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Drittes Kapitel.

Allmählig löschte der grelle Eindruck dieses Gespräches in der ruhigen Gewohnheit aus, in welcher die junge Frau mit dem Grafen lebte. Chala nahm sich vor einer Erneuerung gut in Acht; Alles war, oder schien, wie es immer gewesen. Die Unschuld Bertha's schwebte gleich einem silbernen Aufgangsnebel über dem Abgrund, an welchem die liebliche Frau mit ihrem Kinde spielte. Chala hatte schon mehr, als einen raschen Blick hinabgeworfen, immer aber unter dem Erschauern seines bessern Selbst sich fortgewandt.

Bertha ahnte nichts – ja, sie hoffte, zutraulich, wie sie an Gott und alles Gute glaubte, heimlich recht heiter auf die Bekehrung des Grafen. Da er Geist hatte, konnte er bei klarer Stimmung unmöglich auf der albernen Behauptung beharren: man könne nur unter gewissen Bedingungen lieben. Die Stimmung allerdings mußte erst klar werden, und unter allen jungen Mädchen der Gegend fand Bertha auch nicht eines gut genug für den anspruchberechtigten Grafen. Jedoch es galt bei ihm noch nicht das Aeußerste – er konnte immer noch etwas harren auf eine Geliebte.

Ein Beweis, daß auch in dem so geschmähten Leben einer kleinen Stadt Leidenschaft so gut möglich sei, wie überall anderswo, kam ihr kurz darauf recht unmittelbar in die Hände. Als sie eines Tages hinuntergehen wollte, um Antonie zu besuchen, kam aus dem Zimmer des jungen Mädchens ein junger Mann, der in einer nahen Mittelstadt Lehrer am Gymnasium und seit einigen Monaten oft in dieses Städtchen gekommen war, angeblich um Verwandte zu besuchen, eigentlich um bei dem Arzte zu sein. Bertha hatte ihn hier kennen gelernt und sich gern mit dem gescheidten jungen Gelehrten unterhalten. Das war er wirklich und dabei in seinem Benehmen von einer stillen geistigen Ruhe, die ein Gespräch mit ihm ordentlich erquicklich machte. Um so mehr überraschte es die junge Frau, ihn heute bleich, in der schrecklichsten Aufregung, die Augen ermattet vom Weinen zu erblicken. Ohne sie zu bemerken, eilte er an ihr, die noch auf der Treppe stand, vorüber, und als das Geräusch seines Gehens aufgehört hatte, vernahm Bertha deutlich, daß auch Antonie drinnen leidenschaftlich weine. Erschrocken kehrte Bertha zurück und hatte einige Tage nicht den Muth, Antonie zu stören, die ihrerseits auch nicht hinaufkam. Als endlich der Arzt wieder bei der jungen Frau erschien, gestand sie ihm was sie gesehen und gehört und befragte ihn dann mit wahrem Antheil an Antonien. Der Arzt meinte: es sei zwar ein Geheimniß, indessen ihr dürfe er es wohl erzählen. Sie erfuhr nun, der junge Gelehrte habe sich vor einem Jahre, unbekannt mit der Gefühlswelt, in halber Gleichgültigkeit verlobt und jetzt erst durch Antonie die Liebe kennen gelernt. Das habe er ihr an jenem Nachmittage gestanden und sie beschworen, sich seiner maßlosen Leidenschaft zu schenken. Antonie jedoch, obgleich durch seine Liebe heftig erschüttert, habe als Bedingung ihrer fortdauernden Achtung gefordert, daß er seine Pflicht gegen seine Braut erfülle, und so sei ein leidenschaftliches Scheiden auf immer geschehen.

Bertha, in ihren feinsten Sympathieen ergriffen, besuchte Antonie nun bald und machte ihr kein Geheimniß daraus, daß sie das ihrige wisse. Antonie bedurfte nur dieser Anregung, um sich der jungen Frau hinzugeben. Das sonst so frische und kräftige Geschöpf war noch in den leidenschaftlichsten Schmerz aufgelöst, der um so mehr rührte, weil es kein selbstsüchtiger war – Antonie hatte den jungen Gelehrten nicht geliebt. Dennoch hätte sie, wäre er frei gewesen, aus Mitleid mit seiner Liebe sich ihm gegeben. Bertha fragte: »und wenn auch Sie Liebe gehabt hätten?« – »Ach,« antwortete Antonie, »ich glaube, da hätte ich Alles gering geachtet, selbst das Glück einer Andern.«

Chala erzählte nie etwas wieder; ihm ein Mittheilung machen, hieß sie in das Meer versenken. Bertha wußte das und benutzte diese einfache und wahre Liebesbegebenheit, um ihre Behauptung ihm gegenüber mit größerem Gewichte zu beweisen. Sie erzählte lebhaft – fast mit Freude; das arme Geschlecht, welches nur vom Lieben glücklich leben kann, ist einmal nicht anders bei aller Gutmüthigkeit; Herzen mögen zu Grunde gehen, erscheint nur die Liebe in ihrer Glut. Chala hörte jedoch ganz kalt zu und sagte, als Bertha erwartend schwieg: »bah, ein Schulmeister!« – »Graf,« rief Bertha aufgereizt, »es ist weit mit Ihnen gekommen, wenn Sie nicht einmal mehr das Menschliche anerkennen.«

»Ich bin bereits weiter gekommen,« antwortete der Graf bitter, »aber Sie haben Recht, eine Aeußerung gleich der meinen ist albern. Ein armer Graf spielt eine höchst lächerliche Gestalt in der Gegenwart. Herzlich wünschte ich, daß ich als ein Schulmeistersohn geboren wäre; da hätte ich mich emporgedrängt. Jetzt, wann werden endlich die Albernheiten von alten Geschlechtern und moosigen Ansprüchen in einer neuen, frischen Gesellschaftsflut untergehen?«

Dieser kalten Aeußerungen ohnerachtet, hatte Chala sich durch Bertha's Erzählung für Antonie interessirt gefühlt, und er benutzte die Gelegenheit, die sich ihm in einer kleinen Gesellschaft bei Bertha bald bot, um mit Antonien ein Gespräch anzufangen, in welchem er das junge Mädchen genauer kennen lernen konnte.

Antonie war ihrer Natur nach offen, und ihre Erziehung, welche Gott allein geleitet, hatte diesen Charakterzug entwickelt. Auch traute sie dem Grafen, seiner Augen wegen, alle mögliche Empfindungsfähigkeit zu, und so kam es, daß er sie nach einer kurzen Gesprächseinleitung in einer unbefangenen Art sich äußern hörte, die ihm von einem weiblichen Munde ganz neu, aber durch ihre Wahrheit auch ganz neu anziehend klang. Es war eine feurige Apotheose der Liebe, d. h. der wirklichen, gottgesandten, wie Antonie sie nannte. Der müsse, meinte Antonie, jedes menschliche Gesetz unterthan sein, denn sie sei göttliches Gebot, und jedes andere Gefühl gering vor ihrer Bahn, die über die Erde hinweg in die Ewigkeit gehe.

Chala glaubte jedoch, Antonie sei nur in der Aussprache, nicht in der Auffassung originell. Er hielt George Sand für ihre Bildnerin und sagte ihr das auch. Antonie antwortete unbefangen: »ich habe von ihr gehört; doch ich kenne sie nicht.« – »Heloise aber doch?« – »Auch nicht.« Chala erzählte ihr die Geschichte Heloisens. »Ja, so eine Liebe meine ich!« rief sie. – »Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mädchen diesen Glauben haben könne, ohne diese beiden Frauen zu kennen;« sprach Chala.

»Diese Frauen sind doch auch nur durch das eigene Gefühl zu diesem Glauben gekommen; also muß es nicht unmöglich sein.«

»Heloise hatte Abälard zum Lehrer, und George Sand ist Französin. Aber ein deutsches Mädchen und noch mehr – ein Mädchen in dem beschränkten Leben, wie das Ihrige immer gewesen – es überrascht mich unsäglich.«

»Ich denke, man kann überall ein Mensch sein.«

»Geben Sie Ihren kräftigen Glauben einem Herzen; dann bin ich glücklich.«

»Ich würde es gern; denn ich wünschte Ihnen das Glück.«

»Sind Sie denn glücklich ohne diese Liebe, die Sie so klar erkennen?«

»Ich bin es. Diese Liebe ist für mich nicht nothwendig. Ich fürchte sie sogar, denn sie könnte mich wohl unaussprechlich glücklich, aber auch ebenso unglücklich machen.«

»Das leere Leben aber – ertragen Sie das?«

»Es ist für mich nicht leer. Meine Liebe zu meinem Vater genügt, um es auszufüllen.«

Chala dachte: »Dieses junge Mädchen hat die Kraft glücklich zu sein – nicht gedankenlos – nein, mit den klarsten, entschiedensten Gedanken, und ich als Mann bin zu schwach dazu.«

Als er allein war, schrieb er in der heftigsten Aufregung: »das Glück – das Glück – o, dieser zauberhafte Ton, der ewig um uns her klingt! Wo hast du dein Glück? frägt der Morgen, der Abend frägt es – die Nacht ruft uns zu: sei doch glücklich – ich verhülle Glückliche so gern! – das Glück! ruft das Leben – das Glück! ich entfliehe schnell. – Das Glück – wo ist es? O, hat einer es gesehen, er soll mir sagen, wohin es entschwebte – ich will es suchen; müßte ich das Kühnste wagen – auf den Höhen und im Abgrunde will ich es suchen. Ich will glücklich sein; ich soll es sein; ich hungere nach Glück – es wird mich sättigen, es wird mich gesund machen, es wird mich selig machen. Meine Thränen verbrennen meine Augen – sie wollen von dir getrocknet sein. O Glück, nur ein Mal, nur ein einziges Mal ruhen, an deine Brust gedrückt! In einem Kusse von dir alles Leben auf ein Mal auf den zitternden Lippen fühlen und dann sterben!«

Dieses Blatt in der Brieftasche ging er um ein Uhr des nächsten Tages in eine der Gesellschaften, wie sie von Zeit zu Zeit die Eleganz des Städtchens und der Umgegend vereinigten. Er wollte Bertha das Blatt geben. Warum? Die Gewährung seines wilden Begehrens lag ja nicht in ihrer Hand. Sie sollte also nur erfahren, wie heftig und hoffnungslos er begehre – sich noch etwas mehr um ihn ängstigen. Es war häßlicher Egoismus; Chala machte allerdings auch keine Ansprüche an Aufopferungsfähigkeit.

Als er jedoch die junge Frau so klar und unschuldig sah, freundlich gegen Alle, während ihr Auge ihm noch anders, innerlicher entgegenkam, als Allen, da beschloß er, das Blatt zu behalten.

Die Gesellschaft währte lange und wurde äußerst langweilig. Man kannte sich gewissermaßen auswendig – das nahe Leben bot keine Gegenstände des Gespräches – Geist und Gedanken waren nur in bescheidenem Maße vorhanden – eine Stunde zog immer langsamer dahin, als die andere, und – zehn Stunden mußten so ausgehalten werden. Bertha hatte eine himmlische Geduld bei dergleichen Gelegenheiten; aber als es heute Abend geworden, war auch sie müde, wie ein Kind, das eine zu große Aufgabe auswendig zu lernen gehabt. Der Graf war, wie gewöhnlich in solchen Gesellschaften höchst unliebenswürdig und erleichterte der jungen Frau ihre Bemühungen durchaus nicht. Erst am Abende näherte er sich ihr, als sie eben an ein Fenster gegangen war, um etwas auszuruhen. Augenblicklich belebte ihr Gesicht sich. »Ich habe Ihnen etwas zu erzählen, das ein neuer Beweis gegen Sie ist,« flüsterte sie eifrig. »Hören Sie nur. Ich begegnete Antonie einige Male in Gesellschaft einer schlanken Frau, in deren Gesicht ein Ausdruck wunderbarer Resignation mir auffiel und mich ansprach. Endlich fragte ich Antonie nach ihr und erfuhr, daß es die Frau des früheren Kämmerers sei, der jetzt am Amte Rendant geworden. Dieser Mann ist ein edler, aber höchst unglücklicher Charakter. Seine Rechtlichkeit geht bis zur Selbstqual. Besonders bei dem Eintritt in eine neue Stellung peinigt er sich mit Gedanken über die Unmöglichkeit rechter Pflichterfüllung. Dieses Mißtrauen in sich selbst ist so groß, daß es ihn in die tiefste Melancholie bringt. In dieser zweifelt er am Leben, an Gott, – läugnet seine Liebe zu der Frau, zu den Kindern, sein ganzes häusliches Glück mit der härtesten Lieblosigkeit ab. Das zu ertragen, ihn in seiner Düsterkeit mit unablässiger Bemühung zu umgeben – das ist die Aufgabe der Frau, welche in deren Erfüllung sich glücklich nennt. Lächeln Sie nicht – sie ist sich bewußt, der Engel des Mannes zu sein, der ohne sie untersinken würde. Darum hat sie auch nur Gedanken für ihn. Kürzlich erbittet sie sich von Antonien viele und schöne Blumen, die er sonst liebt; mit denen schmückt sie sein Zimmer und seinen Schreibtisch. Er kommt und frägt rauh: wozu diese Albernheiten? Du weißt, daß mir Alles gleichgültig ist – Du, die Kinder – daß ich nichts will, als in Ruhe sterben – denkst Du da mich durch elende Blumen zu erheitern? Die Frau behält ihren Muth, und was am rührendsten ist – ihre Kinder empfinden es nicht. Ihnen erhält sie die ganze Unbefangenheit; sie ahnen nichts von der Stimmung des Vaters – von dem Kummer der Mutter. Ist in dieser einfachen Geschichte nicht ächtes Leben – ja die schönste Poesie der Liebesaufopferung?«

Ehe der Graf antworten konnte, wurde draußen die große Retraite geblasen, welche mit einem Choral endet. Es ist dies ein fast religiöser Augenblick in kleinen Städten, wo Militair steht. Bertha unterbrach das Gespräch; sie erwartete den Choral gern schweigend und wollte selbst das Fenster öffnen, um besser hören zu können. Chala erlaubte es nicht. »Es ist zu kühl,« sagte er. Wirklich war eine feuchte, rauhe Herbstluft. Die Scheiben waren davon angelaufen, und durch das belegte Glas blickten nur undeutlich die Lichter aus den Häusern, Die ganze kleine Stadt lag in einem so tiefen Schweigen, daß auch nicht ein Fußtritt hörbar war. Der Choral klang stark und voll durch die düstere Nacht. –

Als er verhallt war, athmete Bertha langsam auf und sah dann den Grafen mit einem Blicke an, der ihre letzte Frage wiederholte. Chala antwortete ihr durch eine andere Frage. »Sie erschöpfen Ihre ganze Beredsamkeit, gnädige Frau, um mich zu dem Glauben an das Glück zu bekehren;« sprach er. »Sind Sie selbst denn glücklich?«

Die junge Frau blickte ihn erstaunt an. »Wie kommen Sie zu dieser Frage?«

»Ein Gläubiger allein darf einen Glauben predigen. Darum wiederhole ich, sind Sie selbst glücklich?«

»Ich bin es allerdings.«

»Sie sind es in dem Besitz Ihres Herrn Gemahls in Ihren unwillkührlichen Ansprüchen? In Ihren geheimsten Ahnungen?«

»Ich bin es. Mein Mann ist ebenso gut, wie er mich liebt – ich habe mein Kind, meine übrige Familie, liebe Freunde – meine Lage ist sorgenfrei –«

»Gnädige Frau, Sie kennen Ihre Güter zu genau. Dem Reichen sind die Einzelnheiten seines Reichthums gleichgültig – er weiß nur, daß er reich ist. Dachten Sie nie daran, das Leben könne reicher sein, als Sie es noch kennen?«

»Es kann gewiß eben so gut reicher sein, wie ärmer; aber ich bin mit meinem Antheil davon zufrieden.«

»Zufrieden kann man auch mit der Armseligkeit sein, aus Pflicht, aus Frömmigkeit. Zufriedenheit ist nicht Glück – Befriedigung allein ist Glück, und Befriedigung giebt nur das Genügende. Genügt Ihnen Ihr Lebensantheil?«

Er faßte sie bei jeder Antwort; es wurde ihr fast bange. Dennoch antwortete sie gesammelt: »Sehnsucht ist in jeder Seele – es ist das die Bürgschaft unseres bessern Daseins. Aber ich sage Ihnen noch einmal: wie wir irdisch glücklich sein können, bin ich es.«

»Fräulein Schenk sagte mir das auch. Ihr glaubte ich es – Ihnen nicht.«

»Also da müßte ich lügen.«

»Es ist eine himmlische Lüge aus Unschuld. Die Erkenntniß aber, die Ihnen noch mangelt, besitze ich, und ich sage Ihnen: Sie sind nicht glücklich.«

»Und was hätten Sie gewonnen, wenn ich es nicht wäre?«

»Eine Gefährtin, und Sie hörten es wohl schon erzählen – das Elend erträgt sich gemeinschaftlich etwas leichter.«

Er endete im Ton der Gesellschaft, aber zugleich magnetisirte er Bertha mit festem Auge. Es war, als wolle er seinen eigenen Geist in sie übergehen lassen. Bertha schwieg beklommen und fuhr fast zusammen, als er ihr ohne eine weitere Aeußerung das Blatt gab, welches er ihr denn doch nicht ersparen mochte. Sie fragte ganz unschuldig: »was ist denn das?« – »Ein Gedichtstoff;« antwortete er.

Die letzten Stunden des Abends drückten noch unsäglich schwer auf der jungen Frau. Als sie endlich gegen Mitternacht ausgekleidet war, fühlte sie, der sonst Aether statt des Blutes in den Adern zu fließen schien, sich matt, gleich einer Blume vor einem Gewitter. Es war ihr lieb, daß Eduard sich noch zu einer unaufschieblichen Arbeit setzte, daß sie noch eine Stunde allein bleiben konnte. Gedankenlos fast stand sie einige Augenblicke mitten im Zimmer – dann entfaltete und las sie das Blatt. Den Augen, die immer so klar waren, entfielen die ersten bittern Thränen; die jungfräuliche Seele zitterte zusammen, als dieser wilde Schrei nach dem Glücke mit seiner Klagegewalt an sie anschlug. Der egoistische Mann hatte an der jungen, schutzlosen Frau nicht edel gehandelt. Es war in Bertha viel unklare Sehnsucht, die nur einer Erhellung bedurfte, um schmerzhaft deutlich zu werden. Bertha hatte sich in der Ehe entwickelt – als Eduard um sie geworben, als sie ihm gut und sein geworden, da war sie ein junges Mädchen gewesen, wie es bei der alltäglichen Erziehung hundert junge Mädchen giebt – eine anmuthige Skizze. Das frauenhafte Leben hatte den leichten Umriß schärfer ausgeführt und mit schönen Farben ausgefüllt. Bertha's eigener Geist hatte, sobald ihm die Erlaubniß zu Gedanken geworden war, sie schöpferisch gebildet. Geistig entfremdete Bertha sich von Eduard, aber mit dem Herzen blieb sie bei ihm, und dieses doppelte Dasein war bis jetzt harmonisch geblieben. Bertha erkannte allerdings ein anderes Leben, als das ihre – ein blühendes Leben, welches der Geist durchdufte, über welchem der Regenbogen der Poesie stehe. Aber sie begehrte dieses Lebens nicht; es war für sie ein Mährchen. Jetzt zum ersten Male fragte sie sich, warum sie nicht zu solchem Glücke geboren sei – warum es ihre Bestimmung gewesen, nie einen Anspruch daran machen zu dürfen. Ein unrechter Gedanke kam nicht in ihr reines Herz; aber der erste Schmerz. Die Einsamkeit, in der sie eigentlich lebte, erschien ihr lang und öde, und die ungeheure Bangigkeit der Nacht kam über sie. Ergreift uns die, dann sind wir verlassene Kinder und möchten zum Vater eilen; aber alle Brücken in den Himmel sind abgebrochen, und auf der Erde ist nichts, als das Grab. Die Liebe selbst tröstet in solchen Augenblicken nicht; Bertha brach in leises, heftiges Weinen aus, als sie sich an dem Bette des Kleinen auf die Kniee warf und das schlummernde Köpfchen ansah. »Warum erziehe ich Dich, mein Engel?« stieß sie unterdrückt hervor. »Damit Du auch uns glücklich werdest, wie Chala es ist – wie ich es noch werden kann?« Ermattet von der ungewohnten Aufregung schlief auch die junge Mutter ein; der Schlaf erquickte sie jedoch nicht: mit blassem Antlitz, immer noch müde, saß sie am andern Morgen am Fenster und sah hinaus auf das kleinliche Leben des Städtchens. Der Anblick, auf den sie sonst gar nicht geachtet, schlug sie heute nieder. Eduard kam zu ihr. »Du sahest gestern im Schlafe ganz traurig aus, Kind; nimm Dir nicht etwa das Mitleid mit Chala gar zu sehr zu Herzen. Er stirbt nicht – glaube mir das nur.« Er lachte lustig; die junge Frau zwang sich ebenfalls zum Lächeln: aber es lag ihr schwer auf der Brust.


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