Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

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III

Indessen war er nicht während der ganzen Dauer seiner Krankheit völlig besinnungslos: er befand sich in einem fieberhaften Zustande mit Irrereden und halbem Bewußtsein. An vieles vermochte er sich später zu erinnern. Bald schien es ihm, als ob sich viele Menschen um ihn versammelten und ihn nehmen und irgendwohin wegtragen wollten und sich um ihn heftig stritten und zankten. Bald war er auf einmal allein im Zimmer; alle waren hinausgegangen und fürchteten sich vor ihm, und nur ab und zu öffneten sie die Tür ein wenig, um nach ihm zu sehen, drohten ihm, besprachen etwas untereinander, lachten und neckten ihn. Er erinnerte sich, daß er Nastasja oft neben sich gesehen hatte; er hatte auch noch einen Menschen bemerkt, der ihm sehr bekannt vorkam; aber wer es eigentlich war, darüber konnte er schlechterdings nicht ins klare kommen, und das war ihm ein peinigendes Gefühl, er weinte sogar darüber. Manchmal schien es ihm, als liege er schon einen Monat, ein andermal, als sei es immer noch der nämliche Tag. Aber jene Sache – jene Sache hatte er vollständig vergessen; dagegen kam ihm alle Augenblicke der Gedanke, er habe etwas vergessen, was er nicht hätte vergessen dürfen; er quälte und marterte sich mit dem Versuche, es sich ins Gedächtnis zurückzurufen, er stöhnte, er geriet in Wut oder in eine entsetzliche, unerträgliche Angst. Dann sprang er auf und wollte davonlaufen; aber immer hielt ihn jemand mit Gewalt zurück, und er sank wieder in Schwäche und Bewußtlosigkeit zurück. Endlich kam er wieder ganz zu sich.

Dies geschah eines Morgens um zehn Uhr. Um diese Stunde wanderte an heiteren Tagen immer ein langer Streifen Sonnenschein über die rechte Wand seines Zimmers und beleuchtete die Ecke neben der Tür. An seinem Bette stand Nastasja und außerdem noch ein Mann, der ihn mit lebhaftem Interesse betrachtete und ihm ganz unbekannt war. Es war ein junger Mensch im langschößigen Rock, mit kleinem Barte; er machte etwa den Eindruck eines Kontoristen. Durch die halbgeöffnete Tür blickte die Wirtin herein. Raskolnikow richtete sich auf.

»Wer ist das, Nastasja?« fragte er, indem er auf den jungen Mann zeigte.

»Na, nun sieh mal! Er ist wieder zu sich gekommen!« rief sie.

»Der Herr ist wieder zu sich gekommen«, wiederholte der Kontorist.

Sowie sie vernahm, daß er wieder bei Bewußtsein war, machte die Wirtin, die verstohlen durch die Tür hereingeguckt hatte, diese zu und verschwand. Sie war auch sonst immer sehr schüchtern und verlegen und ließ sich nur ungern auf Gespräche und Erörterungen ein; sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war dick und fett und infolge dieser Beleibtheit sowie auch aus Trägheit sehr gutmütig. Sie machte in ihrer äußeren Erscheinung einen ganz netten Eindruck, benahm sich aber überaus zimperlich.

»Wer sind Sie?« fragte Raskolnikow wieder, sich diesmal an den Kontoristen selbst wendend.

In diesem Augenblicke wurde die Tür wieder, und zwar sperrangelweit, geöffnet, und wegen seiner hohen Statur etwas gebückt, trat Rasumichin ein.

»Na, so eine Schiffskajüte!« rief er beim Eintreten. »Jedesmal stoße ich mit der Stirn an; und so etwas nennt sich Wohnung! Na, und du, Bruder, bist wieder zu dir gekommen? Ich habe es eben von Paschenjka gehört.«

»Eben ist er wieder zu sich gekommen«, sagte Nastasja.

»Eben ist der Herr wieder zu sich gekommen«, wiederholte liebenswürdig der Kontorist mit leisem Lächeln.

»Nun, und wer sind Sie denn?« fragte Rasumichin, sich zu ihm wendend. »Mein Name ist – Sie gestatten – Wrasumichin, nicht Rasumichin, wie man mich immer nennt, sondern Wrasumichin, Student, Sohn eines Edelmannes, und der hier ist mein Freund. Nun also, und was sind Sie für einer?«

»Ich bin Kontorist im Geschäft von Schelopajew und bin in einer Geschäftssache hier.«

»Bitte, nehmen Sie auf diesem Stuhle Platz!« Rasumichin selbst setzte sich auf einen andern, an der andern Seite des Tischchens. »Das ist recht von dir, Bruder, daß du wieder zu dir gekommen bist«, fuhr er, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Seit mehr als drei Tagen hast du so gut wie nichts gegessen und getrunken; nur ein bißchen Tee haben wir dir eingelöffelt. Zweimal habe ich Sossimow mit zu dir hergebracht. Erinnerst du dich noch an Sossimow? Er hat dich sorgfältig untersucht und sagte gleich, die Sache habe nichts zu bedeuten; es wäre wohl etwas mit dem Kopfe passiert. Irgend so ein Quatsch mit den Nerven, dazu mangelhafte Ernährung, sagte er; du hättest zu wenig Bier und Meerrettich bekommen; daher die Krankheit; aber es sei weiter nichts Bedenkliches, es werde schon vorübergehen. Ein famoser Kerl, dieser Sossimow; hat seine junge Praxis gut in Gang gebracht. Na also, ich möchte Sie nicht aufhalten«, wandte er sich wieder an den Kontoristen. »Wollen Sie freundlichst sagen, was Sie wünschen? Denk nur, Rodja, es ist schon zum zweiten Male jemand aus der Bank hier; nur war vorher ein anderer gekommen, mit dem habe ich mich unterhalten. Wer war das, der vor Ihnen hier war?«

»Wohl vorgestern, ganz recht; das war Alexej Semjonowitsch; der ist auch bei uns im Geschäft.«

»Der ist wohl viel gescheiter als Sie, meinen Sie nicht?«

»Das mag schon sein; er ist auch schon älter.«

»Sehr löblich geantwortet; na, dann tragen Sie Ihre Sache vor!«

»Also«, begann der Kontorist, sich direkt an Raskolnikow wendend, »auf Wunsch Ihrer Frau Mutter hat der Kaufmann Afanassij Iwanowitsch Wachruschin, von dem Sie wohl schon öfters gehört haben, an unser Kontor eine Zahlungsanweisung für Sie gelangen lassen. Im Falle, daß Sie sich bei voller Besinnung befinden, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel behändigen, den Betrag der Order, die unser Chef von Afanassij Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mutter erhalten hat. Kennen sie Afanassij Iwanowitsch?«

»Ja . . . ich erinnere mich . . . Wachruschin . . .«, erwiderte Raskolnikow nachsinnend.

»Hören Sie wohl? Er kennt den Kaufmann Wachruschin!« rief Rasumichin. »Wie sollte er da nicht bei voller Besinnung sein? Übrigens merke ich jetzt, daß auch Sie ein sehr gescheiter Mensch sind. Es ist ein Vergnügen, so verständige Worte anzuhören.«

»Jawohl, es stimmt, Wachruschin, Afanassij Iwanowitsch Wachruschin; dieser Herr hat auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, die Ihnen schon früher auf dieselbe Weise durch seine Vermittlung Geld geschickt hat, sich auch diesmal bereit finden lassen, an unsern Chef Order zu erteilen, daß Ihnen fünfunddreißig Rubel – in Hoffnung auf die Möglichkeit späterer höherer Zahlungen – ausgezahlt werden sollen.«

»Sehen Sie mal, das haben Sie ja ganz besonders schön gesagt: ›in Hoffnung auf die Möglichkeit späterer höherer Zahlungen‹; nicht übel war auch das ›auf Wunsch Ihrer Frau Mutter‹. Nun also, wie denken Sie darüber: ist er bei voller Besinnung oder nicht?«

»Ich habe keine Bedenken. Es ist nur wegen der Unterschrift.«

»Die wird er schon hinkritzeln. Haben Sie ein Quittungsbuch bei sich?«

»Jawohl, hier.«

»Geben Sie her. Nun, Rodja, richte dich auf. Ich werde dich stützen; schreib mal recht schwungvoll ›Raskolnikow‹. Nimm die Feder, Bruder; denn Geld schmeckt uns jetzt noch besser als Honig.«

»Will nicht, will nicht!« sagte Raskolnikow und schob die Feder zurück.

»Was denn: ›will nicht‹?«

»Ich unterschreibe nicht.«

»Aber Mensch! Ohne Unterschrift geht es doch nicht!«

»Ich brauche das Geld nicht, brauche es nicht . . .«

»Er braucht das Geld nicht! Nein, Bruder, da irrst du dich, das kann ich bezeugen! Bitte, machen Sie sich darüber keine Gedanken; das meint er nicht so, . . . er träumt wieder. Übrigens begegnet ihm so etwas auch im wachen Zustande . . . Sie sind ja ein verständiger Mann; wir wollen ihm behilflich sein, d. h. ihm einfach die Hand führen; dann wird er schon unterschreiben. Fassen Sie mal zu . . .«

»Ich kann ja auch ein andermal wiederkommen.«

»Nein, nein, wozu wollen Sie sich so viel Mühe machen. Sie sind ein verständiger Mann . . . Nun, Rodja, halte den Herrn nicht auf, . . . du siehst doch, daß er wartet.« Damit schickte er sich allen Ernstes an, ihm die Hand zu führen.

»Laß sein, ich will allein . . .«, sagte dieser, nahm die Feder und quittierte im Buche.

Der Kontorist zählte das Geld auf und entfernte sich.

»Bravo! Und jetzt, Bruder, willst du etwas essen?«

»Ja«, antwortete Raskolnikow.

»Habt ihr Suppe?«

»Ja, von gestern«, antwortete Nastasja, die die ganze Zeit über dabeigestanden hatte.

»Wohl mit Kartoffeln und Reismehl?«

»Ja, mit Kartoffeln und Reismehl.«

»Weiß ich auswendig. Hol die Suppe her und bring auch Tee.«

»Schön!«

Raskolnikow verfolgte das alles mit größtem Erstaunen und mit einer dumpfen, verständnislosen Angst. Er beschloß, zu schweigen und abzuwarten, was noch weiter kommen werde. ›Es scheint doch, daß ich nicht phantasiere‹, dachte er. ›Es scheint, daß das wirklich . . .‹

Nach zwei Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte, der Tee würde auch gleich da sein. Mit der Suppe zugleich erschienen zwei Löffel, zwei Teller und alles sonstige Zubehör: Salzfaß, Pfefferbüchse, Senf für das Rindfleisch usw., was früher so ordentlich schon lange nicht mehr auf dem Tische gestanden hatte. Auch ein sauberes Tischtuch war da.

»Es wäre recht nett, Nastasjuschka, wenn Praskowja Pawlowna zwei Fläschchen Bier hier aufmarschieren ließe. Die würden wir mit Vergnügen trinken.«

»Na, du bist der richtige Schwerenöter!« murmelte Nastasja und ging, um den Auftrag auszuführen.

Verstört beobachtete Raskolnikow noch immer mit angestrengter Aufmerksamkeit das, was vorging. Unterdessen hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; plump, wie ein Bär, faßte er mit der linken Hand Raskolnikows Kopf, obgleich dieser auch selbst imstande gewesen wäre sich aufzurichten, und mit der rechten Hand führte er ihm den Löffel mit Suppe an den Mund, nachdem er vorher ein paarmal darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Indes war die Suppe nur eben warm. Raskolnikow verschlang gierig einen Löffel voll, dann den zweiten, den dritten. Aber nachdem er ihm so einige Löffel voll gereicht hatte, hielt Rasumichin auf einmal inne und erklärte, hinsichtlich einer weiteren Verabfolgung von Nahrung müsse er erst Sossimows Zustimmung einholen.

Nastasja kam und brachte zwei Flaschen Bier.

»Möchtest du Tee?«

»Ja.«

»Na, dann hol mal ganz schnell Tee, Nastasja; denn Tee kann man ihm auch wohl ohne das Gutachten der medizinischen Fakultät erlauben. Und da ist ja auch das Bier!« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, zog die Suppe und das Fleisch zu sich heran und begann mit solchem Appetite zu essen, als ob er drei Tage nichts genossen hätte.

»Ich esse jetzt bei euch hier alle Tage so, Bruder Rodja«, murmelte er, soweit es ihm der mit Rindfleisch vollgestopfte Mund erlaubte, »und das spendiert alles Paschenjka, deine brave Wirtin; die hat mich sehr in ihr Herz geschlossen. Ich beanspruche das selbstverständlich nicht; na, aber ich protestiere auch nicht dagegen. Da ist ja auch schon Nastasja mit dem Tee. Ein flinkes Mädel! Nun, Nastenjka, möchtest du ein Gläschen Bier?«

»Ach, geh! Was machst du für Witze!«

»Na, aber ein bißchen Tee?«

»Tee meinetwegen.«

»Dann gieß dir ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setze dich an den Tisch.«

Er stellte sofort alles ordentlich hin, goß eine, dann eine zweite Tasse ein, ließ sein Frühstück im Stich und setzte sich wieder herüber auf das Sofa. In derselben Weise wie vorher umfaßte er mit dem linken Arm den Kranken, richtete ihn etwas auf und gab ihm mit dem Teelöffel Tee ein, wobei er wieder fortwährend mit besonderem Eifer auf den Löffel blies, als ob diese Prozedur des Blasens den wichtigsten Heilfaktor bildete. Raskolnikow schwieg und sträubte sich nicht dagegen, obgleich er sich eigentlich völlig stark genug fühlte, um ohne jede fremde Hilfe sich aufzurichten, auf dem Sofa zu sitzen und nicht nur sich seiner Hände zum Halten des Löffels oder der Tasse zu bedienen, sondern vielleicht sogar umherzugehen. Aber eine sonderbare, sozusagen tierische Schlauheit veranlaßte ihn, seine Kräfte einstweilen noch zu verbergen, sich zu verstellen, nötigenfalls sogar so zu tun, als ob er das Gesagte nicht ganz verstände, und unterdessen aufzuhorchen und zu beobachten, was eigentlich um ihn herum vorgehe. Übrigens vermochte er seinen Widerwillen nicht zu bezwingen: nachdem er ungefähr zehn Löffel Tee hinuntergeschluckt hatte, machte er plötzlich seinen Kopf frei, stieß störrisch den Löffel zurück und ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken. Es lagen jetzt wirklich unter seinem Kopfe richtige Kissen, Federkissen mit reinen Bezügen; auch dies hatte er bereits bemerkt und zum Gegenstande des Nachdenkens gemacht.

»Paschenjka muß uns heute Himbeersaft schicken, damit wir ihm etwas zum Trinken machen können«, sagte Rasumichin, der sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte und sich von neuem an die Suppe und das Bier machte.

»Wo soll sie denn Himbeersaft herkriegen?« fragte Nastasja; sie hielt die Untertasse auf den gespreizten fünf Fingern und sog den Tee durch ein Stück Zucker hindurch.

»Himbeersaft bekommt sie beim Kaufmann, liebes Kind. Sieh mal, Rodja, hier ist, während du bewußtlos warst, eine ganze Geschichte passiert. Als du mir so wie ein Dieb davonliefst und mir deine Wohnung nicht sagtest, da packte mich ein solcher Grimm, daß ich mir vornahm, dich aufzusuchen und zu bestrafen. Gleich denselben Tag machte ich mich ans Werk. Wo bin ich nicht überall herumgelaufen und habe nach dir gefragt! Straße und Nummer deiner jetzigen Wohnung hatte ich vergessen; übrigens habe ich sie nie im Gedächtnis gehabt, weil ich sie nie erfahren hatte. Na, und deine frühere Wohnung – da erinnerte ich mich nur, daß sie bei den Fünf-Ecken lag, im Charlamowschen Hause. Ich suchte also wie verrückt nach diesem Charlamowschen Hause; später hat sich dann herausgestellt, daß dein Hauswirt gar nicht Charlamow, sondern Buch geheißen hat – wie man sich doch manchmal in den Lauten irren kann! Na, ich war ganz ärgerlich. ›In Gottes Namen‹, dachte ich, ›wir wollen's mal versuchen!‹ und ging am andern Tage aufs Meldeamt. Und denke dir: in zwei Minuten hatten sie dich da gefunden! Du warst dort eingetragen.«

»Wunderbar!«

»Ja, es ist erstaunlich! Es wurde gerade, während ich da war, auch nach einem General Kobeljow gesucht; den konnten sie nicht finden. Aber ich will nicht abschweifen. Sowie ich nun hier in deine Bude eingedrungen war, wurde ich gleich mit all deinen Angelegenheiten bekannt; mit allen, Brüderchen, geradezu mit allen; ich weiß alles. Nastasja hier kann es bezeugen: mit Nikodim Fomitsch habe ich Bekanntschaft gemacht, und Ilja Petrowitsch ist mir wenigstens gezeigt worden, und mit dem Hausknecht habe ich Bekanntschaft gemacht und mit Herrn Alexander Grigorjewitsch Sametow, dem Sekretär beim hiesigen Polizeibureau, und schließlich auch mit Paschenjka, das war die Krone des Ganzen; Nastasja hier weiß davon zu reden . . .«

»Ja, was der der Wirtin für Schmeicheleien gesagt hat . . .«, murmelte Nastasja, verschmitzt lächelnd. »Der reine Zucker!«

»Aber Sie sollten sich doch noch ein bißchen Zucker in Ihren Tee hineintun, Nastasja Nikiforowna!«

»Ach, du Racker!« rief Nastasja und prustete vor Lachen. »Ich heiße doch Nastasja Petrowna und nicht Nastasja Nikiforowna«, fügte sie hinzu, als sie mit ihrem Gelächter fertig war.

»Das werde ich mir hochachtungsvoll einprägen. Na also, Bruder, um es kurz zu machen: anfangs hatte ich die größte Lust, hier allenthalben einen elektrischen Strom mittels einer Klopfpeitsche hindurchgehen zu lassen, um alle Vorurteile, die in der hiesigen Gegend gegen dich herrschen, mit einem Male auszurotten; aber Paschenjka hat mein Herz besiegt. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie eine so . . . so scharmante Frau ist. Wie denkst du darüber, he?«

Raskolnikow schwieg, obwohl er seine unruhigen Blicke keinen Augenblick von ihm abgewandt hatte und ihn auch jetzt immer noch starr anblickte.

»Und sogar sehr scharmant«, fuhr, ohne sich durch dieses Schweigen im geringsten beirren zu lassen, Rasumichin fort, als pflichte er einer erhaltenen Antwort bei, »und sehr brav und ordentlich, in jeder Hinsicht.«

»Na, so ein schlauer Fuchs!« rief Nastasja wieder, für die es offenbar ein Hochgenuß war, dieses Gespräch mit anzuhören.

»Schade, Bruder, daß du nicht gleich von Anfang an verstanden hast, die Sache richtig anzufassen. Eine Frau wie diese hättest du ganz anders behandeln müssen. Sie hat einen Charakter, einen Charakter, möchte ich sagen, der einem etwas zu raten aufgibt! Na, aber von ihrem Charakter reden wir später noch . . . Aber wie konntest du es dahin kommen lassen, daß sie es wagte, die Lieferung des Mittagessens an dich einzustellen? Oder die Sache mit dem Schuldschein? Du bist wohl verrückt geworden, daß du Schuldscheine unterschreibst! Na, und dann dieses Heiratsprojekt, als die Tochter Natalja Jegorowna noch lebte . . . Ich weiß alles! Übrigens, ich sehe, daß ich da einen delikaten Punkt berühre und daß ich ein dummer Esel bin; sei mir nicht böse. Aber ad vocem Dummheit: meinst du nicht auch, Bruder, Praskowja Pawlowna ist doch gar nicht so dumm, wie man auf den ersten Blick geneigt sein könnte anzunehmen, nicht wahr?«

»Ja . . .«, antwortete Raskolnikow mürrisch, indem er zur Seite blickte. Aber er sagte sich, daß es sicherlich zweckmäßig sei, etwas zur Weiterführung des Gespräches beizutragen.

»Nicht wahr?« rief Rasumichin, der sich sichtlich freute, eine Antwort bekommen zu haben. »Aber eigentlich klug ist sie doch auch nicht, wie? Ein Charakter, der einem viel, viel zu raten aufgibt. Zum Teil kann ich selbst mich nicht drin zurechtfinden, muß ich dir gestehen, Bruder. Sie wird wohl volle vierzig alt sein. Sie sagt: erst sechsunddreißig, und sie ist durchaus berechtigt, das zu sagen. Übrigens kann ich dir versichern, daß ich mir mein Urteil über sie rein intellektuell, lediglich nach den Grundsätzen der Metaphysik bilde; aber dabei ist mir ein Problem entgegengetreten, gegen das alle Algebra ein Kinderspiel ist! Mein Verstand versagt! Na, das ist ja alles dummes Zeug. Ich will bloß sagen: als sie sah, daß du nicht mehr Student warst und keine Privatstunden und keinen ordentlichen Anzug mehr hattest, und sich sagte, daß sie nach dem Tode ihrer Tochter keinen Anlaß mehr habe, dich als ein liebes Glied ihrer Familie zu behandeln: da bekam sie es mit der Angst um ihr Geld. Und da du deinerseits dich in dein Kämmerlein verkrochst und nichts dazu tatest, um die bisherigen Beziehungen aufrechtzuerhalten, so kam sie auf den Gedanken, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Mit dieser Absicht trug sie sich lange; es tat ihr nur leid, den Schuldschein, den du ausgestellt hattest, wegzugeben, namentlich da du ja selbst versichert hattest, daß deine Mutter bezahlen würde . . .«

»Das war eine Gemeinheit von mir, daß ich das gesagt habe. Meine Mutter muß selbst beinahe betteln gehen . . . Ich habe gelogen, um nicht aus der Wohnung gejagt und um weiter beköstigt zu werden«, sagte Raskolnikow laut und deutlich.

»Ja, da hast du ganz vernünftig gehandelt. Das Malheur war nur, daß sich da auf einmal ein Herr Tschebarow, Hofrat und Geschäftsmann, einmischte. Ohne ihn hätte Paschenjka gegen dich keine Schritte getan; sie ist ja sehr schüchtern. Na, aber ein Geschäftsmann ist nicht schüchtern, und das erste, was er tat, war natürlich, sie zu fragen, ob Aussicht vorhanden sei, daß der Schuldschein bezahlt würde. Es wurde ihm geantwortet, dazu sei allerdings Aussicht vorhanden; denn es existiere da so eine liebe Mama, die mit ihrer Pension von hundertfünfundzwanzig Rubeln ihrem Rodja schon aus der Klemme helfen werde und wenn sie auch selbst darüber hungern müßte, und dann existiere da auch noch so eine gute Schwester, die sich für ihren Bruder in die Leibeigenschaft begeben würde. Darauf baute er nun seinen Plan . . . Warum wirst du denn so zapplig? Ich habe jetzt deine intimsten Geheimnisse erfahren, Bruder; das kommt davon, daß du gegen Paschenjka so offenherzig warst, als du noch mit ihr auf verwandtschaftlichem Fuße standest. Ich sage dir das alles jetzt, weil ich es mit dir gut meine . . . Ja, so geht das: ein ehrlicher, gefühlvoller Mensch redet offenherzig alles heraus, und so ein Geschäftsmann hört es, nutzt es aus und richtet den Betreffenden zugrunde. Sie überließ also diesen Schuldschein, unter der Fiktion, als habe er ihn ihr abgekauft, diesem Tschebarow, und der leitete ungeniert in regulärer Form die Eintreibung ein. Ich hatte, als ich das alles erfuhr, vor, bloß so zur Beruhigung meines Gewissens auch ihm etwas von dem bewußten elektrischen Strome zukommen zu lassen; aber gerade damals bildete sich zwischen mir und Paschenjka ein so schönes, harmonisches Verhältnis heraus, und so sorgte ich denn dafür, daß der weitere Verlauf der Sache gehemmt wurde, und zwar durch Verstopfung der Quelle, indem ich mich dafür verbürgte, daß du zahlen würdest. Ich habe für dich Bürgschaft geleistet, Bruder, hörst du wohl? Wir ließen also Herrn Tschebarow kommen, warfen ihm zehn Rubel in den Rachen, ließen uns den Schuldschein zurückgeben, und so habe ich denn die Ehre, ihn dir zu überreichen; man schenkt jetzt deinem bloßen Worte vollkommenes Vertrauen. Nimm ihn; ich habe ihn ordnungsmäßig eingerissen.«

Rasumichin legte den Schuldschein auf den Tisch; Raskolnikow warf einen Blick darauf und drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, nach der Wand zu. Das war selbst Rasumichin zuviel.

»Ich sehe, Bruder«, begann er nach einer kleinen Pause wieder, »daß ich es wieder mal recht ungeschickt gemacht habe. Ich hoffte, dich zu zerstreuen und durch mein Geschwätz aufzuheitern; aber wie es scheint, habe ich dir nur die Galle aufgeregt.«

»Also das bist du gewesen, den ich im Fieber nicht erkannt habe?« fragte Raskolnikow, gleichfalls nach einer kleinen Pause und ohne den Kopf umzudrehen.

»Freilich, und du gerietest sogar deswegen in Wut, namentlich als ich einmal Sametow mit herbrachte.«

»Sametow? Den Sekretär? Wozu?«

Raskolnikow drehte sich schnell um und heftete die Augen fest auf Rasumichin.

»Aber was hast du denn? Warum regst du dich so auf? Er wollte dich gern kennenlernen; er selbst sprach den Wunsch aus, weil ich so viel mit ihm über dich gesprochen hatte . . . Von wem hätte ich denn sonst so viel über dich erfahren können? Er ist ein prächtiger Mensch, Bruder, ein ganz famoser Mensch, . . . in seiner Art selbstverständlich. Wir sind jetzt Freunde und kommen fast alle Tage miteinander zusammen. Ich bin ja in dieses Revier gezogen. Weißt du das noch nicht? Eben erst bin ich mit meinem Umzug fertig geworden. Bei Lawisa bin ich auch schon ein paarmal mit ihm gewesen. Erinnerst du dich an Lawisa, Lawisa Iwanowna?«

»Habe ich phantasiert?«

»Na, und wie! Du wußtest ja gar nichts von dir.«

»Worüber habe ich phantasiert?«

»Eine schnurrige Frage! Worüber du phantasiert hast? Na, worüber man eben im Fieber so phantasiert. . . Aber jetzt, Bruder, wollen wir keine Zeit mehr vergeuden, sondern ans Werk gehen.«

Er stand vom Stuhle auf und griff nach seiner Mütze.

»Worüber habe ich phantasiert?«

»Er läßt nicht locker! Bist du besorgt wegen eines Geheimnisses? Da kannst du dich beruhigen; von einer Gräfin hast du nichts gesagt. Aber von einer Bulldogge, von Ohrgehängen und Kettchen, von der Krestowskij-Insel, von einem Hausknecht, von dem Revieraufseher Nikodim Fomitsch und seinem Gehilfen Ilja Petrowitsch hast du viel gesprochen. Ferner bekundetest du ein außerordentliches Interesse für deinen werten Strumpf. Du jammertest immer: ›Gebt mir doch meinen Strumpf!‹ Sametow suchte persönlich in allen Ecken deine Strümpfe zusammen und überreichte dir mit seinen höchsteigenen wohlparfümierten, beringten Händen diesen wertlosen Trödel. Da erst beruhigtest du dich und hieltest das schmutzige Zeug einen ganzen Tag lang in der Hand; es war keine Möglichkeit, es dir wegzunehmen. Wahrscheinlich hast du es auch jetzt noch irgendwo unter der Bettdecke liegen. Und dann batest du noch um Hosenfransen, und was hast du dabei für Tränen vergossen! Wir versuchten herauszubringen, was das für Fransen sein sollten; aber es war nicht daraus klug zu werden . . . Aber nun ans Werk! Hier sind fünfunddreißig Rubel; davon nehme ich zehn mit und werde so in etwa zwei Stunden darüber Rechenschaft ablegen. Inzwischen will ich auch Sossimow benachrichtigen, der übrigens auch ohnedies schon längst hier sein müßte; denn es ist elf durch. Du aber, Nastenjka, sieh nur, während ich weg bin, recht oft hier nach, ob er zu trinken haben will oder sonst etwas wünscht. Und Paschenjka werde ich gleich selbst das Erforderliche sagen. Auf Wiedersehen!«

»Paschenjka nennt er sie! Ach, du geriebener Patron du!« rief Nastasja hinter ihm her; dann öffnete sie die Tür und horchte, konnte ihrer Neugier aber doch nicht widerstehen und lief selbst hinunter.

Es war ihr doch gar zu interessant, zu erfahren, was er da mit der Wirtin spräche; und überhaupt lag es auf der Hand, daß sie von Rasumichin ganz entzückt war.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als der Kranke die Bettdecke von sich warf und wie von Sinnen aus dem Bette sprang. Mit brennender, krampfhafter Ungeduld hatte er darauf gewartet, daß die beiden weggingen, um dann sofort, von ihrer Anwesenheit befreit, sich ans Werk zu machen. Aber an was für ein Werk denn? fragte er sich jetzt. Hatte er es denn nun gerade in diesem Augenblicke wieder vergessen?

›O Gott, sage mir nur dies eine: wissen sie schon alles, oder noch nicht? Aber wenn sie nun wirklich schon alles wissen und sich nur verstellen und ihr Spiel mit mir treiben, während ich daliege, und dann plötzlich hereintreten und erklären, daß ihnen alles schon längst bekannt sei und daß sie nur so getan hätten . . . Was mußte ich doch jetzt tun? Daß ich es auch gerade jetzt vergessen habe! Eben wußte ich es noch, und nun auf einmal habe ich es vergessen!‹

Er stand mitten im Zimmer und sah sich in qualvoller Ungewißheit um; er ging zur Tür, öffnete sie und horchte hinaus; aber das war nicht das, was er gewollt hatte. Plötzlich, als wenn es ihm nun eingefallen wäre, stürzte er zu der Ecke hin, wo sich in der Tapete die Höhlung befand, besah alles prüfend, steckte die Hand in die Höhlung und suchte darin herum; aber auch das war nicht das Richtige. Er ging zum Ofen, machte ihn auf und stöberte in der Asche umher: die Fransen von der Hose und die Fetzen der herausgerissenen Tasche lagen noch ebenso da, wie er sie damals hineingeworfen hatte; also hatte dort niemand nachgesehen. Hierbei fiel ihm der Strumpf ein, von welchem Rasumichin soeben erzählt hatte. Richtig, da lag er auf dem Sofa, unter der Bettdecke; er war schon derartig beschmutzt, daß Sametow sicher nichts daran hatte sehen können.

›Ha, Sametow! . . . Das Polizeibureau! . . . Aber warum bestellt man mich auf das Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Ach, . . . ich bringe das ja durcheinander: daß ich da hinbestellt wurde, das war ja damals! Den Strumpf habe ich auch schon damals nachgesehen; aber jetzt . . . jetzt bin ich krank gewesen. Warum ist aber Sametow hierhergekommen? Warum hat Rasumichin ihn mitgebracht?‹ murmelte er, ganz schwach vor Aufregung, und setzte sich wieder auf das Sofa. ›Wie steht es denn? Sind das immer noch Fieberphantasien bei mir, oder ist es Wirklichkeit? Doch wohl Wirklichkeit . . . Ach, jetzt fällt mir ein, was ich wollte: fliehen! So schnell, wie nur möglich, fliehen, fliehen unter allen Umständen! Ja . . ., aber wohin? Und wo sind denn meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da! Die haben sie mir weggenommen und versteckt! Nun verstehe ich alles! Aber da liegt der Paletot – den haben sie übersehen! Da liegt auch Geld auf dem Tische, Gott sei Dank! Und da ist auch der Schuldschein . . . Ich will das Geld nehmen und fortgehen; ich miete mir eine andre Wohnung, dann werden sie mich nicht finden! Ja, aber das Meldeamt? Sie werden mich doch finden; Rasumichin findet mich bestimmt. Das beste ist, ganz und gar davonzugehen . . . weit weg . . . nach Amerika, . . . dann können sie mir nachpfeifen! Den Schuldschein nehme ich auch mit, . . . der kann mir da noch gute Dienste leisten . . . Was soll ich sonst noch mitnehmen? Sie denken, ich bin krank. Sie wissen nicht, daß ich gehen kann, ha-ha-ha! . . . Ich habe es ihnen an den Augen angemerkt, daß sie alles wissen! Wenn ich nur erst die Treppe hinunter wäre! Aber wenn sie nun da Wachen stehen haben, Polizisten? Was ist das hier? Tee? Und da ist auch noch Bier übriggeblieben, eine halbe Flasche, das ist schön kühl!‹

Er ergriff die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank sie mit dem größten Genusse, ohne abzusetzen, aus, als ob er in seiner Brust ein Feuer löschen wolle. Aber es war kaum eine Minute vergangen, da stieg ihm das Bier in den Kopf, und ein leises, jedoch nicht unangenehmes Frösteln lief ihm den Rücken hinunter. Er legte sich hin und zog die Bettdecke über sich herüber. Seine ohnehin schon krankhaften und zusammenhanglosen Gedanken verwirrten sich immer mehr, und bald überkam ihn eine leichte, angenehme Schläfrigkeit. Mit einem Wonnegefühl suchte er sich auf dem Kissen mit dem Kopfe eine recht bequeme Stelle aus, wickelte sich fester in die weiche, wattierte Decke ein, die er jetzt statt des zerrissenen Mantels über sich liegen hatte, seufzte leise und versank in einen tiefen, festen, heilsamen Schlaf.

Er erwachte, als er hörte, daß jemand zu ihm kam, öffnete die Augen und erblickte Rasumichin, der die Tür weit aufgemacht hatte und auf der Schwelle stand, noch unschlüssig, ob er eintreten sollte oder nicht. Raskolnikow richtete sich schnell auf dem Sofa auf und sah ihn an, wie wenn er sich an etwas zu erinnern suchte.

»Ah, du schläfst nicht mehr; nun also, da bin ich wieder! Nastasja, bring das Bündel her!« rief Rasumichin nach unten. »Gleich sollst du Rechenschaft erhalten.«

»Was ist die Uhr?« fragte Raskolnikow, unruhig umherblickend.

»Du hast ein ordentliches Schläfchen gemacht, Bruder: es wird schon Abend; etwa sechs ist es. Über sechs Stunden hast du geschlafen.«

»O Gott, was habe ich da getan!«

»Aber was ist denn dabei? Das macht dich gesund! Wohin hast du es denn so eilig? Wohl zu einem Rendezvous? Wir können ja jetzt über unsre Zeit ganz nach Belieben verfügen. Ich habe schon drei Stunden lang auf dich gewartet und bin schon ein paarmal hier gewesen; aber immer schliefst du. Bei Sossimow habe ich auch zweimal vorgesprochen: er war nicht zu Hause. Na, das tut nichts; er wird schon kommen. In meinen eigenen Angelegenheiten habe ich auch noch allerlei Gänge gemacht. Ich bin ja heute umgezogen und jetzt glücklich damit fertig; ich wohne mit meinem Onkel zusammen. Mein Onkel ist doch jetzt bei mir . . . Na, aber jetzt an unser Geschäft! Gib mal das Bündel her, Nastasja. Nun wollen wir gleich mal sehen. Wie fühlst du dich denn, Bruder?«

»Ich bin gesund; ich bin nicht krank . . . Rasumichin, bist du schon lange hier?«

»Ich sage dir ja: ich warte schon drei Stunden lang.«

»Nein, ich meine: vorher!«

»Was soll das heißen: vorher?«

»Seit wann kommst du hierher?«

»Ich habe es dir ja doch vorhin erzählt; oder erinnerst du dich nicht?«

Raskolnikow dachte nach. Was vorhin geschehen war, schwebte ihm nur ganz unklar vor. Er war nicht imstande, sich allein zu besinnen, und blickte Rasumichin fragend an.

»Hm!« sagte der. »Das hast du vergessen. Ich hatte schon vorhin den Eindruck, daß mit dir noch nicht alles in Ordnung ist. Jetzt der Schlaf hat dich in Ordnung gebracht . . . Wahrhaftig, du siehst auch viel besser aus. Bist ein Prachtkerl! Na, nun zum Geschäft! Es wird dir gleich alles wieder einfallen. Sieh mal her, lieber Sohn!«

Er knotete das Bündel auf, das ihm offenbar außerordentlich wichtig war.

»Dies hat mir ganz besonders am Herzen gelegen, Bruder, das kannst du mir glauben. Denn wir müssen dich doch vor allen Dingen erst wieder zum Menschen machen. Also nun los, und zwar von oben an. Siehst du diese schöne Kopfbedeckung?« fing er an und nahm aus dem Bündel eine ganz nette, dabei aber sehr gewöhnliche, billige Mütze heraus. »Erlaube, wir wollen sie dir mal aufprobieren!«

»Später, nachher!« entgegnete Raskolnikow, mürrisch abwehrend.

»Nein, nein, Bruder Rodja, sträube dich nicht; nachher wird es zu spät. Ich würde auch die ganze Nacht nicht schlafen können, weil ich sie ohne Maß nur so aufs Geratewohl gekauft habe. Sie paßt genau!« rief er triumphierend, nachdem er sie ihm aufgesetzt hatte. »Paßt ganz genau, wie auf Bestellung! Der Schmuck des Hauptes, Bruder, ist das allerwichtigste Stück des ganzen Anzuges und bildet in seiner Art eine wertvolle Empfehlung. Mein Freund Tolstjakow sieht sich genötigt, jedesmal seine Kopfbedeckung abzunehmen, wenn er in ein öffentliches Lokal kommt, wo alle andern Leute ihre Hüte und Mützen aufbehalten. Alle denken, er tue das aus serviler Gesinnung; aber der Grund ist ganz einfach der, daß er sich seines Vogelnestes schämt; er geniert sich überhaupt so leicht. Also, Nastenjka, nun sieh mal hier diese beiden Kopfbedeckungen, diesen Palmerston« (er holte aus einer Zimmerecke Raskolnikows verbeulten runden Hut herbei, dem er, Gott weiß warum, den Namen Palmerston beilegte) »und dagegen dieses kostbare Prunkstück! Taxiere einmal, Rodja, wieviel meinst du, daß ich dafür bezahlt habe? Oder du, Nastasjuschka?« wandte er sich an diese, als er sah, daß Raskolnikow schwieg.

»Zwanzig Kopeken wirst du wohl dafür gegeben haben«, antwortete Nastasja.

»Zwanzig Kopeken, du dumme Trine!« rief er gekränkt. »Für zwanzig Kopeken kriegt man heutzutage nicht einmal so eine Person, wie du bist! Achtzig Kopeken kostet sie! Und auch das nur, weil sie schon getragen ist. Aber es ist noch eine Abmachung dabei: wenn diese abgetragen ist, bekommst du im nächsten Jahre eine andre umsonst, wahrhaftiger Gott! Nun, und jetzt kommen wir zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wie es bei uns im Gymnasium hieß. Ich bemerke im voraus: auf dieses Paar Hosen bin ich stolz!« Er breitete vor Raskolnikow ein Paar graue Beinkleider aus leichtem wollenem Sommerstoff aus. »Kein Löchelchen, kein Fleckchen, vielmehr durchaus passabel, wenn auch schon getragen. Ferner eine ebensolche Weste, in derselben Farbe, wie das die Mode verlangt! Und daß sie schon getragen sind, ist, bei Lichte besehen, sogar ein Vorzug: der Stoff ist dadurch weicher und zarter geworden . . . Weißt du, Rodja, um in der Welt Karriere zu machen, dazu ist meiner Ansicht nach weiter nichts nötig, als daß man immer auf die Jahreszeit aufpaßt; wenn man sich im Januar keinen Spargel geben läßt, so behält man ein paar Rubel mehr im Portemonnaie. Und das trifft auch für diesen Einkauf zu. Jetzt ist Sommersaison; darum habe ich dementsprechend Sommersachen gekauft. Zur Herbstsaison wird ohnehin ein wärmerer Stoff erforderlich sein, und du wirst diese Sommersachen dann ablegen müssen – um so mehr, da sie dir dann sämtlich nicht mehr gut genug sein werden, wenn nicht infolge wachsenden Wohlstandes, so wegen ihrer eigenen Defekte. Nun taxiere! Wieviel meinst du, daß diese beiden Stücke kosten? Zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken! Und wohlgemerkt: wieder mit der vorhin erwähnten Abmachung; wenn du sie abgetragen hast, bekommst du im nächsten Jahr eine andre Hose und Weste umsonst! Anders werden in Fedjajews Laden Einkäufe überhaupt nicht gemacht: wenn man einmal bezahlt hat, so ist das gleich fürs ganze Leben; denn ein zweites Mal geht man ganz von allein nicht wieder hin. Nun kommen wir zu den Stiefeln – was sagst du zu denen? Man sieht es ihnen ja zwar an, daß sie schon getragen sind; aber ein paar Monate werden sie schon noch halten; denn es ist ausländische Arbeit, ausländische Ware: der englische Gesandtschaftssekretär hat sie vorige Woche auf dem Trödelmarkt verkauft; er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte aber ganz notwendig Geld. Preis: ein Rubel fünfzig Kopeken. Ein guter Kauf, wie?«

»Aber wer weiß, ob sie ihm passen!« bemerkte Nastasja.

»Ob sie ihm passen! Und was ist das hier?« Er zog aus der Tasche einen alten, verkrümmten, ganz mit angetrocknetem Schmutze bedeckten, zerlöcherten Stiefel Raskolnikows. »Ich bin mit einem Muster hingegangen; nach diesem Monstrum hier haben sie die richtige Größe festgestellt. Wir sind mit der größten Gewissenhaftigkeit verfahren. Und in betreff der Wäsche habe ich mit der Wirtin eine Konferenz abgehalten. Hier, erstens drei leinene Hemden mit modernen Einsätzen, und dann hier . . . und hier. Nun hör zu: achtzig Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleidungsstücke, zusammen drei Rubel fünf Kopeken; einen Rubel fünfzig die Stiefel – sie sind aber auch wirklich etwas Vorzügliches –, zusammen vier Rubel fünfundfünfzig Kopeken; fünf Rubel die ganze Wäsche – wir haben nämlich einen abgerundeten Gesamtpreis gemacht –, zusammen genau neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Du bekommst also noch fünfundvierzig Kopeken heraus; habe die Güte, diese Summe hier in Empfang zu nehmen. Somit, Rodja, bist du jetzt wieder vollständig equipiert; denn deinen Paletot kannst du meines Erachtens noch eine ganze Weile tragen; ja, er macht sogar einen hervorragend anständigen Eindruck; man merkt doch gleich, wenn so ein Stück bei Scharmer gearbeitet ist. Was Strümpfe und andere Requisiten anlangt, so überlasse ich das dir selbst; an Geld haben wir noch fünfundzwanzig Rubelchen zur Verfügung. Wegen Paschenjka und der Wohnungsmiete brauchst du dich nicht zu beunruhigen; ich habe dir schon gesagt: du erfreust dich jetzt eines unbegrenzten Kredits. Jetzt aber erlaube mal, Bruder, daß wir dir die Wäsche wechseln; sehr möglich, daß die Krankheit jetzt nur noch im Hemde steckt.«

»Laß mich! Ich mag nicht!« wehrte Raskolnikow ab, der Rasumichins absichtlich humoristisch gefärbten Bericht über den Kleiderkauf nur widerwillig mit angehört hatte.

»Nein, Bruder, das geht nicht; wozu hätte ich mir denn dann die Stiefelsohlen abgelaufen!« rief Rasumichin, hartnäckig auf seinem Verlangen bestehend. »Nastasjuschka, geniere dich mal nicht, sondern hilf mir – da, so!«

Und trotz Raskolnikows Widerstand wechselte er ihm die Wäsche. Dieser ließ sich auf das Kopfkissen zurücksinken und redete mehrere Minuten lang kein Wort.

›Die werden mich so bald noch nicht in Ruhe lassen!‹ dachte er.

»Von was für Geld ist denn das alles gekauft?« fragte er endlich, blickte aber dabei nach der Wand.

»Von was für Geld? Na, so was! Von deinem eigenen Gelde. Vorhin war doch der Kontorist hier; Wachruschin hat es überwiesen; deine Mutter hat es dir geschickt; hast du das auch schon wieder vergessen?«

»Jetzt erinnere ich mich . . .«, erwiderte Raskolnikow nach langem, finsterem Nachdenken.

Rasumichin runzelte die Stirn und blickte ihn beunruhigt an.

Die Tür ging auf, und es trat ein großer, stämmiger Mann ein; Raskolnikow meinte, er müsse ihn früher schon gesehen haben.

»Sossimow! Na, endlich!« rief Rasumichin erfreut.


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