Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Der Polizeiinspektor Zwießler ging mit seinen Untergebenen scharf ins Gericht. Diesmal war es aber Wachtmeister Eisele, der an die Reihe kam und im Hintergrunde standen die Schutzleute Wachter I und II, die nur ab und zu flüchtig gestreift wurden, namentlich wenn ihnen die Schadenfreude zu sehr aus den Augen leuchtete. Der Wachtmeister aber stand in gerichteter Haltung, die Hände an der Hosennaht, die Hacken geschlossen, und als einziges Zeichen eines stummen Protestes war das starke Kinn unnatürlich in die Höhe gerichtet, so daß der wallende Vollbart in eigentümlicher Weise in die Luft starrte, statt wie sonst in gefälligen Wellen über die Uniformbrust herabzugleiten.

Diese Haltung hatte er noch vom Exerzierplatz her in der Übung, wenn er einmal »angehaucht« wurde: je schärfer der Tadel war, um so höher stieg das Kinn.

Der Herr Polizeiinspektor hatte einen gefalteten Bogen Papier in den Händen, den er des öfteren mit einer lebhaften Bewegung dem Wachtmeister vor die Augen brachte, obgleich dieser nunmehr den Inhalt so genau kannte, daß er ihn ohne Anstoß von oben bis unten hätte heruntersagen können.

»Daß ich das von Ihnen erleben muß, Eisele! Das hätte ich niemals gedacht. Wie oft habe ich Ihnen eingeprägt, vorsichtig zu sein, nicht zu voreilig zu sein, nicht so derb zuzugreifen, ein bißchen den Verstand sprechen zu lassen+…«

»Herr Inspektor+…«

»Halten Sie gefälligst den Mund, wenn ich rede! …Nicht gleich drein zu fahren wie ein Stier, der ein rotes Tuch sieht! Takt muß man haben, Herr, Takt, wenn man Chargierter sein will! …Was soll man da von den Mannschaften erwarten – Wachter II, wenn Sie sich noch einmal erlauben, höhnische Augen zu machen, werde ich Ihnen etwas andres sagen! – wenn ein Wachtmeister solche Dinge macht! Das ist es« – wieder wurde der Bogen Papier dem Wachtmeister unter die Nase gehalten, als sollte er daran riechen – »was die Polizei am meisten in Mißkredit bringt, was man ihr am ernstlichsten übelnimmt, was gewissen Blättern erwünschten Stoff gibt, ihre Spalten zu füllen! …Ich bin froh, daß Herr Professor Nußotter sich begnügt hat, seine Beschwerde hier einzureichen, daß er sich nicht gleich hinter die Presse gesteckt hat. Wir können froh sein, Wachtmeister Eisele! Froh können wir sein!«

Bei diesen Worten steigerte sich die Tonfülle des Herrn Polizeiinspektors mehr und mehr, während seinem Untergebenen von dem langen Stehen in gerichteter Haltung allmählich die Kniee zu zittern begannen, denn er war kein Jüngling mehr.

Das Ganze aber kam davon her, daß Professor Nußotter doch herausbekommen hatte, auf was der Besuch dieses merkwürdigen Interessenten seiner Sammlungen hinauslief, so schlau es Eisele seiner Ansicht nach auch angefangen hatte, und daß er eine nicht sehr sanft gehaltene Beschwerde an das Stadtpolizeiamt gerichtet hatte.

»Wenn der Herr Inspektor erlauben würde,« sagte nun der Wachtmeister, als er Grund zur Annahme zu haben glaubte, der Herr Inspektor werde mit seinen Ausführungen zu Ende sein.

»Sie wünschen?« fragte der Polizeiinspektor im Tone höchster Neugierde, als hätte er keine Ahnung, was er dem Wachtmeister erlauben sollte.

Nun beginnt der Wachtmeister seine Gründe darzulegen, wonach er seinen Verdacht für wohl gerechtfertigt halten muß, natürlich unbeschadet der höheren Einsicht des Herrn Polizeiinspektors.

»Aber, Mensch, wie können Sie nur glauben, daß ein Mann mit der Bildung, in der Stellung, mit dem Vermögen des Herrn Professors Nußotter imstande sein werde, in einem beliebigen Hause eine lumpige Uhr mitlaufen zu lassen? Können Sie mir aus Ihrer Praxis auch nur einen einzigen Fall anführen, wo etwas Ähnliches vorgekommen ist?«

Und Wachtmeister Eisele schweigt. Schutzmann Wachter I und II aber versuchen sich anzusehen, ohne den Kopf zu drehen, denn sie erinnern sich noch sehr wohl der gestrigen Worte ihres Wachtmeisters: »Ich könnte Ihnen Beispiele erzählen, Beispiele, daß Sie sich wundern würden!«

»Sagen Sie mir nur einen einzigen Fall,« mahnte der Polizeiinspektor ungeduldig, obwohl er jedenfalls ungnädig genug gewesen wäre, wenn Eisele seinem Befehle gefolgt wäre und Beispiele aufgezählt hätte.

Eisele unterließ es deshalb in der richtigen Erkenntnis, daß seine Beispiele seinen Vorgesetzten doch nicht überzeugen würden, solche aufzuzählen, er wagte es aber, schüchtern auf das Gerücht von der Kleptomanie des Professors hinzuweisen.

»Wie Sie an solche Ammenmärchen glauben mögen!« sagte der Polizeiinspektor. »Fragen Sie heute einen Menschen, und in der ganzen Stadt wird sich keiner finden, der etwas von der Kleptomanie des Professors wissen will!«

»Man hat aber doch schon gehört, daß Sammler in ihrer Leidenschaft zu ungesetzlichen Mitteln griffen, und die Uhr mußte doch dem Professor ins Auge stechen, da er schon zehn Uhren gleicher Art in seiner Sammlung hat?«

»Ganz falsch! Ganz falsch! Gerade wenn er schon zehn solche Stücke hat, was soll er noch großes Interesse an einem elften Stück haben?«

»Und die auffällige Art, wie sich der Professor aus dem Steinhauserschen Hause entfernte?«

Der Inspektor verzog seinen Mund auf eine höhnische Art. »Glauben Sie wirklich ernstlich, wenn der Professor die Uhr genommen hätte, er hätte sich auf diese auffallende Art entfernt, so daß er sich sagen mußte, der erste Verdacht werde auf ihn fallen?+… Nein, Wachtmeister Eisele, da wäre er geblieben und hätte sich erst nach einiger Zeit von Frau Steinhauser verabschiedet. Denn dessen durfte er sicher sein, daß man ihn nicht durchsuchen werde, selbst wenn der Diebstahl noch während seiner Anwesenheit entdeckt werden sollte.«

Nun wagte Eisele noch seinen letzten Vorstoß. »Aber verzeihen, Herr Inspektor, warum sagte der Professor, als ich bei ihm war, halblaut, so vor sich hin: ›Ach ja so, die Uhr?‹«

Nun lächelte Zwießler milde und auch sein Ton wurde sehr milde. »Lieber Wachtmeister, ich will Ihnen etwas sagen. Sie haben sich so in die Idee verbohrt, Nußotter habe die Uhr entwendet, daß Ihnen die Ohren geklungen haben. Es war pure Einbildung! Ich glaube gar nicht, daß Sie richtig gehört haben, Sie sagen ja selbst, daß es sich um ein halblautes Wort des Professors handelte. Und im besten Falle, wenn Sie recht gehört hätten, wissen Sie dann den Gedankengang des Professors? Sie wissen ihn nicht! Gerade noch beschäftigte er sich mit seiner Uhrensammlung und vielleicht ist ihm irgendeine Idee durch den Kopf geschossen von einer Uhr seiner Sammlung, was weiß ich? …Nein, Eisele« – die Stimme wurde wieder schärfer – »Sie haben sich gründlich blamiert und nicht nur sich selbst, sondern die ganze Polizei, und das nächste Mal möchte ich Sie gebeten haben, fragen Sie mich, bevor Sie einen derart riskierten Schritt ausführen wollen …Es wird nichts schaden, wenn Sie dabei bleiben, solange ich jetzt die Frau Steinhauser vernehme, man kann immer noch lernen, auch in reiferen Jahren …Sie, Wachter I, werden mir Protokoll führen, und Sie, Wachter II, gleichzeitig eine Abschrift des Protokolls für unsere Akten fertigen!«

Und nun wird die unglückliche Frau Steinhauser in die Kanzlei gerufen und macht zum vierten Male seit dem gestrigen Tage ihre Angaben, wie der Hafnergeselle allein im Zimmer blieb, wie der Professor Nußotter kam und wie er wieder verschwunden war, bis sie selbst in das Zimmer kam, und wie die Uhr zuvor noch auf dem Tische lag und nachher nicht mehr auf dem Tische lag, alles in dem Zeitraum von knappen zehn Minuten.

Sie ist in diesen zwei Tagen schon eine ganz andre geworden, als sie war. Sie hat gewissermaßen eine Leidenszeit hinter sich und es prägt sich dies auch in ihrem Gesicht aus. Immer wieder muß sie die gleiche Geschichte erzählen und sie kann sie allmählich geläufig auswendig. Einmal kommt die Polizei zu ihr ins Haus, das andre Mal muß sie selbst die Polizei aufsuchen. Den ganzen lieben langen Tag denkt man und spricht man nichts andres, als von der Uhr. Das geht auf die Nerven, reibt auf. Und dabei ist man doch keinen Schritt weiter gekommen, im Gegenteil, die Sache wird immer dunkler und dunkler.

Das Merkwürdigste aber ist, daß Frau Amalie Steinhauser der Untersuchung des Falles nicht etwa müde wird – übrigens könnte sie ja auch nicht einmal etwas dagegen machen, da nun schon die Polizei dahinter her ist – daß sie vielmehr mit immer größerer Spannung die einzelnen Phasen der Untersuchung verfolgt und selbst auch das brennendste Verlangen hat, den Täter entdeckt zu sehen, und daß es ihr geht wie dem Spieler, der seinen Einsatz verloren hat und immer höher einsetzt, um das Verlorene wiederzugewinnen. –

Auf die Schilderung der Frau Steinhauser entspann sich, einer Anregung des Herrn Inspektors entsprechend, noch einmal eine kurze Diskussion unter den Polizeimännern. Wachtmeister Eisele enthielt sich zwar der Beteiligung, um auf diese Weise zu zeigen, daß er von seiner Ansicht nicht bekehrt sei, und wies nur – etwas einsilbig und mit etwas Zurückhaltung – darauf hin, daß ihm gerade die Beschwerde des Professors Nußotter verdächtig vorkomme, sofern intelligentere Verbrecher gerne zu diesem Mittel greifen, um den Verdacht von sich abzulenken.

Wachter II war der Ansicht, daß das Zeugnis des August Wiedmann zur Überführung der Jungfer Marianne vollständig ausreiche, und gewann als Frucht der neuesten Schilderung der Frau Steinhauser noch das Verdachtsmoment, das darin lag, daß Marianne sofort nach Entdeckung des Diebstahls behauptete, sie habe die Uhr nicht angerührt – wer sich entschuldigt, klagt sich an! – und sofort die Vermutung aussprach, der Hafner habe sie gestohlen.

Wachter I aber war es nun zur unumstößlichen Gewißheit geworden, daß gerade dieser fremde Bursche der Langfinger war, und begründete seine Gewißheit neuerdings mit der Tatsache, daß der Hafner auf einmal verschwunden sei, während er zuvor noch davon sprach, er habe wohl noch eine halbe Stunde Arbeit. –

Herr Polizeiinspektor Zwießler lächelte zu dem allem, und es fiel den andern auf, daß ihn bei der Erzählung der Frau Steinhauser vorzüglich die Tätigkeit des famosen Detektivs interessierte. »Wie war es doch, Frau Steinhauser? Zuerst suchte er das ganze Zimmer ab nach der Uhr? Und da er sich bei seiner Tätigkeit nicht gerne zusehen lassen wollte, mußten Sie sich entfernen? Nicht wahr, Frau Steinhauser?«

Da der Herr Inspektor nicht hersah, wagte der Wachtmeister, leicht den Kopf zu schütteln, und die beiden Schutzleute machten erstaunte Gesichter und sahen aus, als ob sie nicht wüßten, was sie von ihrem Vorgesetzten halten sollten.

Aber dieser ließ sich anscheinend nicht beirren. »Ein famoser Detektiv, Frau Steinhauser! Wie kamen Sie nur auf die Idee, einen sogenannten Detektiv zu beauftragen? Wie heißt er denn, wenn ich bitten darf?«

Frau Amalie geriet in Verlegenheit, weil der Polizeiinspektor derart spottete. Sie errötete, daß man es sogar unter dem dichten Schleier, den sie zu diesem unliebsamen Gange über das Gesicht gezogen hatte, bemerken konnte. – Wenn er erst wüßte, daß ich dem Menschen zwanzig Mark bezahlt habe, dachte sie. – »Es ist der Herr Schwägerle,« sagte sie darauf. »Man hat ihn mir als einen sehr geschickten Menschen geschildert.«

Herr Inspektor Zwießler schlug sich mit der geballten Faust in die flache Hand. »Dacht« ich's doch! Dacht' ich's mir doch! Ausgezeichnet!« Seine Augen blitzten im Triumph. »Großartig! …Frau Steinhauser, den Täter haben wir! Ob Sie auch die Uhr wiederbekommen, ist eine andre Frage!«

Nun schüttelte der Wachtmeister offen den Kopf, die Schutzleute aber sahen keineswegs geistreich aus vor Verwunderung.

Herr Inspektor Zwießler war zu erregt, um es zu beachten. Er ging mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab und schien einen Plan vorzubereiten. Dann hielt er vor Frau Steinhauser inne. »Nun ist die Geschichte klar! Wissen Sie, Frau Steinhauser, daß Schwägerle ein vielfach rückfälliger Dieb ist? …Die Uhr war gar nicht gestohlen! Es ist eine häufig gemachte Erfahrung, daß man sich mit größter Gewißheit zu erinnern glaubt, ein Gegenstand sei an einem bestimmten Orte gelegen, während man ihn in Wirklichkeit an einem andern Orte sah. Sie haben sich einfach getäuscht, Frau Steinhäuser, die Uhr war gar nicht gestohlen, sie war nur verlegt. Der schlaue Schwägerle hat natürlich diese Möglichkeit sofort erwogen, hat deshalb das Zimmer allein durchsucht, die Uhr gefunden und sie als willkommene Beute mitlaufen lassen, da er dies ohne jede Gefahr tun konnte …jetzt erst ist die Uhr gestohlen worden!« –

Das heißt man das Ei des Kolumbus.

»Potztausend!« sagte der Wachtmeister gänzlich reglementwidrig und kraute sich hinter den Ohren. Aber die Schutzleute Wachter I und II sahen mit unverhehlter Bewunderung zu ihrem Vorgesetzten auf.

»Gerechter Gott!« sagte Frau Steinhäuser. »Und ich habe ihm noch dazu zwanzig Mark gegeben!«

Herr Polizeiinspektor Zwießler richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf. »Lassen Sie sich dies zur Warnung dienen, Frau Steinhauser, ein für allemal! …Man geht nicht zum Schmiedle, man geht zum Schmied, heißt ein gutes schwäbisches Sprichwort+… Wachter I und II, Sie gehen sofort in die Wohnung des Schwägerle und nehmen eine gründliche Durchsuchung vor, haben Sie mich verstanden? Den Schwägerle selbst führen Sie einfach vor, ich werde die weitere Untersuchung selbst in die Hand nehmen …Wenn Sie das Ergebnis abwarten wollen, Frau Steinhäuser, so können Sie sich draußen im Wartezimmer aufhalten. Ich denke, in einer Viertelstunde können Sie viel hören!« –

Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde. Schon nach wenigen Minuten kamen die beiden Schutzleute zurück, erregt, mit geröteten Gesichtern, unverrichteter Dinge.

»Ich melde gehorsamst, daß die Wohnung des Schwägerle verschlossen war,« sagte Wachter I.

»Schwägerle hat uns jedenfalls kommen sehen,« ergänzte Wachter II, »und schnell geschlossen. Ich sah, wie sich der Vorhang bewegte. Er ist zu Hause, aber er läßt uns nicht ein!«

Polizeiinspektor Zwießler stampfte mit dem Fuße. »Sakerment! Warum haben Sie nicht die Bude eingeschlagen? Warum haben Sie nicht den nächsten Schlosser geholt? …Also verleugnet hat er sich, der Halunke! Wachtmeister Eisele, haben Sie nun noch einen Zweifel? Wäre ich doch selbst gegangen! Es ist nichts, ist nichts, wenn man nicht alles selbst tut! …Bis ich jetzt hinkomme, hat er natürlich die Uhr beseitigt …Das haben Sie schlau gemacht, Wachter I und II! …Aber ich werde die Bude aufbringen, ganz bestimmt bring' ich sie auf!« –

Und mit schnellen, langen Schritten verließ er das Polizeigebäude, während ihm die Schutzleute kaum zu folgen vermochten.


 << zurück weiter >>