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Herr Steinhäuser war in großer Unruhe. Er ging mit hastigen, nervösen Schritten im Zimmer auf und ab, blieb stehen und horchte und setzte seinen Marsch fort, während seine Lippen sich bewegten, als halte er Selbstgespräche. Sehr häufig warf er auch einen Blick auf die große Standuhr, deren Zeiger ruckweise vorrückten. Und so oft er dies tat, bewegten sich wieder seine Lippen.
Endlich nahm seine Nervosität derart überhand, daß er zur Tür ging, sie halb öffnete und sehr freundlich, aber mit unverkennbarem Vorwurf hinausrief.
»Aber Amalie, wenn ich jetzt die Eier nicht bekomme, muß ich fort. Es ist schon dreiviertel zehn Uhr.«
»Du siehst doch, daß ich jetzt gerade nicht weg kann,« kam von draußen die ärgerliche Antwort.
»So schick doch die Marianne!«
»Kann noch viel weniger weg! Wenn der Hafner da ist!«
Herr Steinhäuser schüttelte sehr bedenklich den runden Kopf. »Du wirst sehen, Amalie, ich komme nicht mehr recht.«
Die Sache war nämlich so, daß Herr Steinhäuser auf die Reise ging, auf die längst geplante Reise nach dem Süden.
Das war ein Ereignis. Herr Steinhäuser reiste selten, und wenn er reiste, brauchte es die umfassendsten Vorbereitungen. Zum Beispiel fuhr er nie mit der Bahn, ohne nicht vorher einige wachsweiche Eier zu sich zu nehmen, weil er dies für seine Gesundheit unbedingt benötigte.
Er stand schon in seinem neuen Reiseanzuge, fertig und gerüstet, mit Wickelgamaschen an den Beinen und mit einer leichten, grauen flachen Schirmmütze auf dem Kopfe. Auf einem Stuhl lagen in Unordnung einige Kleidungsstücke, da er sich soeben erst umgezogen hatte, und auf einem zweiten Stuhle stand ein umfangreicher Koffer nebst einer kleinen Handtasche.
»Ach Gott,« sagte er laut, da er allein war, aber er war überzeugt, daß man ihn im andern Zimmer hörte, »ich plane seit zehn Jahren eine Reise nach dem Süden und weil dieser Zeitraum so kurz ist, muß der Hafner gerade heute kommen, wenn ich abreisen will!«
Sofort öffnete sich die Tür und Frau Amalie Steinhäuser sah herein. Sie war eine stattliche Frau und trug eine alte, häßliche Morgenjacke, die mit Rußflecken bedeckt war. Auch das Gesicht zeigte Rußflecken, die Wangen und die Nasenspitze. »Sei nicht so ungebärdig,« sagte sie scharf. »Das muß einmal sein mit dem Hafner!«
»Nun meinetwegen, wenn es nicht anders sein kann! Aber was hast denn du mit dem Hafner zu schaffen? Er braucht doch dich nicht zum Ofenrußen?«
»Natürlich! Soll ich den fremden Menschen allein im Zimmer lassen? Und wenn nachher was weg ist, bin ich ja doch allein schuld! …Der Gepäckträger ist ja auch noch nicht da! Und Professor Nußotter wollte doch auch noch kommen?«
»Ja, auf den kann ich auch nicht warten. Wäre er bälder gekommen!«
»Aber um Gottes willen, wir dürfen ihn doch nicht vor den Kopf stoßen! Du weißt doch, wegen der Hedwig?«
»Kann ihm nicht helfen. Übrigens glaube ich noch gar nicht daran. Er sagte ja bloß, ob er mich nicht sprechen könne, er habe etwas auf dem Herzen.«
»Freilich will er die Hedwig,« sagte sie ganz entrüstet über seinen Zweifel, »warum käme er sonst zu uns und was soll solch ein Junggeselle sonst auf dem Herzen haben?«
Herr Steinhäuser runzelte die Stirne. »Um so besser, wenn du recht hast. Dann kannst aber auch du ihn anhören, für Frauen paßt sich das überhaupt besser.«
Frau Amalie überlegte. Schließlich ist es gescheiter, denkt sie, ich lasse ihn reisen, und er ist fort, wenn der Professor kommt. Sonst macht er vielleicht Dummheiten. Die Männer sind sehr ungeschickt in solchen Sachen, man weiß. – »Hast du alles?« Sie unterwarf ihren Gemahl einer kurzen, aber genauen Besichtigung. »Die Krawatte hast du an? Hast du den Schirm? Das Schinkenbrot hast du eingeschoben?«
Herr Steinhäuser schien diese Art, ihn zu bevormunden, übelzunehmen. »Bitte,« sagte er höflich, aber mit einer solchen Höflichkeit, die in Wirklichkeit das Gegenteil ist, »sieh lieber nach den Eiern! Du weißt doch+…«
»Potz Blitz, sie werden schon kommen! Marianne langt schon den Teller herunter.«
Es wäre Unrecht, sich falsche Begriffe von dem Hausfrauentum der Frau Steinhäuser zu machen. Nach dem heutigen Stand der Dinge darf man sie schon gar nicht beurteilen. Unter normalen Verhältnissen ist sie eine tüchtige Frau. Dann ist sie nicht unsauber, trägt regelmäßig morgens um dreiviertel zehn Uhr keine Morgenjacke mehr, sondern ist hübsch ordentlich im Hauskleide und das Frühstück steht immer pünktlich auf dem Tische.
Aber wenn der Gemahl auf die Reise geht, der halbe Morgen mit Packen zugebracht wird, die Zimmer halb ausgeräumt werden müssen, da gleichzeitig der Hafner kommt, um nach den Öfen zu sehen, und dann noch die unentbehrlichen wachsweichen Eier zugerichtet werden sollen, so sind das außerordentliche Verhältnisse.
Trotz alledem kam sie aber damit zustande, denn der Hafnergeselle im nächsten Zimmer konnte ganz deutlich hören, wie der Herr des Hauses in Eile die Eier aufschlug, schimpfte, weil sie nicht wachsweich seien, und wie das Porzellan klirrte.
»Hedwig, komm herunter! Papa geht jetzt!« tönte gleich darauf Frau Amalies Stimme durch das Haus.
Der Abschied von der Familie fiel naturgemäß etwas kurz aus, aber die Hauptsache blieb, daß Herr Steinhäuser noch sehr zeitig fortkam – er pressierte immer unnötig – ohne die wachsweichen Eier entbehren zu müssen.
Nachher steckte Frau Steinhäuser, während der Hafner gerade das Zimmer verließ, um die Rohre auszuklopfen, zufrieden ihren Kopf durch die Türspalte, um zu sehen, ob ihr Mann nicht etwa den Regenschirm stehen ließ, und da sie eine praktische Frau war, die keine Minute vergeudete, trat sie vollends ein, um das Frühstück abzuräumen und Teller und Eierbecher zur Küche zu tragen.
Aber entsetzt blieb sie stehen, als ihr Blick auf den Tisch fiel. – Natürlich, wenn ich nicht überall bin! Wenn ich nicht hinten und vorn bin! …Jetzt hat er seine Uhr liegen lassen, er geht auf die Bahn ohne Uhr!
Sie konnte sich gar nicht ausdenken, wie das ausfallen würde, wenn der Mann ohne Uhr auf die Reise ging! Und vollends ohne solche Uhr, ein Erbstück aus Großvaterszeit, eine solch kostbare Uhr, die mit leisen, feinen Klängen halbe und ganze Stunden schlug, sieben Tage lang ging, ohne daß sie neu aufgezogen werden mußte, das ganze Jahr hindurch nie eine Minute vorging oder zurückblieb, für die ein Kenner schon vierhundert Mark geboten hatte! Daß er ohne diese Uhr selbstverständlich jeden Zug versäumte, jeden Anschluß verpaßte, jede Kontrolle über den Fahrplan verlor, war so sicher, wie zweimal zwei vier ist.
Hastig setzte sie die Teller auf den Tisch und eilte zur Türe hinaus. Draußen hörte man sogleich ihre jammernde Stimme, wie sie die Treppe hinaufrief nach Hedwig, die ihr Zimmerchen oben hatte: »Hedwig! Papa hat seine Uhr liegen lassen! Komm schnell herunter. Du mußt sie ihm auf den Bahnhof nachbringen. Mach schnell, es reicht schon noch!«
Von oben aber kam eine klagende Antwort zurück. »Ich bin ja nicht angezogen. Ich hab' ja nicht einmal Stiefel an!«
»Marianne! Marianne! Schnell, schnell! Springen Sie! Sie müssen auf den Bahnhof, der Herr hat seine Uhr liegen lassen! Machen Sie schnell, bevor der Zug abgeht!«
Aus der Küche ließ sich eine entrüstete Stimme hören. »Ja, so kann ich aber doch nicht fort! Ich bin doch von oben bis unten voll Ruß! Ich muß mich zuvor waschen und umziehen. So kann ich nicht durch die Stadt laufen, das ist einfach unmöglich!«
Nun muß in einem solchen Augenblicke gerade noch Besuch kommen, Besuch, den man nicht abweisen will, da man ihn nicht vor den Kopf stoßen darf, dem gegenüber man sich nicht verleugnen kann, weil er schon auf der Treppe steht und durch die offene Gangtüre hereinsieht, Besuch, der so ungelegen kommt, wie noch nie!
Frau Amalie war in einem Zustande der Bestürzung, der Bedauern erweckte. »Mein Gott, Herr Professor! Ich kann Ihnen ja nicht einmal die Hand geben! Ich bin in einer Verfassung, die nicht mehr schön ist+… Wir haben nämlich den Hafner!«
Jetzt sieht man wohl, daß Frau Amalie nicht schlimm ist. Obgleich ihr dieser Besuch hereingeschneit kommt, so ungeschickt, wie dem Dieb der Galgen, läßt sie es den verlegen lächelnden Mann doch nicht entgelten, der mit abgezogenem Schlapphut, langen, etwas wirren Haaren und ungebügelten Beinkleidern vor ihr steht und der mit seinen vierzig Jahren älter aussieht, als er tatsächlich ist.
Vielmehr führt sie ihn mit größter Liebenswürdigkeit zum Empfangszimmer. »Sie gedulden sich doch einen Augenblick? Entschuldigen Sie mich, bitte, nur eine Minute, Herr Professor! Bis ich mir die Hände gewaschen habe!« Und damit ist sie verschwunden und läßt den Professor allein.
Er hört sie noch kurz darauf die Treppe hinaufrufen: »Hedwig, Hedwig, der Herr Professor ist da.« Hört auch noch die unwillige Antwort von oben: »Aber Mama, ich bin doch nicht angezogen.« Und dann hört er lange Zeit nichts mehr.
Es war allerdings ziemlich mehr als eine Minute verstrichen, bis Frau Amalie zurückkam. Dafür war sie aber auch nicht mehr zu erkennen gegenüber ihrem früheren Aussehen. Sie war nun sorgfältig gewaschen und frisiert, sie hatte ein hübsches, bequemes, sehr reines Morgenkleid angezogen und eine weiße, zierlich gefältelte Vorsteckschleife angeheftet. Sie gab ihrem Gesicht einen gewinnenden, würdigen Ausdruck, entsprechend der Wichtigkeit und Feierlichkeit der kommenden Stunde, und öffnete ihre Lippen zu einem wohlwollenden Lächeln. »Sie entschuldigen doch sehr, Herr Professor, wenn es etwas länger gedauert haben sollte,« sagte sie und trat in das Empfangszimmer.
Vox faucibus haesit. Ihre nächsten Worte gingen in ein Stammeln über. Das wohlwollende Lächeln verschwand schnell und der gewinnende würdige Gesichtsausdruck machte dem des hellen Erstaunens – des Schreckens – oder vielleicht auch der Entrüstung? – Platz.
In erster Linie fühlte sie sich geneigt, an einen Spuk zu glauben und sich zu bekreuzen. – Der Professor war verschwunden.
Unwillkürlich sah sie hinter den großen, dreiteiligen Ofenschirm, weil dieser der einzige Gegenstand war, hinter den sich zur Not ein Mensch verbergen konnte. Dann öffnete sie behutsam und kopfschüttelnd die Türe zum nächsten Zimmer. Aber es war kein Professor Nußotter da.
»Marianne! Marianne!«
Marianne streckte den strubbeligen Kopf zur Küchentüre heraus. Sie war immer noch rußgeschwärzt und offenbar in beträchtlich gereizter Stimmung. Man sah es an der gerunzelten Stirne und den verdrossenen Augen.
»Marianne! Wo ist der Herr Professor?«
»Welcher?« fragt Marianne, so unartig als nur möglich, in einem Tone, als wenn Dutzende von Professoren im Hause wären.
»Welcher! …Der Herr Professor Nußotter ist doch vorhin gekommen. Haben Sie ihn nicht gehört?«
Das Mädchen schürzte die Lippe mit einem deutlichen Ausdruck der Verachtung. »Ach so, der? Der ist gegangen.«
Frau Amalie war fassungslos. »Wieder gegangen? Ja wieso?«
»Was weiß ich?« sagte Marianne grob. »Vielleicht hat's ihm zu lange gedauert. Vielleicht ist er auch nur in Gedanken fort. Er sah so überirdisch aus, als er ging, wie wenn er nicht von dieser Welt wäre!«
»Aber warum haben Sie denn nichts gesagt? Ihn nicht zurückgehalten?«
»Ich? Ja wieso? …Es tut mir sehr leid, aber so wie ich jetzt aussehe, bei der Arbeit, wenn der Hafner da ist, konnte ich mich doch nicht vor einem anständigen Menschen sehen lassen.«
Frau Amalie sah sofort ein, daß mit ihr heute nichts anzufangen war. »Und der Hafner?« fragte sie deshalb bloß noch kurz.
»Ist auch fort!«
»Auch fort? Haben Sie ihn bezahlt?«
»Ich? Ja wieso?«
Frau Amalie ist nahe daran, mit dem Fuße zu stampfen, aber sie hält sich zurück. »Er sagte doch, daß er noch mindestens eine halbe Stunde zu arbeiten habe?«
»Er ist, scheint es, doch bälder fertig geworden!
Frau Amalie würdigte sie keines Blickes mehr, wandte sich um und schmetterte die Tür hinter sich zu, was Marianne nach dem Grundsatze, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, mit heftigem Schließen der Küchentüre erwiderte.
Heute war kein guter Tag in dem Hause Steinhauser am Weinhofe. So nett und freundlich es in der Morgensonne dalag, so friedlich und heimatlich es aussah mit seinem hohen altertümlichen Giebel, in seinem Innern gab es keine Ruhe.
Frau Amalie hatte kaum mit großer Kraft die Tür des Zimmers hinter sich geschlossen, als sie dieselbe schon wieder öffnete.
»Marianne!«
Der Ton ihrer Stimme war derart erregt, daß Marianne es vorzog, auf der Stelle auch ihr eigenes Heim wieder zu öffnen und diesmal nicht nur den oberen Teil ihres Kopfes sehen zu lassen, sondern in ganzer Person herauszukommen.
»Marianne, wo ist die Uhr?«
»Welche Uhr?«
»Des Herrn Uhr!«
Marianne schien sehr erstaunt. »Wie soll ich das wissen, Madame?«
Frau Amalie hörte sie gar nicht weiter an. »Hedwig! Hedwig!« rief sie, daß es durch das geräumige, breite Treppenhaus hallte.
Wie durch Zauber erschien die Gerufene aus der nächsten Tür. Sie schien sich zum Ausgehen angekleidet zu haben und war jetzt endlich fix und fertig und soeben im Begriffe, umständlich den Hut aufzusetzen. Wenigstens trug sie ihn in der Hand und operierte in gefährlicher Weise mit der Hutnadel.
Ein Hoffnungsstrahl leuchtete in Frau Amalies Gesicht auf. »Hedwig, hast du Papas Uhr? Jetzt ist es aber zu spät, der Zug muß schon lange weg sein.«
Fräulein Hedwig schien nicht weniger erstaunt als zuvor Marianne. »Ich? …Ich habe keine Uhr.«
»Papas Uhr, die vorher noch auf dem Tisch im blauen Zimmer lag?«
»Keine Rede! Ich habe sie nicht angerührt.«
»Ich auch nicht,« beeilte sich Marianne zu beteuern.
Frau Amalie fiel vor Schrecken nahezu in Ohnmacht. Ihre Wangen wurden blaß und sie ließ die Arme schlaff am Leibe herabhängen. »Dann ist die Uhr gestohlen,« sagte sie mit Grabesstimme.
Durch Verbrecherhand eine Uhr zu verlieren, die die hübsche Summe von vierhundert Mark wert ist, ist nicht eben eine Kleinigkeit, zumal wenn sie noch durch alte Familienerinnerungen besonders wertvoll ist. Aber noch viel schlimmer als der Verlust ist der Gedanke, daß man den Verbrecher im Hause gehabt hat, und am schlimmsten die Unruhe, wenn man annehmen muß, er sei noch im Hause.
Diese Empfindung hatte auch Frau Steinhauser, als sie jetzt zum zweitenmal sagte: »Es ist kein Zweifel, die Uhr ist gestohlen.«
Gleichzeitig schienen in drei Frauenköpfen drei verschiedene Gedanken aufzutauchen. »Es ist kein anderer als der Hafnergeselle,« sagte Marianne.
»Keine Rede,« sagte schnell Fräulein Hedwig, »der Professor hat sie genommen.«
Frau Amalie aber sagte gar nichts. Jedoch ihr scharfer und auch wieder ängstlicher Blick glitt über Mariannes Gesicht.
Es ist gut, daß Marianne diesen Blick nicht sieht, sonst gäbe es einen entsetzlichen Auftritt. Wie damals, als man die Dose vermißte und sie sich später wiederfand. Ei der Tausend, kaum ist eine Missetat entdeckt und ist man geängstigt, weil man den Täter nicht kennt, und eine Sekunde später hat man schon drei Verdächtige! Das ist entschieden zu viel! Die erste Zeit beschränkte sich Frau Amalie darauf, bald über die Bosheit und Schlechtigkeit der Welt zu jammern und zu klagen, wobei es auch an reichlichen Tränen nicht fehlte, bald über die Niedertracht und Gemeinheit der Menschen mit kräftigen Worten loszuziehen. Nur hatte leider weder das eine noch das andre einen sichtbaren Erfolg, trotzdem ihr Hedwig und Marianne nicht unbeträchtliche Unterstützung in Tränen und Meinungsäußerungen zuteil werden ließen. Die Uhr war und blieb verschwunden.
Als Frau Amalie nach etwa einer Stunde zu der Einsicht gelangte, daß auch durch weiteres Klagen und Schimpfen die Uhr nicht zum Vorschein kommen werde, faßte sie einen plötzlichen Entschluß. »Marianne,« sagte sie, »Sie gehen sogleich auf die Polizei und machen Anzeige. Oder nein« – sie besann sich schnell eines Besseren – »Hedwig, du gehst selbst! Auf der Stelle! …Man soll die Sache untersuchen, genau untersuchen!«
Nun zeigte es sich aber merkwürdigerweise, daß weder Marianne noch Hedwig mit diesem Vorschlage einverstanden waren.
»Ich meine, das sollten Sie doch nicht tun, Madame. Es ist so gruselig, wenn die Herren von der Polizei kommen.«
»Und es macht solches Aufsehen,« warf Hedwig ein.
»Und herauskommen tut in der Regel doch nichts,« begründete Marianne weiter.
»Und vielleicht bringt der Professor die Uhr von selbst wieder,« meinte Hedwig.
Frau Amalie sah unschlüssig von der einen zur andern. Was tun? Man kann doch um Gottes willen die Uhr nicht hin sein lassen? Und was wird der Herr dazu sagen, wenn man ihm schreiben muß, daß die Uhr gestohlen ist, die sein Stolz war und von einem Kenner zu vierhundert Mark geschätzt wurde?
Darauf wußte Marianne etwas Gescheiteres. Daß man die Sache nicht einfach hängen läßt, leuchtete ihr wohl selbst auch ein. »Wenn man den Herrn Schwägerle holen würde?«
»Schwägerle? Wer ist Schwägerle?«
Nun stellte sich heraus, daß Herr Schwägerle ein vermutlich geheimer Rechtsrat und Inhaber eines Detektivinstituts war.
Ob es nicht besser wäre, man wendete sich an einen Rechtsanwalt, schlug Fräulein Hedwig etwas schüchtern vor. Zum Beispiel der neue Rechtsanwalt Doktor Zoller soll sehr geschickt sein, wie man sagt. Dabei errötete Fräulein Hedwig sehr fein.
Frau Amalie warf ihr einen Blick zu. Aber der Gedanke, den Inhaber eines Detektivinstituts beizuziehen, hatte etwas derart Bestechendes für sie und beschäftigte sie so stark, daß sie beschloß, vorläufig die Nachforschung, woher Hedwig ihre Kenntnis schöpfte, für eine spätere Zeit aufzuschieben.
Deshalb richtete sie ihre erste Frage an Marianne. »Woher kennen Sie denn diesen Herrn?«
Nun war es an Jungfer Marianne, zu erröten. »Ach,« sagte sie mit geheuchelter Gleichgültigkeit, »es hat mir einmal jemand von ihm erzählt.«
»So?« In Frau Amalies Augen loderte der frühere glimmende Verdacht zur hellen Flamme auf. »So?« sagte sie nochmals mit starker Betonung. »Sie selbst kennen ihn doch auch?«
Nun aber beteuerte Marianne mit solcher Sicherheit und einem solchen Ausdruck der Wahrheit das Gegenteil, daß Frau Amalie den Verdacht wieder fallen lassen mußte. Man wird ja sehen, dachte sie. Ich habe ja auch meine Augen, und wenn sie unter einer Decke stecken, ist die Polizei immer noch da. Vielleicht soll es gerade so sein und verrechnet sich die Marianne gehörig. Merkwürdig ist und bleibt, daß sie sich so dagegen sträubt, daß man die Polizei holt.
Während sie dies überdachte, begann Marianne Wunder von der Geschicklichkeit des Herrn Schwägerle zu berichten. Ein Herr August Wiedmann hat ihm einmal einen schwierigen Prozeß mit seinem Meister übertragen und Herr Schwägerle hat ihn glänzend gewonnen – man könnte meinen, die Marianne spreche so unaufhörlich, um ihre Verlegenheit zu verdecken – und daß er alles herausbringt, das ist sicher. Auch soll er billiger sein, als die studierten Herren. Ein Studierter ist er nämlich nicht, aber ein Praktiker und ein Mann der Tat, wie man in der Stadt sagt. Und dann kommt die Geschichte doch nicht gleich an die große Glocke, denn Herr Schwägerle kommt in Zivil, aber die Polizei kommt in Uniform. Und wenn Herrn Schwägerle jemand ins Haus kommen sieht, kann er doch meinen, er komme wegen was anderm, da Herr Schwägerle ja auch Rechtsauskünfte gibt, Abschriften liefert und Hausverkäufe vermittelt. Das alles weiß Marianne ins Feld zu führen.
Frau Amalie beginnt es immer mehr einzuleuchten, daß das in der Tat das Richtige ist. Nebenbei kam es ihr auch nicht uninteressant vor, einmal einen Detektiv arbeiten zu sehen. Und das muß jedermann sagen, dachte sie, daß ein Detektiv viel mehr versteht als die Polizei, das liest man doch in allen Geschichten und sonst dürfte er doch gar nicht Detektiv sein.
Sie strauchelte nur noch daran, wie sie wohl den Mann am besten ins Haus bekommen kann. Die Marianne konnte sie nicht schicken, da sie ja selbst verdächtig war und für die Hedwig paßte es sich doch nicht ganz. Aber als sie in das Kontor des Herrn Steinhäuser hinabeilte und das Telephonbuch zu Rate zog, beseitigte sich diese Schwierigkeit ohne weiteres. »1527. Schwägerle, Christian Philibert, Inhaber eines Rechtsbureaus und Detektivinstituts« stand schwarz auf weiß.
Entschlossen setzte Frau Amalie die Kurbel des Telephons in Bewegung.