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Es würde schwer sein, genau die Ursachen anzugeben, die in Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe den Plan zu diesem sinnlosen Gedächtnismahle hatten entstehen lassen. In der Tat waren darauf fast zehn Rubel von den mehr als zwanzig verwendet worden, die sie von Raskolnikow, eigentlich zu Marmeladows Beerdigung, erhalten hatte. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für ihre Pflicht dem Verstorbenen gegenüber, sein Andenken »in angemessener Form« zu ehren, damit alle Mitbewohner und ganz besonders Amalia Iwanowna zu der Erkenntnis kämen, daß er »nicht nur nicht geringer als sie, sondern sogar vielleicht etwas weit Besseres« gewesen sei und daß niemand von ihnen ein Recht habe, über ihn die Nase zu rümpfen. Möglicherweise hatte am allermeisten dazu jener besondere Stolz armer Leute beigetragen, welcher bei gewissen herkömmlichen Feierlichkeiten, die nach unsrer ganzen Lebensordnung nun einmal für alle und jeden obligatorisch sind, gar manchen armen Tropf veranlaßt, mit Aufbietung der letzten Kräfte großzutun und die letzten gesparten Groschen dranzuwenden, um nur »nicht schlechter als andre« zu sein und um nur nicht von jenen andren »ins Gerede gebracht« zu werden. Auch wünschte Katerina Iwanowna wahrscheinlich gerade bei diesem Anlasse und gerade in diesem Augenblicke, wo sie anscheinend von aller Welt verlassen war, allen diesen »niedrigstehenden, abscheulichen Mitbewohnern« zu zeigen, daß sie sich nicht nur auf gute Lebensart verstehe und Gäste zu bewirten wisse, sondern ihrer Herkunft nach überhaupt nicht für ein solches Los bestimmt sei, daß sie vielmehr »in dem vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause eines Beamten im Range eines Obersten« ihre Jugend verlebt habe und ganz und gar nicht dazu erzogen sei, selbst den Fußboden zu fegen und in der Nacht zerlumptes Kinderzeug zu waschen. Von solchen Anfällen eines törichten Stolzes und einer sinnlosen Prunksucht werden manchmal gerade ganz arme, tiefgebeugte Leute heimgesucht, und es wird dadurch mitunter bei ihnen ein geradezu krankhaftes, unwiderstehliches Verlangen erregt. Übrigens gehörte Katerina Iwanowna gar nicht zu diesen Tiefgebeugten: die äußeren Umstände konnten ihr wohl den Tod bringen, nicht aber sie seelisch beugen, das heißt sie einschüchtern und zur Unterordnung unter einen fremden Willen zwingen. Außerdem sagte Sonja von ihr nicht ohne Grund, daß ihr Geist gestört sei. Ein bestimmtes, abschließendes Urteil war ja zwar darüber noch nicht möglich; aber immerhin hatte in letzter Zeit, im ganzen letzten Jahre, ihr armes Hirn zu viel Qualen auszustehen gehabt, als daß es nicht dadurch einigen Schaden hätte erleiden müssen. Auch trägt, wie die Ärzte sagen, eine stark vorgeschrittene Schwindsucht zur Störung der geistigen Fähigkeiten bei.
Mehrere Weine, verschiedene Sorten Wein waren nicht vorhanden, auch kein Madeira; das war von Lushin eine Übertreibung gewesen; aber Wein war da. Auf dem Tische stand Branntwein, Rum und Lissabonner Wein, alles von schlechtester Qualität, aber in ausreichender Menge. An Speisen waren außer Kutja drei oder vier Gerichte vorhanden, darunter auch Pfannkuchen, alles aus der Küche der Wirtin Amalia Iwanowna; außerdem waren zwei Samoware zugleich aufgestellt, da es nach dem Essen Tee und Punsch geben sollte. Die Einkäufe hatte Katerina Iwanowna selbst mit Hilfe eines andern Mieters besorgt, eines verkommenen kleinen Polen, der, weiß Gott warum, bei Frau Lippewechsel wohnte. Dieser hatte sich sofort bereit erklärt, für Katerina Iwanowna die erforderlichen Gänge zu machen, und war nun den ganzen vorangegangenen Tag und den ganzen Vormittag dieses Tages, so sehr er nur konnte und mit hängender Zunge, herumgelaufen, wobei er sich anscheinend besondere Mühe gab, seinen Eifer bemerklich zu machen. Wegen jeder Kleinigkeit war er alle Augenblicke zu Katerina Iwanowna gerannt; sogar nach dem Basar war er ihr nachgelaufen, um etwas zu fragen; dabei hatte er sie fortwährend »Frau Fähnrich« genannt und war ihr schließlich auf die Nerven gefallen, obwohl sie anfangs gesagt hatte, daß sie ohne diesen dienstfertigen und edeldenkenden Menschen rein verloren wäre. Das lag nun einmal in ihrem Charakter: den ersten besten Menschen, mit dem sie zu tun hatte, schmückte sie mit den schönsten, hellsten Farben aus, lobte ihn so, daß mancher sich sogar darüber beschämt fühlte, ersann zu seinem Lobe allerlei Dinge, die gar nicht existierten, und glaubte selbst vollkommen ehrlich und aufrichtig an deren Vorhandensein; und dann auf einmal wich die Verblendung, sie brach die Beziehungen ab und stieß mit allen Zeichen der Verachtung eben den Menschen von sich, den sie noch wenige Stunden vorher mit Liebenswürdigkeiten überschüttet hatte. Von Natur besaß sie einen heiteren, fröhlichen, friedfertigen Charakter; aber infolge der ununterbrochenen Unglücksfälle und Mißgeschicke hatte sie angefangen, mit einem wahren Ingrimm zu wünschen und zu fordern, alle Menschen möchten in Frieden und Freude leben und sich nicht erdreisten, es anders zu machen, und der geringfügigste Mißklang im Leben, das kleinste Mißgeschick versetzten sie sofort in sinnlose Wut, und nachdem sie unmittelbar vorher sich den schönsten Hoffnungen und Träumereien hingegeben hatte, verfluchte sie dann ihr Schicksal, zerriß und zerschlug alles, was ihr in die Hände kam, und rannte mit dem Kopfe gegen die Wand. So hatte auch Amalia Iwanowna plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine außerordentliche Bedeutung erlangt und sich ihre Hochachtung erworben, wohl einzig und allein deshalb, weil dieses Gedächtnismahl in Aussicht genommen war und Amalia Iwanowna sich von ganzem Herzen bereit erklärt hatte, bei der gesamten Zurüstung mitzuhelfen: sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken, Wäsche, Geschirr, alles, was sonst noch nötig war, zu leihen und das Essen in ihrer Küche zuzubereiten. Katerina Iwanowna hatte ihr weitgehendste Vollmacht erteilt, ihr alles überlassen und war nach dem Kirchhof gegangen. Und wirklich war alles in denkbar bester Weise hergerichtet: auf dem Tische lag ein sauberes Tischtuch; das Geschirr, die Gabeln, Messer, Gläser, Tassen, all das sah ja freilich sehr buntscheckig aus, es war von verschiedenem Muster und verschiedener Größe, da es von verschiedenen Mietern zusammengeborgt war; aber alles war zur bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalia Iwanowna, die sich bewußt war, ihre Sache sehr gut gemacht zu haben, begrüßte die Heimkehrenden sogar mit einem gewissen Stolze. Sie hatte sich sehr fein gemacht: sie trug eine Haube mit neuen Trauerbändern und ein schwarzes Kleid. Aber dieser Stolz, so wohlberechtigt er war, erregte doch Katerina Iwanownas Mißfallen: »Wahrhaftig, gerade als ob wir ohne Amalia Iwanowna nicht einmal verstanden hätten, den Tisch zu decken!« Auch die Haube mit den neuen Bändern mißfiel ihr: »Dieses dumme deutsche Frauenzimmer ist wohl am Ende gar noch stolz darauf, daß sie die Wirtin ist und sich aus Gnade und Barmherzigkeit herbeigelassen hat, ihren armen Mietern zu helfen? Aus Gnade und Barmherzigkeit! Na, da muß ich doch bitten! Bei meinem Papa, der im Range eines Obersten stand und beinahe Gouverneur war, wurde manchmal für vierzig Personen gedeckt, und so ein Weibsbild wie Amalia Iwanowna oder, richtiger gesagt, Ludwigowna hätte man da nicht einmal in die Küche hineingelassen.‹ Indes nahm sich Katerina Iwanowna vor, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zum Ausdruck zu bringen, wiewohl sie im Herzen fest entschlossen war, dieser Amalia Iwanowna unbedingt heute noch gehörig die Meinung zu sagen und ihr ihre Stellung zum Bewußtsein zu bringen, damit sie sich nicht womöglich noch Gott weiß was einbildete; vorläufig beschränkte sie sich darauf, sie kühl zu behandeln. Auch eine andre Unannehmlichkeit hatte mit dazu beigetragen, Katerina Iwanowna in eine gereizte Stimmung zu versetzen: zu dem Totenamt war von den dazu eingeladenen Hausgenossen niemand erschienen außer dem kleinen Polen, der es sogar nicht unterlassen hatte, auch nach dem Grabe mit hinzutraben; und zu dem Gedächtnismahle hatten sich von ihnen nur die unbedeutendsten und ärmsten eingestellt, manche davon nicht einmal in nüchternem Zustande, nur so Plebs. Die vornehmeren, besseren Hausgenossen dagegen hielten sich sämtlich wie auf Verabredung fern. Pjotr Petrowitsch Lushin zum Beispiel, wohl der bestsituierte von allen Mietern, war nicht erschienen; und doch hatte noch gestern abend Katerina Iwanowna allen Leuten, das heißt Amalia Iwanowna, Polenjka, Sonja und dem kleinen Polen, erzählt, dieser sehr vornehme, hochherzige Mann, der ganz vorzügliche Verbindungen und ein großes Vermögen besitze, sei ein Freund ihres ersten Mannes gewesen, habe im Hause ihres Vaters verkehrt und habe ihr jetzt versprochen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihr eine ansehnliche Pension zu erwirken. Es sei hier bemerkt, daß, wenn Katerina Iwanowna mit jemandes Verbindungen und Vermögen prahlte, sie das ohne jedes egoistische Interesse, ohne irgendwelche persönliche Spekulation tat, ganz uneigennützig, sozusagen aus überquellender Herzensgüte, nur weil es ihr Freude machte, den Gelobten noch mehr zu verherrlichen und noch großartiger erscheinen zu lassen. Als zweiter nach Lushin, und wahrscheinlich dessen Beispiele folgend, war auch »dieser abscheuliche Schurke Lebesjatnikow« nicht erschienen. Was sich dieser Mensch nur einbildete? Er war doch nur aus Gnade und Barmherzigkeit eingeladen worden, weil er mit Pjotr Petrowitsch in einem Zimmer wohnte und mit ihm bekannt war, so daß es nicht wohl anging, ihn zu übergehen. Nicht erschienen waren auch eine feine Dame und deren Tochter, ein überreifes Mädchen; sie wohnten zwar erst vierzehn Tage bei Amalia Iwanowna, hatten sich aber bereits mehrmals über den Lärm und das Geschrei beklagt, das aus der Marmeladowschen Stube zu ihnen herübertönte, besonders, wenn der Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war. Von diesen Beschwerden hatte Katerina Iwanowna natürlich bereits durch Amalia Iwanowna Kenntnis erhalten, als diese sich mit ihr gezankt und gedroht hatte, die ganze Familie hinauszuwerfen, und aus vollem Halse geschrien hatte, sie belästigten ihr die vornehmen Mieter, denen sie nicht wert seien die Schuhe zu putzen. Katerina Iwanowna hatte sich jetzt absichtlich dafür entschieden, diese Dame und ihre Tochter, ›denen sie nicht wert war die Schuhe zu putzen‹, einzuladen, um so mehr, da dieselben bisher bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig von ihr abgewandt hatten – nun gerade, damit sie zu der Erkenntnis kämen, daß ›man hier edler denke und fühle und sie einlade, ohne der erlittenen Kränkungen zu gedenken‹, und auch damit sie sähen, daß Katerina Iwanowna in ganz anderen Verhältnissen zu leben gewohnt sei. Dies wollte sie ihnen unter allen Umständen bei Tische auseinandersetzen, ebenso auch, daß ihr seliger Papa fast das Amt eines Gouverneurs bekleidet habe; und gleichzeitig wollte sie ihnen andeutungsweise zu verstehen geben, daß kein Anlaß vorliege, sich bei Begegnungen wegzuwenden, und daß ein solches Benehmen überaus dumm sei. Auch der dicke Oberstleutnant, in Wirklichkeit Hauptmann a. D., war nicht gekommen; aber bei ihm war es zweifellose Tatsache, daß er noch vom Vormittag des vorhergehenden Tages völlig betrunken war. Kurz, erschienen waren nur: der kleine Pole; dann ein häßlicher, schweigsamer, übelriechender Kanzlist, mit einem von Pusteln übersäten Gesichte, in fettglänzendem Frack; ferner noch ein tauber und fast blinder alter Mann, der einmal irgendwo bei der Post gedient hatte und den jemand seit undenklichen Zeiten und aus unbekanntem Grunde bei Amalia Iwanowna in Wohnung und Kost unterhielt. Auch hatte sich noch ein betrunkener Leutnant a. D., in Wirklichkeit ein Proviantbeamter, eingestellt; er kam mit sehr unpassendem, lautem Lachen herein und (›denken Sie sich!‹) ohne Weste! Ein anderer Gast setzte sich ohne weiteres an den Tisch, ohne Katerina Iwanowna auch nur zu begrüßen; und schließlich erschien noch ein Individuum, das in Ermangelung andrer Kleider einen Schlafrock anhatte; aber das war nun doch derart unanständig, daß dieser Mensch durch die vereinten Bemühungen Amalia Iwanownas und des Polen schleunigst wieder hinausbefördert wurde. Der Pole hatte übrigens noch zwei andre Polen mitgebracht, die niemals bei Amalia Iwanowna gewohnt hatten und die niemand bisher in der Wohnung jemals gesehen hatte. Alles dies hatte Katerina Iwanowna in eine höchst unangenehme, gereizte Stimmung versetzt. Für wen waren denn schließlich alle diese Vorbereitungen getroffen? Um Platz zu gewinnen, hatte man schon die Kinder nicht an den Tisch genommen, der auch ohnedies schon das Zimmer ausfüllte; sondern es war für sie hinten in einer Ecke auf einem Kasten gedeckt worden, wobei die beiden kleinen auf einem Bänkchen saßen, Polenjka aber als die größte auf sie achtgeben, sie füttern und ihnen ›als Kindern aus guter Familie‹ die Näschen putzen sollte. Kurz, Katerina Iwanowna mußte wohl beim Empfange unwillkürlich eine erhöhte Würde und sogar einen gewissen Hochmut an den Tag legen. Manche musterte sie besonders streng und ersuchte sie dann sehr von oben herab, am Tische Platz zu nehmen. Da sie aber, Gott weiß warum, meinte, an dem Ausbleiben der Nichterschienenen trage Amalia Iwanowna die Schuld, so fing sie auf einmal an, diese äußerst geringschätzig zu behandeln; die letztere bemerkte das sofort und fühlte sich darüber im höchsten Grade pikiert. Ein solcher Anfang ließ kein gutes Ende erwarten. Endlich saß alles am Tische.
Raskolnikow war fast in demselben Augenblicke eingetreten, als sie vom Kirchhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna hatte sich über seine Ankunft ganz außerordentlich gefreut, erstens weil er der einzige »Gebildete« unter allen Gästen war und »bekanntlich in zwei Jahren an der hiesigen Universität eine Professorenstelle erhalten werde«, und zweitens weil er sich sofort in respektvoller Weise bei ihr entschuldigte, daß er trotz seines aufrichtigen Wunsches nicht habe an der Beerdigung teilnehmen können. Sie hatte ihn ordentlich mit Beschlag belegt, ihm am Tische den Platz zu ihrer Linken angewiesen (rechts von ihr saß Amalia Iwanowna), und trotz der steten Unruhe und Sorge, daß die Gerichte nur auch ja richtig herumgingen und alle Gäste hinreichend damit versehen würden, trotz des quälenden Hustens, der sie alle Augenblicke unterbrach und sie zu ersticken drohte und gerade in den letzten zwei Tagen besonders zugenommen zu haben schien, wandte sie sich nun fortwährend an Raskolnikow und schüttete alles, was sich an unangenehmen Empfindungen bei ihr angesammelt hatte, und all ihre gerechte Entrüstung über dieses mißglückte Gedächtnismahl vor ihm aus, wobei die Entrüstung oft von einem sehr heiteren, sehr ungenierten Lachen über die versammelten Gäste, namentlich aber über die Wirtin selbst, abgelöst wurde.
»An allem ist diese Eule schuld. Sie verstehen wohl, wen ich meine: die da, die da!« Dabei wies Katerina Iwanowna durch eine Kopfbewegung nach der Wirtin hin. »Sehen Sie sie nur mal an: sie reißt die Augen auf; sie merkt, daß wir von ihr reden, kann aber nicht verstehen und sperrt nun die Augen weit auf. Pfui, so eine Eule, ha-ha-ha! . . . Kche-kche-kche! Und was bezweckt sie denn eigentlich mit ihrer Haube? Kche-kche-kche! Haben Sie wohl bemerkt, sie möchte gern alle glauben machen, daß sie hier die hohe Gönnerin sei und mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre erweise. Ich hatte sie, in der Meinung, es mit einer anständigen Dame zu tun zu haben, gebeten, mir zu dieser Feier Leute besseren Standes und namentlich die Bekannten des Verstorbenen einzuladen; und nun sehen Sie nur, wen sie mir hergebracht hat: wahre Hansnarren! Mistfinken! Sehen Sie nur den da mit dem unreinen Teint; so ein Rotzkerl! Und diese Polacken . . . ha-ha-ha! Kche-kche-kche! Kein Mensch hat sie je vorher hier zu sehen bekommen; auch ich habe sie noch nie gesehen; nun frage ich Sie: warum sind die hergekommen? Sie sitzen so hübsch brav in einer Reihe nebeneinander! Pan, Sie da!« rief sie auf einmal einem von ihnen zu. »Haben Sie sich auch Pfannkuchen genommen? Langen Sie doch noch zu! Trinken Sie Bier! Mögen Sie keinen Schnaps? Sehen Sie: er ist aufgesprungen und verbeugt sich; sehen Sie nur, sehen Sie nur; die armen Kerle sind gewiß ganz ausgehungert. Na immerzu, mögen sie essen! Wenigstens machen sie keinen Lärm; aber . . . aber . . . allerdings . . . ich bin in Sorge um die silbernen Löffel der Wirtin! . . . Amalia Iwanowna«, wandte sie sich auf einmal ziemlich laut an diese, »wenn Ihnen etwa Ihre Löffel gestohlen werden sollten, so übernehme ich keine Haftung, das sage ich Ihnen im voraus. – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, auf, machte ihm wieder mit dem Kopfe ein Zeichen nach der Wirtin hin und freute sich über ihre witzige Bemerkung. »Sie hat nicht verstanden, sie hat wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit aufgesperrtem Munde da; sehen Sie nur: eine Eule, eine richtige Eule, ein Uhu mit neuen Haubenbändern, ha-ha-ha!«
Hier ging das Lachen wieder in einen unerträglichen Husten über, der fünf Minuten lang anhielt. Auf dem Taschentuche zeigten sich Blutflecke, Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, die roten Flecke auf den Wangen traten schärfer hervor. Schweigend wies sie Raskolnikow das Blut; aber kaum hatte sie sich wieder erholt, so begann sie von neuem, ihm mit außerordentlicher Lebhaftigkeit zuzuflüstern:
»Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, sehr delikaten Auftrag gegeben, diese Dame und ihre Tochter einzuladen; Sie wissen doch, von wem ich spreche? Dabei war ein sehr taktvolles Benehmen, eine besondere Geschicklichkeit erforderlich; aber sie hat es so töricht angegriffen, daß dieses eben von auswärts angekommene dumme Frauenzimmer, diese hochmütige Kreatur, diese unbedeutende Provinzialin, nur weil sie eine Majorswitwe ist – sie ist nämlich hergekommen, um sich eine Pension auszuwirken und die Behörden mit ihren Besuchen zu belästigen; bei ihren fünfundfünfzig Jahren färbt sie sich noch die Augenbrauen und schminkt sich, das ist Tatsache, . . . und eine solche Kreatur hat nicht die Gewogenheit gehabt, zu erscheinen; ja, sie hat sich nicht einmal wegen ihres Ausbleibens entschuldigen lassen, wie das doch in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit erfordert! Ich kann nicht begreifen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist. Aber wo ist Sonja? Wo mag sie hingegangen sein? Ah, da ist sie ja, endlich! Nun, Sonja, wo bist du denn gewesen? Wunderlich, daß du sogar bei der Beerdigungsfeier für deinen Vater so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, gestatten Sie, daß sie neben Ihnen Platz nimmt. Da ist dein Platz, Sonja, . . . lang zu, nimm, was du magst. Nimm von dem Fisch in Gelee; der ist recht gut. Du sollst auch gleich Pfannkuchen haben. Haben die Kinder auch etwas bekommen? Polenjka, habt ihr auch alles? Kche-kche-kche! Nun, schön! Sei recht artig, Lida, und du, Kolja, schlenkere nicht mit den Beinen; sitze, wie es sich für ein anständiges Kind schickt. Was sagst du, Sonja?«
Sonja richtete ihr schnell Pjotr Petrowitschs Entschuldigung aus, wobei sie sich Mühe gab, recht laut zu sprechen, damit es alle hören könnten, und recht gewählte, respektvolle Ausdrücke zu gebrauchen, die sie sich von Pjotr Petrowitsch gemerkt hatte und noch weiter ausschmückte. Sie fügte hinzu, Pjotr Petrowitsch habe ihr besonders aufgetragen, zu bestellen, daß er, sobald es ihm irgend möglich sei, schleunigst herkommen werde, zum Zwecke ungestörter Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten und zum Zwecke von Verabredungen darüber, was sich nun weiter tun und unternehmen lasse usw. usw.
Sonja wußte, daß dies dazu beitragen werde, Katerina Iwanowna zu beruhigen und friedlicher zu stimmen, da es ihr schmeichelte und namentlich ihren Stolz befriedigte. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie kurz begrüßte und mit einem forschenden Blick eine Sekunde lang betrachtete. Die ganze übrige Zeit vermied sie es aber, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien zerstreut, wiewohl sie fortwährend die Augen auf Katerina Iwanownas Gesicht gerichtet hielt, um ihr Dienste zu erweisen. Weder sie noch Katerina Iwanowna waren in Trauerkleidung, da sie keine derartigen Sachen besaßen; Sonja trug ein ziemlich dunkles braunes Kleid und Katerina Iwanowna das einzige, das sie hatte, ein dunkles, gestreiftes Kattunkleid. Die Nachricht über Pjotr Petrowitsch machte sich vorzüglich. Nachdem Katerina Iwanowna sehr würdevoll Sonjas Bericht angehört hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll nach Pjotr Petrowitschs Befinden. Darauf flüsterte sie sofort sehr vernehmlich dem neben ihr sitzenden Raskolnikow zu, daß es einem so angesehenen, wohlsituierten Manne wie Pjotr Petrowitsch allerdings habe peinlich sein müssen, sich in eine so eigenartige Gesellschaft zu begeben, trotz seiner treuen Anhänglichkeit an ihre Familie und seiner alten Freundschaft für ihren Papa.
»Eben deswegen bin ich Ihnen besonders dankbar, Rodion Romanowitsch, daß Sie es nicht verschmäht haben, an meinem Tische einen Bissen zu genießen, trotz dieser Umgebung«, fügte sie ziemlich laut hinzu. »Ich bin aber überzeugt, daß nur die innige Freundschaft, die Sie mit meinem armen verstorbenen Gatten verband, Sie bewogen hat, Ihr Wort zu halten.«
Sie ließ noch einmal einen würdevollen, stolzen Blick um ihre Tafelrunde herumwandern und erkundigte sich plötzlich mit besonderer Sorglichkeit laut über den Tisch hinüber bei dem tauben alten Manne, ob er nicht noch ein Stückchen Braten möge und ob er auch Lissabonner bekommen habe. Der Alte antwortete nicht und konnte lange Zeit nicht begreifen, wonach er eigentlich gefragt wurde, obwohl seine Nachbarn ihn des Spaßes wegen anstießen, er möchte doch antworten. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch steigerte.
»Nein, so ein Tölpel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu man mir den bloß hergebracht hat! Was aber Pjotr Petrowitsch anlangt, so war ich stets von seiner freundlichen Gesinnung überzeugt«, fuhr Katerina Iwanowna, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Der steht natürlich auf einer ganz andern Stufe«, hier wandte sie sich mit lauter Stimme, in scharfem Tone und mit sehr strenger Miene an Amalia Iwanowna, die darüber ganz ängstlich wurde, »auf einer ganz andern Stufe als Ihre beiden neuen Mieterinnen, diese aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren langen Schleppen! Solche Frauenzimmer hätten in dem Hause meines Papas nicht einmal als Köchinnen dienen dürfen, und mein verstorbener Gatte hätte ihnen eine Ehre damit erwiesen, wenn er ihren Besuch entgegengenommen hätte, was eben nur ein Ausfluß seiner unerschöpflichen Herzensgüte gewesen wäre.«
»Trinken, das tat er gern; das liebte er sehr; ganz gehörig hat er getrunken!« rief auf einmal der verabschiedete Proviantbeamte und goß sein zwölftes Glas Schnaps hinunter.
»Das war allerdings eine Schwäche meines verstorbenen Gatten, und sie war allgemein bekannt«, antwortete Katerina Iwanowna sofort auf diese Bemerkung, »aber er war ein guter, edler Mensch, der seine Familie liebte und schätzte; das Unglück war nur, daß er in seiner Gutherzigkeit allerlei verkommenen Subjekten zuviel Vertrauen schenkte und Gott weiß mit wem zusammen trank, mit Leuten zusammen, die nicht wert waren, ihm die Schuhriemen zu lösen. Denken Sie sich, Rodion Romanowitsch, wir haben in seiner Tasche einen Hahn von Pfefferkuchen gefunden. Trotz seiner Betrunkenheit hatte er doch noch an die Kinder gedacht.«
»Einen Hahn? Sagten Sie nicht: einen Hahn?« rief der Proviantbeamte.
Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie war nachdenklich geworden und seufzte.
»Sie meinen gewiß auch wie alle, daß ich zu streng gegen ihn gewesen sei«, fuhr sie, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Aber das ist nicht richtig! Er hat mich hochgeschätzt; außerordentlich hoch hat er mich geschätzt! Er war eine gute Seele! Und wie leid hat er mir manchmal getan! Er saß oft so in einer Ecke da und schaute mich an; so leid tat er mir; ich wäre am liebsten freundlich zu ihm gewesen; aber ich sagte mir: ›Wenn du jetzt freundlich zu ihm bist, betrinkt er sich wieder.‹ Nur durch Strenge war es möglich, ihn einigermaßen davon zurückzuhalten.«
»Ja, ja, manchmal wurde er auch an den Haaren gerissen; das war nichts Seltenes!« schrie der Proviantbeamte wieder und goß noch ein Glas hinunter.
»Manchen Dummköpfen wäre es heilsam, wenn sie nicht nur an den Haaren gerissen, sondern sogar mit dem Besenstiel geprügelt würden. Ich meine damit nicht den Verstorbenen!« erwiderte Katerina Iwanowna scharf.
Die roten Flecke auf ihren Wangen zeichneten sich immer greller ab; ihre Brust atmete schwer. Sie war offenbar nahe daran, eine Skandalszene zu beginnen. Viele kicherten; denen hätte so etwas augenscheinlich das größte Vergnügen gemacht. Sie fingen an, den Proviantbeamten anzustoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Zweifellos wollten sie die beiden aneinanderhetzen.
»Gestatten Sie mir die Frage: was haben Sie damit gemeint?« begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wen . . . sollte das gehen, . . . was Sie soeben bemerkten? . . . Na, übrigens, ich will doch lieber nicht . . . Dummes Zeug! Eine Witwe! So ein armes Tierchen! Ich verzeihe es ihr . . . Ich geb's auf!« Und er griff wieder zum Schnaps.
Raskolnikow saß da und hörte schweigend und voll Widerwillen zu. Die guten Bissen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte, rührte er nur aus Höflichkeit an, nur um sie nicht zu kränken. Er blickte unverwandt Sonja an. Sonja aber wurde immer unruhiger und ängstlicher; sie ahnte, daß dieses Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter immer schlimmer wurde. Sonja wußte unter anderm, daß sie, Sonja, selbst die Hauptursache war, weswegen die beiden kürzlich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in so verächtlicher Weise abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter sich durch die Einladung geradezu beleidigt gefühlt und gefragt habe, wie man ihr denn zumuten könne, ihre Tochter neben »dieses Mädchen« zu setzen. Sonja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine beleidigende Äußerung über sie, Sonja, auf Katerina Iwanowna heftiger wirkte als eine über sie selbst oder über ihre Kinder oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte: ihr als tödliche Beleidigung galt. So sah denn Sonja voraus, daß Katerina Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, »ehe sie nicht diesen hoffärtigen Frauenzimmern würde bewiesen haben, daß sie alle beide usw. usw.« Unglücklicherweise schickte in diesem Augenblicke jemand vom andern Ende des Tisches her an Sonja einen Teller, auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet sofort in Wut und bemerkte laut über den Tisch hinüber, der Übersender müsse wohl ein betrunkener Esel sein. Amalia Iwanowna, die gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge sei, und sich gleichzeitig durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefster Seele gekränkt fühlte, beabsichtigte dem Gespräche eine andre Richtung zu geben und so die unangenehme Stimmung der Gesellschaft zu bessern. Deshalb, und auch um bei dieser Gelegenheit ihre eigene Person in der allgemeinen Achtung steigen zu lassen, begann sie auf einmal ohne äußere Veranlassung zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, »Karl aus der Apotheke«, eines Nachts in einer Droschke gefahren sei; der Kutscher habe ihn ermorden wollen, und Karl habe ihn »serr, serr« gebeten, ihn doch nicht zu ermorden, und habe geweint und die Hände gefaltet, und »erschreckt« und vor Furcht »sei ihm das Herz gebeben«. Katerina Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch lächelnd, Amalia Iwanowna täte besser, keine Geschichten auf Russisch zu erzählen. Diese fühlte sich noch mehr gekränkt und erwiderte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer »beim Gehen seine Hände in Taschen gesteckt«. Die spottlustige Katerina Iwanowna konnte sich nicht mehr halten und brach in ein lautes Gelächter aus, so daß Amalia Iwanowna den letzten Rest von Geduld verlor und sich kaum noch beherrschen konnte.
»Nein, diese Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna wieder Raskolnikow zu; sie war ordentlich lustig geworden. »Sie wollte sagen, er habe immer die Hände in den Taschen gehabt; es klang aber so, als habe er fremde Taschen ausgeräumt, kche-kche! Haben Sie wohl auch schon bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Ausländer in Petersburg, und ganz besonders die Deutschen, die hier bei uns zusammenströmen, ohne Ausnahme dümmer sind als wir? Nun, sagen Sie selbst, kann ein vernünftiger Mensch so erzählen, daß ›diesem Karl aus der Apotheke das Herz gebeben sei‹ und daß er (so eine Rotznase!), statt dem Droschkenkutscher die Hände zu binden, die Hände gefaltet und geweint und sehr gebeten habe? Ach, dieses dumme Frauenzimmer! Sie bildet sich ein, was sie da erzählt, sei furchtbar rührend, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist der betrunkene Proviantbeamte da weit klüger als diese Person. Bei ihm sieht man wenigstens ohne weiteres, daß er ein Liedrian ist und den letzten Rest seines Verstandes durch Trinken ruiniert hat; aber diese Deutschen haben alle so etwas Affektiertes, Ernsthaftes . . . Sehen Sie nur, wie sie dasitzt und die Augen aufreißt. Sie ärgert sich! Sie ärgert sich! Ha-ha-ha! Kche-kche-kche!«
Katerina Iwanowna, die nun sehr vergnügt geworden war, kam auf alles mögliche zu reden und begann unter anderm zu erzählen, wie sie mit Hilfe der erwirkten Witwenpension in ihrer Heimatstadt T . . . ganz bestimmt ein vornehmes Mädchenpensionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Katerina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren, und so erging sie sich denn alsbald in der Ausmalung der verlockendsten Einzelheiten. Auf einmal befand sich in ihren Händen (man wußte gar nicht, woher es so plötzlich gekommen war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verstorbene Marmeladow in der Schenke Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, als er ihm erzählte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Entlassungsfeier aus dem Institut »in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten« den Schleiertanz getanzt habe. Dieses Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwanowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung zur Gründung eines Pensionates nachzuweisen; hauptsächlich aber hatte sie es in der Absicht bereitgehalten, »den beiden aufgedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen« gehörig das Maul zu stopfen, wenn sie zum Gedächtnismahle kämen, und ihnen klar zu beweisen, daß sie »aus einem sehr vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause stamme, die Tochter eines im Oberstenrange stehenden Beamten und jedenfalls etwas weit Besseres sei als so manche abenteuernden Frauenspersonen, von denen es in neuerer Zeit wimmele«. Das Belobigungszeugnis ging sofort unter den betrunkenen Gästen von Hand zu Hand, was Katerina Iwanowna nicht verhinderte, weil darin wirklich en toutes lettres angegeben war, daß sie die Tochter eines Hofrates, Ritters mehrerer Orden, und somit tatsächlich beinahe die Tochter eines im Oberstenrange stehenden Beamten sei. Einmal in Feuer geraten, ging Katerina Iwanowna unverzüglich dazu über, alle Einzelheiten des künftigen schönen, ruhigen Lebens in T . . . zu schildern; sie sprach von den Gymnasiallehrern, die sie auffordern werde, in ihrem Pensionat Unterricht zu erteilen, dann von einem hochangesehenen alten Herrn, einem Franzosen Mangot, bei dem noch Katerina Iwanowna selbst, als sie das Institut besuchte, Französisch gelernt hatte und der auch jetzt noch in T . . . seinen Lebensabend verbringe und gewiß für einen sehr mäßigen Preis an ihrer Anstalt unterrichten werde. Schließlich kam sie auch auf Sonja zu sprechen, die mit ihr zusammen nach T . . . ziehen und ihr dort in allem zur Hand gehen werde. Aber hier prustete auf einmal jemand am Ende des Tisches vor Lachen los. Katerina Iwanowna tat zwar, als wolle sie dieses Lachen aus Verachtung ignorieren, begann aber sofort mit absichtlich lauterer Stimme eine begeisterte Lobrede über Sonjas unzweifelhafte Befähigung, ihr als Gehilfin zu dienen, über ihre Sanftmut, Geduld, Selbstverleugnung, vornehme Gesinnung und Bildung; dabei stand sie auf, klopfte ihr die Wange und küßte sie zweimal auf das herzlichste. Sonja wurde glühendrot; Katerina Iwanowna aber brach plötzlich in Tränen aus und sagte von sich selbst, sie sei eine nervöse, dumme Person, und ihr Nervensystem sei jetzt gar zu sehr angegriffen. Übrigens sei es Zeit, zum Schluß zu kommen, und da das Essen zu Ende sei, solle der Tee gebracht werden. In diesem Augenblick wagte Amalia Iwanowna, höchst verdrossen, daß sie bei der ganzen Unterhaltung nicht zu Worte gekommen war und man ihr gar nicht einmal hatte zuhören mögen, einen letzten Versuch und erlaubte sich, ihren Ärger verhehlend, an Katerina Iwanowna die durchaus vernünftige, geistreiche Bemerkung zu richten, es müsse in dem künftigen Pensionat besondere Aufmerksamkeit auf die reine Wäsche der jungen Mädchen verwandt werden und es sei unbedingt eine tüchtige Dame erforderlich, die ordentlich auf die Wäsche zu achten habe und auch darauf, daß die jungen Mädchen nicht heimlich bei Nacht Romane läsen. Katerina Iwanowna, die tatsächlich sehr abgespannt und müde war und das Gedächtnismahl völlig satt hatte, entgegnete ihr schroff, daß sie Unsinn schwatze und nichts davon verstehe. Die Sorge für die Wäsche sei Sache der Kastellanin und nicht der Vorsteherin eines vornehmen Pensionates, und was ihre Bemerkung über das Romanlesen anlange, so sei diese einfach taktlos, und sie müsse sie ersuchen zu schweigen. Amalia Iwanowna bekam einen roten Kopf und bemerkte bissig, sie habe es nur gut gemeint, und sie habe es immer mit ihr sehr gut gemeint, habe aber schon seit langer Zeit nicht die Miete für die Wohnung erhalten. Katerina Iwanowna fand sofort eine kräftige Erwiderung: Amalia Iwanowna lüge, wenn sie sage, daß sie es gut meine; denn noch gestern, als die Leiche noch auf dem Tische gelegen habe, habe sie ihr wegen der Miete zugesetzt. Darauf bemerkte Amalia Iwanowna ohne jeden inneren Zusammenhang, sie habe in Katerina Iwanownas Auftrag jene beiden Damen eingeladen; aber die Damen seien nicht gekommen, weil sie feine Damen seien und nicht zu unfeinen Damen gehen könnten. Demgegenüber wies Katerina Iwanowna sie nachdrücklich darauf hin, daß sie eine Dreckliese sei und über wahre Feinheit gar kein Urteil habe. Amalia Iwanowna nahm das nicht so hin, sondern erklärte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer beim Gehen die Hände in Taschen gesteckt und immer so gemacht: »Puh, puh!« Und um das Verhalten ihres Vaters anschaulicher zu vergegenwärtigen, sprang Amalia Iwanowna vom Stuhle auf, steckte beide Hände in die Taschen, blies die Backen auf und stieß mit dem Munde unartikulierte Laute aus, die wie »puh, puh« klangen, unter dem lauten Gelächter aller Mieter, welche, in der Hoffnung, daß es zu einer Prügelei kommen werde, Amalia Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall anspornten. Katerina Iwanowna jedoch, der diese alberne Prahlerei zu arg war, rief so laut, daß es alle hörten, Amalia Iwanowna habe vielleicht nie einen Vater gehabt, sondern sei einfach eine versoffne Petersburger Finnin und habe sicherlich früher irgendwo als Köchin gedient, wenn sie nicht noch etwas Schlimmeres gewesen sei. Amalia Iwanowna wurde rot wie ein Krebs und kreischte, das träfe vielleicht auf Katerina Iwanowna zu, daß sie überhaupt keinen Vater gehabt habe; sie selbst aber habe einen Vater gehabt, der aus Berlin gewesen sei und einen ganz langen Rock getragen und immer »puh, puh, puh« gemacht habe. Katerina Iwanowna bemerkte verächtlich, ihre eigene Abkunft sei allen bekannt, und in diesem Belobigungszeugnis stehe gedruckt zu lesen, daß ihr Vater Oberstenrang gehabt habe; Amalia Iwanownas Vater aber, wenn sie überhaupt einen gehabt habe, sei sicherlich ein Petersburger Finne gewesen, der Milch verkauft habe. Das Wahrscheinlichste aber sei, daß sie überhaupt keinen Vater gehabt habe, da bis auf den heutigen Tag niemand wisse, wie Amalia Iwanowna eigentlich mit Vatersnamen heiße: Iwanowna oder Ludwigowna. Da nun aber geriet Amalia Iwanowna vollends in Wut; sie schlug mit der Faust auf den Tisch und kreischte, sie heiße Amalia Iwanowna und nicht Ludwigowna; ihr Vater habe Johann geheißen und sei Bürgermeister gewesen; Katerina Iwanownas Vater dagegen sei überhaupt nie Bürgermeister gewesen. Katerina Iwanowna stand vom Stuhle auf und bemerkte ihr in strengem Tone mit anscheinend ruhiger Stimme, wiewohl sie ganz blaß war und ihre Brust sich heftig hob und senkte: wenn sie sich noch ein einziges Mal erdreiste, ihren Lumpenkerl von Vater mit ihrem Papa auf eine Stufe zu stellen, so würde sie, Katerina Iwanowna, ihr die Haube abreißen und mit Füßen treten. Als Amalia Iwanowna das hörte, fing sie an im Zimmer hin und her zu rennen und schrie aus vollem Halse, sie sei die Wirtin und Katerina Iwanowna solle augenblicklich aus der Wohnung ausziehen. Dann stürzte sie zum Tische und raffte die silbernen Löffel zusammen. Ein gräßlicher Lärm und Skandal entstand; die Kinder fingen an zu weinen. Sonja bemühte sich, Katerina Iwanowna zurückzuhalten, aber als in Amalia Iwanownas Gekreische auch etwas von dem gelben Scheine vorkam, stieß Katerina Iwanowna Sonja von sich und stürzte auf Amalia Iwanowna los, um ihre Drohung betreffs der Haube unverzüglich zur Ausführung zu bringen. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Lushin. Er stand einen Moment still und musterte mit scharfem, prüfendem Blicke die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.