß sie nur wie ein heiseres Röcheln klang; aber trotzdem redete auch er immerzu etwas und ebenso schnell, unverständlich, hastig und halb erstickt wie die Wirtin. Plötzlich fing Raskolnikow an wie Espenlaub zu zittern: er hatte diese Stimme erkannt: es war Ilja Petrowitschs Stimme. Ilja Petrowitsch war da und schlug die Wirtin! Er stieß sie mit den Füßen, er stieß ihren Kopf gegen die Stufen – das hörte man ganz deutlich an dem Geräusch, an dem Geheul, an dem Aufschlagen! Wie ging das zu? Hatte sich die Welt umgedreht? Man hörte, wie sich in allen Stockwerken eine Menge Menschen auf der Treppe ansammelte; Stimmen wurden laut, Ausrufe ertönten; es war ein Gelaufe und Herumtrampeln; Türen wurden zugeschlagen; alles rannte zusammen. ›Aber was hat sie nur getan? Was hat sie nur getan? Und wie ist so etwas nur möglich?‹ fragte er sich und glaubte allen Ernstes, daß er verrückt geworden sei. Aber nein doch, er hörte alles nur zu deutlich! . . . ›Also, wenn's so ist, werden sie im nächsten Augenblick auch zu mir kommen; denn . . . jedenfalls ist das alles wegen derselben Sache . . . wegen der gestrigen Sache, . . . o Gott!‹ Er dachte daran, die Tür zuzuriegeln; aber er vermochte den Arm nicht zu heben, . . . und es wäre ja auch nutzlos gewesen. Die Angst legte sich auf seine Seele wie ein Eisklumpen; sie peinigte ihn und machte ihn ganz starr. Aber siehe da, nachdem dieser entsetzliche Lärm wohl zehn Minuten gedauert hatte, wurde er endlich allmählich schwächer. Die Wirtin stöhnte und ächzte nur noch, Ilja Petrowitsch aber drohte und schimpfte noch immer. Nun schien auch er ruhiger zu werden; jetzt hörte man ihn gar nicht mehr. ›Sollte er wirklich weggegangen sein? O Gott!‹ Ja, nun ging auch die Wirtin fort, immer noch unter Stöhnen und Weinen, . . . jetzt schlug auch die Tür zu ihrer Wohnung zu . . . Nun gingen die Menschen, die auf der Treppe gewesen waren, auseinander und begaben sich in ihre Wohnungen; man hörte noch erregte Ausrufe, sie stritten sich, riefen einander zu; bald steigerten sie ihre Wechselrede bis zum Geschrei, bald ließen sie sie zum Geflüster herabsinken. Es mußten wohl sehr viele Leute dagewesen sein; gewiß war beinahe das ganze Haus zusammengelaufen. ›Aber mein Gott, ist denn das alles möglich? Und warum, warum war er hierhergekommen?‹

Raskolnikow fiel kraftlos auf das Sofa zurück; aber er konnte die Augen nicht mehr schließen; etwa eine halbe Stunde lang lag er so da, in einem so qualvollen Zustande und in einem so unerträglichen Gefühle grenzenloser Angst, wie er das noch niemals durchgemacht hatte. Auf einmal erhellte ein greller Lichtschein sein Zimmer: Nastasja kam mit einem Lichte und mit einem Teller Suppe herein. Sie blickte ihn aufmerksam an, und als sie sah, daß er nicht schlief, stellte sie das Licht auf den Tisch und ordnete daneben, was sie mitgebracht hatte: Brot, Salz, einen Teller und einen Löffel.

»Du hast gewiß seit gestern nichts gegessen. Treibst dich den ganzen Tag herum, wo du doch Fieber hast!«

»Nastasja, warum hat die Wirtin Schläge bekommen?«

Sie sah ihn mit einem prüfenden Blicke an.

»Wer hat denn die Wirtin geschlagen?«

»Jetzt eben, . . . vor einer halben Stunde, hat es Ilja Petrowitsch getan, der Stellvertreter des Revieraufsehers, auf der Treppe . . . Warum hat er sie so geschlagen, und warum ist er überhaupt hergekommen?«

Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit gerunzelter Stirn; so sah sie ihn lange an. Ihm wurde ihr forschender Blick unangenehm, ja geradezu beängstigend.

»Nastasja, warum antwortest du nicht?« fragte er zuletzt schüchtern und mit schwacher Stimme.

»Das kommt vom Blute«, erwiderte sie endlich leise, wie wenn sie zu sich selbst spräche.

»Blut? . . . Was für Blut?« murmelte er. Er wurde ganz blaß und rückte an die Wand.

Nastasja blickte ihn immer noch schweigend an.

»Niemand hat die Wirtin geschlagen«, antwortete sie dann in scharfem, entschiedenem Tone.

Er sah sie an und konnte kaum Atem holen.

»Ich habe es doch mit eigenen Ohren gehört, . . . ich habe nicht geschlafen, . . . ich habe aufrecht gesessen«, entgegnete er noch schüchterner. »Ich habe es lange mit angehört. Der Stellvertreter des Revieraufsehers war gekommen. Es war ein großer Auflauf auf der Treppe, die Leute aus allen Wohnungen . . .«

»Kein Mensch ist hergekommen. Das ist das Blut, das in dir herumtobt. Wenn das keinen Ausweg hat und zu Klumpen gerinnt, davon kommt dann solch unsinniges Gerede . . . Willst du nicht etwas essen?«

Er antwortete nicht. Nastasja stand noch immer neben ihm, blickte ihn unverwandt an und ging nicht weg.

»Gib mir zu trinken, liebe Nastasjuschka!«

Sie ging nach unten und kam nach zwei Minuten mit Wasser in einem weißen Tonkruge zurück; aber was weiter vorging, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Er erinnerte sich nur, wie er einen Schluck kaltes Wasser aus dem Kruge geschlürft und sich dabei die Brust begossen hatte. Dann hatte er die Besinnung verloren.


 << zurück weiter >>