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In dem Augenblick, wo Gilbert erschien, machten die Enthusiasten den Vorschlag, die Gefangenen im Triumphe umherzutragen, welcher Vorschlag einstimmig angenommen wurde.
Gilbert hätte sehr gewünscht, dieser Huldigung zu entgehen, aber es war nicht möglich; er, Billot und Pitou waren bereits erkannt.
Das Geschrei: Nach dem Stadthaus! nach dem Stadthaus! erscholl abermals, und Gilbert sah sich auf die Schultern von zwanzig Personen zugleich emporgehoben.
Vergebens wollte der Doktor widerstehen, vergebens teilten Billot und Pitou ihre kräftigsten Faustschläge an ihre Waffenbrüder aus: die Freude und die Begeisterung hatten die Haut des Volkes abgehärtet. Faustschläge, Schläge mit Pikenschäften, mit Flintenkolben kamen den Siegern wie Liebkosungen vor und verdoppelten nur ihre Berauschung.
Gilbert war also genötigt, sich auf den Schild erheben zu lassen.
Der Schild war ein Tisch, in dessen Mitte man eine Lanze aufgepflanzt hatte, die dem Triumphator als Stützpunkt dienen sollte.
So beherrschte der Doktor Gilbert diesen Ocean von Köpfen, der von der Bastille nach der Arcade Saint-Jean seine Wogen schlug, ein Meer voller Stürme, dessen Wellen mitten unter Piken, Bajonetten und Waffen von allen Arten, von allen Formen und Epochen die Gefangenen im Triumph davontrugen.
Doch zu gleicher Zeit wälzte der erschreckliche, unwiderstehliche Ozean eine andere Gruppe fort, die so fest zusammengedrängt war, daß sie eine Insel zu sein schien. Diese Gruppe führte de Launay als Gefangenen weg. In ihrem Umkreis machten sich nicht minder geräuschvolle, nicht minder enthusiastische Schreie hörbar, doch es waren keine Siegesrufe, sondern Todesdrohungen.
Von dem erhabenen Punkte aus, wo er sich befand, verlor Gilbert nicht den kleinsten Umstand von dem furchtbaren Schauspiel.
Unter all den Gefangenen, denen man die Freiheit wiedergegeben, war nur Gilbert im vollen Besitz seiner Fähigkeiten. Die fünf Tage Gefangenschaft bildeten nur einen dunkeln Punkt in seinem Leben. Sein Auge hatte nicht Zeit gehabt, in der Finsternis der Bastille zu erlöschen oder schwach zu werden.
Seit seinem Abgang aus der Bastille war der Marsch des Gouverneurs der Anfang seiner Hinrichtung.
Elie, der das Leben von Herrn de Launay unter seine Verantwortlichkeit genommen hatte, ging an der Spitze, beschützt durch seine Uniform und die Bewunderung des Volks, das ihn zuerst hatte ins Feuer gehen sehen. Er hielt in der Hand, an der Spitze seines Degens, das Billet, das Herr de Launay durch eine der Schießscharten der Bastille dem Volke hatte zukommen lassen. Nach ihm kam der Aufseher der königlichen Steuern, die Schlüssel der Festung in der Hand haltend; dann Maillard mit der Fahne; dann ein junger Mann, der das Reglement der Bastille, von seinem Bajonett durchlöchert, zeigte, ein verhaßtes Reskript, kraft dessen so viele Thränen geflossen waren.
Endlich kam der Gouverneur, beschützt durch Hullin und zwei bis drei andere, die aber unter der Masse von drohenden Fäusten, unter den geschwungenen Säbeln und den bebenden Lanzen verschwanden.
Neben dieser Gruppe schleppte man den Major von Losme. Der Major von Losme war ein guter, braver, vortrefflicher Mann. Viele Unglückliche hatten ihm, seitdem er in der Bastille war, eine Linderung zu verdanken gehabt. Doch das Volk wußte das nicht, das Volk hatte ihn mit den Waffen in der Hand gefangen genommen. Das Volk hielt ihn nach seiner glänzenden Uniform für den Gouverneur, während der Gouverneur in seinem grauen Rock, ohne irgend eine Stickerei, ohne das Ordensband des heiligen Ludwig, das er mit eigener Hand abgerissen, sich in einen gewissen beschützenden Zweifel flüchtete.
So war das Schauspiel, das der sichere Blick von Gilbert beherrschte, dieser immer beobachtende und ruhige Blick des Mannes, der sich selbst unter Gefahren, die ihn persönlich bedrohten, seine mutvolle Fassung bewahrte.
Als Hullin aus der Bastille trat, rief er seine sichersten und ergebensten Freunde, die mutigsten, an diesem Tag volkstümlichen Soldaten zu sich; vier bis fünf antworteten auf seinen Ruf und suchten seine edelmütige Absicht durch Beschirmung des Gouverneurs zu unterstützen. Es waren drei Männer, deren Andenken die unparteiische Geschichte geheiligt hat; sie hießen: Arnet, Chollat und Lépine. Diese Männer suchten also das Leben eines Mannes zu verteidigen, dessen Tod hunderttausend Stimmen forderten.
Um sie gruppierten sich einige Grenadiere von den französischen Garden, deren Uniform, seit drei Tagen populärer geworden, ein Gegenstand der Verehrung für das Volk war.
Herr de Launay entging den Streichen, solange die Arme seiner edelmütigen Verteidiger die Streiche parieren konnten; aber den Schmähreden und Drohungen vermochte er nicht zu entgehen.
An der Ecke der Rue de Jouy war von den fünf Grenadieren der französischen Garden, die sich dem Zuge beim Abgange aus der Bastille angeschlossen hatten, nicht einer mehr übrig. Sie waren unterwegs einer nach dem andern durch die Begeisterung der Menge und vielleicht auch durch die Berechnung der Mörder entführt worden, und Gilbert hatte sie, einen nach dem andern, verschwinden sehen, wie die Kügelchen eines Rosenkranzes, den man abkörnt.
Von da an sah er voraus, der Sieg würde sich trüben durch Blut. Er wollte sich deswegen von dem Tische losreißen, der ihm als Schild diente, doch es hielten ihn eiserne Arme darauf fest. In seiner Ohnmacht forderte er Billot und Pitou zur Verteidigung des Gouverneurs auf; beide gehorchten seinem Befehle und strengten alle ihre Kräfte an, um diese Menschenwogen zu durchschneiden und bis zu ihm zu gelangen.
Die Gruppe der Verteidiger bedurfte in der That der Unterstützung. Chollat, der seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen, war aus Erschöpfung ohnmächtig geworden; nur mit großer Mühe hatte man ihn aufgehoben und es verhindert, daß die Menge nicht mit Füßen auf ihn trat. Durch diesen Vorfall entstand eine Bresche an der Mauer, ein Durchbruch am Damm.
Rasch stürzte ein Mann durch diese Bresche, schwang seine Flinte verkehrt und führte mit dem Kolben einen furchtbaren Schlag nach dem Kopfe des Gouverneurs.
Lépine sah die Keule sich senken, er hatte Zeit, sich mit ausgestreckten Armen zwischen dem Gouverneur und sie zu werfen, und erhielt auf seine eigene Stirne den Schlag, der für den Gouverneur bestimmt war.
Durch den Streich betäubt, durch das Blut geblendet, fuhr er schwankend mit den Händen nach seinem Gesicht, und als er sehen konnte, war er schon zwanzig Schritte vom Gouverneur entfernt. In diesem Augenblick kam Billot, Pitou im Schlepptau nachziehend, in die Nähe des Gouverneurs.
Billot glaubte bemerkt zu haben, das verräterische Zeichen, an dem man de Launay hauptsächlich erkannte, sei, daß der Gouverneur allein barhäuptig war.
Billot nahm daher seinen Hut, streckte den Arm aus und setzte ihn dem Gouverneur auf den Kopf.
De Launay wandte sich um und erkannte Billot. Ich danke, sagte er, doch was Sie auch machen mögen, Sie werden mich nicht retten.
Lassen Sie uns nur das Stadthaus erreichen, und ich stehe für alles, versetzte Hullin.
Ja, erwiderte de Launay, doch werden wir es erreichen?
Mit Gottes Hilfe werden wir es wenigstens versuchen, erwiderte Hullin.
Man konnte es in der That hoffen, denn man fing an auf den Platz vor dem Stadthause auszumünden; doch dieser Platz war überströmt von Menschen mit nackten Armen, die Säbel und Piken schwangen. Das in den Straßen umherlaufende Gerücht hatte ihnen verkündigt, man bringe den Gouverneur und den Major der Bastille, und sie warteten wie eine Meute, die man lange, die Nase im Winde, die Zähne fletschend, zurückgehalten hat.
Sobald sie den Zug erscheinen sahen, stürzten sie auf ihn los.
Hullin bemerkte, daß hier die äußerste Gefahr war, der letzte Kampf stattfinden sollte. Konnte er es dahin bringen, daß de Launay die Stufen der Freitreppe hinaufzusteigen vermochte, konnte er ihn bis zu den inneren Stiegen fortreißen, so war der Gouverneur gerettet.
Herbei, Elie; herbei, Maillard; herbei, Ihr Männer von Herz! rief er, es handelt sich um die Ehre von uns allen.
Elie und Maillard hörten den Ruf; sie machten einen Seitensprung mitten unter das Volk, doch das Volk unterstützte sie nur zu gut: es öffnete sich vor ihnen und schloß sich hinter ihnen.
Elie und Maillard fanden sich von der Hauptgruppe getrennt, die sie nicht mehr erreichen konnten.
Die Menge sah, was sie gewonnen hatte, und machte eine wütende Anstrengung. Wie eine Riesenschlange rollte sie ihre Ringe um die Gruppe. Billot wurde aufgehoben, fortgeschleppt; Pitou, der sich in allem Billot anschloß, überließ sich demselben Wirbel; Hullin stolperte auf den ersten Stufen des Stadthauses und fiel. Einmal erhob er sich wieder, doch nur, um beinahe in demselben Augenblick abermals zu fallen, und diesmal folgte ihm de Launay in seinem Sturze.
Der Gouverneur blieb, wie er war; bis zum letzten Augenblicke gab er keine Klage von sich, bat er nicht um Gnade; er schrie nur mit scharfer Stimme:
Ihr Tiger, die ihr seid, laßt mich wenigstens nicht verschmachten.
Nie wurde ein Befehl mit größerer Pünktlichkeit vollzogen, als diese Bitte; im einem Nu neigten sich um den gefallenen de Launay die Köpfe drohend, erhoben sich die Arme bewaffnet. Man sah einen Augenblick nur noch krampfhaft zusammengezogene Hände, niedertauchende Eisen; dann kam ein Kopf, vom Rumpfe gelöst, zum Vorschein und wurde am Ende einer Pike von Blut triefend emporgehoben; er bewahrte noch sein bleiches, verächtliches Lächeln.
Das war der erste.
Gilbert hatte auch diese ganze Szene mit angesehen, und auch diesmal hatte er herabspringen wollen, um dem Unglücklichen beizustehen; doch er war von zweihundert Armen zurückgehalten worden. Er wandte sich ab und seufzte.
Der Kopf mit den offenen Augen erhob sich gerade, als wollte er ihn mit einem letzten Blick begrüßen, dem Fenster gegenüber, wo Flesselles stand, umgeben und beschützt von den Wählern.
Es wäre schwierig gewesen, zu sagen, wer bleicher ausgesehen, der Lebendige oder der Tote.
Plötzlich erhob sich ein ungeheurer Tumult bei der Stelle, wo der Leichnam von de Launay lag. Man hatte ihn durchsucht und in seiner Westentasche das vom Stadtvogt an ihn gerichtete Billet, das er Losme gezeigt, vorgefunden.
Dieses Billet war, wie man sich erinnert, in folgenden Wortlauten abgefaßt:
Halten Sie fest! ich belustige die Pariser mit Kokarden und Versprechungen. Am Ende des Tages wird Ihnen Herr von Bezenval Verstärkung schicken.
Von Flesselles.
Ein gräßlicher Fluch stieg von dem Pflaster der Straße zum Fenster des Stadthauses auf, wo sich Flesselles befand.
Ohne die Ursache davon zu erraten, begriff er doch die Drohung und warf sich rückwärts.
Doch er war bereits gesehen worden, man wußte, daß er anwesend sei; man stürzte nach den Treppen, und zwar diesmal mit einer so allgemeinen Bewegung, daß die Männer, die Gilbert trugen, diesen verließen, um der unter dem Sturmwind des Zornes steigenden Flut zu folgen.
Gilbert wollte auch in das Stadthaus hinein, doch nicht um zu drohen, sondern um Flesselles zu beschützen. Er hatte schon die ersten drei bis vier Stufen der Freitreppe überschritten, als er sich heftig nach rückwärts gezogen fühlte; er wandte sich um, in der Absicht, sich von diesem neuen Zwang loszumachen; aber diesmal erkannte er Billot und Pitou.
O! rief Gilbert, der von dem hohen Punkte aus, auf dem er stand, den ganzen Platz überschaute, was geht denn dort vor?
Und er bezeichnete mit der Hand die Rue de la Tixeranderie.
Kommen Sie, Doktor, kommen Sie, sagten gleichzeitig Billot und Pitou.
Oh! die Mörder! rief der Doktor, die Mörder! . . .
In diesem Augenblick fiel der Major von Losme von einem Axthieb getroffen; das Volk vermengte in seinem Zorn den selbstsüchtigen, barbarischen Gouverneur, der der Verfolger der unglücklichen Gefangenen gewesen war, und den edelmütigen Mann, der sie beständig unterstützt hatte.
Oh! ja, ja, sagte Gilbert, gehen wir, denn ich fange an mich zu schämen, daß ich von solchen Menschen befreit worden bin.
Doktor, sprach Billot, seien Sie unbesorgt, nicht diejenigen, welche dort gekämpft haben, schlachten hier.
Doch in demselben Augenblick, wo der Doktor die Stufen hinabstieg, die er eben hinaufgestiegen war, um Flesselles zu Hilfe zu eilen, wurde die Woge, die sie bis zum Stocken unter dem Gewölbe zusammengedrängt hatte, von diesem wieder ausgespieen. Unter dem großen Menschenstrom sträubte sich ein Mann, den man fortriß.
Nach dem Palais Royal! nach dem Palais Royal! schrie die Menge.
Ja, meine Freunde, ja, meine guten Freunde, nach dem Palais Royal! wiederholte dieser Mann.
Und er rollte gegen den Fluß, als ob die menschliche Überschwemmung ihn nicht nach dem Palais Royal führen, sondern in die Seine hätte fortziehen wollen.
O! rief Gilbert, hier ist abermals einer, den sie erwürgen wollen! Versuchen wir es, wenigstens ihn zu retten.
Doch kaum waren diese Worte gesprochen, als man einen Pistolenschuß vernahm, und Flesselles im Rauche verschwand.
Gilbert bedeckte in einer Bewegung erhabenen Zornes seine Augen mit seinen beiden Händen; er verfluchte dieses Volk, das während es so groß war, nicht die Stärke, rein zu bleiben, besaß und seinen Sieg durch einen dreifachen Mord befleckte.
Denn, als er seine Hände wieder von seinen Augen entfernte, sah er drei Köpfe an der Spitze von drei Piken.
Der erste war der Kopf von Flesselles, der zweite der von Losme, der dritte der von de Launay.
Der eine erhob sich auf den Stufen des Stadthauses, der andere in der Mitte der Rue de la Tixanderie, der dritte auf dem Quai Pelletier.
Durch ihre Stellung bildeten sie ein Dreieck.
O! Balsamo! Balsamo! murmelte der Doktor mit einem Seufzer, symbolisiert man mit einem solchen Dreieck die Freiheit?
Und Billot und Pitou nach sich ziehend, entfloh er durch die Rue de la Vannerie.
An der Ecke der Rue Blanche-Mibray traf der Doktor einen Fiaker; er winkte ihm, zu halten, und stieg ein.
Billot und Pitou nahmen bei ihm Platz.
Nach dem College Louis-le-Grand, sagte Gilbert. Und er warf sich in den Hintergrund des Wagens und versank in eine tiefe Träumerei, in der ihn Billot und Pitou nicht störten.
Man fuhr über den Pont-au-Change, schlug den Weg durch die Rue de la Cité und die Rue Saint-Jacques ein und gelangte zum College Louis-le-Grand.
Ganz Paris schüttelte ein Schauer. Die Kunde hatte sich nach allen Seiten verbreitet, die Gerüchte von den Ermordungen auf der Grève vermischten sich mit den glorreichen Erzählungen von der Einnahme der Bastille; man sah die verschiedenen Eindrücke, welche die Geister ergriffen, sich wiederspiegeln auf den Gesichtern . . . Blitze der Seele, die sich nach außen verrieten.
Gilbert hatte den Kopf nicht an den Wagenschlag gehalten, kein Wort hatte er gesprochen. An den Huldigungen des Volks findet sich immer auch eine lächerliche Seite, und Gilbert sah seinen Triumph von dieser Seite an. Dann kam es ihm dennoch vor – wie sehr er sich auch angestrengt hatte, das Blutvergießen zu verhindern – als ob einige Tropfen von dem vergossenen Blut auf ihn zurückspritzten.
Der Doktor stieg vor der Thüre des College aus, und hieß Billot ihm folgen. Pitou blieb bescheiden im Fiaker.
Sebastian war noch im Krankenzimmer; bei der Meldung der Ankunft des Doktors Gilbert führte ihn der Vorsteher persönlich ein.
Billot, der, so wenig er auch Beobachter war, den Charakter des Vaters und des Sohnes kannte, betrachtete aufmerksam die Szene, die unter seinen Augen vorging.
So sehr der Knabe in der Verzweiflung sich schwach und reizbar gezeigt hatte, ebenso ruhig und zurückhaltend zeigte er sich in der Freude. Als er seinen Vater sah, erbleichte er, und es versagte ihm die Sprache. Ein leiser Schauer lief über seine Lippen.
Dann warf er sich Gilbert mit einem einzigen Freudenschrei um den Hals und hielt ihn schweigend in seinen Armen.
Der Doktor erwiderte mit demselben Schweigen dieses stille Umfangen. Nur schaute er seinen Sohn, nachdem er ihn umarmt hatte, lange an mit einem mehr traurigen als freudigen Lächeln.
Ein geschickterer Beobachter als Billot würde sich gesagt haben, es walte ein Unglück oder ein Verbrechen zwischen diesem Knaben und diesem Manne ob.
Der Knabe war weniger zurückhaltend gegen Billot. Sobald er etwas andres sehen konnte, als seinen Vater, der seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, lief er auf den guten Pächter zu, umschlang dessen Hals mit seinen Armen und sagte: Sie sind ein braver Mann, Herr Billot, Sie haben mir Wort gehalten, und ich danke Ihnen.
Ho! Ho! Herr Sebastian, rief Billot, das ist nicht ohne Mühe abgegangen; Ihr Vater war hübsch eingesperrt, und man mußte nicht wenig Schaden anrichten, ehe man ihn herausbringen konnte.
Sebastian, fragte der Doktor mit einer gewissen Besorgnis, bist du gesund?
Ja, mein Vater, antwortete der junge Mann, obgleich Sie mich im Krankenzimmer finden.
Gilbert lächelte und sagte: Ich weiß, warum du hier bist.
Der Knabe lächelte ebenfalls.
Fehlt es dir hier an nichts? fuhr der Doktor fort.
An nichts, durch Ihre Fürsorge.
Mein lieber Freund, ich will dir also immer dieselbe, dieselbe und einzige Ermahnung geben: arbeite!
Ja, mein Vater.
Ich weiß, daß dieses Wort für dich kein leerer Schall ist; wenn ich das glaubte, so würde ich es dir nicht mehr sagen.
Mein Vater, es ist nicht an mir, Ihnen hierauf zu antworten, erwiderte Sebastian. Es ist an Herrn Bérardier, unserem vortrefflichen Vorsteher.
Der Doktor wandte sich gegen Herrn Bérardier um, und dieser bedeutete ihm, er habe ein paar Worte mit ihm zu sprechen.
Warte Sebastian, sagte der Doktor.
Und er ging auf den Vorsteher zu.
Mein Herr, fragte Sebastian teilnehmend den Pächter, sollte Pitou ein Unglück widerfahren sein? Der arme Junge ist nicht bei Ihnen.
Er ist vor der Thüre in einem Fiaker.
Mein Vater, sagte Sebastian, wollen Sie erlauben, daß Herr Billot Pitou hieher bringt? es würde mich sehr freuen, ihn zu sehen.
Gilbert nickte mit dem Kopfe; Billot ging hinaus.
Was haben Sie mir zu sagen? fragte Gilbert den Abbé Bérardier.
Ich wollte Ihnen sagen, mein Herr, daß es nicht die Arbeit ist, was Sie diesem Knaben empfehlen müßten, sondern vielmehr die Zerstreuung.
Wieso, Herr Abbé?
Ja, er ist ein vortrefflicher junger Mensch, denn jeder hier liebt ihn wie einen Sohn oder einen Bruder, doch wenn man nicht darauf acht giebt, so wird ihn etwas töten.
Die Arbeit, zu der Sie ihn ermahnen. Würden Sie ihn an seinem Pulte sehen, die Arme gekreuzt, die Nase im Wörterbuch, das Auge starr . . .
Arbeitend oder träumend? fragte Gilbert.
Arbeitend: den guten Ausdruck, die antike Wendung, die griechische oder lateinische Form ganze Stunden lang suchend; und sehen Sie, gerade in diesem Augenblick . . .
Der junge Mensch, obgleich sein Vater sich kaum seit fünf Minuten von ihm entfernt, obgleich Billot kaum die Thüre hinter sich zugemacht hatte, war er in eine Art von Träumerei versunken, die der Ekstase glich.
Ist er oft so? fragte Gilbert mit Besorgnis.
Mein Herr, ich könnte beinahe sagen, das sei sein gewöhnlicher Zustand. Sehen Sie, wie er sucht.
Sie haben recht, Herr Abbé, und wenn Sie ihn so suchen sehen, müßten Sie ihn zerstreuen.
Das wäre schade, denn es gehen aus seiner Arbeit Kompositionen hervor, die unsrer Anstalt die größte Ehre machen werden. Ich prophezeie, daß dieser Knabe in drei Jahren alle Preise beim Konkurs davon trägt.
Geben Sie wohl acht, sagte der Doktor, diese Art von Vertiefung des Geistes, in die Sie Sebastian versunken sehen, ist eher ein Beweis von Schwäche, als von Stärke, ein Symptom von Krankheit, als von Gesundheit. Sie hatten recht, Herr Abbé, man darf dem Knaben die Arbeit nicht zu sehr empfehlen, oder man muß wenigstens die Arbeit von der Träumerei zu unterscheiden wissen.
Mein Herr, ich versichere Ihnen, daß er arbeitet, und zum Beweise dient, daß seine Aufgabe immer früher als die der andern gemacht ist. Sehen Sie seine Lippen sich bewegen? Er wiederholt seine Lektionen.
Wohl denn! wenn er seine Lektionen so wiederholt, Herr Bérardier, zerstreuen Sie ihn; er wird darum sie nicht schlechter wissen und sich dabei besser befinden.
Ah! sprach der gute Abbé, Sie müssen sich darauf verstehen, Sie, den die Herren von Condorcet und Cabanis für einen der gelehrtesten Männer erklärt haben, die wir gegenwärtig besitzen.
Nur, sagte der Doktor, nur gehen Sie mit Vorsicht zu Werke, so oft Sie genötigt sind, ihn solchen Träumereien zu entziehen, um ihn stufenweise zu dieser Welt, die er verlassen hat, zurückzuführen.
Der Abbé schaute den Doktor ganz erstaunt an. Es fehlte wenig, daß er ihn für einen Narren gehalten hätte.
Herr Abbé, sprach der Doktor, Sie sollen sogleich den Beweis von dem, was ich Ihnen sage, gewahr werden.
Billot und Pitou kehrten in diesem Augenblick zurück. Mit drei Sprüngen war Pitou bei Sebastian.
Du hast nach mir verlangt, Sebastian? sagte Pitou, während er den Knaben beim Arm faßte. Du bist sehr artig, ich danke dir. Und er näherte seinen großen Kopf der blassen Stirne des Knaben.
Schauen Sie, sprach Gilbert, den Arm des Abbés ergreifend.
Plötzlich durch die herzliche Berührung von Pitou aus seiner Träumerei aufgeweckt, wankte Sebastian in der That, sein Angesicht wurde noch blässer, sein Kopf neigte sich, als ob sein Hals nicht mehr die Kraft gehabt hätte, ihn zu tragen. Ein schmerzlicher Seufzer drang aus seiner Brust hervor, dann färbte eine lebhafte Röte seine Wangen.
Er schüttelte den Kopf und lächelte.
Ah! Du bist es, Pitou, sagte er. Ja, es ist wahr, ich habe nach dir verlangt.
Und er schaute ihn an und rief: Du hast dich also geschlagen?
Ja, und als ein braver Junge, sprach Billot.
Warum haben Sie mich nicht mitgenommen? versetzte der Knabe mit einem Ton des Vorwurfs; ich hätte mich auch geschlagen, und würde wenigstens etwas für meinen Vater gethan haben.
Sebastian, sprach Gilbert, indem er sich seinem Sohne näherte und seinen Kopf an sein Herz drückte, du kannst noch bei weitem mehr für deinen Vater thun als dich für ihn schlagen; du kannst seine Ratschläge anhören, sie befolgen, und ein ausgezeichneter, berühmter Mann werden.
Nicht wahr, wie Sie? sagte der Knabe mit Stolz. Oh! das ist es auch, wonach ich trachte.
Sebastian, sprach der Doktor, willst du, nachdem du Billot und Pitou umarmt und diesen unsern guten Freunden gedankt hast, mit mir im Garten einen Augenblick plaudern?
Das wird mich glücklich machen, mein Vater. Zwei- oder dreimal in meinem Leben konnte ich ganz allein mit Ihnen sein, und diese Augenblicke sind noch immer mit all ihren einzelnen Umständen meinem Gedächtnis gegenwärtig.
Herr Abbé, Sie erlauben? fragte Gilbert.
Gewiß.
Billot, Pitou, es ist vielleicht für euch Bedürfnis, etwas zu euch zu nehmen.
Bei meiner Treue, ja, antwortete Billot, ich habe seit dem Morgen nichts gegessen, und Pitou ist, denke ich, so nüchtern als ich.
Verzeihen Sie, entgegnete Pitou, ich habe so etwas wie einen Laib Brot und ein paar Würste kurz vorher, ehe ich Sie aus dem Wasser gezogen, verzehrt; doch das Bad macht Hunger.
Nun, so kommen Sie in den Speisesaal, sagte der Abbé Bérardier, man soll Ihnen Mittagsbrot vorsetzen.
Ho! ho! rief Pitou.
Sie fürchten die Kost der Anstalt? versetzte der Abbé. Beruhigen Sie sich, man wird Sie als Eingeladenen behandeln. Übrigens scheint mir, fuhr der Abbé fort, es ist bei Ihnen nicht nur der Magen im Verfall, mein lieber Herr Pitou.
Pitou warf einen Blick voll Scham auf sich selbst.
Und wenn man Ihnen zugleich mit dem Mittagsbrot Hosen anböte . . .
Ich würde sie in der That annehmen, Herr Abbé! antwortete Pitou.
Kommen Sie also, die Hosen und das Mittagsbrot sind zu Ihren Diensten.
Und er führte Billot und Pitou auf der einen Seite weg, während, ihnen mit der Hand winkend, Gilbert und Sebastian sich auf der andern entfernten.
Beide durchschritten den für die Erholungen bestimmten Hof und erreichten ein den Lehrern vorbehaltenes Gärtchen, einen frischen, schattigen Winkel, in dem der ehrwürdige Abbé Bérardier seinen Tacitus und seinen Juvenal zu lesen pflegte.
Gilbert setzte sich auf eine von Rebwinden beschattete Bank, zog Sebastian zu sich, strich mit der Hand seine langen Haare, die auf seine Stirne herabfielen, auseinander und sprach:
Nun, mein Kind, nun sind wir wieder vereinigt.
Sebastian schlug die Augen zum Himmel auf.
Durch ein Wunder Gottes, ja, mein Vater.
Gilbert lächelte.
Wenn es ein Wunder giebt, sagte Gilbert, so hat es das brave Volk von Paris verrichtet.
Mein Vater, entgegnete der Knabe, trennen Sie nicht Gott von dem, was vorgefallen ist, denn ich, als ich Sie sah, dankte instinktartig Gott.
Und Billot?
Billot kam nach Gott.
Gilbert dachte nach.
Du hast recht, mein Kind, sprach er. Gott ist im Grunde von allen Dingen. Doch kommen wir auf dich zurück und laß uns ein wenig miteinander reden, ehe wir uns wieder trennen.
Werden wir uns abermals trennen, mein Vater?
Nicht für lange Zeit, denke ich. Doch es ist ein Kistchen, das wertvolle Papiere enthält, zu gleicher Zeit, als man mich in die Bastille einsperrte, verschwunden. Ich muß wissen, wer mich hat einsperren lassen, wer das Kistchen gestohlen.
Es ist gut, mein Vater, ich werde warten, Sie wiederzusehen, bis Ihre Nachforschungen beendigt sind, sagte der Knabe.
Und er seufzte.
Warum bist du traurig, Sebastian? fragte der Doktor.
Ich weiß es nicht; mir scheint, das Leben ist nicht für mich gemacht, wie für die andern Kinder: Alle haben Zerstreuungen, Vergnügen; ich, ich habe keine.
Du hast keine Zerstreuungen, kein Vergnügen?
Mein Vater, ich will damit sagen, ich finde keine Unterhaltung bei den Spielen meines Alters.
Nimm dich in acht, Sebastian; ich würde es bedauern, wenn du einen solchen Charakter hättest. Sebastian, die Geister, die eine glorreiche Zukunft versprechen, sind wie die guten Früchte während ihres Wachstums: sie haben ihre Bitterkeit, ihre Säure, ihre Herbe, ehe sie den Gaumen durch ihre wohlschmeckende Reife erquicken. Glaube mir, mein Kind, es ist gut, jung gewesen zu sein.
Wenn ich es nicht bin, so ist es nicht meine Schuld, antwortete der junge Mensch mit einem schwermütigen Lächeln.
Gilbert drückte fortwährend die Hände seines Sohnes in den seinigen, heftete seine Augen auf die von Sebastian und sprach: Dein Alter, mein Sohn, ist das der Saat; nichts darf noch von dem, was das Studium in dich gelegt hat, außen zum Vorschein kommen. Mit vierzehn Jahren, Sebastian, ist der Ernst Hochmut oder Krankheit. Ich habe dich gefragt, ob deine Gesundheit gut sei; du hast mir geantwortet: ja. Ich will dich nun fragen, ob du hochmütig seist; suche mir mit nein zu antworten.
Mein Vater, erwiderte der Knabe, beruhigen Sie sich; was mich traurig macht, ist weder Krankheit, noch Hochmut; nein, es ist ein Kummer.
Ein Kummer, armes Kind! Mein Gott! welchen Kummer kannst du in deinem Alter haben? Sprich, sprich!
Nein, mein Vater, nein, später. Sie sagten, Sie haben Eile, Sie können mir nur eine Viertelstunde schenken. Sprechen wir von etwas anderm, als von meinen Tollheiten.
Nein, Sebastian, ich würde dich unruhig verlassen. Sage mir, woher dieser Kummer rührt.
Wahrhaftig, ich wage es nicht, mein Vater.
Was befürchtest du?
Ich befürchte, in Ihren Augen für einen Geisterseher zu gelten, oder mit Ihnen von Dingen zu reden, die Sie betrüben würden.
Du betrübst mich noch viel mehr, wenn du dein Geheimnis bewahrst, liebes Kind.
Sie wissen wohl, daß ich vor Ihnen kein Geheimnis habe.
So sprich.
In der That, ich wage es nicht.
Sebastian, du, der du ein Mann zu sein dir einbildest?
Gerade deshalb.
Auf, fasse Mut!
Wohlan denn, mein Vater, es ist ein Traum!
Ein Traum, der dich erschreckt?
Ja und nein; denn wenn ich in diesen Traum mich versenke, bin ich nicht erschrocken, sondern wie in eine andere Welt versetzt. Schon als ein kleines Kind hatte ich solche Visionen. Sie wissen, zwei- oder dreimal habe ich mich in den großen Wäldern verirrt, die das Dorf umgeben, wo ich aufgezogen wurde.
Ja, man hat es mir gesagt.
Wohl! ich folgte etwas wie einem Gespenst.
Du sagst? . . . fragte Gilbert, indem er seinen Sohn mit einem Erstaunen anschaute, das dem Schrecken glich.
Hören Sie, mein Vater, was geschah: Ich spielte wie die andern Kinder im Dorfe, und solange ich im Dorfe war, solange andre Kinder mit mir oder bei mir waren, sah ich nichts; wenn ich mich aber von ihnen trennte, wenn ich die letzten Gärten überschritt, so fühlte ich in meiner Nähe etwas wie das Rauschen eines Kleides; ich streckte die Arme aus, um es zu fassen, und ich umfing nur die Luft. Doch wie sich dieses Rauschen mehr entfernte, wurde das Gespenst sichtbar. Anfangs war es ein Dunst, durchsichtig wie eine Wolke, dann verdichtete sich der Dunst und nahm eine menschliche Form an. Diese Form war die einer Frau, die mehr glitt, als ging, und um so sichtbarer wurde, je mehr sie sich in die dunkelsten Stellen des Waldes vertiefte.
Dann zog eine unbekannte, fremde, unwiderstehliche Gewalt mich fort auf den Spuren von den Schritten dieser Frau. Ich verfolgte sie mit ausgestreckten Armen, stumm wie sie; denn oft habe ich es versucht, sie anzurufen, und nie konnte meine Stimme einen Ton bilden. Und ich verfolgte sie so, ohne daß sie anhielt, ohne daß ich sie zu erreichen vermochte, bis mir das Wunder, das mir ihre Gegenwart verkündigt hatte, ihren Abgang bezeichnete. Diese Frau verschwand allmählich; das Leibliche wurde Dunst, der Dunst verflüchtigte sich, und alles war vorbei. Und ich fiel, erschöpft von der Anstrengung, an der Stelle nieder, wo sie verschwunden war. Hier fand mich Pitou zuweilen an demselben Tag, zuweilen erst am andern.
Gilbert schaute den Knaben unablässig mit einer wachsenden Unruhe an. Seine Finger hatten sich auf den Puls von Sebastian gelegt.
Dieser begriff das Gefühl, das den Doktor bewegte und sprach: Oh! Seien Sie unbesorgt, mein Vater, ich weiß, daß nichts Wirkliches an dem allen ist; ich weiß, daß es eine Vision ist, und nicht mehr.
Und diese Frau, fragte der Doktor, welches Aussehen hatte sie?
Oh! ein majestätisches gleich einer Königin.
Und ihr Gesicht, hast du es bisweilen gesehen, mein Kind?
Ja.
Seit wann? fragte der Doktor bebend.
Erst seitdem ich hier bin, antwortete der junge Mann.
Aber in Paris hast du ja den Wald von Villers-Cotterêts nicht, wo die Bäume ein düsteres, geheimnisvolles grünes Gewölbe bilden? In Paris hast du nicht die Stille, die Einsamkeit, dieses Element der Gespenster?
Doch, mein Vater, ich habe dies alles hier.
Wie, hier? Ist dieser Garten nicht den Lehrern vorbehalten?
Allerdings, mein Vater. Doch zwei- oder dreimal kam es mir vor, als sähe ich diese Frau in den Garten gleiten. Jedesmal wollte ich ihr folgen, immer hielt mich die geschlossene Thüre zurück. Als mich dann eines Tages der Abbé Bérardier, der mit meiner Komposition sehr zufrieden war, fragte, was ich wünsche, bat ich ihn, zuweilen im Garten mit ihm spazieren gehen zu dürfen. Er erlaubte es mir. Ich benützte diese Erlaubnis, und hier, hier, mein Vater, ist die Vision wieder erschienen.
Gilbert schauderte. Eine seltsame Sinnestäuschung, sagte er, jedoch möglich bei einer nervösen Natur, wie die deinige; und du hast ihr Gesicht gesehen?
Ja, mein Vater.
Du erinnerst dich desselben?
Der Knabe lächelte.
Hast du es je versucht, dich ihr zu nähern?
Ja.
Ihr die Hand zu reichen?
Dann verschwand sie.
Und wer ist diese Frau deiner Ansicht nach, Sebastian?
Mir scheint, es ist meine Mutter.
Deine Mutter! rief Gilbert erbleichend.
Und er drückte seine Hand auf sein Herz, als wollte er das Blut einer schmerzlichen Wunde stillen.
Das ist ein Traum, und ich bin beinahe so verrückt als du, sprach er.
Der Knabe schwieg und schaute mit nachdenkendem Auge seinen Vater an.
Nun? fragte dieser.
Nun! es kann möglicherweise ein Irrwahn sein. Doch die Wirklichkeit meines Traumes existiert, denn während der letzten Pfingsten führte man uns im Walde von Satory bei Versailles spazieren, und dort, wahrend ich seitwärts träumte . . .
Ist dir dieselbe Vision erschienen?
Ja; doch diesmal in einem mit vier prächtigen Pferden bespannten Wagen . . . doch diesmal sehr reell, sehr lebend. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.
Und welcher Eindruck ist dir von dieser neuen Erscheinung geblieben?
Daß es nicht meine Mutter war, die ich im Traume erscheinen sah, denn diese Frau war dieselbe wie die meiner Erscheinung; aber meine Mutter ist tot.
Gilbert stand auf und fuhr mit seiner Hand über seine Stirne. Eine seltsame Blendung hatte sich seiner bemächtigt.
Der Knabe bemerkte seine Unruhe und erschrak über seine Blässe.
Ah! sagte er, sehen Sie, daß ich unrecht gehabt habe, Ihnen alle diese Thorheiten zu erzählen.
Nein, mein Kind, nein; im Gegenteil, sprich mir oft hiervon, sprich davon, so oft du mich siehst, und wir werden dich zu heilen suchen.
Sebastian schüttelte den Kopf. Mich heilen . . . und warum? sagte er. Ich habe mich an diesen Traum gewöhnt; er ist ein Teil meines Lebens geworden; ich liebe die Vision, obgleich sie mich flieht, obgleich es mir manchmal vorkommt, als stieße sie mich zurück. Heilen Sie mich nicht, mein Vater. Sie können abermals mich verlassen, abermals reisen, nach Amerika zurückkehren. Habe ich diese Vision, so bin ich doch nicht so allein.
Wohl denn, murmelte der Doktor.
Und er drückte Sebastian an seine Brust und sprach:
Auf Wiedersehen, mein Kind; ich hoffe, daß wir uns nicht verlassen werden; denn wenn ich reise, nun! so werde ich es diesmal so einrichten, daß du mit mir kommst.
War meine Mutter schön? fragte der Knabe.
Oh! ja, sehr schön, antwortete der Doktor mit erstickter Stimme.
Und sie liebte Sie ebensosehr, als ich Sie liebe?
Sebastian! Sebastian! sprich nimmer von deiner Mutter, rief der Doktor.
Und er drückte seine Lippen zum letztenmal auf die Stirne des Knaben und eilte dann aus dem Garten weg.
Statt ihm zu folgen, sank der Knabe düster und niedergeschlagen auf seine Bank zurück.
Im Hofe fand Gilbert Billot und Pitou wieder, die sich vollkommen gestärkt hatten und dem Abbé Bérardier die einzelnen Umstände von der Einnahme der Bastille erzählten.
Nachdem er dem Vorsteher aufs neue Sorgfalt in der Behandlung von Sebastian empfohlen, stieg er mit seinen zwei Gefährten wieder in den Fiaker.
Als Gilbert im Fiaker seinen Platz neben Billot und Pitou gegenüber wieder eingenommen hatte, war er bleich, und ein Schweißtropfen perlte an der Wurzel von jedem seiner Haare.
Doch es lag nicht im Charakter dieses Mannes, unter der Macht irgend einer Gemütsbewegung gebeugt zu bleiben. Er warf sich in die Ecke des Wagens zurück, drückte seine beiden Hände an seine Stirne, als hätte er die Gedanken darin zusammenpressen wollen, ließ, nachdem er einen Augenblick unbeweglich gewesen, die Hände wieder fallen und zeigte, statt eines verstörten Gesichtes, eine vollkommen ruhige Physiognomie.
Sie sagten also, sprach er dann, Sie sagten, mein lieber Herr Billot, der König habe dem Herrn Baron von Necker seinen Abschied gegeben?
Ja, Herr Doktor.
Und die Unruhen in Paris rühren von dieser Ungnade her?
Sie fügten bei, Herr von Necker habe sogleich Paris verlassen?
Er erhielt sein Entlassungsdekret, als er eben zu Mittag speiste; eine Stunde nachher war er unterwegs nach Brüssel.
Wo er sein soll . . . Hörten Sie nicht sagen, er habe unterwegs angehalten?
Doch, in Saint-Ouen, um von seiner Tochter, Frau von Staël, Abschied zu nehmen.
Ist Frau von Staël mit ihm abgereist?
Wie ich sagen hörte, ist er mit seiner Frau allein abgereist.
Kutscher, rief Gilbert, halten Sie bei dem ersten besten Schneider an.
Wollen Sie die Kleider wechseln? fragte Billot.
Jawohl. Dieser Rock hat sich ein wenig zu stark an den Mauern der Bastille abgerieben, und in solchem Anzug macht man keinen Besuch bei der Tochter eines in Ungnade gefallenen Ministers. Suchen Sie in Ihren Taschen und sehen Sie, ob Sie nicht ein paar Louis d'or darin finden.
Ho! ho! sagte der Pächter, es scheint, Sie haben Ihre Börse in der Bastille gelassen.
So verlangt es die Vorschrift des Gefängnisses, erwiderte Gilbert lächelnd; jeder Gegenstand von Wert wird in der Kanzlei niedergelegt.
Und bleibt dort, sprach der Pächter.
Und er öffnete seine große Hand, die etwa zwanzig Louis d'or enthielt, und setzte hinzu: Nehmen Sie, Doktor.
Gilbert nahm zehn Louis d'or. Einige Minuten nachher hielt der Fiaker vor dem Laden eines Trödlers an. Das war damals noch der Gebrauch. Gilbert vertauschte seinen alten gegen einen neuen schwarzen Rock, wie ihn die Herren vom dritten Stand in der Nationalversammlung trugen,
Ein Friseur in seiner Bude, ein Savoyard auf seinem Stühlchen vollendeten die Toilette des Doktors.
Der Kutscher führte Gilbert über die äußeren Boulevards nach Saint-Ouen, und er stieg vor dem Hause des Herrn von Necker in dem Augenblick ab, als es sieben Uhr auf der Dagoberts-Kathedrale schlug.
Um dieses Haus, wo es kurz zuvor noch von eifrigen Besuchen wimmelte, herrschte eine tiefe Stille, die nur die Ankunft des Fiakers von Gilbert unterbrach; und dennoch war es nicht jene Melancholie der verlassenen Schlösser, jene grämliche Traurigkeit der von der Ungnade getroffenen Häuser.
Die geschlossenen Gitter, die verödeten Blumenbeete verkündigten wohl den Abgang der Gebieter; doch keine Spur von Schmerz oder allzu großer Eile.
Überdies hatte ein ganzer Teil des Schlosses, der östliche Flügel, die Sommerläden offen behalten, und als Gilbert sich nach dieser Seite wandte, kam ein Lakai in der Livree des Herrn von Necker dem Besuch entgegen.
Durch das Gitter entspann sich nun folgendes Gespräch:
Mein Freund, befindet sich Herr von Necker nicht mehr im Schlosse?
Nein, der Herr Baron ist mit der Frau Baronin vergangenen Sonnabend nach Brüssel abgereist.
Aber Frau von Staël?
Madame ist hier geblieben. Doch ich weiß nicht, ob Madame empfangen kann; es ist die Zeit ihrer Promenade.
Ich bitte, erkundigen Sie sich, wo sie ist, und melden Sie ihr den Doktor Gilbert.
Ich will mich erkundigen, ob Madame in ihren Zimmern ist. Ohne Zweifel wird sie den Herrn empfangen. Geht sie aber spazieren, so habe ich den Befehl, sie nicht in ihrer Promenade zu stören.
Der Lakai öffnete das Gitter; Gilbert trat ein.
Während der Lakai das Gitter wieder schloß, warf er einen forschenden Blick auf den Wagen, der den Doktor gebracht hatte, und auf die seltsamen Gestalten seiner zwei Reisegefährten.
Dann entfernte er sich, den Kopf schüttelnd wie ein Mensch, bei dem der Verstand nicht ausreicht; der aber jeden andern Verstand herauszufordern scheint, da klar zu sehen, wo der seinige in der Finsternis geblieben ist.
Gilbert blieb zurück und wartete allein.
Nach fünf Minuten kam der Lakai zurück.
Die Frau Baronin geht spazieren, sagte er.
Und er verbeugte sich, um Gilbert den Abschied zu geben.
Der Doktor aber hielt sich nicht für geschlagen und erwiderte:
Mein Freund, ich bitte, wollen Sie Ihr Verbot ein wenig übertreten, mich der Frau Baronin melden und ihr sagen, ich sei der Freund des Herrn Marquis von Lafayette.
Ein in die Hand des Lakais gedrückter Louisd'or besiegte die Bedenklichkeiten, die der vom Doktor ausgesprochene Name schon halb gehoben hatte.
Treten Sie ein, mein Herr, sagte der Lakai.
Gilbert folgte ihm. Doch statt ihn in das Haus eintreten zu lassen, führte er den Doktor in den Park.
Hier ist die Lieblingsseite der Frau Baronin, sagte der Lakai, Gilbert den Eingang zu einer Art von Labyrinth bezeichnend. Wollen Sie einen Augenblick hier warten.
Zehn Minuten nachher vernahm man ein Geräusch im Blätterwerk, und eine große Frau von dreiundzwanzig bis vierundzwanzig Jahren, von mehr edlen, als anmutigen Formen, erschien vor den Augen von Gilbert.
Sie schien erstaunt, als sie einen noch so jungen Mann gewahrte, wo sie ohne Zweifel einen Menschen von schon ziemlich reifem Alter erwartet hatte.
Gilbert war in seinem Äußeren in der That merkwürdig genug, um bei einer Beobachterin von der Schärfe der Frau von Staël schon beim ersten Anblick Eindruck zu machen.
Wenige Männer besaßen ein aus so reinen Linien gebildetes Gesicht, und diese Linien hatten durch die Übung eines gewaltigen Willens den Charakter außerordentlicher Unbeugsamkeit angenommen. Seine schönen schwarzen, immer so seelenvollen Augen hatten durch Arbeit und Leiden eine milde Festigkeit angenommen, und dadurch jene Unruhe verloren, die einer von den Reizen der Jugend ist.
Eine tiefe und zugleich anmutige Falte höhlte am Winkel seiner Lippen jene geheimnisvolle Vertiefung aus, in welche die Physiognomiker den Sitz der Bedachtsamkeit legen. Es schien, als ob bloß die Zeit und ein frühzeitiges Alter Gilbert diese Eigenschaft gegeben hätten, die er von Natur aus nicht besaß.
Seine breite, wohlgerundete Stirne mit einer leichten Flucht, die seine schönen schwarzen Haare dämmten, verriet zugleich den streng wissenschaftlichen Geist und die Macht der Phantasie. Bei Gilbert, wie bei seinem Lehrer Rousseau, warf das Vorstehen der Augenbrauen einen dichten Schatten auf die Augen, und aus diesem Schatten sprang der leuchtende Punkt hervor, der das geistige Leben offenbarte.
Trotz seines bescheidenen Anzugs erschien also Gilbert vor den Augen der zukünftigen Verfasserin von Corinna unter einem merkwürdig schönen und ausgezeichneten Anblick, dessen Gesamtwesen sich noch durch seine langen, weißen Hände und durch seine schmalen, an ein feines, muskulöses Bein sich wohl anschließenden Füße vervollständigte.
Frau von Staël verlor einige Augenblicke damit, daß sie Gilbert prüfend betrachtete.
Diese Zeit verwendete Gilbert seinerseits zu einem steifen Gruß, der einigermaßen an die bescheidene Höflichkeit der Quäker in Amerika erinnerte, die der Frau, statt des lächelnden Respektes, nur die brüderliche Höflichkeit zugestehen.
Dann analysierte er mit einem raschen Blick die ganze Person der schon berühmten jungen Frau, deren verständigen und ausdrucksvollen Zügen es durchaus an Reiz gebrach; denn es war eher der Kopf eines unbedeutenden und trivialen jungen Mannes, als ein Frauenkopf auf einem Leibe voll wollüstiger Üppigkeit.
Sie hielt den Zweig eines Granatbaumes in der Hand, und aß in der Zerstreuung von dessen Blüten.
Mein Herr, Sie sind der Doktor Gilbert? fragte die Baronin.
Ja, Madame, der bin ich.
Noch so jung, haben Sie sich bereits einen sehr großen Ruf erworben; oder sollte vielleicht dieser Ruf Ihrem Vater, oder irgend einem älteren Verwandten von Ihnen gelten?
Madame, außer mir kenne ich keinen Gilbert, und wenn wirklich, wie Sie sagen, ein wenig Ruf mit meinem Namen verknüpft ist, so habe ich alles Recht, ihn in Anspruch zu nehmen.
Mein Herr, Sie haben sich des Namens des Marquis von Lafayette bedient, um zu mir zu gelangen, und der Marquis hat uns in der That von Ihrer unerschöpflichen Wissenschaft gesprochen.
Gilbert verbeugte sich.
Eine Wissenschaft, die um so merkwürdiger, um so interessanter, fuhr die Baronin fort, als Sie, wie es scheint, kein gewöhnlicher Chemiker, kein Praktiker, wie die andern, sind und alle Geheimnisse der Wissenschaft des Lebens ergründet haben.
Ich sehe wohl, Madame, erwiderte Gilbert lächelnd, der Herr Marquis von Lafayette wird Ihnen gesagt haben, ich sei ein wenig Zauberer; und wenn er Ihnen das gesagt hat, so weiß ich, daß er Geist genug hat, um Ihnen, sobald dies seine Absicht war, auch den Beweis hierfür nicht schuldig zu bleiben.
In der That, mein Herr, er hat uns von wunderbaren Kuren gesprochen, die Sie, sei es auf dem Schlachtfelde, sei es in den amerikanischen Hospitälern an verzweifelten Subjekten machten; Sie versenkten dieselben, wie uns der General gesagt hat, in einen scheinbaren Tod, der dem wirklichen so ähnlich war, daß dieser selbst sich darin täuschte.
Dieser scheinbare Tod, Madame, ist das Resultat einer beinahe unbekannten, heute nur den Händen von einigen Eingeweihten anvertrauten Wissenschaft, die am Ende allgemein werden wird.
Mesmerismus, nicht wahr? fragte Frau von Staël lächelnd.
Mesmerismus, ja, so ist es.
Sollten Sie Lektionen bei dem Meister selbst genommen haben ?
Ach! Madame, Mesmer selbst war nur der Schüler. Der Mesmerismus oder vielmehr der Magnetismus war eine schon den Ägyptern und Griechen bekannte Wissenschaft. Sie verlor sich im Ozean des Mittelalters. Shakespeare errät sie im Macbeth. Urbain Grandier findet sie wieder auf und stirbt dafür, daß er sie aufgefunden hat. Doch der Großmeister, mein Meister, ist der Graf von Cagliostro.
Dieser Charlatan? rief Frau von Staël.
Madame! Madame! hüten Sie sich davor, mit den Zeitgenossen zu urteilen, statt mit der Nachwelt. Diesem Charlatan verdanke ich mein Wissen, und die Welt wird ihm vielleicht die Freiheit zu verdanken haben.
Es mag sein, versetzte lächelnd Frau von Staël. Ich spreche, ohne die Sache zu kennen, und Sie sprechen mit Kenntnis davon. Es ist wahrscheinlich, daß Sie recht haben und daß ich unrecht habe . . . Doch kommen wir auf Sie zurück. Warum haben Sie sich solange von Frankreich entfernt gehalten? Warum sind Sie nicht zurückgekehrt, um Ihren Platz unter den Lavoisier, den Cabanis, den Condorcet, den Bailly und den Louis einzunehmen?
Bei diesem letzten Namen errötete Gilbert unmerklich.
Madame, ich habe zu viel zu studieren gehabt, um mich sogleich unter die Meister einzureihen.
Nun sind Sie endlich hier, doch in einem für uns schlimmen Augenblick. Mein Vater, der sich, ich bin es fest überzeugt, glücklich geschätzt hätte, Ihnen nützlich sein zu können, ist in Ungnade gefallen und vor drei Tagen abgereist.
Gilbert lächelte. Frau Baronin, sprach er, leicht sich verbeugend, vor sechs Tagen bin ich auf Befehl des Herrn Barons von Necker in die Bastille gesteckt worden.
Frau von Staël errötete ebenfalls.
Wahrhaftig, mein Herr, Sie sagen mir da etwas, was mich ungemein in Erstaunen setzt. Sie in der Bastille? Was hatten Sie denn gethan?
Diejenigen, welche mich haben einsperren lassen, könnten es mir allein sagen.
Aber Sie sind wieder herausgekommen?
Ja, Madame, weil es keine Bastille mehr giebt.
Wie, keine Bastille mehr? rief Frau von Staël mit scheinbarem Erstaunen.
Haben Sie die Kanonen nicht gehört?
Ja, doch Kanonen, das sind nur Kanonen.
O! erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen: es ist unmöglich, daß Frau von Staël, die Tochter des Herrn von Necker, zu dieser Stunde nicht weiß, daß die Bastille vom Volke genommen worden ist.
Ich versichere Ihnen, mein Herr, erwiderte verlegen die Baronin, allen Ereignissen seit dem Abgange meines Vaters fremd, beschäftige ich mich nur damit, daß ich über seine Abwesenheit weine.
Madame! Madame! versetzte Gilbert, den Kopf schüttelnd, die Staatskuriere sind zu sehr an den Weg gewöhnt, der nach dem Schlosse Saint-Ouen führt, als daß nicht wenigstens einer in den vier Stunden, seitdem die Bastille kapituliert hat, gekommen sein sollte.
Die Baronin sah, daß es ihr unmöglich war, zu antworten, ohne entschieden zu lügen. Die Lüge widerstrebte ihr, und sie veränderte das Gespräch.
Und welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres Besuches? fragte sie.
Ich wünschte die Ehre zu haben, Herrn von Necker zu sprechen, Madame.
Aber Sie wissen, daß er nicht mehr in Frankreich ist?
Madame, es schien mir so außerordentlich, daß Herr von Necker sich entfernt haben, so unpolitisch, daß er die Ereignisse nicht überwacht haben sollte, daß ich, ich gestehe es, darauf zählte, Sie würden mir den Ort angeben, wo ich ihn finden könnte.
Sie werden ihn in Brüssel finden, mein Herr.
Gilbert heftete seinen forschenden Blick auf die Baronin.
Ich danke, Madame, sagte er, sich verbeugend, ich werde also nach Brüssel abreisen, da ich ihm Dinge von der höchsten Wichtigkeit mitzuteilen habe.
Frau von Staël machte eine Bewegung des Zögerns, dann erwiderte sie: Zum Glück kenne ich Sie, mein Herr, und ich weiß, daß Sie ein ernster Mann sind; denn diese so wichtigen Dinge könnten wohl an ihrem Werte verlieren, wenn sie durch einen andern Mund gingen . . . Was kann es aber nach der Ungnade, nach dem Vorgefallenen, noch wichtiges für meinen Vater geben?
Es giebt die Zukunft, Madame, und ich soll vielleicht nicht ganz ohne Einfluß auf die Zukunft sein. Doch dies alles ist unnütz. Wissen Sie, was zwanzig Stunden in Revolutionszeiten sind, und wie viele Dinge in zwanzig Stunden vorfallen können? Oh! welche Unklugheit hat Herr von Necker begangen, daß er zwanzig Stunden zwischen sich und die Ereignisse, zwischen seine Hand und das Ziel gelegt hat.
Wahrhaftig, mein Herr, Sie erschrecken mich, sagte Frau von Staël, und ich fange in der That an zu glauben, daß mein Vater eine Unklugheit begangen hat.
Was wollen Sie, Madame? nicht wahr, die Dinge sind nun einmal so? Ich habe mich nur noch der Störung wegen, die ich Ihnen verursacht, auf das demütigste zu entschuldigen. Leben Sie wohl, Madame.
Doch die Baronin hielt ihn zurück und sprach: Ich sage Ihnen, mein Herr, daß Sie mich erschrecken, Sie sind mir über dies alles, was mich so sehr beunruhigt, eine Erklärung schuldig.
Ah! Madame, ich habe in diesem Augenblick so viele persönliche Interessen zu überwachen, daß es mir durchaus unmöglich ist, an die der andren zu denken; es handelt sich um mein Leben und um meine Ehre, wie es sich um das Leben und die Ehre des Herrn von Necker handeln würde, wenn er sogleich hätte die Worte hören können, die ich ihm nun erst in zwanzig Stunden sagen werde.
Mein Herr, erlauben Sie mir, mich eines Umstandes zu erinnern, den ich zu lange vergessen habe: daß nämlich solche Fragen nicht unter dem freiem Himmel, in einem Parke, im Bereiche der Ohren aller verhandelt werden sollen.
Madame, ich nehme mir die Freiheit, Ihnen zu erwidern, daß ich mich bei Ihnen befinde, und daß es folglich bei Ihnen stand, den Ort unseres Zusammenseins zu bestimmen. Was wünschen Sie? Ich bin zu Ihren Befehlen.
Sie sollen mir den Gefallen thun, dieses Gespräch in meinem Kabinett zu beendigen.
Ah! ah! sagte Gilbert zu sich selbst, wenn ich sie nicht in Verlegenheit zu bringen befürchtete, würde ich sie fragen, ob ihr Kabinett in Brüssel sei.
Doch er fragte nichts und beschränkte sich darauf, daß er der Baronin folgte, die nun sehr rasch auf das Schloß zuging.
Vor der Fassade fand man denselben Lakai, der Gilbert empfangen hatte. Frau von Staël machte ihm ein Zeichen, öffnete selbst die Thüren und führte Gilbert in ihr Kabinett, ein reizendes Gemach, doch mehr männlichen als weiblichen Geschmack verratend, dessen zweite Thüre und zwei Fenster auf eine nicht nur für fremde Personen, sondern auch für fremde Ohren unzugängliches Gärtchen gingen.
Hier angelangt, schloß Frau von Staël die Thüre wieder, wandte sich gegen Gilbert um und sagte: Mein Herr, im Namen der Menschlichkeit fordere ich Sie auf mir zu sagen, worin das Geheimnis besteht, das Sie nach Saint-Ouen geführt hat, und dessen Mitteilung meinem Vater ersprießlich sein kann.
Madame, erwiderte Gilbert, wenn Ihr Herr Vater mich hier hören könnte, wenn er wissen könnte, daß ich der Mann bin, der dem König die geheime Denkschrift, betitelt: Ideen über die Lage Europas und den Fortschritt der Freiheit, überschickt hat, – ich bin fest überzeugt, der Herr Baron von Necker würde auf der Stelle erscheinen und zu mir sagen: Doktor Gilbert, was wollen Sie von mir? sprechen Sie, ich höre Sie.
Gilbert hatte diese Worte noch nicht vollendet, als eine in einer Füllung, unter einem Gemälde von Banloo verdeckt, verborgene Thüre geräuschlos sich öffnete, und der Baron von Necker lächelnd auf der Schwelle einer kleinen Wendeltreppe erschien, von deren Höhe herab man das Licht einer Lampe fallen sah.
Nachdem die Baronin von Staël Herrn Gilbert gegrüßt und ihren Vater auf die Stirne geküßt hatte, schlug sie den Weg ein, auf dem er gekommen war, stieg die Treppe hinauf, schloß die Füllung und verschwand.
Necker war auf Gilbert zugegangen, reichte ihm die Hand und sprach: Hier bin ich, Herr Gilbert; was wollen Sie von mir? Ich höre Sie.
Beide nahmen Stühle.
Herr Baron, sagte Gilbert, Sie haben ein Geheimnis vernommen, das Ihnen alle meine Ideen offenbart. Ich bin es, der vor vier Jahren dem Könige eine Denkschrift über die allgemeine Lage Europas hat zukommen lassen; ich bin es, der ihm seit dieser Zeit aus den Vereinigten Staaten die verschiedenen Denkschriften über alle Fragen innerer Vereinbarung und Verwaltung, die sich in Frankreich erhoben, überschickt hat.
Denkschriften, fügte Necker bei, von denen Seine Majestät mit mir nie ohne eine tiefe Bewunderung und einen ebenso tiefen Schrecken sprach.
Ja, sagte Gilbert, weil sie die Wahrheit enthielten; weil die Wahrheit damals furchtbar zu hören war. Nachdem aber heute die Wahrheit zur Thatsache geworden, ist sie noch viel furchtbarer zu sehen, nicht so?
Das ist unbestreitbar, mein Herr, erwiderte Necker.
Diese Denkschriften, fragte Gilbert, hat sie Ihnen der König mitgeteilt?
Nicht alle, mein Herr, nur zwei: eine über die Finanzen. Abgesehen von einigen Verschiedenheiten, sprachen Sie darin meine eigne Ansicht aus, und ich fühlte mich dadurch sehr geehrt.
Das ist nicht alles, es war eine dabei, in der ich ihm alle die materiellen Ereignisse, die in Erfüllung gegangen sind, vorausgesagt.
Ich bitte, welche, mein Herr?
Unter anderen waren es zwei besonders: das eine, daß er sich genötigt sehen würde, in Rücksicht der von ihm eingegangenen Verbindlichkeiten Sie zu entlassen.
Sie haben ihm meine Entlassung vorhergesagt?
Vollkommen.
Das ist das erste Ereignis; welches war das zweite?
Die Einnahme der Bastille.
Sie haben die Einnahme der Bastille vorhergesagt?
Herr Baron, die Bastille war mehr als das Gefängnis des Königtums, sie war das Symbol der Tyrannei. Die Freiheit hat damit angefangen, das Symbol zu vernichten, die Revolution wird das übrige thun.
Haben Sie das Gewicht der eben gesprochenen Worte auch berechnet, mein Herr?
Allerdings.
Fürchten Sie sich nicht, eine solche Theorie ganz laut auszusprechen?
Fürchten, wovor?
Daß Ihnen Unglück widerfahre.
Herr von Necker, erwiderte Gilbert lächelnd, wenn man aus der Bastille kommt, hat man vor nichts Furcht.
Sie kommen aus der Bastille? Und warum waren Sie in der Bastille?
Das frage ich Sie.
Und warum mich?
Weil Sie mich haben hineinbringen lassen.
Ich habe Sie in die Bastille bringen lassen?
Vor sechs Tagen; das Datum ist, wie Sie sehen, nicht sehr alt, und Sie müßten sich erinnern.
Das ist unmöglich.
Erkennen Sie Ihre Unterschrift? sprach Gilbert.
Und er zeigte dem Exminister das Gefangenenregister der Bastille und den geheimen Verhaftsbefehl, der sich demselben beigefügt fand.
Ja, allerdings, sagte Necker, hier ist der Verhaftsbefehl. Sie wissen, daß ich so wenig als möglich unterzeichnete, und dieses Wenige belief sich dennoch auf viertausend Unterschriften jährlich. Überdies habe ich im Augenblick meiner Abreise bemerkt, daß man mich einige Verhaftsbefehle, bei denen der Platz für den Namen noch weiß war, hatte unterzeichnen lassen. Der Ihrige, mein Herr, wird zu meinem großen Bedauern einer von diesen gewesen sein.
Damit sagen Sie mir, mein Herr, daß ich in keiner Weise meine Einkerkerung Ihnen zuzuschreiben habe?
Nein, gewiß nicht.
Aber, Herr Baron, versetzte Gilbert lächelnd. Sie begreifen meine Neugierde; ich muß wissen, wem ich für meine Gefangenschaft zu Dank verpflichtet bin. Haben Sie also die Güte, es mir zu sagen.
Oh! nichts kann leichter sein. Ich habe aus Vorsicht meine Briefe nie im Ministerium gelassen, sondern sie jeden Abend hieher gebracht. Die von diesem Monat sind in der Schublade B. dieses Schrankes. Suchen wir in dem Bunde den Buchstaben G.
Necker öffnete die Schublade und durchblätterte einen ungeheuren Bund, der fünf- bis sechshundert Briefe enthalten konnte.
Ich behalte nur die Briefe, die ihrer Natur nach meine Verantwortlichkeit zu sichern imstande sind. Eine Verhaftung, die ich vornehmen lasse, ist ein Feind, den ich mir mache. Ich muß also den Streich pariert haben. Das Gegenteil würde mich sehr in Erstaunen setzen. Sehen wir G . . . G . . . das ist es. Ja, Gilbert. Das kommt Ihnen vom Hause der Königin zu, mein lieber Herr.
Ah! ah! vom Hause der Königin!
Ja, Begehren eines Verhaftsbefehls gegen einen Namens Gilbert. Kein Gewerbe. Schwarze Haare, schwarze Augen. Folgt das Signalement. Begiebt sich von Havre nach Paris, das ist das Ganze. Dieser Gilbert waren also Sie?
Das war ich. Können Sie mir den Brief also anvertrauen?
Nein, doch ich kann Ihnen sagen, von wem er unterzeichnet ist, von Gräfin von Charny.
Gräfin von Charny? wiederholte Gilbert; ich kenne sie nicht, ich habe ihr nichts gethan.
Und er erhob sachte den Kopf, als wollte er in seinen Erinnerungen suchen.
Dabei findet sich eine kleine Randbemerkung, die nicht unterzeichnet ist, aber von einer mir bekannten Handschrift. Sehen Sie.
Gilbert neigte sich und las am Rande des Briefes: Ohne Verzug zu thun, was die Gräfin von Charny verlangt.
Das ist seltsam, sagte Gilbert, die Königin, das begreife ich noch, es war von ihr und den Polignac in meiner Denkschrift die Rede. Doch diese Frau von Charny . . .
Sie kennen Sie nicht?
Das muß ein Name sein, den man nur dazu hergegeben hat. Übrigens darf man sich nicht darüber wundern, daß mir die Notabilitäten von Versailles unbekannt sind. Seit fünfzehn Jahren bin ich von Frankreich abwesend; ich habe es nur zweimal wiedergesehen, und das zweite Mal vor bald vier Jahren verlassen. Wer ist die Gräfin von Charny, wenn ich fragen darf ?
Die Freundin, die Vertraute der Königin, die sehr angebetete Frau des Grafen von Charny, eine Schönheit und eine Tugend zugleich, kurz ein Wunder.
Nun, ich kenne dieses Wunder nicht.
Wenn dem so ist, mein lieber Doktor, so bleiben Sie dabei stehen, daß Sie das Spielzeug einer politischen Intrigue sind. Sie haben vom Grafen Cagliostro gesprochen?
Ja, er ist mein Freund gewesen, mehr als mein Freund, mein Lehrer, mehr als mein Lehrer, mein Retter.
Wohl! Österreich oder der heilige Stuhl werden Ihre Einkerkerung verlangt haben. Sie haben Broschüren geschrieben?
Ach! ja.
Alle diese kleinen Rachgieren wenden sich der Königin zu, wie die Kompaßnadel dem Nordpol, wie das Eisen dem Magnet. Man hat gegen Sie komplottiert; man hat Sie von Leuten bespähen lassen. Die Königin hat Frau von Charny beauftragt, den Brief zu unterzeichnen, um den Verdacht zu entfernen, und damit ist das Geheimnis aufgeklärt.
Gilbert dachte einen Augenblick nach.
Dieser Augenblick des Nachdenkens rief das bei Billot in Pisseleux gestohlene Kistchen in sein Gedächtnis zurück, mit dem weder die Königin, noch Österreich, noch der heilige Stuhl etwas zu thun hätten, und diese Erinnerung brachte ihn wieder auf den rechten Weg.
Nein, sagte er, das ist es nicht, das kann es nicht sein; doch gleichviel, gehen wir zu etwas anderm, zu Ihnen über.
Zu mir? was haben Sie mir von mir zu sagen?
Was Sie so gut wissen, als irgend jemand: daß Sie binnen drei Tagen wieder in ihre Funktionen eingesetzt sind, und daß Sie dann Frankreich so despotisch regieren werden, als Sir wollen.
Sie glauben? versetzte Necker lächelnd.
Und Sie auch, da Sie nicht in Brüssel sind.
Nun wohl! das Resultat? denn zum Resultat müssen wir kommen.
Vernehmen Sie es. Sie sind bei den Franzosen beliebt. Sir werden von ihnen angebetet sein. Die Königin war es schon lange müde, Sie geliebt zu sehen, der König wird es müde werden, Sie angebetet zu sehen; beide werden Popularität auf Ihre Kosten treiben, und Sie werden es nicht leiden. Dann werden Sie beim Volke unbeliebt. Das Volk, mein lieber Herr Necker, ist ein hungriger Löwe, der nur die fütternde Hand liebt, welche Hand dies auch sein mag. Hernach fallen Sie wieder in Vergessenheit zurück.
Ich, in die Vergessenheit? Und was würde mich vergessen machen?
Die Ereignisse.
Bei meinem Ehrenwort, Sie sprechen als Prophet.
Ich habe das Unglück, es ein wenig zu sein.
Lassen Sie hören, was wird geschehen?
Oh! was geschehen wird, ist nicht schwer vorherzusagen, denn was geschehen wird, steckt im Keime in der Nationalversammlung. Eine Partei wird sich erhellen, die in diesem Augenblick schläft, oder vielmehr, die wacht, aber sich verbirgt. Diese Partei hat zum Haupte ein Prinzip, zur Waffe eine Idee.
Ich begreife. Sie sprechen von der orleanistischen Partei?
Nein. Von dieser hätte ich gesagt, sie habe zum Haupte einen Mann, zur Waffe die Volksbeliebtheit. Ich spreche von einer Partei, deren Name nicht einmal genannt worden ist: von der republikanischen Partei.
Von der republikanischen Partei? Ah! was denken Sie?
Sie glauben nicht daran?
Chimäre.
Ja, Chimäre mit dem feurigen Rachen, der euch alle verschlingen wird.
Wohl! ich werde Republikaner, ich bin es schon.
Republikaner von Genf, ganz richtig.
Mir scheint, ein Republikaner ist ein Republikaner.
Das ist der Irrtum, Herr Baron; unsre Republikaner werden durchaus nicht den Republikanern andrer Länder gleichen; unsere Republikaner werden zuerst die Vorrechte, dann den Adel, dann das Königtum verschlingen. Ihr andern werdet mit unsern Republikanern abgehen, aber sie werden ohne euch ankommen, denn Ihr werdet nicht dahin gehen wollen, wohin sie gehen. Nein, Herr Baron von Necker, Sie täuschen sich. Sie sind kein Republikaner.
Oh! wenn Sie es so verstehen, nein; ich liebe den König.
Und ich auch, und alle Welt liebt ihn in diesem Augenblick, wie wir. Wenn ich das, was ich sage, einem minder erhabenen Geiste sagte, als Ihnen, so würde man mich auszischen und ausschelten; doch dürfen Sie sicher daran glauben, Herr von Necker!
Das würde ich in der That auch thun, wenn die Sache irgend eine Wahrscheinlichkeit hätte; aber . . .
Kennen Sie die geheimen Gesellschaften?
Ich habe viel davon sprechen hören.
Glauben Sie daran?
Ich glaube an ihre Existenz, aber nicht an ihre Allgemeinheit.
Sind Sie Mitglied von einer?
Nein.
Wohl, Herr Minister, ich bin es, und nicht bloß von einer, sondern von allen. Herr Minister, geben Sie wohl acht, das ist ein ungeheures Netz, das alle Throne umschlingt. Es ist ein unsichtbarer Dolch, der alle Monarchien bedroht. Wir sind ungefähr drei Millionen Brüder, in allen Ländern verbreitet, in allen Klassen der Gesellschaft zerstreut. Wir haben Freunde im Volke, im Bürgerstand, im Adel, bei den Prinzen, unter den regierenden Fürsten sogar. Nehmen Sie sich in acht, Herr von Necker, der Prinz, vor dem Sie sich vielleicht als Gegner der geheimen Gesellschaften zu erkennen geben, ist möglicherweise ein Affiliierter derselben – nehmen Sie sich in acht! Der Bediente, der sich vor Ihnen verbeugt, ist vielleicht ein Affiliierter. Ihr Leben gehört ihnen. Ihr Vermögen gehört ihnen, sogar Ihre Ehre gehört ihnen. Dies alles gehört einer unsichtbaren Macht, gegen die Sie nicht zu kämpfen imstande sind, denn Sie kennen sie nicht, während dieselbe Sie zu verderben vermag, weil Sie ihr bekannt sind. Wohl denn! diese drei Millionen Menschen, sehen Sie, die bereits die amerikanische Republik gemacht haben, versuchen es nunmehr, auch eine französische, und später eine europäische Republik zu machen.
Aber Ihre Republik der Vereinigten Staaten erschreckt mich nicht zu sehr, und gern nehme ich dieses Programm an.
Ja, doch zwischen Amerika und uns ist eine Kluft. Amerika, ein neues Land, ohne Vorurteile, ohne Privilegien, ohne Königtum, ein nährender Boden, fruchtbare Ländereien, jungfräuliche Wälder, Amerika liegt zwischen dem Meere und dem Urwald, wovon jenes einen Ausweg für seinen Handel, dieser eine Hilfsquelle für seine Bevölkerung bietet, während Frankreich! . . . sehen Sie doch, was man in Frankreich zu zerstören hat, ehe Frankreich Amerika gleicht.
Oh! wohin wollen Sie denn kommen?
Ich will dahin kommen, wohin wir unglücklicherweise gehen. Doch ich will danach trachten, daß wir ohne gewaltsame Erschütterung dahin kommen, indem ich den König an die Spitze der Bewegung stelle, als einen Schild.
Einen Schild? versetzte Necker lächelnd. Sie kennen den König nicht, wenn Sie ihn eine solche Rolle wollen spielen lassen.
Doch, ich kenne ihn. Ei! mein Gott, ich weiß es wohl, er ist ein Mann, wie ich tausend an der Spitze kleiner Bezirke von Amerika gesehen habe, ein braver Mann, ohne Majestät, ohne Widerstand, ohne urheberische Kraft – doch was wollen Sie? Und wäre es nur durch den geheiligten Titel, den er führt, so ist er doch immerhin ein Wall gegen die Menschen, von denen ich soeben sprach; und so schwach auch ein Wall sein mag, man hat ihn doch lieber als nichts.
Ich erinnere mich, in unsern Kriegen mit den wilden Stämmen im Norden Amerikas ganze Nächte hinter ein paar Schilfrohren zugebracht zu haben; der Feind war auf der andern Seite des Flusses und schoß nach uns. Ein Rohr ist wenig, nicht wahr? und dennoch gestehe ich Ihnen, Herr Baron, daß mein Herz behaglicher hinter diesen großen, grünen Rohren schlug, die eine Kugel wie Fäden durchschneiden konnte, als wenn ich auf freiem Felde gewesen wäre. Nun wohl, der König ist mein Rohr. Er erlaubt mir den Feind zu sehen, und verhindert den Feind, daß er mich sieht. Darum bin ich Republikaner in New-York oder Philadelphia, Royalist in Frankreich. Dort hieß unser Diktator Washington. Hier weiß Gott, wie er heißen wird: Dolch oder Schafott.
Sie sehen die Dinge blutfarbig an, Doktor.
Herr Baron, wenn Sie heute auf der Grève gewesen wären, so würden Sie die Dinge ebenso ansehen, wie ich.
Ja, das ist wahr; es soll dort, wie ich höre, eine Metzelei stattgefunden haben.
Es ist eine schöne Sache um das Volk . . . wenn es schön ist! . . . . O menschliche Stürme! rief Gilbert aus, wie weit, wie weit laßt ihr die Stürme des Himmels hinter euch zurück!
Necker wurde nachdenkend.
Wie schade, daß ich Sie nicht bei mir habe, Doktor, sagte er. Sie wären für mich, wenn es Not thäte, ein strenger Ratgeber.
Bei Ihnen, Herr Baron, wäre ich Ihnen nicht so dienlich, und besonders Frankreich nicht so nützlich, wie da, wohin ich zu gehen Lust habe.
Und wohin wollen Sie gehen?
Hören Sie, mein Herr; es ist beim Throne selbst ein großer Feind des Throns, beim König selbst ein großer Feind des Königs: das ist die Königin. Die arme Frau vergißt, daß sie die Tochter von Maria Theresia ist, oder sie erinnert sich dessen nur aus dem Gesichtspunkte des Stolzes: sie glaubt den König zu retten, und sie schadet mehr, als der König: sie richtet das Königtum zu Grunde. Wohl denn! wir, die wir den König lieben, wir, die wir Frankreich lieben, wir müssen miteinander übereinkommen, um diese Macht zu neutralisieren, um diesen Einfluß zu vernichten.
Nun, so thun Sie, was ich Ihnen gesagt habe; bleiben Sie bei mir, helfen Sie mir.
Wenn ich bei Ihnen bleibe, werden wir nur ein einziges Thätigkeitsmittel haben: Sie werden ich sein, ich werde Sie sein. Wir werden uns trennen, mein Herr, und dann haben wir ein doppeltes Gewicht.
Und wohin werden wir es mit dem allen bringen?
Dahin, daß wir die Katastrophe vielleicht verzögern, aber sicherlich nicht verhindern, obschon ich Ihnen für einen mächtigen Unterstützer bürge, für den Marquis von Lafayette.
Lafayette ist ein Republikaner.
Wie ein Lafayette ein Republikaner sein kann. Müssen wir durchaus unter dem Niveau der Gleichheit passieren, so lassen Sie uns, glauben Sie mir, das der vornehmen Herren wählen. Ich liebe die Gleichheit, welche erhebt, und nicht die, welche erniedrigt.
Und Sie stehen uns für Lafayette?
Solange man nur Ehre, Mut, Aufopferung von ihm verlangen wird, ja.
Nun, so reden Sie also, was wünschen Sie?
Einen Einführungsbrief zu Seiner Majestät dem König Ludwig XVI.
Ein Mann von Ihrem Verdienst bedarf keines Einführungsbriefes; er stellt sich selbst vor.
Nein, es sagt mir zu, Ihr Geschöpf zu sein; es entspricht meinen Plänen, von Ihnen vorgestellt zu werden.
Und wonach trachten Sie?
Einer der Quartal-Aerzte des Königs zu werden.
Oh! nichts kann leichter sein. Doch die Königin?
Bin ich einmal beim König, so ist das meine Sache.
Doch wenn Sie die Königin verfolgt?
Dann werde ich machen, daß der König einen Willen hat.
Der König einen Willen? Sie werden mehr als ein Mensch sein, wenn Sie das vermögen.
Derjenige, welcher den Leib lenkt, müßte ein großer Tölpel sein, wenn es ihm eines Tages nicht gelänge, auch den Geist zu lenken.
Glauben Sie aber nicht, daß es, um Arzt des Königs zu werden, eine schlechte Empfehlung ist, in der Bastille eingesperrt gewesen zu sein.
Bin ich nicht Ihrer Ansicht nach wegen des Verbrechens der Philosophie verfolgt worden?
Das befürchte ich.
Dann stellt der König seine Ehre wieder her, der König macht sich beim Volke beliebt, indem er zum Arzte einen Zögling von Rousseau, einen Parteigänger der neuen Lehren, einen Gefangenen nimmt, der gerade aus der Bastille kommt. Gleich das erste Mal, sobald Sie den König sehen werden, machen Sie dies bei ihm geltend.
Sie haben immer recht; doch kann ich auf Sie zählen, wenn Sie einmal beim König sind?
Ganz und gar, solange Sie in der politischen Linie bleiben, die wir annehmen werden.
Was versprechen Sie mir?
Sie genau von der Stunde zu unterrichten, wann Sie sich zurückzuziehen haben.
Necker schaute einen Augenblick Gilbert an; dann sprach er mit verdüstertem Tone: In der That, das ist der größte Dienst, den ein ergebener Freund einem Minister leisten kann, denn es ist der letzte.
Und er setzte sich an den Tisch, um an den König zu schreiben.
Mittlerweile las Gilbert den Brief noch einmal und sagte zu sich selbst: Gräfin von Charny, wer kann das sein?
Hier, mein Herr, sprach Necker nach ein paar Minuten, indem er Gilbert den Brief reichte, den er geschrieben hatte.
Gilbert nahm den Brief und las.
Er enthielt was folgt:
Sire,
Eure Majestät ist eines sichern Mannes benötigt, mit dem sie von ihren Angelegenheiten sprechen kann. Mein letztes Geschenk, mein letzter Dienst, indem ich den König verlasse, ist das Geschenk, das ich ihm mit dem Doktor Gilbert mache. Ich sage Eurer Majestät genug, wenn ich ihr bemerke, daß der Doktor Gilbert nicht nur einer der ausgezeichnetsten Aerzte ist, die in der Welt existieren, sondern auch der Verfasser der Denkschriften über Administration und Politik, die einen so lebhaften Eindruck auf den König hervorgebracht haben.
Zu den Füßen Eurer Majestät
Baron von Necker.
Necker datierte seinen Brief nicht, und übergab ihn dem Doktor nur einfach gesiegelt.
Und nun, fügte er bei, nun bin ich in Brüssel nicht wahr?
Ja, gewiß, und mehr als je. Morgen früh werden Sie indessen Nachricht von mir erhalten.
Der Baron klopfte auf eine gewisse Weise an die Füllung, Frau von Staël erschien wieder, nur hielt sie diesmal außer ihrem Granatzweige die Broschüre des Doktors Gilbert in der Hand. Sie zeigte ihm den Titel davon mit einer Art von schmeichelhafter Koketterie.
Gilbert nahm Abschied von Herrn von Necker und küßte der Baronin, die ihn bis zum Ausgang des Kabinetts begleitete, die Hand.
Und er kehrte zu dem Fiaker zurück, wo Billot und Pitou auf dem Vordersitze schliefen, wo der Kutscher auf seinem Bocke schlief, und wo die Pferde auf ihnen wankenden Beinen gleichfalls schliefen.
Das Zusammensein von Gilbert, Frau von Staël und Herrn von Necker hatte ungefähr anderthalb Stunden gedauert. Gilbert kam ein Viertel nach neun Uhr nach Paris zurück, ließ sich unmittelbar nach der Post fahren, nahm Wagen und Pferde, und während Billot und Pitou in einem kleinen Gasthause der Rue Thiroux, wo Billot, wenn er nach Paris kam, abzusteigen pflegte, von ihren Strapazen ausruhten, fuhr Gilbert im Galopp nach Versailles.
Es war spät; doch daran lag Gilbert wenig. Bei Männern seines Schlages ist Thätigkeit Bedürfnis. Seine Fahrt konnte möglicherweise ohne Erfolg sein; doch war ihm eine vergebliche Fahrt noch lieber, als auf der Stelle zu bleiben. Für nervöse Organisationen ist die Ungewißheit eine schlimmere Folter, als die erschrecklichste Wirklichkeit.
Er kam nach Versailles um halb elf Uhr; in gewöhnlicher Zeit wäre alle Welt zu Bette gegangen und in den tiefsten Schlaf versunken gewesen. Doch an diesem Abend schlief niemand in Versailles. Man hatte hier den Gegenschlag der Erschütterung empfangen, unter der Paris noch zitterte.
Die französischen Garden, die Gardes-du-corps, die Schweizer, rottenweise aufgestellt, an allen Ausgängen der Hauptstraßen gruppiert, unterhielten sich untereinander oder mit den Bürgern, deren royalistische Gesinnungen ihnen Vertrauen einflößte.
Ganz Versailles trieb sich also in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1789, in bunter Verwirrung umher und wollte erfahren, wie der König die seiner Krone zugefügte Beleidigung, den seiner Macht versetzten Schlag aufnehmen werde.
Durch die Antwort, die Mirabeau Herrn von Dreux-Brézé gegeben, hatte er das Königtum ins Gesicht geschlagen. Durch die Einnahme der Bastille war es vom Volk ins Herz getroffen.
Für die beschränkten Köpfe, für die Kurzsichtigen war indessen die Frage rasch gelöst. In den Augen der Militärs besonders, die im Resultat der Ereignisse nur den Sieg oder die Niederlage der rohen Gewalt zu sehen gewohnt waren, handelte es sich ganz einfach um einen Marsch nach Paris. Dreißigtausend Mann und zwanzig Kanonen würden bald diesen Stolz und diese Siegeswut der Pariser vernichten.
Noch nie hatte das Königtum so viele Räte gehabt; jeder gab seine Ansicht ganz laut und öffentlich zum besten.
Die Mäßigsten sagten: Das ist ganz einfach. Man erwirke zuerst von der Nationalversammlung eine Gutheißung, die sie nicht verweigern wird; ihre Haltung ist seit einiger Zeit beruhigend für jedermann, sie will ebensowenig von unten ausgehende Gewaltthätigkeiten, als von oben herabkommende Mißbräuche.
Die Nationalversammlung wird ganz unumwunden erklären, der Aufruhr sei ein Verbrechen; Bürger, die Abgeordnete haben, um ihre Beschwerden dem König auseinanderzusetzen, und einen König, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, begehen ein Unrecht, wenn sie ihre Zuflucht zu den Waffen nehmen und Blut vergießen.
Mit dieser Erklärung ausgerüstet, die man sicherlich von der Nationalversammlung erlangen wird, kann der König nicht umhin, Paris als guter Vater, das heißt streng, zu züchtigen.
So wird der Sturm zum Schweigen gebracht, das Königtum tritt in sein erstes Recht wieder ein. Die Völker kehren zu ihrer Pflicht zurück, die der Gehorsam ist, und alles verfolgt seinen gewohnten Weg.
So ordnete man im allgemeinen die Angelegenheiten auf dem Cours und auf den Boulevards. Doch vor dem Paradeplatz und in der Umgegend der Kasernen führte man eine andre Sprache. Hier sah man unbekannte ortsfremde Menschen, Menschen mit verständigem Gesicht und verschleiertem Auge, bei jedem Anlaß geheimnisvolle Ratschläge austeilen, die schon sehr ernsten Nachrichten übertreiben und beinahe öffentlich Propaganda mit den meuterischen Ideen treiben, die seit zwei Monaten Paris in Bewegung setzten und die Vorstädte aufwiegelten.
Um diese Menschen bildeten sich düstere, feindselige, belebte Gruppen, die man an ihr Elend, an ihre Leiden, an die brutale Menschenverachtung erinnerte, deren sich das Königtum schuldig gemacht.
An den dunkelsten Orten bildeten sich andre Versammlungen, wurden andre Worte gesprochen. Diejenigen, welche sie aussprachen, waren Männer, die offenbar einer höheren Klasse angehörten und von der Volkstracht eine Verkleidung geborgt hatten, in der sie aber verraten wurden durch ihre weißen Hände und ihre feingebildete Sprache.
Volk! sagten diese Männer, man beirrt dich in der That von zwei Seiten: die einen fordern dich auf, zurückzukehren, die andern treiben dich vorwärts. Man spricht dir von politischen Rechten, von sozialen Rechten; bist du glücklicher, seitdem man dir erlaubt hat, durch das Organ deiner Abgeordneten zu stimmen? Bist du reicher, seitdem du vertreten wirst? Hast du weniger Hunger, seitdem die Nationalversammlung Dekrete macht? Nein, nein, überlaß die Politik und ihre Theorieen den Leuten, die zu lesen verstehen. Was dir not thut, ist nicht eine Redensart oder eine geschriebene Maßregel.
Es ist Brot, und dann wieder Brot; es ist der Wohlstand deiner Kinder, die süße Ruhe deiner Frau. Wer wird dir dies alles geben? Ein König von festem Charakter, von jugendlichem Geist, von edlem Herzen. Dieser König ist nicht Ludwig XVI., der unter seiner Frau regiert, unter der Österreicherin mit dem ehernen Herzen; es ist . . . suche wohl um den Thron; suche dort denjenigen, welcher Frankreich wieder glücklich machen kann, und den die Königin mit Recht haßt, weil er Schatten auf das Gemälde wirft, weil er die Franzosen liebt und von ihnen geliebt wird.
So gab sich die Meinung in Versailles kund, so entfachte man überall den Bürgerkrieg.
Gilbert zog bei einigen von diesen Gruppen Erkundigungen ein; als er sodann den Zustand der Geister erkannt hatte, ging er gerade auf das Schloß zu, das zahlreiche Posten bewachten.
Trotz aller dieser Posten durchschritt Gilbert ohne alle Schwierigkeit die ersten Höfe und gelangte bis zu den Vorzimmern, ohne daß irgend jemand ihn fragte.
Als er in den Saal des Oeil-de-Boëuf kam, hielt ihn ein Garde-du-corps an. Gilbert zog aus seiner Tasche den Brief des Herrn von Necker und zeigte die Unterschrift. Der Edelmann warf einen Blick darauf. Das Verbot war streng, und da die strengsten Verbote gerade diejenigen sind, welche am meisten der Erläuterung bedürfen, so sagte der Garde-du-corps zu Gilbert:
Mein Herr, der Befehl, niemand zum König einzulassen, ist förmlich; da man aber offenbar den Fall eines Abgesandten des Herrn von Necker nicht vorgesehen hat, da Sie aller Wahrscheinlichkeit nach Seiner Majestät einen wichtigen Rat bringen, so gehen Sie hinein, ich nehme die Übertretung auf mich.
Gilbert trat ein.
Der König war nicht in seinen Gemächern, sondern im Beratungssaal; er empfing hier eine Deputation der Nationalgarde, die von ihm die Entfernung der Truppen, die Bildung einer Bürgergarde, und seine Gegenwart in Paris verlangt hatte.
Ludwig hatte kalt angehört, und dann geantwortet: die Lage der Dinge bedürfe der Aufhellung, und er werde diese Lage mit seinem Rate in Überlegung ziehen.
Während dieser Zeit warteten die Abgeordneten in der Galerie und sahen durch die mattgeschliffenen Gläser der Thüren das Spiel der wachsenden Schatten der königlichen Räte und ihre drohenden Bewegungen.
Durch das Studium dieser Art von Phantasmagorie konnten sie erraten, die Antwort werde schlecht sein.
Der König beschränkte sich in der That darauf, daß er antwortete, er werde die Chefs für die Bürgermiliz ernennen und den Truppen vom Marsfelde Befehl geben, sich zurückzuziehen.
Was seine Gegenwart in Paris betraf, so wollte er der aufrührerischen Stadt diese Gunst nicht eher gewähren, als bis sie sich völlig unterworfen hätte.
Die Deputation bat, flehte, beschwor. Der König erwiderte, sein Herz sei zerrissen, aber er vermöge nicht mehr.
Und zufrieden mit diesem augenblicklichen Triumphe, mit dieser Kundgebung einer Gewalt, die er schon nicht mehr besaß, kehrte der König in seine Gemächer zurück.
Hier fand er Gilbert. Der Garde-du-corps war bei ihm.
Was will man von mir? fragte der König.
Der Garde-du-corps näherte sich ihm, und während er sich bei Ludwig XVI. entschuldigte, daß er gegen das Verbot gefehlt, betrachtete Gilbert, der seit langen Jahren den König nicht mehr gesehen, stillschweigend diesen Mann, den Frankreich im Augenblick des heftigsten Sturms, den es je erlitten, von Gott zum Lotsen erhalten hatte.
Dieser dicke und kurze Leib, ohne Federkraft und Majestät, dieser in seinen Formen weiche und im Ausdruck unfruchtbare Kopf, diese mit einem frühzeitigen Alter streitende Jugend, dieser ungleiche Kampf einer mächtigen Materie gegen eine mittelmäßige Intelligenz, welcher der Rangstolz allein einen zeitweisen Wert gab: dies alles bedeutete für den Physiognomiker, der mit Lavater studiert, für den Magnetiseur, der mit Balsamo in der Zukunft gelesen, für den Philosophen, der mit Jean-Jacques geträumt, für den Reisenden, der alle menschlichen Rassen an sich hatte vorübergehen lassen, dies alles bedeutete: Ausartung, Verschlechterung, Ohnmacht, Untergang.
Gilbert war also wie betäubt, nicht durch die Ehrfurcht, sondern durch den Schmerz, indem er dieses traurige Schauspiel betrachtete.
Der König ging auf ihn zu und sagte: Sie sind es, der mir einen Brief von Herrn von Necker bringt?
Ja, Sire.
Ah! rief er, als ob er gezweifelt hätte, kommen Sie geschwinde.
Gilbert reichte den Brief dem König. Ludwig las ihn hastig und sagte dann zu dem Garde-du-corps mit einer Gebärde, der es nicht ganz an einem gewissen Adel des Befehlens gebrach:
Lassen Sie uns allein, Herr von Varicourt.
Gilbert blieb mit dem König allein.
Das Zimmer war nur durch eine einzige Lampe erleuchtet; man hätte glauben sollen, der König habe das Licht gemäßigt, damit man auf seiner mehr verdrießlichen, als sorgenvollen Stirne alle die Gedanken, die sich in ihm drängten, nicht lesen könne.
Mein Herr, sagte er, auf Gilbert einen Blick heftend, der klarer und schärfer war, als sich dieser wohl gedacht hatte, mein Herr, ist es wahr, daß Sie der Verfasser der Denkschriften sind, die mich so in Erstaunen gesetzt haben?
Ja, Sire.
Wie alt sind Sie?
Zweiunddreißig Jahre, Sire; doch das Studium und das Unglück verdoppeln das Alter. Behandeln Sie mich als einen Greis.
Warum haben Sie so lange gewartet, um vor mir zu erscheinen?
Sire, weil ich kein Bedürfnis hatte, Eurer Majestät das mündlich zu sagen, was ich freier und leichter schrieb.
Ludwig XVI. dachte nach.
Sie haben keine andern Gründe? sagte er argwöhnisch. Aber wenn ich mich nicht täusche, müssen Sie gewisse Umstände von meiner wohlwollenden Gesinnung für Sie unterrichtet haben.
Eure Majestät meint vielleicht jene Art von Rendezvous, das ich dem König zu geben die Verwegenheit hatte, als ich ihn nach meiner ersten Denkschrift vor fünf Jahren bat, abends um 8 Uhr ein Licht an sein Fenster zu stellen, um mir zu bezeichnen, er habe meine Arbeit gelesen.
Und . . . sagte der König befriedigt.
Und am bestimmten Tage und zur bestimmten Stunde wurde das Licht in der That dahin gestellt, wohin es zu stellen ich Sie ersucht hatte, Sire. Hernach sah ich es dreimal sich erheben und wieder senken. Sodann las ich folgende Worte in der Gazette: Derjenige, welchen das Licht dreimal gerufen, kann sich bei demjenigen einfinden, welcher es dreimal emporgehoben hat, er wird belohnt werden.
Das sind in der That die eigenen Worte der Anzeige, sagte der König.
Und hier ist die Anzeige selbst, sprach Gilbert, indem er aus seiner Tasche die Zeitung zog, in die fünf Jahre vorher die Anzeige, an die er erinnert hatte, eingerückt worden war.
Gut, sehr gut, sprach der König, ich habe lange auf Sie gehofft. Sie erscheinen in dem Augenblick, wo ich Sie zu erwarten aufgehört hatte. Seien Sie willkommen, denn Sie erscheinen wie die guten Soldaten, im Augenblick des Kampfes.
Dann schaute er Gilbert noch aufmerksamer an und fügte bei:
Wissen Sie, mein Herr, daß es für einen König etwas Außerordentliches ist, einen Menschen nicht erscheinen zu sehen, zu dem man gesagt hat: Kommen Sie, um eine Belohnung zu empfangen?
Lassen Sie hören, sprach Ludwig XVI., warum sind Sie nicht gekommen?
Weil ich keine Belohnung verdiente, Sire. Ein geborener Franzose, mein Vaterland liebend, eifersüchtig auf seine Wohlfahrt, meine Individualität mit der von dreißig Millionen Menschen, meinen Mitbürgern, verschmelzend, arbeitete ich für mich, indem ich für sie arbeitete. Sire, man ist nicht immer einer Belohnung würdig, weil man selbstsüchtig ist.
Paradox, mein Herr; Sie hatten einen andern Grund.
Gilbert erwiderte nichts.
Sprechen Sie, mein Herr, ich wünsche es.
Sie haben vielleicht richtig erraten, Sire.
Ist es nicht dieser Grund, fragte der König ängstlich: Sie fanden die Lage ernst, und behielten sich vor . . .?
Für eine noch viel ernstere; ja, Sire, Eure Majestät hat richtig erraten.
Ich liebe die Offenherzigkeit, sagte der König, der seine Unruhe nicht verbergen konnte, denn er war von einer schüchternen Natur und errötete leicht.
Ludwig XVI. fuhr fort: Sie sagten dem König den Ruin vorher, und haben das Zunahesein bei den Trümmern befürchtet.
Nein, Sire, denn ich komme gerade in dem Augenblick, wo der Ruin bald bevorsteht, um mich der Gefahr zu nähern.
Ja, ja, Sie verlassen soeben Necker und sprechen wie er. Die Gefahr, allerdings; es ist in diesem Augenblick gefährlich, sich mir zu nähern. Und wo ist Necker?
Ich glaube, ganz bereit, sich den Befehlen Eurer Majestät zu fügen.
Desto besser, ich werde seiner bedürfen, sprach der König mit einem Seufzer. In der Politik soll man nicht halsstarrig sein. Man glaubt gut zu thun und thut schlecht; man thut sogar gut, und das launenhafte Ereignis stört die Resultate; die Pläne waren nichtsdestoweniger gut, und doch gilt man dafür, daß man sich getäuscht habe.
Der König seufzte abermals; Gilbert kam ihm zu Hilfe.
Sire, sagte er, Eure Majestät urteilt und schließt bewunderungswürdig; was aber zu dieser Stunde zu thun sich geziemt, ist, daß man klarer in der Zukunft zu sehen sucht, als man dies bis jetzt gethan hat.
Der König erhob das Haupt, und man konnte seine ausdrucksvolle Stirne sich leicht falten sehen.
Sire, verzeihen Sie mir, sagte Gilbert, ich bin Arzt. Ist das Übel groß, so bin ich kurz.
Sie legen also ein großes Gewicht auf den heutigen Aufstand?
Sire, das ist kein Aufstand, das ist eine Revolution.
Und Sie wollen, daß ich mich mit diesen Rebellen, mit diesen Mördern vertrage? Denn sie haben die Bastille mit Gewalt genommen:, das ist ein Akt des Aufruhrs; sie haben Herrn de Launay, Herrn von Losme und Herrn von Flesselles getötet: das ist Mord.
Ich will, daß Sie die einen von den andern trennen, Sire; diejenigen, welche die Bastille genommen, sind Helden; diejenigen, welche die Herren von Flesselles, von Losme und de Launay getötet haben, sind Mörder.
Der König errötete leicht; doch beinahe in demselben Augenblick verschwand diese Röte wieder, seine Lippen erbleichten, und ein paar Schweißtropfen perlten auf seiner Stirne.
Sie haben recht, mein Herr. Sie sind Arzt, oder vielmehr Wundarzt, denn Sie schneiden in das lebendige Fleisch ein. Doch kommen wir auf Sie zurück. Sie heißen Doktor Gilbert, nicht wahr? oder mit diesem Namen sind wenigstens Ihre Denkschriften unterzeichnet.
Sire, es ist eine große Ehre für mich, daß Eure Majestät sich so gut erinnert, obschon ich im ganzen unrecht habe, so stolz zu sein.
Warum?
Mein Name mußte in der That unlängst vor Eurer Majestät ausgesprochen worden sein.
Ich begreife nicht . . .
Vor sechs Tagen bin ich verhaftet und in die Bastille gebracht worden. Ich habe aber sagen hören, es finde keine Verhaftung von einer Wichtigkeit statt, ohne daß es der König wisse.
Sie in der Bastille? rief der König, die Augen weit aufreißend.
Hier ist mein Gefängnisschein, Sire. Vor sechs Tagen, wie ich Eurer Majestät zu sagen die Ehre gehabt habe, auf Befehl des Königs in die Bastille gebracht, bin ich heute um drei Uhr durch die Gnade des Volks daraus befreit worden.
Heute?
Ja, Sire; hat Eure Majestät den Kanonendonner nicht gehört?
Allerdings.
Nun wohl! das Feuer der Kanonen öffnete mir die Pforten.
Ah! murmelte der König, ich möchte gern sagen, ich freue mich darüber, hätte man heute morgen nicht auf die Bastille und auf das Königtum zugleich gefeuert.
Oh! Sire, machen Sie aus einem Gefängnis nicht das Symbol eines Prinzips. Sagen Sie im Gegenteil, Sire, Sie seien glücklich, daß die Bastille genommen worden ist, denn man wird nicht mehr im Namen des Königs, der nichts davon weiß, eine Ungerechtigkeit wie die begehen, deren Opfer ich gewesen bin.
Aber Ihre Verhaftung hat doch eine Ursache, mein Herr?
Keine, die ich wüßte, Sire; man hat mich bei meiner Rückkehr nach Frankreich verhaftet und eingekerkert, das ist das Ganze.
In der That, mein Herr, sagte Ludwig mit sanftem Tone, ist es nicht einigermaßen Egoismus von Ihrer Seite, daß Sie mir von Ihnen sprechen, während ich es bedarf, daß man mir von mir spricht?
Sire, es ist für mich notwendig, daß mir Eure Majestät eine einzige Frage beantwortet.
Welche?
Ja oder nein, hat eure Majestät einen Anteil an meiner Verhaftung?
Ich wußte nichts von Ihrer Rückkehr nach Frankreich.
Diese Antwort beglückt mich, Sire; ich kann nun laut erklären, Eure Majestät werde in dem, was sie Übles thut, beinahe immer mißbraucht, und werde denjenigen, welche zweifeln sollten, mich als Beispiel anführen.
Der König lächelte.
Als Arzt, sagte er, gießen Sie den Balsam in die Wunde.
Oh! Sire, ich werde ihn mit vollen Händen eingießen, und wenn Sie wollen, diese Wunde heilen, dafür stehe ich Ihnen.
Ob ich es will? gewiß.
Aber Sie müssen es sehr fest wollen, Sire. Ehe Sie sich weiter verbindlich machen, Sire, lesen Sie diese an den Rand meines Gefängnisregisters geschriebene Zeile.
Welche Zeile? fragte der König unruhig.
Sehen Sie.
Gilbert reichte das Blatt dem König. Ludwig las:
Auf das Verlangen der Königin.
Er faltete die Stirne.
Der Königin! sagte er; sollten Sie sich die Ungnade der Königin zugezogen haben?
Sire, ich bin fest überzeugt, daß mich Ihre Majestät noch weniger kennt, als Eure Majestät mich kannte.
Aber Sie hatten sich irgend ein Vergehen zu Schulden kommen lassen, denn man geht nicht umsonst in die Bastille.
Es scheint doch, da ich daraus komme.
Herr von Necker schickt Sie mir, und der geheime Verhaftsbrief war von ihm unterzeichnet.
Allerdings.
Dann erklären Sie sich besser. Durchgehen Sie Ihr Leben und sehen Sie, ob Sie nicht irgend einen Umstand darin finden, den Sie vergessen haben.
Mein Leben durchgehen! Ja, Sire, ich werde es thun, und zwar laut; seien Sie unbesorgt, es wird nicht lange dauern. Ich habe seit dem Alter von sechzehn Jahren ohne Unterlaß gearbeitet; ein Zögling von Jean-Jacques, eine Gefährte von Balsamo, ein Freund von Lafayette und Washington, habe ich mir seit dem Tage, wo ich Frankreich verlassen, nie ein Vergehen oder auch nur ein Unrecht vorzuwerfen gehabt. Als die erlangte Wissenschaft mir die Verwundeten oder Kranken zu behandeln erlaubte, dachte ich immer, ich sei von jeder meiner Ideen, von jeder meiner Handlungen Rechenschaft schuldig vor Gott. Da mir Gott Geschöpfe anvertraut hatte, so vergoß ich als Wundarzt das Blut aus Menschlichkeit, bereit, das meinige hinzugeben, um meinem Kranken Linderung zu verschaffen oder ihn zu retten; als Arzt war ich immer Tröster, zuweilen Wohlthäter. So sind fünfzehn Jahre vergangen. Ich habe die Mehrzahl der Leidenden zum Leben zurückkehren sehen; sie küßten mir die Hände. Nein, ich sage Ihnen, Sire, seit dem Tage, wo ich Frankreich verlassen, und das sind fünfzehn Jahre, habe ich mir nichts vorzuwerfen.
Sie pflogen in Amerika Umgang mit den Neuerern, und durch Ihre Schriften sind deren Grundsätze verbreitet worden.
Ja, Sire, und ich vergaß dieses Recht, das ich mir auf die Dankbarkeit der Könige und der Menschen erworben habe.
Der König schwieg.
Sire, fuhr Gilbert fort, nun ist Ihnen mein Leben bekannt; ich habe niemand beleidigt oder verwundet, ebensowenig einen Bettler, als eine Königin, und ich frage Eure Majestät, warum man mich bestraft hat.
Ich werde mit der Königin sprechen, Herr Gilbert; doch glauben Sie, daß der Geheimbrief unmittelbar von der Königin kommt?
Ich sage das nicht, Sire, ich glaube sogar, daß die Königin nur die Randbemerkung gemacht hat.
Ah! Sie sehen wohl, rief der König ganz freudig.
Ja; doch Sie wissen, Sire, daß eine Königin befiehlt, wenn sie eine Randbemerkung macht.
Und von wem ist der Brief mit der Randbemerkung? Lassen Sie sehen!
Ja, Sire, sehen Sie, sagte Gilbert.
Und er reichte ihm das Blatt aus dem Gefängnisregister.
Gräfin von Charny! rief der König; wie, sie hat Sie verhaften lassen! aber was haben Sie denn dieser armen Charny gethan?
Ich kannte heute morgen diese Dame nicht einmal dem Namen nach, Sire.
Ludwig fuhr mit der Hand über seine Stirne.
Charny, murmelte er, Charny, die Sanftmut, die Tugend, die Keuschheit selbst!
Sie werden sehen, Sire, sprach Gilbert lachend, ich bin auf Verlangen von drei göttlichen Tugenden in die Bastille gesteckt worden.
Oh! ich muß hierüber im klaren sein, sagte der König.
Und er zog an einer Klingelschnur.
Ein Thürhüter trat ein.
Man sehe nach, ob die Gräfin von Charny bei der Königin ist, befahl Ludwig.
Sire, antwortete der Thürhüter, ich habe die Gräfin soeben durch die Galerie gehen sehen; sie ist im Begriff, in den Wagen zu steigen.
Laufen Sie ihr nach und bitten Sie sie, in einer wichtigen Angelegenheit in mein Kabinett zu kommen.
Dann wandte er sich gegen Gilbert um und fragte:
Ist es das, was Sie wünschten, mein Herr?«
Ja, Sire, antwortete Gilbert, und ich danke Eurer Majestät tausendmal.
Bei dem Befehl, die Gräfin von Charny kommen zu lassen, zog sich Gilbert in eine Fenstervertiefung zurück.
Der König ging in dem Saal des Oeil-de-Boeuf auf und ab, in seinem Innern bald mit den öffentlichen Angelegenheiten, bald mit dem Zudrängen von Gilbert beschäftigt, dessen seltsamem Einfluß er in diesem Augenblick unterlag, wo ihn außer den Nachrichten von Paris nichts hätte interessieren sollen.
Plötzlich wurde die Thüre des Kabinetts geöffnet; der Thürhüter meldete die Frau Gräfin von Charny, und Gilbert konnte durch die nahe zusammengezogenen Vorhänge eine Frau erschauen, deren weite seidene Gewänder den Thürflügel streiften.
Diese Frau trug nach der Mode der Zeit ein Nachtkleid von grauer Seide, einen ähnlichen Rock, eine Art von Shawl, der hinter der Taille zusammengeknüpft war und ganz außerordentlich die Vorzüge einer reichen, schön gebauten Brust zeigte.
Ein kleiner, zierlich auf dem Ende einer hohen Frisur befestigter Hut, Pantoffeln mit hohen Absätzen, welche die Feinheit eines bewunderungswürdigen Knöchels hervorhoben, ein an den Spitzen der Finger einer zarten, langen, vollkommen aristokratischen Hand spielendes Stöckchen, das war die von Gilbert so lebhaft erwartete Person.
Der König machte einen Schritt ihr entgegen.
Sie waren im Begriff, wegzufahren, Gräfin, wie man mir gesagt hat?
In der That, Sire, ich wollte eben in den Wagen steigen, als mir der Befehl Eurer Majestät zukam.
Bei dieser Stimme mit dem festen Klang füllten sich die Ohren von Gilbert mit einem gräßlichen Geräusch. Das Blut floß plötzlich nach seinen Schläfen, tausend Schauer durchliefen seinen ganzen Leib.
Unwillkürlich machte er einen Schritt aus dem Obdach der Vorhänge, hinter denen er verborgen war.
Sie, murmelte er, . . . sie . . . Andrée.
Madame, fuhr der König fort, der ebensowenig als die Gräfin etwas von der Bewegung des im Schatten verborgenen Gilbert wahrgenommen hatte, ich habe Sie gebeten, zu mir zu kommen, um eine Auskunft zu erlangen.
Ich bin bereit, Eurer Majestät zu entsprechen.
Der König neigte sich auf die Seite von Gilbert, als wollte er ihm einen Wink geben.
Dieser begriff, der Augenblick, sich zu zeigen, sei noch nicht gekommen, und zog sich allmählich wieder hinter seinen Vorhang zurück.
Madame, sagte der König, es ist vor ungefähr acht bis zehn Tagen Herrn von Necker das Gesuch um einen geheimen Verhaftsbefehl zugestellt worden.
Gilbert heftete durch die beinahe unbemerkbare Öffnung der Vorhänge seinen Blick auf Andrée. Die junge Frau war bleich, fieberhaft, unruhig und wie gebeugt unter der Last einer geheimen Bedrückung.
Sie hören mich, nicht wahr, Gräfin? fragte Ludwig XVI., als er sah, daß Frau von Charny zu antworten zögerte.
Ja, Sire.
Nun wohl! wissen Sie, was ich sagen will, und können Sie auf meine Frage antworten?
Ich suche mich zu erinnern, erwiderte Andrée.
Erlauben Sie mir, Ihr Gedächtnis zu unterstützen. Der Verhaftsbefehl ist von Ihnen verlangt worden, und das Gesuch war mit einer Randbemerkung der Königin begleitet.
Statt zu antworten, überließ sich die Gräfin immer mehr der fieberhaften Zerstreuung, die sie aus den Grenzen des wirklichen Lebens hinauszuziehen schien.
Antworten Sie mir doch, Madame! sagte der König, der ungeduldig zu werden anfing.
Es ist wahr, erwiderte sie bebend, es ist wahr, ich habe den Brief geschrieben, und Ihre Majestät hat auf dem Rande etwas beigesetzt.
So nennen Sie mir das Verbrechen, das derjenige begangen, gegen den man diese Maßregel forderte? fragte Ludwig XVI.
Sire, sprach Andrée, ich kann nicht sagen, welches Verbrechen er begangen hatte, das aber kann ich Ihnen sagen, daß das Verbrechen groß war.
Ah! Sie können mir das nicht sagen?
Nein, Sire.
Dem König?
Nein . . . Eure Majestät entschuldige mich, doch ich kann nicht.
So werden Sie es ihm selbst sagen, Madame, sprach der König; denn was Sie dem König Ludwig XVI. abschlagen, können Sie dem Doktor Gilbert nicht verweigern.
Dem Doktor Gilbert! rief Andrée, großer Gott! wo ist er denn?
Der König trat auf die Seite, um den Platz Gilbert zu überlassen; die Vorhänge öffneten sich, und der Doktor erschien, beinahe ebenso bleich als Andrée.
Hier ist er, Madame, sagte der König.
Als sie Gilbert erblickte, wankte die Gräfin. Ihre Beine zitterten unter ihr. Sie warf sich rückwärts, wie eine Frau, die in Ohnmacht sinkt, und blieb nur stehen mit Hilfe eines Lehnstuhls, auf den sie sich stützte, in einer düstern, unempfindlichen, beinahe verstandlosen Haltung.
Madame, sagte Gilbert, indem er sich mit demütiger Höflichkeit verbeugte, erlauben Sie mir, die Frage zu wiederholen, welche Seine Majestät an Sie gerichtet hat?
Die Lippen von Andrée bewegten sich, – doch kein Ton kam aus ihrem Munde.
Was habe ich Ihnen gethan, Madame, daß man mich auf einen von Ihnen herrührenden Befehl in ein abscheuliches Gefängnis geworfen hat?
Bei dieser Stimme fuhr Andrée auf, als ob sie einen Riß im Gewebe ihres Herzens gefühlt hätte.
Dann senkte sie plötzlich einen eisigen Schlangenblick auf Gilbert und sprach: Mein Herr, ich kenne Sie nicht.
Doch während sie diese Worte sprach, hatte sie Gilbert seinerseits mit einer solchen Hartnäckigkeit angeschaut, er hatte den Blitz seiner Augen mit so viel unbesiegbarer Kühnheit geladen, daß die Gräfin ihre Augen völlig niederschlug und ihr Blick unter dem seinigen erlosch.
Gräfin, sagte der König mit einem sanften Vorwurf, sehen Sie, wohin dieser Mißbrauch der Unterschriften führt? Hier steht dieser Herr, den Sie nicht kennen, – Sie gestehen es selbst, – dieser Herr, der ein großer Praktiker ist, ein gelehrter Arzt, ein Mann, dem Sie nichts vorzuwerfen haben . . .
Andrée erhob das Haupt, um Gilbert mit einer königlichen Verachtung niederzuschmettern.
Er blieb ruhig und stolz.
Ich sage also, fuhr der König fort: da Sie nichts gegen Herrn Gilbert haben, da Sie in ihm einen andern verfolgten, so ist die Strafe auf einen Unschuldigen gefallen. Gräfin, das ist schlimm.
Sire . . . versetzte Andrée.
Oh! unterbrach sie der König, der schon Angst hatte, der Günstlingin seiner Frau unverbindlich begegnet zu sein, ich weiß wohl, daß Ihr Herz nicht schlecht ist, und daß, wenn Sie jemand mit Ihrem Hasse verfolgten, es verdient hat; doch Sie begreifen, in Zukunft dürfte ein solcher Mißgriff sich nicht erneuern.
Dann wandte er sich gegen Gilbert um und sprach:
Was wollen Sie, Doktor? das ist mehr die Schuld der Zeiten, als die der Menschen. Wir sind in der Verderbnis geboren, und wir werden darin sterben; doch wollen wenigstens wir danach trachten, die Zukunft für die Nachwelt zu verbessern, und Sie, Doktor Gilbert, werden mich, wie ich hoffe, bei diesem Werke unterstützen.
Nach diesen Worten hielt Ludwig inne; er glaubte genug gesagt zu haben, um beide Parteien zu befriedigen.
Der arme König! hätte er eine solche Redensart in der Nationalversammlung vorgebracht, diese würde ihm nicht nur Beifall geklatscht haben, sondern er hätte sie auch am andern Tage in allen Zeitungen des Hofes wiederholt gefunden.
Doch das Auditorium von zwei erbitterten Feinden fand wenig Geschmack an seiner versöhnenden Philosophie.
Mit der Erlaubnis Eurer Majestät, sprach Gilbert, werde ich Madame bitten, zu wiederholen, was sie schon gesagt hat, nämlich, daß sie mich nicht kenne.
Gräfin, sagte der König, wollen Sie thun, was der Doktor verlangt?
Ich kenne den Doktor Gilbert nicht, wiederholte Andrée mit fester Stimme.
Aber Sie kennen einen andern Gilbert, meinen Namensbruder, dessen Verbrechen auf mir lastet?
Ja, erwiderte Andrée, ich kenne ihn und halte diesen für einen Schändlichen.
Sire, es ist nicht an mir, die Gräfin zu befragen, sagte Gilbert; doch wollen Sie die Gnade haben, sie zu fragen, was dieser schändliche Mensch gethan hat.
Gräfin, Sie können einem so gerechten Verlangen keine Weigerung entgegensetzen.
Was er gethan hat? versetzte Andrée. Ohne Zweifel wußte es die Königin, da sie den Brief, in dem ich die Verhaftung verlangte, eigenhändig gutgeheißen hat.
Aber es ist durchaus nicht genug, daß die Königin überzeugt ist; es wäre gut, wenn ich auch überzeugt würde. Die Königin ist die Königin, doch ich, ich bin der König.
Wohl, Sire, der Gilbert des Verhaftsbefehles ist ein Mensch, der vor sechszehn Jahren ein gräßliches Verbrechen begangen hat.
Eure Majestät wolle die Frau Gräfin fragen, welches Alter heute dieser Mensch hat.
Der König wiederholte die Frage.
Dreißig bis zweiunddreißig Jahre, erwiderte Andrée.
Sire, sprach Gilbert, wenn das Verbrechen vor sechzehn Jahren begangen worden ist, so ist es nicht von einem Mann, sondern von einem Kinde begangen worden, und wenn seit sechzehn Jahren der Mann das Verbrechen des Unmündigen beweint hat, würde dieser Mann nicht einige Nachsicht verdienen?
Aber, mein Herr, fragte der König, Sie kennen also den Gilbert, von dem die Rede ist?
Ich kenne ihn, Sire, erwiderte Gilbert.
Er hat also keinen andern Fehler begangen, als einen Jugendfehler?
Ich wüßte nicht, Sire, daß ihm von der Zeit an, wo er – ich sage nicht diesen Fehler, sondern weniger nachsichtig als Sie – dieses Verbrechen beging, irgend jemand in der Welt etwas vorwerfen könnte.
Nein, wenn nicht das Verbrechen, bemerkte Andrée, daß er seine Feder in Gift getaucht und sehr ärgerliche Schmähschriften verfaßt hat.
Sire, sprach Gilbert, fragen Sie die Frau Gräfin, ob die wahre Ursache der Verhaftung von diesem Gilbert nicht die war, daß man seinen Feinden, oder vielmehr seiner Feindin jede Bequemlichkeit geben wollte, sich eines gewissen Kistchens zu bemächtigen, das gewisse Papiere enthielt, die eine vornehme Dame, eine Dame vom Hofe gefährden können.
Andrée schauerte vom Scheitel bis zu den Zehen.
Mein Herr, murmelte sie.
Gräfin, wie ist es mit diesem Kistchen? fragte der König, dem die Blässe und das Zittern der Gräfin nicht entgehen konnten.
Oh! Madame! rief Gilbert, der fühlte, daß er die Lage beherrschte, keine Ausflüchte, keine Umschweife . . . genug der Lügen von der einen und der andern Seite. Ich bin der Gilbert des Verbrechens; ich bin der Gilbert der Schmähschriften; ich bin der Gilbert des Kistchens. Sie, Sie sind die vornehme Dame, die Dame vom Hofe. Ich wähle den König zum Richter, nehmen Sie ihn an, und wir wollen diesem Richter, dem König, alles sagen, was zwischen uns vorgefallen ist, und der König wird entscheiden.
Sagen Sie, was Sie wollen, mein Herr, erwiderte die Gräfin, doch ich kann nichts sagen, denn ich kenne Sie nicht.
Und Sie kennen dieses Kistchen auch nicht?
Die Gräfin zog die Fäuste krampfhaft zusammen und biß sich bis aufs Blut in ihre Lippen.
Nein, ebensowenig, sagte sie.
Doch die Anstrengung, die sie machte, um diese Worte auszusprechen, war so groß, daß sie auf ihren Beinen schwankte, gleich einer Bildsäule, deren Grundfläche ein Erdbeben erschüttert.
Madame, rief Gilbert, nehmen Sie sich in acht, ich bin, wenn Sie nicht vergessen haben, der Schüler eines Mannes, den man Josef Balsamo nannte; die Macht, die er über Sie besaß, hat er mir übertragen; zum letztenmal also, wollen Sie auf die Frage, die ich an Sie richte, antworten?
Nein, erwiderte die Gräfin, von einer unbeschreiblichen Verwirrung ergriffen, indem sie eine Bewegung machte, um aus dem Zimmer zu stürzen. Nein, nein, nein!
Nun denn! sprach Gilbert, ebenfalls erbleichend, und seinen mit Drohungen beladenen Arm erhebend, nun denn! stählerne Natur, ehernes Herz, biege dich, zerspringe unter dem unwiderstehlichen Druck meines Willens. Du willst nicht sprechen, Andrée?
Nein, nein! rief die Gräfin ganz betäubt. Zu Hilfe, Sire, zu Hilfe!
Du wirst sprechen, sagte Gilbert, und niemand, wäre es der König, wäre es Gott, wird dich meiner Macht entziehen! Du wirst sprechen, du wirst deine ganze Seele dem erhabenen Zeugen dieser Szene öffnen, und alles, was in den Falten deines Gewissens ist, alles, was Gott allein in der Finsternis tiefer Seelen lesen kann, Sire! das werden Sie durch diese hier erfahren, die sich weigert, es zu offenbaren. Schlafen Sie, Frau Gräfin von Charny, schlafen Sie und sprechen Sie, ich will es.
Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Gräfin mitten in einem angefangenen Schrei plötzlich inne hielt, die Arme ausstreckte, einen Stützpunkt für ihre wankenden Beine suchte und wie in einen Zufluchtsort zwischen die Arme des Königs fiel, der, selbst zitternd, sie in einen Lehnstuhl setzte.
Oh! sagte Ludwig XVI., ich habe hiervon sprechen hören, doch nie habe ich etwas dergleichen gesehen. Nicht wahr, mein Herr, sie ist dem magnetischen Schlaf verfallen?
Ja, Sire: nehmen Sie nun die Hand der Gräfin und fragen Sie sie, warum sie mich habe verhaften lassen, antwortete Gilbert, als ob ihm allein das Recht des Befehlens zukäme.
Ganz betäubt von dieser wunderbaren Szene, machte Ludwig XVI. zwei Schritte rückwärts, um sich zu überzeugen, daß er nicht selbst schlafe, und daß das, was unter seinen Augen vorging, nicht ein Traum sei; interessiert wie ein Mathematiker bei der Entdeckung einer neuen Lösung, näherte er sich sodann der Gräfin, nahm ihre Hand und sagte: Sprechen Sie, Gräfin, Sie haben also den Doktor Gilbert verhaften lassen?
Doch obgleich eingeschlafen, machte die Gräfin einen letzten Versuch, riß ihre Hand aus der Hand des Königs, raffte alle ihre Kräfte zusammen und erwiderte: Nein, ich werde nicht sprechen.
Der König schaute Gilbert an, als wollte er ihn fragen, wer von beiden, sein Wille oder der von Andrée, den Sieg davon tragen werde.
Gilbert lächelte.
Sie werden nicht sprechen? sagte er.
Und die Augen auf die eingeschlafene Andrée gerichtet, machte er einen Schritt gegen den Lehnstuhl.
Andrée bebte.
Sie werden nicht sprechen? fügte er bei, indem er einen zweiten Schritt machte, der den Zwischenraum zwischen ihm und ihr noch mehr verminderte.
Andrée stemmte ihren ganzen Körper in einer äußersten Gegenstrebung an.
Ah! Sie werden nicht sprechen? sagte er. Und er machte einen dritten Schritt und stand nun unmittelbar neben Andrée, über deren Haupt er seine Hand ausgestreckt hielt; ah! Sie werden nicht sprechen?
Andrée krümmte sich in heftigen Konvulsionen.
Nehmen Sie sich in acht! rief Ludwig XVI., nehmen Sie sich in acht. Sie werden sie töten!
Seien Sie unbesorgt, Sire, es ist die Seele, mit der ich es zu thun habe; die Seele kämpft, doch sie wird nachgeben.
Dann senkte er die Hand und wiederholte: Sprechen Sie.
Andrée streckte die Arme aus und machte eine Bewegung, um zu atmen, als wäre sie unter dem Drucke einer Luftpumpe gewesen.
Alle Muskeln der jungen Frau schienen dem Zerreißen nahe. Eine Schaumfranse trat auf ihre Lippen, und ein Anfang von Epilepsie erschütterte sie vom Kopf bis zu den Füßen.
Doktor, wiederholte der König, nehmen Sie sich in acht.
Doch ohne auf ihn zu hören, senkte Gilbert zum dritten Mal die Hand, berührte mit ihrer Fläche oben den Kopf der Gräfin und sagte: Sprechen Sie, ich will es.
Andrée stieß bei der Berührung dieser Hand einen Seufzer aus, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab; ihr zurückgeworfener Kopf senkte sich sachte vorwärts auf ihre Brust, und reichliche Thränen sickerten durch ihre geschlossenen Augenlider.
Mein Gott, mein Gott, mein Gott, murmelte sie.
Rufen Sie Gott an, gut; derjenige, welcher im Namen Gottes wirkt, fürchtet Gott nicht.
Oh, sagte die Gräfin, wie hasse ich Sie!
Hassen Sie mich, gut; doch sprechen Sie.
Sire, Sire, rief Andrée, sagen Sie ihm, er versenge mich, er verzehre mich, er töte mich.
Sprechen Sie, sagte Gilbert.
Dann bedeutete er dem König durch ein Zeichen, er könne sie nun befragen.
Gräfin, sagte der König, derjenige, welchen Sie verhaften ließen, ist also wirklich der Doktor?
Ja.
Und es waltete kein Irrtum, kein Mißgriff ob?
Nein.
Und dieses Kistchen?
Nun! versetzte dumpf die Gräfin, sollte ich denn dieses Kistchen in seinen Händen lassen?
Gilbert und der König wechselten einen Blick.
Und Sie haben es genommen? fragte Ludwig XVI.
Ich habe es nehmen lassen.
Ho! ho! erzählen Sie mir das, Gräfin, rief der König, indem er, alle Würde vergessend, vor Andrée niederkniete; Sie haben es nehmen lassen? Wo und wie?
Ich erfuhr, dieser Gilbert, der seit sechzehn Jahren schon zwei Reisen nach Frankreich gemacht hatte, werde eine dritte machen, und diesmal um sich hier niederzulassen.
Aber das Kistchen? fragte der König.
Ich habe durch den Polizeileutnant, Herrn von Crosne, erfahren, daß Gilbert während einer dieser Reisen Güter in der Gegend von Villers-Cotterêts gekauft; daß der Pächter, der ihm diese Güter verwalte, sein ganzes Vertrauen genieße, und so vermutete ich, das Kistchen befinde sich bei diesem.
Wie haben Sie das vermutet?
Ich bin bei Mesmer gewesen, habe mich einschläfern lassen und es gesehen.
Es war?
In einem großen Schranke im Erdgeschoß, unter Weißzeug verborgen.
Das ist wunderbar! sagte der König. Weiter, weiter!
Ich kehrte zu Herrn von Crosne zurück, und dieser gab mir auf Empfehlung der Königin einen seiner gewandtesten Agenten.
Der Name dieses Agenten? fragte Gilbert.
Andrée bebte, als hätte sie ein glühendes Eisen berührt.
Ich frage Sie nach seinem Namen, wiederholte Gilbert.
Andrée versuchte es zu widerstehen.
Seinen Namen, ich will ihn wissen, sagte der Doktor.
Pas-de-Loup, antwortete sie.
Hernach? fragte der König.
Gestern morgen hat sich dieser Mann des Kistchens bemächtigt. Das ist das Ganze.
Nein, das ist nicht das Ganze, entgegnete Gilbert; es handelt sich nun darum, dem König zu sagen, wo das Kistchen ist.
Oh! versetzte Ludwig XVI., Sie fragen zu viel.
Nein, Sire.
Aber durch diesen Pas-de-Loup, durch Herrn von Crosne könnte man erfahren . . .
Oh! man wird alles viel besser und viel schneller durch die Gräfin erfahren.
Mit einer krampfhaften Bewegung, die sichtbar darauf abzweckte, den andringenden Worten die Lippen zu verschließen, preßte Andrée die Zähne zum Zerbrechen aneinander.
Der König machte den Doktor auf diese nervöse Konvulsion aufmerksam.
Gilbert lächelte.
Er berührte mit dem Daumen und dem Zeigefinger den untern Teil des Gesichtes von Andrée, und ihre Muskeln spannten sich in demselben Augenblicke ab.
Madame, sagen Sie vor allem dem König, daß dieses Kistchen dem Doktor Gilbert gehörte.
Ja, ja, es gehört ihm, erwiderte die Schläferin voll Wut.
Und wo befindet es sich in diesem Augenblick? fragte Gilbert; geschwinde, beeilen Sie sich, der König hat keine Zeit zu warten.
Andrée zögerte einen Augenblick.
Gilbert entging dieses Zögern nicht, so unbemerklich es war.
Sie lügen! rief er, oder vielmehr Sie versuchen es, zu lügen. Wo ist das Kistchen? Ich will es wissen.
Bei mir in Versailles, antwortete Andrée, in Thränen zerfließend und mit einem nervösen Zittern, das ihren ganzen Körper schüttelte. Bei mir, wo Pas-de-Loup, wie dies verabredet war, mich heute abend um elf Uhr erwartet.
Es schlug Mitternacht.
Und er wartet noch?
Ja.
In welchem Zimmer ist er?
Man hat ihn in den Salon eintreten lassen.
Welchen Platz nimmt er in dem Salon ein?
Er steht an den Kamin angelehnt.
Und das Kistchen?
Auf einem Tisch vor ihm. Oh!
Was?
Beeilen wir uns, ihn herausgehen zu lassen. Herr von Charny, der erst morgen zurückkommen sollte, wird heute nacht kommen . . . wegen der Ereignisse. Ich sehe es, er ist in Sèvres . . . Lassen Sie ihn weggehen, daß ihn der Graf nicht im Hause findet.
Eure Majestät hört es. Wo wohnt in Versailles Frau von Charny?
Wo wohnen Sie, Gräfin?
Auf dem Boulevard de la Reine, Sire.
Gut.
Sire, Eure Majestät hat es gehört, dieses Kistchen gehört mir. Befiehlt der König, daß es mir zurückgegeben werden soll?
Auf der Stelle, mein Herr.
Der König umstellte Frau von Charny mit einem Windschirm, damit man sie nicht sehen konnte, rief den Offizier vom Dienste und gab ihm leise einen Befehl.
Diese seltsame Beschäftigung eines Königs, dem seine Unterthanen den Thron untergruben; diese Neugierde des Gelehrten, auf eine physische Erscheinung angewendet, während sich in ihrem ganzen Ernste die wichtigste politische Erscheinung entwickelt, die je in Frankreich stattgefunden hatte, nämlich die Verwandlung einer Monarchie in eine Demokratie, – dieses Schauspiel, sagen wir, eines Königs, der sich unter den heftigsten Stürmen selbst vergaß, hätte sicherlich die großen Geister der Zeit, die seit drei Monaten über der Lösung ihres Problems brüteten, lächeln gemacht.
Während der Aufruhr außen tobte, vertiefte sich Ludwig, die furchtbaren Ereignisse des Tages, die Einnahme der Bastille, die Ermordung von Flesselles, de Launay und Losme, die Nationalversammlung, die sich gegen ihren König zu empören geneigt war, vergessend, – in dieser völligen Privatbeobachtung, und die Enthüllung dieser unbekannten Szene nahm ihn ebensosehr in Anspruch, als die höchsten Interessen seiner Regierung.
Sobald er seinem Kapitän der Garden den erwähnten Befehl gegeben, kehrte er auch zu Gilbert zurück, der nun von der Gräfin den Ueberschuß des Fluidums, mit dem er sie beladen, entfernte, um ihr statt dieses konvulsivischen Somnambulismus einen ruhigen Schlaf zu geben.
Nach einem Augenblick war auch das Atmen der Gräfin ruhig und gleichmäßig, wie das eines Kindes. Mit einer einzigen Geberde der Hand öffnete ihr Gilbert die Augen wieder und versetzte sie in Ekstase.
Nun konnte man in ihrem ganzen Glanze die wunderbare Schönheit von Andrée sehen. Völlig befreit von jeder irdischen Beimischung, floß das Blut, das einen Augenblick bis zu ihrem Gesicht emporgestiegen war und vorübergehend ihre Wangen gefärbt hatte, wieder ins Herz zurück, dessen Schläge sofort ihren gemäßigten Lauf annahmen. Das Gesicht war bleich geworden, doch in jener schönen matten Blässe der Frauen des Orients. Die ein wenig über das gewöhnliche Maß geöffneten Augen waren zum Himmel aufgeschlagen und ließen unten den Stern in der perlmutterartigen Weiße des Augapfels schwimmen; leicht erweitert, schien die Nase eine reinere Atmosphäre einzuatmen. Die Lippen, die ihre ganze frischrote Farbe beibehalten hatten, enthüllten, leicht geöffnet, eine Reihe von Perlen, deren lieblicher Glanz noch erhöht wurde durch ihre Feuchtigkeit.
Der Kopf war mit einer unaussprechlichen, beinahe engelhaften Anmut etwas zurückgeworfen.
Der König blieb wie geblendet; Gilbert wandte seufzend den Kopf ab; er hatte dem Wunsche, Andrée diesen Grad übermenschlicher Schönheit zu geben, nicht widerstehen können. Er machte eine Bewegung, ohne nur den Kopf gegen Andrée umzuwenden, und ihre Augen schlossen sich.
Der König wollte sich durch Gilbert diesen wunderbaren Zustand erklären lassen, bei dem sich die Seele vom Körper löst und frei, glücklich, über den menschlichen Erbärmlichkeiten schwebt.
Gilbert vermochte, wie alle wirklich erhabenen Menschen, das Wort auszuspechen, das der Mittelmäßigkeit so schwer fällt: Ich weiß es nicht. Er bekannte dem König seine Unwissenheit; er brachte eine Erscheinung hervor, die er nicht definieren konnte; die Thatsache bestand, die Erklärung der Thatsache fehlte.
Doktor, sagte der König bei diesem Bekenntnis Gilberts, das ist abermals eines von den Geheimnissen, das die Natur für die Gelehrten einer späteren Generation aufbewahrt, und das, wie so viele andre Mysterien, die man für unauflösbar hielt, ergründet werden wird. Wir nennen sie Mysterien, unsre Väter hätten sie Zaubereien oder Hexereien genannt.
Ja, Sire, erwiderte Gilbert lächelnd, und ich hätte die Ehre gehabt, auf der Grève zur Verherrlichung einer Religion, die man nicht begriff, durch Gelehrte ohne Wissen und durch Priester ohne Glauben verbrannt zu werden.
Und unter wem haben Sie diese Wissenschaft studiert? unter Mesmer?
Oh! Sire, antwortete Gilbert lächelnd, ich habe bereits zehn Jahre früher, ehe der Name Mesmer in Frankreich nur genannt ward, die erstaunlichsten Phänomene dieser Wissenschaft gesehen.
Sagen Sie mir, war dieser Mesmer, der ganz Paris in Aufregung versetzte, Ihrer Ansicht nach ein Charlatan, ja oder nein? Mir scheint, Sie gehen viel einfacher zu Werke. Ich habe seine Experimente erzählen hören, sowie die von Deslon, die von Puységur. Sie wissen, was man alles über diesen Gegenstand gesagt hat, Hirngespinste oder Wahrheiten.
Ja, Sire, ich habe die ganze Debatte verfolgt.
Nun, was denken Sie von der berühmten Kufe?
Eure Majestät wolle mich entschuldigen, wenn ich auf alles, was sie mich über die magnetische Kraft fragt, durch den Zweifel antworte. Der Magnetismus ist noch keine Kunst. Er ist nur eine Macht, eine furchtbare Macht, indem er den freien Willen vernichtet, die Seele vom Leibe trennt, den Leib der Somnambule den Händen des Magnetiseurs übergiebt, ohne daß jene die Kraft oder nur auch den Willen, sich zu verteidigen, behält. Ich, was mich betrifft, habe seltsame Phänomene bewerkstelligen sehen. Ich habe selbst bewerkstelligt, und dennoch zweifle ich.
Wie, Sie zweifeln? Sie bewirken Wunder, und Sie zweifeln!
Nein, ich zweifle nicht, ich zweifle nicht. In diesem Moment habe ich den Beweis einer unerhörten und unbekannten Macht vor meinen Augen. Ist aber dieser sichtbare Beweis verschwunden, bin ich allein in meinem Zimmer, meiner Bibliothek gegenüber, dem gegenüber, was die menschliche Wissenschaft seit dreitausend Jahren geschrieben hat; sagt mir die Wissenschaft nein; sagt mir der Geist nein; sagt mir die Vernunft nein: dann zweifle ich.
Und Ihr Meister zweifelte auch, Doktor?
Vielleicht, doch weniger offenherzig, als ich; er sagte es nicht.
War es Deslon, war es Puységur?
Nein, Sire, nein. Mein Meister war ein Mann, der sehr hoch über den Männern stand, die Sie genannt haben. Ich habe ihn, besonders in Bezug auf Verwundungen, wunderbare Dinge verrichten sehen; keine Wissenschaft war ihm unbekannt. Er hatte sich die ägyptischen Theorien angeeignet. Er hatte die Geheimmittel der alten assyrischen Zivilisation erforscht. Er war ein tiefer Gelehrter, ein gewaltiger Philosoph, denn er besaß die Erfahrung des Lebens, verbunden mit der Beharrlichkeit des Willens.
Habe ich ihn gekannt? fragte der König.
Gilbert zögerte einen Augenblick und sagte: Ja, Sire.
Er heißt?
Sire, antwortete Gilbert, nenne ich diesen Namen vor dem König, so setze ich mich vielleicht seinem Mißfallen aus. In diesem Augenblick aber besonders, wo die Mehrzahl der Franzosen mit der königlichen Majestät ein Spiel treibt, möchte ich nicht gern einen Schatten auf die Ehrfurcht werfen, die wir alle der Majestät schuldig sind.
Nennen Sie kühn diesen Namen, Doktor Gilbert, und seien Sie überzeugt, daß ich auch meine Philosophie habe: eine Philosophie, die genug gestählt ist, um über alle Beleidigungen der Gegenwart und alle Drohungen der Zukunft zu lächeln.
Trotz dieser Ermutigung zögerte Gilbert noch.
Der König näherte sich ihm.
Mein Herr, sagte er lächelnd, nennen Sie mir Satan, wenn Sie wollen, ich werde gegen Satan einen Panzer finden, den, welchen Ihre Irrlehrer nicht haben, den, welchen sie nie haben werden, den, welchen ich vielleicht allein in meinem Jahrhundert besitze und ohne mich zu schämen anlege: die Religion!
Es ist wahr. Eure Majestät glaubt wie der heilige Ludwig, sagte Gilbert.
Und eben darin, Doktor – ich gestehe es – liegt meine Stärke; ich liebe die Wissenschaft, ich achte die Resultate des Materialismus; ich bin Mathematiker, wie Ihnen bekannt ist; Sie wissen, eine Additionssumme, eine algebraische Formel erfüllen mich mit Freude. Doch im Gegensatz gegen die Leute, welche die Algebra bis zum Atheismus treiben, habe ich in Reserve meinen tiefen, unerschöpflichen, ewigen Glauben, meinen Glauben, der mich um einen Grad über sie und unter sie stellt: über sie im Guten, unter sie im Bösen. Sie sehen, Doktor, ich bin ein Mann, dem man alles sagen kann, ein König, der alles hören kann.
Sire, sprach Gilbert mit einer Art von Bewunderung, ich danke Eurer Majestät für das, was sie mir gesagt hat; denn es ist beinahe das Geständnis eines Freundes, womit sie mich beehrt.
Oh! ich wünschte, fügte der schüchterne Ludwig XVI. bei, ich wünschte, ganz Europa könnte mich so sprechen hören. Wenn die Franzosen in meinem Herzen alle Stärke und alle Zärtlichkeit, die es enthält, lesen könnten, ich glaube, sie würden mir weniger widerstehen.
Der letzte Teil des Satzes, der auf die bestrittenen königlichen Vorrechte hindeutete, schadete Ludwig XVI. im Geiste von Gilbert.
Er sagte auch rasch und ohne alle Schonung: Sire, da Sie es wollen, mein Meister war der Graf von Cagliostro.
Oh! rief Ludwig errötend, dieser Empiriker!L'empirique, der Empiriker, wird sehr häufig von den Franzosen in der Bedeutung von Charlatan gebraucht
Dieser Empiriker . . . . ja, Sire, sagte Gilbert. Eure Majestät weiß wohl, daß das Wort, dessen sie sich bedient hat, eines der edelsten ist, die man in der Wissenschaft gebraucht. Empiriker will besagen: der Mensch, der versucht. Immer versuchen, Sire, heißt für einen Denker, für einen Praktiker, für einen Menschen endlich, soviel als thun, was Gott den Sterblichen Größtes und Schönstes zu thun erlaubt hat. Der Mensch versuche sein ganzes Leben hindurch, und sein Leben ist ausgefüllt.
Ah! mein Herr, dieser Cagliostro, den Sie verteidigen, war ein großer Feind der Könige, versetzte Ludwig XVI.
Gilbert erinnerte sich der Halsband-Geschichte.
Will Eure Majestät nicht vielmehr sagen: der Königinnen?
Ludwig zuckte unter dem Stachel.
Ja, sagte er, er hat sich bei der ganzen Angelegenheit des Prinzen Louis von Rohan mehr als zweideutig benommen.
Sire, hier wie anderswo erfüllte Cagliostro die menschliche Sendung: er versuchte für sich. In der Wissenschaft, in der Moral, in der Politik giebt es weder Gutes noch Schlimmes, es giebt nur die bestätigten Erscheinungen, die erlangten Thatsachen. Ich gebe ihn nichtsdestoweniger Ihnen preis, Sire. Der Mensch, ich wiederhole es, kann oft den Tadel verdient haben; vielleicht wird dieser Tadel selbst eines Tages ein Lob für ihn sein; die Nachwelt durchsieht die Urteile der Menschen; doch ich habe nicht unter dem Menschen studiert, Sire, sondern unter dem Philosophen, unter dem Gelehrten.
Gut, sagte der König, der noch die doppelte Wunde seines Stolzes und seines Herzens bluten fühlte, gut, wir vergessen die Frau Gräfin, und sie leidet vielleicht.
Ich werde sie aufwecken, Sire, wenn es Eure Majestät haben will; doch ich hätte gewünscht, das Kistchen wäre während ihres Schlafes hieher gebracht worden.
Warum?
Um ihr eine zu harte Lektion zu ersparen.
Man kommt gerade, sagte der König; warten Sie.
Der Befehl des Königs war pünktlich vollzogen worden; das in dem Palais von Charny in den Händen des Polizeiagenten Pas-de-Loup gefundene Kistchen erschien in dem königlichen Kabinett unter den Augen der Gräfin, ohne daß sie es bemerkte.
Nun! sagte Ludwig XVI.
Sire, das ist das Kistchen, das man mir gestohlen hatte.
Oeffnen Sie es.
Sire, wenn Eure Majestät es wünscht, soll es geschehen. Ich muß Eure Majestät nur auf eines aufmerksam machen. Dieses Kistchen enthält, wie ich Eurer Majestät gesagt habe, Papiere, die sehr leicht zu lesen, zu nehmen sind, während die Ehre einer Frau davon abhängt.
Und diese Frau ist die Gräfin?
Ja, Sire; die Ehre wird aber darum nicht Gefahr laufen, daß sie dem Gewissen Eurer Majestät anheimgegeben worden ist. Oeffnen Sie, Sire, sprach Gilbert, indem er sich dem Kistchen näherte und den Schlüssel dem König reichte.
Mein Herr, erwiderte Ludwig XVI. kalt, nehmen Sie dieses Kistchen mit, es ist Ihr Eigentum.
Ich danke, Sire. Was werden wir mit der Gräfin machen?
Oh! wecken Sie sie hier nicht auf. Ich will das Erstaunen, die Schmerzen vermeiden.
Sire, sprach Gilbert, die Frau Gräfin soll nur dort aufwachen, wohin Eure Majestät es für passend hält sie tragen zu lassen.
Gut, bei der Königin also.
Ludwig klingelte. Ein Offizier trat ein.
Herr Kapitän, sagte er, die Frau Gräfin ist hier, als sie die Nachrichten von Paris vernahm, ohnmächtig geworden. Lassen Sie sie zu der Königin tragen.
Wieviel Zeit braucht man, um sie in die Gemächer Ihrer Majestät zu bringen? fragte Gilbert den König.
Ungefähr 10 Minuten, antwortete dieser.
Gilbert streckte die Hand über der Gräfin aus.
In einer Viertelstunde wird sie aufwachen, sagte er.
Auf Befehl des Offiziers traten zwei Soldaten ein und trugen die Gräfin in zwei Lehnstühlen fort.
Herr Gilbert, was wünschen Sie nun noch? fragte der König.
Sire, eine Gunst, die mich in die Nähe Eurer Majestät bringt und mir zugleich die Gelegenheit verschafft, ihr nützlich zu sein.
Der König harrte. Erklären Sie sich, sagte er.
Ich möchte gern Quartal-Arzt des Königs sein, erwiderte Gilbert; ich werde niemand Eintrag thun: das ist ein Ehrenposten, der jedoch mehr auf dem Vertrauen beruht, als Glanz verschafft.
Bewilligt, sprach der König. Adieu, Herr Gilbert . . . Ah! sagen Sie Necker alles Freundliche. Adieu.
Dann im Weggehen rief er: Mein Abendbrot.
Denn kein Ereignis konnte ihn sein Abendbrot vergessen machen.
Während der König philosophisch die Revolution bekämpfen lernte, indem er einen Kursus in den verborgenen Wissenschaften machte, hatte die Königin, ein viel festerer und tieferer Philosoph, alle ihre Getreuen in ihrem Kabinett um sich versammelt; ohne Zweifel, weil noch keiner von ihnen Gelegenheit gehabt, seine Treue zu beweisen oder zu versuchen.
Auch bei der Königin war der furchtbare Tag in allen seinen Einzelheiten erzählt worden.
Man sah Generale, Höflinge, Priester und Frauen um die Königin versammelt. Hier waren junge Offiziere voll Mut und Eifer, die in allen diesen Empörungen eine lange erwartete Gelegenheit sahen, sich, wie bei einem Turnier, vor den Damen im Waffenspiele auszuzeichnen.
Alle vertrauten und der Monarchie ergebenen Diener hatten mit Aufmerksamkeit die Nachrichten angehört, die Herr von Lambescq erzählte, der, nachdem er den Ereignissen beigewohnt, mit seinem noch ganz vom Sande der Tuilerien bestaubten Regimente nach Versailles geeilt war, um den erschrockenen Leuten die Wirklichkeit als Trost zu geben, weil einige, so groß das Unglück war, es noch übertrieben hatten.
Die Königin saß an einem Tische.
Es war nicht mehr die sanfte, schöne Braut, der Schutzengel Frankreichs. Es war nicht einmal mehr jene schöne, anmutige Fürstin, die wir eines Abends mit der Prinzessin von Lamballe in die geheimnisvolle Wohnung von Mesmer eintreten und sich lachend und ungläubig zu der symbolischen Kufe setzen sahen, von der sie eine Offenbarung der Zukunft verlangte.
Nein! es war die stolze, hoffärtige Königin mit der gerunzelten Stirne, mit der geringschätzigen Lippe; es war die Frau, deren Herz einen Teil seiner Liebe hatte entschlüpfen lassen, um an der Stelle dieses sanften und belebenden Gefühles die ersten Tropfen Galle aufzunehmen, die nun ohne Unterlaß ins Blut gehen sollten.
Es war endlich die Frau des dritten Porträts der Galerie von Versailles, das heißt, nicht mehr Marie Antoinette, nicht mehr die Königin von Frankreich, sondern diejenige, welche man nur noch mit dem Namen »die Österreicherin« zu bezeichnen anfing.
Hinter ihr war, halb im Schatten liegend, eine unbewegliche junge Frau, den Kopf auf das Kissen eines Sophas zurückgeworfen und die Stirne auf ihre Hand gestützt.
Das war Frau von Polignac.
Als die Königin Herrn von Lambescq erblickte, machte sie eine Gebärde verzweifelter Freude, die besagen wollte: Endlich werden wir alles erfahren.
Herr von Lambescq hatte sich mit einem Zeichen verbeugt, das zugleich wegen seiner beschmutzten Stiefel, wegen seines bestaubten Rockes und seines verdrehten Säbels, den er nicht mehr ganz in die Scheide hatte bringen können, um Verzeihung bat.
Nun, Herr von Lambescq, sagte die Königin, Sie kommen von Paris? Was macht das Volk?
Es mordet und brennt.
Aus Schwindel oder aus Haß?
Nein, aus Grausamkeit.
Die Königin dachte nach, als ob sie geneigt gewesen wäre, seine Ansicht über das Volk zu teilen. Dann schüttelte sie den Kopf und entgegnete: Nein, Prinz, das Volk ist nicht grausam, wenigstens nicht ohne Grund; verbergen Sie mir also nichts. Ist es Wahnwitz? Ist es Haß?
Ich glaube, daß es ein bis zum Wahnwitz getriebener Haß ist.
Haß, gegen wen? Ah, Prinz! Sie zögern abermals. Nehmen Sie sich in acht, wenn Sie so erzählen, so werde ich statt mich an Sie zu wenden, wie ich es thue, einen von meinen Piqueurs nach Paris schicken. Er braucht eine Stunde, um dahin zu kommen, eine Stunde, um sich zu erkundigen, eine Stunde, um zurückzukehren, und in drei Stunden wird er mir die Ereignisse ganz einfach erzählen können.
Herr von Dreux-Brézé trat mit einem Lächeln auf den Lippen vor und sagte: Aber, Madame, was ist Ihnen am Hasse des Volkes gelegen? das muß Sie durchaus nichts kümmern, das Volk kann alles hassen, nur Sie nicht.
Die Königin ließ diese Schmeichelei völlig unbeachtet.
Rasch, Prinz, sagte sie, sprechen Sie.
Wohl denn, ja, Madame, das Volk handelt im Hasse.
Gegen wen?
Gegen alles, was es beherrscht.
Ah! gut! das ist die Wahrheit! das fühlt sich! versetzte entschlossen die Königin.
Ich bin Soldat, Eure Majestät, erwiderte der Prinz.
Gut, gut, sprechen Sie als Soldat. Lassen Sie hören, was ist zu thun?
Nichts, Madame.
Wie! Nichts? rief die Königin, das Gemurmel benützend, das sich bei diesen Worten unter den gestickten Röcken und goldenen Degen ihrer Gesellschaft erhoben hatte. Nichts! Sie, ein lothringischer Prinz, kommen und sagen dies der Königin von Frankreich in dem Augenblick, wo das Volk, nach Ihrem eigenen Geständnisse, mordet und brennt; Sie sagen, es sei nichts zu thun?
Ein neues Gemurmel, doch diesmal ein beifälliges, empfing die Worte der Königin.
Sie wandte sich um, umfaßte mit einem Blick den Kreis, der sie umgab, und suchte unter allen diesen flammenden Augen diejenigen, welche am meisten flammten, im guten Glauben, darin am meisten Treue zu lesen.
Nichts! wiederholte der Prinz, denn wenn man den Pariser sich besänftigen läßt, so wird er sich auch besänftigen; er ist nur kriegerisch, wenn man ihn aufs äußerste treibt Warum ihm die Ehre eines Streites erweisen, warum die Wechselfälle eines Kampfes wagen? Verhalten wir uns ruhig, und in drei Tagen wird von nichts mehr in Paris die Rede sein.
Aber die Bastille, mein Herr?
Die Bastille! man verschließt ihre Thore, und diejenigen, welche sie eingenommen haben, werden gefangen sein.
Es wurde etwas wie ein zitterndes Lachen unter der schweigsamen Gruppe hörbar.
Die Königin sprach: Nehmen Sie sich in acht, Prinz, nun beruhigen Sie mich zu sehr. Und nachdenkend, das Kinn auf ihre flache Hand gestützt, suchte sie mit dem Blick Frau von Polignac, die blaß und traurig, in sich selbst versunken zu sein schien.
Die Gräfin hatte alle diese Nachrichten mit einem sichtbaren Schrecken angehört; sie lächelte nur, als die Königin bei ihr anhielt und ihr zulächelte, und dieses Lächeln war noch matt und entfärbt, wie eine sterbende Blume.
Nun! Gräfin, fragte die Königin, was sagen Sie zu alledem?
Ach! nichts, erwiderte sie. Und sie schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck unsäglicher Entmutigung.
Ei! ei! sprach leise die Königin, indem sie sich ans Ohr der Gräfin neigte, die Freundin Diana ist eine Furchtsame.
Dann sagte sie laut: Aber wo ist denn Frau von Charny, die Unerschrockene! Wie mir scheint, bedürfen wir ihrer, um uns zu beruhigen.
Die Gräfin wollte eben wegfahren, als man sie zum König rief, antwortete Frau von Misery.
Ah! zum König, versetzte zerstreut Marie Antoinette.
Nun erst bemerkte sie das seltsame Stillschweigen, das sich um sie her gelagert hatte.
Die unerhörten, unglaublichen Ereignisse, von denen die Nachrichten nach und nach wie verdoppelte Schläge nach Versailles gelangt waren, hatten die festesten Herzen vielleicht mehr noch durch das Erstaunen, als durch die Furcht entmutigt.
Die Königin sah die Notwendigkeit ein, alle diese niedergeschlagenen Geister wieder aufzurichten.
Niemand giebt mir einen Rat? sagte sie. Gut! so werde ich mir bei mir selbst Rats erholen.
Alle traten näher zu Marie Antoinette.
Das Volk, sprach sie, ist nicht böse, es ist nur irregeführt. Es haßt uns, weil es uns nicht kennt. Nähern wir uns ihm.
Um es dann zu bestrafen, denn es hat an seinen Gebietern gezweifelt, und das ist ein Verbrechen.
Die Königin sah nach der Seite, woher die Stimme kam, und erkannte Herrn von Bezenval.
Oh! Sie sind es, Herr Baron; wollen Sie uns einen guten Rat geben?
Der Rat ist gegeben, sagte er sich verbeugend.
Es sei; der König wird bestrafen, doch als ein guter Vater.
Wer gut liebt, züchtigt gut, versetzte der Baron.
Dann wandte er sich gegen Herrn von Lambescq um und sagte zu ihm: Sind Sie nicht meiner Ansicht, Prinz? Das Volk hat Morde begangen.
Die es leider Repressalien nennt, versetzte halblaut eine sanfte, frische Stimme, bei deren Ton sich die Königin umwandte.
Sie haben recht, Prinzessin, gerade darin, meine liebe Lamballe, besteht ein Irrtum; wir werden auch nachsichtig sein.
Doch, versetzte die Prinzessin mit ihrer schüchternen Stimme, doch ehe man sich fragt, ob man bestrafen soll, müßte man, glaube ich, vorerst fragen, ob man werde siegen können.
Ein allgemeiner Schrei brach los, ein Schrei der Protestation gegen die Wahrheit, die aus diesem edeln Munde gekommen.
Siegen! Und die Schweizer? sagte der eine.
Und die Deutschen? sagte der andre.
Und die Gardes-du-corps? sagte der dritte.
Man zweifelt am Heer und am Adel! rief ein junger Mann, der die Uniform eines Leutnants der Husaren von Berchigny trug. Haben wir diese Schmach verdient? Bedenken Sie, Madame, daß der König schon morgen, wenn er will, vierzigtausend Mann aufstellen, nach Paris werfen, und Paris zerstören kann. Bedenken Sie, daß vierzigtausend Mann ergebene Truppen so viel wert sind, als eine halbe Million empörte Pariser.
Der junge Mann, der so gesprochen, hatte ohne Zweifel noch eine gute Anzahl ähnlicher Gründe vorzubringen; doch hielt er plötzlich inne, als er sah, daß die Königin ihre Augen auf ihn heftete. Er hatte aus der Mitte einer Gruppe von Offizieren gesprochen und war durch seinen Eifer weiter fortgerissen worden, als sein Grad und die Schicklichkeit es erlaubten.
Er hielt also, wie gesagt, plötzlich inne, beschämt über die Wirkung, die er hervorgebracht.
Doch es war zu spät. Die Königin hatte bereits seine Worte gleichsam im Fluge aufgefangen.
Kennen Sie die Lage, mein Herr? fragte sie mit freundlichem Tone.
Ja, Eure Majestät, antwortete der junge Mann errötend, ich war auf den Champs-Elysees.
Dann kommen Sie, mein Herr, und sprechen Sie ohne Scheu.
Der junge Mann trat ganz errötend aus den Reihen, die sich öffneten, vor und näherte sich der Königin.
Gleichzeitig wichen der Prinz von Lambescq und Herr von Bezenval zurück, als hätten sie es unter ihrer Würde erachtet, dieser Art von Rat beizuwohnen.
Die Königin merkte nicht auf ihren Rückzug.
Sie sagen, mein Herr, der König habe vierzigtausend Mann?
Ja, Eure Majestät. In Saint-Denis, in Saint-Mande, in Montmartre und in Grenelle.
Ich erbitte mir Näheres und Genaueres darüber, mein Herr! rief die Königin.
Madame, die Herren von Lambescq und von Bezenval werden es Ihnen unendlich viel besser sagen als ich.
Fahren Sie fort, mein Herr. Ich höre gern die Einzelheiten aus Ihrem Munde. Unter wessen Befehl stehen diese vierzigtausend Mann?
Vor allem unter den Befehlen der Herren von Bezenval und Lambescq, sodann unter denen des Prinzen von Condé, des Herrn von Narbonne-Fritzlar und des Herrn von Salkenaym.
Ist das wahr, Prinz? fragte die Königin, sich gegen Herrn von Lambescq umwendend.
Ja, Eure Majestät, sprach der Prinz, sich verbeugend.
Auf Montmartre, fuhr der junge Mann fort, befindet sich ein Artilleriepark, in sechs Stunden kann das ganze Quartier, das von Montmartre aus beherrscht wird, in Asche verwandelt sein. Montmartre gebe das Signal zum feuern; Vincennes antworte ihm; zehntausend Mann rücken durch die Champs-Elysees an, zehntausend weitere durch die Barrière d'Enfer, zehntausend durch die Rue Saint-Martin, und zehntausend durch die Bastille; Paris höre das Gewehrfeuer an den vier Hauptpunkten, und es wird sich nicht vierundzwanzig Stunden halten.
Ah! das ist einer, der sich offenherzig erklärt, sprach die Königin; das ist ein genauer Plan. Was sagen Sie dazu, Herr von Lambescq?
Ich sage, daß der Herr Husarenleutnant ein vollkommener General ist, antwortete mit geringschätzender Miene der Prinz.
Wenigstens ist er ein Soldat, der nicht verzweifelt, versetzte die Königin, die den jungen Offizier vor Zorn erbleichen sah.
Meinen Dank, Madame, sprach der junge Offizier, sich verbeugend. Ich weiß nicht, was Ihre Majestät beschließen wird; doch ich flehe sie an, mich zu denjenigen zu zählen, welche bereit sind, für sie zu sterben, und ich thue damit bloß – das bitte ich sie zu glauben – was vierzigtausend Soldaten, abgesehen von unsern Führern, auch zu thun bereit sind.
Bei diesen letzten Worten grüßte der junge Mann den Prinzen höflich, während ihn dieser beinahe beleidigt hatte.
Diese Höflichkeit fiel der Königin noch mehr auf, als die Ergebenheitsbeteuerung, die ihr vorangegangen.
Wie heißen Sie, mein Herr? fragte sie.
Baron von Charny, Madame, erwiderte er, indem er sich verbeugte.
Von Charny! rief Marie Antoinette, unwillkürlich errötend; sind Sie ein Verwandter des Grafen von Charny?
Ich bin sein Bruder, Madame, sagte der junge Mann. Und er verbeugte sich anmutig noch tiefer, als er es zuvor gethan.
Ich hätte, sagte die Königin, ihre Unruhe überwältigend, indem sie mit sicherem Blick umherschaute, ich hätte bei Ihren ersten Worten einen meiner treusten Diener erkennen müssen. Meinen Dank, Baron. Wie kommt es, daß ich Sie zum ersten Male bei Hofe sehe?
Madame, mein ältester Bruder, der unsern Vater ersetzt, hat mir befohlen, bei meinem Regimente zu bleiben, und in den sieben Jahren, die ich in den Heeren des Königs zu dienen die Ehre habe, bin ich nur zweimal nach Versailles gekommen.
Die Königin heftete einen langen Blick auf das Gesicht des jungen Mannes und sagte dann zu ihm: Sie gleichen Ihrem Bruder. Ich werde Ihren Bruder schelten, daß er gewartet hat, bis Sie sich selbst bei Hofe einfanden. Und sie wandte sich gegen die Gräfin, ihre Freundin um, die sich durch den ganzen Auftritt in ihrer Unbeweglichkeit nicht hatte stören lassen.
Doch völlig anders verhielt sich die übrige Versammlung. Elektrisiert durch den Empfang, den die Königin dem jungen Mann hatte zu teil werden lassen, übertrieben die Offiziere aus Leibeskräften den Enthusiasmus für die königliche Sache, und man hörte in jeder Gruppe Ausdrücke von einem Heldenmut erschallen, der ganz Frankreich zu bändigen imstande gewesen wäre. Marie Antoinette benützte diese Stimmung, die offenbar ihren geheimen Gedanken schmeichelte.
Sie hatte mehr Neigung zum Kampf, als zur Geduld, zum Widerstreben, statt zum Nachgeben. Von den ersten Nachrichten an, die ihr von Paris zugekommen, war sie auch zu einem hartnäckigen Widerstand gegen diesen Geist der Rebellion entschlossen, der alle Vorrechte der französischen Gesellschaft zu verschlingen drohte.
Auf die paar Worte, die der Graf von Charny gesprochen, auf das von den Anwesenden ausgesprochene Hurrah der Begeisterung sah sich Marie Antoinette im trügerischen Hoffnungsschein an der Spitze einer mächtigen Armee; sie hörte in der Einbildung ihre ungefährlichen Kanonen rollen und ergötzte sich an dem Schrecken, den sie den Parisern einflößen müßten, wie an einem entscheidenden Sieg.
Trunken von Jugend, Vertrauen und Liebe, zählten Männer und Frauen um sie her die glänzenden Husaren, die schweren Dragoner, die furchtbaren Schweizer, die geräuschvollen Kanoniere auf, und lachten über die plumpen Piken mit den rohen hölzernen Stielen, ohne daran zu denken, daß am Ende dieser gemeinen Waffen die edelsten Köpfe Frankreichs sich erheben sollten.
Ich, murmelte die Prinzessin von Lamballe, ich habe mehr Angst vor einer Pike, als vor einer Flinte.
Weil das häßlicher ist, meine liebe Therese, erwiderte lachend die Königin; doch in jedem Fall beruhige dich. Unsre Pariser Pikeniere sind nicht so viel wert, als die Schweizer Pikeniere von Morat, und die Schweizer von heute haben mehr als Piken: sie haben gute Musketen, mit denen sie vortrefflich zielen.
Oh! was das betrifft, dafür stehe ich, sagte Herr von Bezenval.
Die Königin wandte sich abermals gegen Frau von Polignac, um zu sehen, ob ihr alle diese Versicherungen ihre Ruhe nicht wiedergeben würden; doch die Gräfin schien trauriger als je.
Die Königin, die in ihrer unendlichen Zärtlichkeit dieser Freundin die königliche Würde zum Opfer brachte, flehte vergebens um ein lachenderes Gesicht.
Die junge Frau blieb düster und schien in die schmerzlichsten Gedanken versunken.
Diese Entmutigung hatte aber keinen andern Einfluß auf die Königin, als den, sie zu betrüben. Die Begeisterung unter den jungen Offizieren erhielt sich auf derselben Höhe, und alle entwarfen, um ihren Kameraden, den Grafen von Charny, versammelt, den Schlachtplan.
Mitten unter dieser fieberhaften Belebtheit trat der König allein, ohne Diener, ohne Befehle und lächelnd ein.
Ganz glühend von den Gemütsbewegungen, die sie um sich her angefacht hatte, eilte die Königin ihm entgegen.
Als man den König erblickte, stockte jedes Gespräch, und bald herrschte das tiefste Stillschweigen; jeder wartete auf ein Wort des Herrn, auf eines jener Worte, die elektrisieren und unterjochen.
Man horchte, man bebte, man zog mit dem Atem die ersten Worte ein, die aus dem königlichen Munde kommen sollten.
Madame, sagte Ludwig XVI., unter allen diesen Ereignissen hat man vergessen, mir mein Abendbrot in meinem Zimmer aufzutragen; machen Sie mir das Vergnügen, mir hier das Abendbrot zu geben.
Hier? rief die Königin erstaunt.
Wenn Sie die Güte haben wollen!
Aber . . . . Sire . . . .
Es ist wahr, Sie plauderten . . . . Nun, während ich zu Nacht speise, werde ich auch plaudern.
Das einfache Wort »Abendbrot« hatte jeglichen Enthusiasmus in Eis verwandelt. Doch bei den letzten Worten: während ich zu Nacht speise, werden wir plaudern, konnte die Königin selbst nicht glauben, daß so viel Ruhe nicht ein wenig Heldenmut verberge.
Ohne Zweifel hatte der König die Absicht, durch seine Ruhe allen vorübergehenden Schrecken niederzuschlagen.
Oh! ja. Die Tochter von Maria Theresia konnte nicht glauben, der Sohn des heiligen Ludwig bleibe in einem solchen Augenblick den materiellen Bedürfnissen des gewöhnlichen Lebens unterworfen.
Marie Antoinette täuschte sich. Der König hatte Hunger.
Auf ein Wort von Marie Antoinette wurde dem König auf einem kleinen Tische im Kabinett der Königin aufgetragen.
Aber es geschah dann ganz das Gegenteil von dem, was die Königin gehofft hatte. Ludwig XVI. ließ Stillschweigen gebieten, doch nur, um in seinem Abendbrot nicht gestört zu werden.
Während Marie Antoinette sich alle Mühe gab, um den Enthusiasmus anzufachen, verschlang der König.
Die Offiziere fanden diese gastronomische Sitzung nicht würdig eines Abkömmlings vom heiligen Ludwig und bildeten Gruppen, deren Gedanken durchaus nicht so ehrerbietig waren, als die Umstände es heischten.
Die Königin errötete, ihre Ungeduld offenbarte sich in allen ihren Bewegungen. Diese feine, aristokratische, nervöse Natur konnte eine solche Herrschaft der Materie über den Geist nicht begreifen. Sie näherte sich dem König, um diejenigen, welche sich vom Tische entfernten, dahin zurückzuführen.
Sire, sagte sie, haben Sie keine Befehle zu geben?
Ah! ah! erwiderte der König mit vollem Munde, was für Befehle, Madame? Werden Sie in diesem Augenblick unsre Egeria sein?
Und während er diese Worte sprach, nahm er mutig ein junges Feldhuhn mit Trüffeln in Angriff.
Sire, sagte die Königin, Numa war ein friedlicher König. Heute aber denkt man allgemein, wir brauchen einen kriegerischen König, und wenn sich Eure Majestät das Altertum zum Muster nehmen soll, so muß sie, da sie nicht Tarquinius sein kann, Romulus sein.
Der König lächelte mit einer Ruhe, die an Glückseligkeit grenzte.
Sind diese Herren auch kriegerisch? fragte er.
Und er wandte sich gegen die Offiziere um, und sein von der Hitze des Mahles belebtes Auge kam den Anwesenden von Mut glänzend vor.
Ja, Sire! riefen alle einstimmig, den Krieg! wir verlangen nur den Krieg!
Meine Herren, meine Herren, sprach der König, Sie machen mir in der That das größte Vergnügen, indem Sie mir beweisen, daß ich bei Gelegenheit auf Sie zählen kann. Aber ich habe für den Augenblick einen Rat und einen Magen: der erste wird mir raten, was ich thun soll, der zweite rät mir, was ich thue.
Und er lachte und reichte demjenigen, welcher ihn bediente, seinen Teller voll von Überresten, um einen frischen zu nehmen.
Ein Gemurmel des Erstaunens und des Zorns durchlief wie ein Schauer diese Menge von Edelleuten, die auf ein Zeichen des Königs all ihr Blut vergossen hätten.
Die Königin wandte sich ab und stampfte mit dem Fuß.
Der Prinz von Lambescq ging auf sie zu und sagte zu ihr:
Sie sehen, Madame, Seine Majestät denkt ohne Zweifel wie ich, es sei besser, zu warten. Das ist Klugheit, und obgleich es nicht die meinige ist, so ist die Klugheit doch leider eine in unsern Zeitläuften notwendige Tugend.
Ja, mein Herr, ja, sie ist eine sehr notwendige Tugend, erwiderte die Königin, indem sie sich auf die Lippen biß.
Und traurig zum Tod, lehnte sie sich an den Kamin an, das Auge in der Nacht verloren, die Seele in Verzweiflung versenkt.
Diese zwiespältige Stimmung des Königs und der Königin fiel aller Welt auf. Die Königin hielt nur mit Mühe ihre Thränen zurück. Der König aß mit jenem sprichwörtlichen Appetit der Familie Bourbon fort.
Nach und nach entstand auch eine Leere im Saal. Die Gruppen schmolzen, wie in den Sonnenstrahlen der Schnee in den Gärten schmilzt, der Schnee, unter dem sodann stellenweise die schwarze, trostlose Erde erscheint.
Als die Königin die kriegerische Gruppe verschwinden sah, auf die sie so sehr gerechnet hatte, glaubte sie ihre ganze Macht verschwinden zu sehen. Aus dieser Erstarrung wurde sie durch die sanfte Stimme der Gräfin Jules aufgeweckt, die sich ihr mit Frau Diana von Polignac, ihrer Schwägerin, näherte.
Beim Tone dieser Stimme erschien die süße Zukunft, mit ihren Blumen und ihren Palmen, wieder im Herzen dieser stolzen Frau; eine aufrichtige und wahrhaft ergebene Freundin war mehr wert, als zehn Königreiche.
Oh! du, du, murmelte sie, die Gräfin Jules in ihre Arme schließend, es bleibt mir also eine Freundin?
Und lange zurückgehalten, entschlüpften die Thränen ihren Augenlidern, rollten an ihren Wangen herab und übergossen ihre Brust; doch statt bitter zu sein, waren diese Thränen süß, statt zu bedrücken, erleichterten sie ihr Herz.
Während eines kurzen Stillschweigens, das nun eintrat, hielt Marie Antoinette die Gräfin beständig in ihren Armen.
Die Herzogin, ihre Schwägerin an der Hand haltend, brach das Stillschweigen.
Madame, sagte sie mit einer so schüchternen Stimme, daß sie beinahe beschämt klang, ich glaube nicht, daß Eure Majestät den Plan tadelt, den ich ihrem Urteil unterwerfen will.
Welchen Plan? fragte die Königin aufmerksam; sprechen Sie, Herzogin, sprechen Sie!
Und während sie sich anschickte, auf die Herzogin Diana zu hören, lehnte sich die Königin auf die Schulter der Gräfin.
Madame, fuhr die Herzogin fort, die Meinung, die ich aussprechen will, kommt von einer Person, deren Autorität Eurer Majestät nicht verdächtig sein wird, sie kommt von Ihrer Königlichen Hoheit Madame Adelaide, der Tante des Königs.
Welche Umschweife, liebe Herzogin, sagte die Königin heiter, zur Sache.
Madame, die Umstände sind traurig. Man hat die Gunst, der sich unsre Familie bei Eurer Majestät erfreut, sehr übertrieben. Die Verleumdung befleckt die erhabene Freundschaft, die Sie uns im Austausch für unsre ehrfurchtsvolle Ergebenheit huldreich bewilligen.
Nun! versetzte die Königin mit einem Anfang von Erstaunen, finden Sie nicht, daß ich herzhaft genug gewesen bin? Habe ich nicht gegen die öffentliche Meinung, gegen den Hof, gegen das Volk, selbst gegen den König meine Freundschaften aufrecht erhalten?
Oh! Madame, im Gegenteil, Eure Majestät hat ihre Freunde so edelmütig in Schutz genommen, daß sie ihre Brust allen Streichen entgegengesetzt, so daß heute, da die Gefahr groß, sogar furchtbar ist, die von Eurer Majestät so edel verteidigten Freunde feige und schlechte Diener wären, wenn sie nicht ihrer Königin Gleiches mit Gleichem vergelten würden.
Oh! das ist gut, das ist schön, sagte Marie Antoinette, indem sie die Gräfin, die sie immer noch an ihre Brust gepreßt hielt, voll Begeisterung küßte und Frau von Polignac die Hand drückte.
Aber statt das Haupt unter dieser Liebkosung ihrer Königin stolz zu erheben, sah man beide erbleichen.
Madame Jules Polignac machte eine Bewegung, um sich von den Armen der Königin loszuwinden, doch diese hielt sie gegen ihren Willen an ihrem Herzen zurück.
Aber, stammelte Diana von Polignac, Eure Majestät begreift wohl nicht recht, was wir ihr anzukündigen die Ehre haben, um die Schläge abzuwenden, die ihren Thron, ihre Person, vielleicht wegen der Freundschaft, mit der sie uns beehrt hat, bedrohen. Es ist ein schmerzliches Mittel, ein für unsre Herzen bitteres Opfer, wir müssen uns jedoch demselben unterziehen, denn es ist uns von der Notwendigkeit geboten.
Bei diesen Worten war die Reihe, zu erbleichen, an der Königin. Denn sie fühlte nicht mehr die mutige und treue Freundschaft, sondern die Furcht; aus dieser Einleitung sprach die Furcht, unter dem Schleier dieser schüchternen Zurückhaltung war die Angst versteckt.
Lassen Sie hören, Herzogin, sagte sie, sprechen Sie, was für ein Opfer ist das?
Oh! es ist durchaus nur ein Opfer für uns, Madame, antwortete die Herzogin. Wir sind, Gott weiß warum, in Frankreich verhaßt. Indem wir Ihren Thron von unsrer Last befreien, werden wir ihm den Glanz, die ganze Wärme der Liebe des Volkes wiedergeben, eine Liebe, die durch unsre Gegenwart erstickt oder zurückgedrängt worden ist.
Sie sollen sich entfernen, rief die Königin betroffen aus, wer hat das gesagt? wer hat das verlangt?
Und sie schaute die Gräfin, die den Kopf senkte, voll Bestürzung an, und schob sie sanft mit der Hand von sich.
Ich nicht, erwiderte die Gräfin Jules. Ich verlange im Gegenteil zu bleiben.
Doch diese Worte wurden mit einem Ton gesprochen, der besagen wollte: Befehlen Sie mir zu reisen, Madame, und ich werde reisen.
Marie rächte sich für den Schmerz, den sie empfand, nur durch den eiskalten Blick, mit dem sie ihre Freundin umhüllte.
Ah! Herzogin Diana, das ist Ihre Ansicht? sagte sie, während sie ihre Brust mit ihrer fieberhaften Hand zusammenpreßte.
Ach! Madame, erwiderte diese, es ist nicht meine Wahl, es ist nicht mein Wille, der mir diktiert, was ich zu thun habe, es ist das Gebot des Geschicks.
Ja, Herzogin, sprach Marie Antoinette. Und sich zur Gräfin Jules umwendend: Und Sie, Gräfin, was sagen Sie?
Die Gräfin antwortete durch eine Thräne, so brennend wie ein Gewissensbiß, doch ihre ganze Kraft hatte sich in der Anstrengung, die sie gemacht, erschöpft.
Gut, sagte die Königin, gut; es ist mir süß, zu sehen, wie sehr ich geliebt bin. Ich danke, meine Gräfin, ja, Sie sind hier Gefahren preisgegeben, ja, die Wut dieses Volkes kennt keinen Zügel; ja, Sie haben recht, und ich allein war wahnsinnig. Sie verlangen, zu bleiben, das ist Aufopferung, aber ich nehme diese Aufopferung nicht an!
Die Gräfin Jules schlug die Augen zur Königin auf. Doch statt die Ergebenheit der Freundin darin zu lesen, las die Königin nur die Schwäche des Weibes.
Herzogin, sagte Marie Antoinette, Sie sind also entschlossen, abzureisen?
Und sie legte einen besondern Nachdruck auf das Wort Sie.
Ja, Eure Majestät.
Ohne Zweifel auf eines Ihrer Güter . . . auf ein entferntes . . . sehr entferntes.
Madame, um zu reisen, um Sie zu verlassen, sind fünfzig Meilen ebenso schmerzlich, als fünfhundert.
Sie gehen also ins Ausland?
Ach! ja, Madame.
Ein Seufzer zerriß das Herz der Königin, kam aber nicht über ihre Lippen.
Und wohin gehen Sie?
An den Rhein, Madame.
Gut. Sie sprechen deutsch, Herzogin, sagte die Königin mit einem unbeschreiblich traurigen Lächeln, und ich habe es Sie gelehrt. Die Freundschaft Ihrer Königin wird Ihnen wenigstens zu etwas genützt haben, und das macht mich glücklich.
Dann wandte sie sich an die Gräfin Jules und sprach: Ich will Sie nicht trennen, meine liebe Gräfin. Sie wünschen zu bleiben, und ich schätze diesen Wunsch. Aber ich, die ich für Sie fürchte, will, daß Sie reisen, ich befehle Ihnen zu reisen.
Und sie hielt an dieser Stelle inne, erstickt durch Gemütsbewegungen, die sie, trotz ihres Heldenmutes, vielleicht nicht die Kraft gehabt hätte zu bewältigen, wäre nicht plötzlich die Stimme des Königs an ihr Ohr gedrungen, der an allem, was wir hier erzählten, keinen Anteil genommen.
Seine Majestät war beim Nachtisch.
Madame, sagte der König, es ist jemand bei Ihnen; man macht Sie darauf aufmerksam.
Aber, Sire, rief die Königin, jedes andre Gefühl als das der königlichen Würde abschwörend, vor allem haben Sie Befehle zu geben. Sehen Sie, es sind nur drei Personen hier geblieben, doch das sind diejenigen, mit welchen Sie zu thun haben: Herr von Lambescq, Herr von Bezenval und Herr von Broglie. Befehle, Sire, Befehle!
Mit schwerfällig zögerndem Auge schaute der König auf.
Herr von Broglie, sagte er, was denken Sie von alledem?
Sire, antwortete der alte Marschall, wenn Sie Ihre Armee aus der Nähe der Stadt Paris entfernen, so wird man sagen, die Pariser haben Sie geschlagen. Lassen Sie aber dieselbe in Ihrer Nähe, so muß Ihre Armee die Pariser schlagen.
Gut gesprochen! rief die Königin, dem Marschall die Hand drückend.
Gut gesprochen! wiederholte Herr von Bezenval.
Der Prinz von Lambescq allein schüttelte stillschweigend den Kopf.
Nun! und hernach? sagte der König.
Befehlen Sie: Marsch! erwiderte der alte Marschall.
Ja . . . Marsch! rief die Königin.
Gut! da Sie es alle wollen: Marsch! versetzte der König.
In diesem Augenblick übergab man der Königin ein Billet folgenden Inhalts: Um Gottes willen! keine Übereilung, Madame! Ich erwarte eine Audienz von Eurer Majestät.
Seine Handschrift! murmelte die Königin.
Dann wandte sie sich um und fragte: Ist Herr von Charny bei mir?
Er kommt soeben ganz staubig und, ich glaube sogar, ganz blutig an, antwortete die Vertraute.
Einen Augenblick Geduld, meine Herren, sagte die Königin zu Herrn von Bezenval und Herrn von Broglie; erwarten Sie mich hier, ich kehre bald zurück.
Und sie ging in größter Eile in ihr Boudoir.
Als die Königin in ihr Boudoir eintrat, fand sie daselbst denjenigen, welcher das von der Kammerfrau überbrachte Billet geschrieben hatte.
Es war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, von hoher Gestalt, mit einem Kraft und Entschlossenheit bezeichnenden Gesicht. Sein graublaues, lebhaftes Auge, so durchdringend wie das eines Adlers, seine gerade Nase, sein scharf ausgeprägtes Kinn gaben seiner Physiognomie einen martialischen Charakter, erhöht durch die Eleganz, mit der er das Kleid des Leutnants bei den Gardes-du-corps trug.
Seine Hände zitterten noch unter seinen zerrissenen und zerknitterten Battistmanschetten. Sein Degen war verbogen und fügte sich nicht mehr gut in die Scheide.
Bei der Ankunft der Königin ging er mit hastigen Schritten von tausend fieberhaften Gedanken bewegt, im Zimmer auf und ab.
Marie Antoinette trat gerade auf ihn zu.
Herr von Charny! rief sie, Herr von Charny, Sie hier?
Und als sie sah, daß er sich der Etikette gemäß ehrfurchtsvoll verbeugte, winkte sie einer Kammerfrau; diese entfernte sich und schloß die Thüre.
Die Königin ließ der Thüre kaum Zeit sich zu schließen, nahm Herrn von Charny kräftig bei der Hand und rief:
Graf, warum sind Sie hier?
Weil ich glaubte, es sei meine Pflicht, zu kommen, Madame, erwiderte der Graf.
Nein; Ihre Pflicht war, Versailles zu meiden, zu thun, was beschlossen war, mir zu gehorchen, es zu machen, wie es alle meine Freunde machen, – die Angst vor meinem Glück haben . . . Ihre Pflicht ist, nichts meinem Geschick zu opfern; Ihre Pflicht ist, sich von mir zu entfernen, mich zu fliehen.
Sie zu fliehen! Und wer flieht Sie denn, Madame?
Diejenigen, welche vernünftig sind.
Ich glaube sehr vernünftig zu sein, und darum bin ich nach Versailles gekommen.
Und woher kommen Sie?
Von Paris, vom kochenden, trunkenen, mit Blut besudelten Paris.
Die Königin drückte ihre beiden Hände an ihr Gesicht.
Oh! sagte sie, nicht einer, nicht einmal Sie kommen, um mir eine gute Nachricht zu bringen!
Madame, unter den Umständen, in denen wir uns befinden, verlangen Sie von Ihren Boten, daß sie Ihnen nur eines verkündigen: die Wahrheit.
Wollen Sie mir die Wahrheit sagen?
Wie immer, Madame.
Sie sind eine ehrliche Seele, ein wackres Herz.
Ich bin ein treuer Unterthan, Madame, nichts andres.
Nun denn! ich bitte für den Augenblick, mein Freund, sagen Sie mir nicht ein Wort. Sie kommen zu einer Stunde, wo mein Herz bricht; meine Freunde erdrücken mich heute zum erstenmal mit der Wahrheit, die Sie mir immer gesagt haben. Oh! Graf, es war unmöglich, mir diese Wahrheit länger zu verschweigen, sie bricht in allem hervor: am Himmel, der rot ist, in der Luft, die sich mit dumpfen Geräuschen erfüllt, in der Physiognomie der Höflinge, die bleich und ernst sind. Nein! nein! Graf, zum erstenmal in Ihrem Leben sagen Sie mir nicht die Wahrheit.
Der Graf schaute die Königin an.
Ja, ja, sagte sie, nicht wahr. Sie, der Sie mich als mutig kennen. Sie erstaunen? Oh! Sie sind mit Ihrem Erstaunen noch nicht zu Ende!
Herr von Charny machte eine fragende Gebärde.
Sie werden sogleich sehen, sagte die Königin mit einem nervösen Lachen.
Eure Majestät leidet? fragte der Graf.
Nein, mein Herr, setzen Sie sich zu mir, und nicht ein Wort mehr über diese abscheuliche Politik . . . Machen Sie, daß ich vergesse.
Der Graf gehorchte mit einem traurigen Lächeln.
Marie Antoinette legte ihre Hand auf seine Stirne.
Ihre Stirne glüht, sagte sie.
Ja, ich habe einen Vulkan im Kopfe.
Ihre Hand ist eiskalt.
Und sie drückte die Hand des Grafen in ihren Händen.
Mein Herz ist von der Kälte des Todes berührt, sagte er.
Armer Olivier, ich sagte es Ihnen wohl, vergessen wir. Ich bin nicht mehr die Königin; ich bin nicht mehr bedroht; ich bin nicht mehr gehaßt! Nein, ich bin nicht mehr Königin! ich bin Weib. Was ist das Weltall für mich? Ein Herz, das mich liebt, das würde mir genügen.
Der Graf kniete vor der Königin nieder und küßte ihr die Füße mit jener Ehrfurcht, welche die Ägypter für die Göttin Isis hegten.
Oh! Graf, mein einziger Freund, sprach die Königin, während sie ihn aufzuheben suchte, wissen Sie, was mir die Herzogin Diana that?
Sie wandert aus, antwortete Charny, ohne zu zögern.
Er hat es erraten, rief Marie Antoinette; er hat es erraten! Ach! Man konnte das also erraten?
Oh! mein Gott, ja Madame, erwiderte der Graf, alles läßt sich in diesem Augenblick denken.
Aber Sie und die Ihrigen, rief die Königin, warum wandern Sie nicht ebenfalls aus, da das eine so natürliche Sache ist?
Ich, vor allem, Madame, thue es nicht, weil ich Eurer Majestät tief ergeben bin, und weil ich mir gelobt habe, nicht ihr, sondern mir selbst, sie nicht einen Augenblick während des Sturmes, der heranzieht, zu verlassen. Meine Brüder werden nicht auswandern, weil mein Benehmen das Beispiel sein wird, nach dem sie das ihrige richten; Frau von Charny endlich wird nicht auswandern, weil sie Eure Majestät – wenigstens glaube ich das – aufrichtig liebt.
Ja, Andrée ist ein sehr edles Herz, sprach die Königin mit einer sichtbaren Kälte.
Darum wird sie Versailles nicht verlassen, fügte Herr von Charny bei.
Somit werde ich sie immer bei mir haben, sagte die Königin mit demselben eiskalten Ton, der schattiert war, um nur ihre Eifersucht oder ihre Verachtung fühlen zu lassen.
Eure Majestät hat mir die Ehre erwiesen, mich zum Leutnant der Garden zu ernennen, sagte der Graf von Charny, mein Posten ist in Versailles, ich würde meinen Posten nicht verlassen haben, hätte mir Eure Majestät nicht die Bewachung der Tuilerien übertragen. Das ist eine notwendige Verbannung, hat mir die Königin gesagt, und ich bin in diese Verbannung abgegangen. Bei alledem, Eure Majestät weiß das, hat mich die Gräfin von Charny ebenso wenig getadelt, als sie um Rat gefragt worden ist.
Das ist wahr, erwiderte die Königin, immer eisig.
Heute, fuhr der Graf unerschrocken fort, heute glaube ich, daß mein Posten nicht mehr in den Tuilerien, sondern in Versailles ist. Wohl denn! möge es der Königin nicht mißfallen, ich habe mein Gebot verletzt, meinen Dienst selbst gewählt, und hier bin ich. Mag Frau von Charny vor den Ereignissen bange haben oder nicht, mag sie auswandern wollen oder nicht, ich bleibe bei der Königin . . . wenn nicht etwa die Königin meinen Degen zerbricht. Wäre das der Fall, sollte ich nicht mehr das Recht haben, für sie im Gemach hier in Versailles zu kämpfen, zu sterben, so bleibt mir immerhin noch das Recht, mich vor der Thüre, auf dem Pflaster töten zu lassen.
Der junge Mann sprach so mutig, so bieder diese einfachen aus dem Herzen gekommenen Worte, daß die Königin von ihrem Stolze herabfiel, hinter den sie sich zurückgezogen hatte, um mehr ein menschliches als königliches Gefühl zu verbergen.
Graf, erwiderte sie, sprechen Sie nie wieder dieses Wort aus, sagen Sie nicht, Sie werden für mich sterben, denn wahrhaftig, ich weiß, daß Sie es thun werden, wie Sie es sagen.
Oh! ich werde es im Gegenteil immer sagen, rief Herr von Charny. Ich werde es allen und überall sagen; ich werde es sagen, wie ich es thun werde, weil, ich befürchte es, die Zeit gekommen ist, wo alle diejenigen sterben müssen, welche die Könige der Erde geliebt haben.
Graf! Graf! was giebt Ihnen denn diese unseligen Ahnungen ein?
Ach! Madame, erwiderte Charny, den Kopf schüttelnd, zur Zeit des leidigen amerikanischen Kriegs bin ich auch von dem Unabhängigkeitsfieber befallen gewesen, das die ganze Gesellschaft durchlaufen hat. Ich wollte auch einen thätigen Anteil an der Emancipation der Sklaven nehmen, wie man zu jener Zeit sagte, und ließ mich als Maurer aufnehmen. Ich schloß mich mit den Lafayette, mit den Lameth einer geheimen Gesellschaft an. Wissen Sie, Madame, was der Zweck dieser Gesellschaft war? Die Zerstörung der Throne. Wissen Sie, was der Wahlspruch der drei Buchstaben: L. P. D. war? Lilia pedibus destrue Zertritt die Lilien mit Füßen.
Was haben Sie dann gethan?
Ich habe mich mit Ehren zurückgezogen; doch für einen, der sich zurückzog, ließen sich zwanzig aufnehmen. Was nun heute geschieht, Madame, ist der Prolog des großen Dramas, das sich in der Stille und in der Nacht, seit zwanzig Jahren, im Kopfe der Menschen vorbereitet hat, die gegenwärtig Paris in Bewegung setzen, das Stadthaus regieren, im Besitze des Palais-Royal sind und die Bastille genommen haben. Ich habe die Gesichter meiner alten Bundesbrüder erkannt. Täuschen Sie sich nicht, Madame, alle Ereignisse der jüngsten Zeit sind keine Ereignisse des Zufalls, es sind seit langer Zeit vorbereitete Aufstände.
Oh! Sie glauben! Sie glauben, mein Freund! rief die Königin, in Thränen zerfließend.
Weinen Sie nicht, Madame, begreifen Sie! sagte der Graf.
Ich soll begreifen! ich soll begreifen! fuhr Marie Antoinette fort; ich, die geborene Gebieterin von fünfundzwanzig Millionen Menschen, soll es begreifen, wenn diese fünfundzwanzig Millionen Unterthanen, die bloß da sind, um mir zu gehorchen, sich empören und meine Freunde töten! Nein, ich werde das nie begreifen.
Sie müssen es aber begreifen; denn von diesen Unterthanen, die Ihnen gehorchen sollen, sind Sie, sobald dieser Gehorsam ihnen zur Last wird, eine Feindin geworden; und bis diese widerwillig Gehorchenden die Macht besitzen, Eure Majestät zu verschlingen – wozu sie bereits ihre hungrigen Zähne wetzen – verschlingen sie Ihre Freunde, die noch mehr verhaßt sind als Sie.
Und finden Sie vielleicht, daß die Leute recht haben, Herr Philosoph? rief gebieterisch die Königin, das Auge weit aufgerissen, die Nasenflügel bebend.
Ach! ja, Madame, sie haben recht, antwortete der Graf mit seinem sanften, liebevollen Ton, denn wenn ich mit meinen schönen englischen Pferden, mit meinem goldenen Rock und mit meinen Leuten, deren silberne Tressen mehr kosten, als man brauchte, um drei Familien zu ernähren, auf den Boulevards spazieren fahre, so fragt sich Ihr Volk, das heißt, es fragen sich diese fünfundzwanzig Millionen ausgehungerte Menschen, wozu ich ihnen diene, ich, der ich nur ihresgleichen sei.
Sie dienen ihnen mit diesem, Olivier, rief die Königin, indem sie den Degen des Grafen am Griff faßte, Sie dienen ihnen mit diesem Degen, den Ihr Vater als Held bei Fontenon gehandhabt hat; den Ihr Großvater bei Steenkerke, Ihr Urgroßvater bei Lens und Rocroi, Ihre Ahnen bei Ivry, bei Maridnan, bei Aziencourt geführt haben. Der Adel dient dem französischen Volk durch den Krieg, er hat das Gold, das seine Röcke verbrämt, das Silber, das seine Livreen bedeckt, durch den Krieg um den Preis seines Blutes gewonnen. Fragen Sie sich also nicht mehr, Olivier, wozu Sie dem Volke dienen, Sie, der Sie ebenfalls als Braver diesen Degen führen, den Ihnen Ihre Väter vermacht haben!
Madame, Madame, sprechen Sie nicht so viel vom Blute des Adels! das Volk hat auch Blut in den Adern; sehen Sie die vor der Bastille fließenden Bäche; zählen Sie seine auf dem geröteten Pflaster ausgestreckten Toten und erfahren Sie, daß deren Herz, das nicht mehr schlägt, an dem Tage, wo Ihre Kanonen gegen dieselben donnerten, so edel geschlagen hat, als das eines Ritters; an dem Tage, wo das Volk, eine für seine Hand unbekannte Waffe schwingend, mitten unter dem Kartätschenhagel Lieder anstimmte, was unsre braven Grenadiere nicht immer thun. Ei! Madame, ei! meine Königin, ich bitte Sie inständig, schauen Sie mich nicht mit diesen zornigen Augen an. Was ist ein Grenadier? Es ist ein blauer verbrämter Rock auf dem Herzen des Volks, von dem ich soeben sprach. Was ist der Kugel, die durchbohrt und tötet, daran gelegen, ob das Herz mit blauem Tuch oder mit einem Fetzen Zwillich bedeckt ist? Was liegt dem Herzen, das bricht, daran, ob die Hülle, die es beschützte, von Drillich oder von Tuch war? Die Zeit ist gekommen, an alles das zu denken, Madame; Sie haben nicht mehr fünfundzwanzig Millionen Sklaven in Frankreich; Sie haben nicht mehr fünfundzwanzig Millionen Unterthanen, Sie haben sogar nicht mehr fünfundzwanzig Millionen Menschen, Sie haben fünfundzwanzig Millionen Soldaten.
Die gegen mich kämpfen werden, Graf?
Ja, gegen Sie, denn sie kämpfen für die Freiheit, und Eure Majestät steht zwischen ihnen und der Freiheit.
Ein langes Stillschweigen folgte auf diese Worte des Grafen. Die Königin brach es zuerst.
Nun, sprach sie, die Wahrheit, die ich Sie mir nicht zu sagen bat, Sie haben Sie mir also gesagt?
Ach! Madame, antwortete Charny, unter welcher Form sie meine Ergebenheit auch verbirgt, unter welchem Schleier sie auch meine Ehrfurcht erstickt, wider meinen Willen, wider Ihren Willen, schauen Sie, hören Sie, fühlen Sie, betasten Sie, denken Sie, träumen Sie: die Wahrheit ist da, Madame, ewig da, und Sie werden nicht mehr imstande sein, sie von Ihnen zu verbannen, wie sehr Sie sich auch anstrengen mögen! Schlummern Sie, schlafen Sie, um zu vergessen, und sie wird sich zu Ihren Häupten setzen, und sie wird das Gespenst Ihrer Träume, die Wirklichkeit Ihres Erwachens sein.
Oh! Graf, sagte die Königin stolz, ich kenne einen Schlaf, den sie nicht stören wird.
Diesen, Madame, fürchte ich so wenig, als Eure Majestät, und ich wünsche ihn vielleicht ebensosehr, als sie.
Oh! sprach die Königin mit Verzweiflung, Ihrer Ansicht nach ist dies also unsre einzige Zuflucht?
Ja, – doch übereilen wir nichts, Madame! gehen wir nicht schneller, als unsre Feinde, und wir gehen eben durch die Beschwerlichkeiten, die uns so viele Tage des Sturms bereiten, geradeswegs zu dem Schlaf.
Und ein neues Stillschweigen, noch düsterer, als das erste, lastete auf Marie Antoinette und Olivier von Charny.
Sie saßen, er bei ihr, sie bei ihm. Sie berührten sich, und dennoch war eine unermeßliche Kluft zwischen ihnen! Es war der Zwiespalt ihrer Geister, die getrennt auf den Wogen der Zukunft schwebten.
Die Königin kam zuerst auf den Gegenstand des Gesprächs zurück, doch auf einem Umweg. Sie schaute den Grafen starr an und sprach:
Mein Herr, ein letztes Wort über uns; – und . . . Sie werden mir alles sagen, alles, alles, alles, hören Sie wohl!
Ich höre, Madame.
Sie schwören mir, daß Sie nur meinetwegen gekommen sind?
Oh! Sie zweifeln daran?
Sie schwören mir, daß Ihnen Frau von Charny nicht geschrieben hat? Hören Sie: Ich weiß, daß sie ausgehen wollte; ich weiß, daß sie eine Idee im Kopfe hatte . . . Schwören Sie mir, Graf, daß Sie nicht ihr zu Liebe zurückgekommen sind.
In diesem Augenblicke klopfte man an die Thüre.
Herein! sagte die Königin.
Die Kammerfrau erschien wieder.
Madame, sagte sie, der König hat zu Abend gespeist.
Der Graf schaute Marie Antoinette mit Erstaunen an.
Nun, sagte sie, die Achseln zuckend, was ist dabei so Erstaunliches? Muß der König nicht zu Abend speisen?
Olivier faltete die Stirne.
Sagen Sie dem König, antwortete die Königin, ohne sich stören zu lassen, ich erhalte Nachrichten von Paris, und ich werde sie ihm mitteilen, sobald ich sie vernommen habe.
Dann wandte sie sich gegen Charny um und sprach: Fahren wir fort; da nun der König zu Abend gespeist hat, ist es billig, daß er verdaut.
Diese Unterbrechung hatte nur einen augenblicklichen Stillstand im Gespräche herbeigeführt, aber durchaus nichts an dem doppelten Gefühle der Eifersucht geändert, das die Königin in diesem Moment beseelte – Eifersucht als Frau, Eifersucht der Macht als Königin.
Den Grafen schien es übrigens, da die Dinge auf diesen Punkt gelangt waren, ebensosehr, als die Königin, zu drängen, eine Erklärung zu erhalten; nachdem die Thüre wieder geschlossen, war er es auch, der sich des Wortes zuerst bemächtigte.
Sie fragen mich, ob ich Frau von Charny zu Liebe zurückgekommen sei? sagte er. Eure Majestät hat also vergessen, daß Verpflichtungen unter uns übernommen worden sind, und daß ich ein Mann von Ehre bin?
Ja, sprach die Königin. Sie sind ein Mann von Ehre; ja, Sie haben geschworen, sich meinem Glück zu opfern, und dieser Schwur verzehrt mich, denn, indem Sie sich meinem Glück opfern, opfern Sie zu gleicher Zeit eine schöne Frau von edlem Charakter . . . ein Verbrechen mehr.
Oh! Madame, nun übertreiben Sie die Anklage. Gestehen Sie nur, daß ich mein Wort als redlicher Mann gehalten habe.
Das ist wahr, ich bin wahnsinnig, verzeihen Sie mir.
Nennen Sie nicht Verbrechen, was vom Zufall und der Notwendigkeit geboten ist. Wir haben beide diese Heirat beklagt, die allein die Ehre der Königin wahren konnte. Es handelt sich nicht mehr darum, diese Ehe zu erdulden, wie ich es bereits seit vier Jahren gethan.
Ja, rief die Königin. Doch glauben Sie, ich sehe Ihren Schmerz nicht, ich begreife Ihren Kummer nicht, die sich unter der Form der tiefsten Ehrfurcht verbergen? Glauben Sie, ich sehe nicht alles?
Ich bitte, Madame, sprach der Graf, sich verbeugend, teilen Sie mir mit, was Sie sehen, damit ich, wenn ich nicht genug selbst gelitten und die andern habe leiden lassen, die Summe der Uebel für mich und für alles, was mich umgiebt, verdoppele, fest überzeugt, immer noch zu wenig zu thun, im Verhältnisse zu dem, was ich Ihnen schuldig bin.
Die Königin streckte die Hand gegen den Grafen aus. Das Wort dieses Mannes hatte eine unwiderstehliche Macht, wie alles, was einem aufrichtigen und leidenschaftlichen Herzen entfließt.
Befehlen Sie also, Madame, fügte er hinzu, ich beschwöre Sie, fürchten Sie sich nicht, zu befehlen.
Ja, ja, ich weiß es wohl, ich habe unrecht, ja, verzeihen Sie mir; ja, es ist wahr. Doch wenn Sie irgendwo ein verborgenes Idol haben, dem Sie einen geheimnisvollen Weihrauch streuen, wenn für Sie in einem Winkel der Welt eine angebetete Frau ist . . . Oh! ich wage es nicht mehr, dieses Wort auszusprechen, es macht mir bange, und ich zweifle daran, wenn die Silben, aus denen es besteht, die Luft treffen und an mein Ohr klingen. Wohl denn! wenn das besteht, allen verborgen, so vergessen Sie nicht, daß Sie vor allen, daß Sie öffentlich für die andern und auch für sich selbst eine junge und hübsche Frau haben, die Sie mit beständigen Gefälligkeiten und Aufmerksamkeiten umgeben; eine Frau, die sich auf Ihren Arm verläßt, und die Stütze Ihres Armes zugleich als Stütze Ihres Herzens betrachtet.
Olivier faltete die Stirne, und die so reinen Linien seines Gesichts veränderten sich einen Augenblick.
Was verlangen Sie, Madame? sagte er, etwa, daß ich die Gräfin von Charny entferne? Sie schweigen; ist es also das? Wohl! ich bin bereit, diesem Befehl zu gehorchen; doch Sie wissen, sie ist allein in der Welt. Sie ist Waise; ihr Vater, der Baron von Taverney, ist im vorigen Jahre gestorben als ein würdiger Edelmann der alten Zeit, der nicht sehen will, was in der unsern vorgeht. Ihr Bruder – Sie wissen, daß ihr Bruder der Maison-Rouge höchstens einmal im Jahre erscheint; er kommt, umarmt seine Schwester, begrüßt Eure Majestät und geht, ohne daß jemand erfährt, was aus ihm wird.
Ja, ich weiß dies alles.
Bedenken Sie, Madame, daß diese Gräfin von Charny, sollte Gott mich zu sich rufen, heute ihren Mädchennamen wieder annehmen könnte, ohne daß der reinste Engel des Himmels in ihren Träumen, in ihrem Geiste ein Wort, einen Namen, der an ihren Frauenstand erinnern könnte, erlauern würde.
Oh! ja, ja, ich weiß, daß Ihre Andrée ein Engel auf Erden ist, ich weiß, daß sie geliebt zu sein verdient. Darum denke ich, die Zukunft gehöre ihr, während sie mir entschlüpft. Oh! nein, nein. Hören Sie, Graf, ich beschwöre Sie, nicht ein Wort mehr. Ich spreche nicht als Königin mit Ihnen, verzeihen Sie mir. Ich habe mich vergessen. Doch was wollen Sie? . . . In meiner Seele tönen zwei Stimmen: eine, die mir immer von Glück, von Freude und Liebe, die andre, die düster nur von Unglück, Krieg und Tod mir singt. Ich höre darin die Stimme meiner Jugend, die ich überlebe. Charny, verzeihen Sie mir, ich werde nicht mehr jung sein, ich werde nicht mehr lächeln, ich werde nicht mehr lieben.
Und die arme Frau drückte ihre abgemagerten, zarten Hände an ihre brennenden Augen, und die Thräne einer Königin, ein Diamant glitt zwischen jedem ihrer Finger durch.
Der Graf fiel abermals auf die Kniee.
Madame, im Namen des Himmels, sagte er, befehlen Sie mir, Sie zu verlassen, zu fliehen, zu sterben, lassen Sie mich aber nicht sehen, daß Sie weinen.
Und der Graf war selbst nahe daran, zu schluchzen, während er diese Worte sprach.
Es ist vorbei, sagte die Königin, indem sie sich erhob und sanft den Kopf mit einem Lächeln voll Anmut schüttelte.
Und mit einer reizenden Gebärde warf sie ihre dichten gepuderten Haare zurück, die sich auf ihrem schwanenweißen Halse entrollt hatten.
Ja, ja, es ist vorbei, fuhr die Königin fort, ich werde Sie nicht mehr betrüben; lassen wir alle diese Tollheiten. Mein Gott! es ist seltsam, daß das Weib so schwach ist, während die Königin es so sehr bedarf, stark zu sein. Sie kommen von Paris, nicht wahr? Lassen Sie uns plaudern. Sie sagten mir Dinge, die ich vergessen habe; es war jedoch sehr ernst, nicht wahr, Herr von Charny?
Gut, Madame, kommen wir auf dies zurück; denn, wie Sie bemerken, ist das, was ich Ihnen zu sagen habe, äußerst ernst; ja ich komme von Paris und habe dem Ruin des Königtums beigewohnt.
Ich hatte recht, den Ernst herauszufordern, denn Sie geben mir ihn, ohne zu rechnen, Herr von Charny. Eine glückliche Meuterei, das nennen Sie den Ruin des Königtums. Wie, weil die Bastille genommen ist, Herr von Charny, sagen Sie, das Königtum sei vernichtet? Oh! Sie bedenken nicht, daß die Bastille erst im vierzehnten Jahrhundert in Frankreich Wurzel gefaßt hat, und daß das Königtum Wurzeln von sechstausend Jahren im ganzen Weltall hat.
Ich möchte mir gern Illusionen machen können, Madame, erwiderte der Graf, und dann würde ich, statt den Geist Eurer Majestät in Trauer zu versetzen, die tröstlichsten Nachrichten verkündigen. Leider giebt das Instrument keine andern Töne von sich, als die, für die es bestimmt war.
Hören Sie, ich will Sie unterstützen, ich, die ich nur ein Weib bin; ich will Sie wieder auf den guten Weg bringen.
Ach! das soll mir lieb sein.
Die Pariser haben sich empört, nicht wahr?
Ja.
In welchem Verhältnis?
Im Verhältnis von zwölf zu fünfzehn.
Wie machen Sie diese Berechnung?
Oh! ganz einfach, das Volk beträgt zwölf Fünfzehntel beim Körper der Nation; es bleiben zwei Fünfzehntel für den Adel und eines für die Geistlichkeit.
Graf, die Rechnung ist genau, und Sie wissen Ihren Rechenschaftsbericht an den Fingern herzusagen. Folgendes ist nun meine Berechnung . . . Wollen Sie dieselbe hören?
Mit Ehrfurcht.
Auf zwölf Fünfzehntel sechs Weiber, nicht wahr?
Ja, Eure Majestät. Doch . . .
Unterbrechen Sie mich nicht. Wir sagen sechs Fünfzehntel Weiber, somit bleiben sechs; zwei gebrechliche oder gleichgültige Greise, ist das zuviel?
Nein.
Es bleiben vier Fünfzehntel, von denen Sie mir wohl zwei für Feige und Laue einräumen werden. Ich schmeichle der französischen Nation. Doch es bleiben noch zwei Fünfzehntel; ich gebe sie Ihnen wütend, standhaft, tapfer und militärisch. Diese zwei Fünfzehntel, schlagen wir sie an für Paris; denn für die Provinz, das ist unnötig, nicht wahr? es handelt sich nur darum, Paris wiederzunehmen.
Ja, Madame, aber . . .
Immer aber . . . Warten Sie, Sie werden später antworten.
Herr von Charny verbeugte sich.
Ich schlage also die zwei Fünfzehntel von Paris auf hunderttausend Mann an, wollen Sie?
Diesmal antwortete der Graf nicht.
Die Königin fuhr fort:
Nun! diesen hunderttausend schlecht bewaffneten, nicht disziplinierten, nicht an Kriegsstrapazen gewöhnten und, weil sie wissen, daß sie Böses thun, zögernden Menschen stelle ich entgegen fünfzigtausend in ganz Europa durch ihre Tapferkeit bekannte Soldaten, Offiziere wie Sie, Herr von Charny, überdies die geheiligte Sache, die man das göttliche Recht nennt, und endlich meine Seele, die sich leicht rühren, aber schwer brechen läßt.
Der Graf schwieg abermals.
Glauben Sie, fuhr die Königin fort, daß bei meinem Kampfe auf diesem Terrain zwei Menschen aus dem Volk mehr wert sind, als einer von meinen Soldaten?
Charny schwieg.
Sprechen Sie, antworten Sie; glauben Sie das? rief ungeduldig die Königin.
Madame, antwortete endlich der Graf, auf Befehl der Königin aus der ehrerbietigen Zurückhaltung, die er beobachtet hatte, heraustretend; auf einem Schlachtfelde, wo diese hunderttausend vereinzelten, nicht disziplinierten und schlecht bewaffneten Menschen erscheinen würden, wären sie von Ihren fünfzigtausend Soldaten in einer halben Stunde geschlagen.
Ah! sagte die Königin, ich habe also recht.
Warten Sie. Es ist nicht so, wie Sie denken. Vor allem, sind Ihre hunderttausend Empörten von Paris fünfmalhunderttausend.
Sie haben die Weiber und die Kinder bei Ihrer Berechnung übergangen. Oh! Königin von Frankreich; oh! mutige und stolze Frau, zählen Sie diese Weiber von Paris als ebenso viele Männer; es wird vielleicht ein Tag kommen, wo diese Weiber Sie nötigen werden, sie als ebensoviel Teufel zu zählen.
Was wollen Sie damit sagen, Graf?
Madame, wissen Sie, was die Rolle eines Weibes bei den Bürgerkriegen ist? Nein. Wohl, ich will es Ihnen sagen, und Sie werden sehen, daß es nicht zu viel wäre, zwei Soldaten gegen jedes Weib zu rechnen.
Graf, sind Sie verrückt?
Charny lächelte traurig und fuhr fort:
Haben Sie die Weiber bei der Bastille gesehen, wie sie unter dem Feuer, inmitten der Kugeln zu den Waffen riefen, wie sie Ihre kriegerisch gerüsteten Schweizer mit den Fäusten bedrohten, wie sie über den Leichen der Toten mit jener Stimme, welche die Lebendigen aufspringen macht, Verwünschungen ausstießen? Haben Sie diese Weiber gesehen, wie sie Pech sieden ließen, Kanonen schleppten, unter die berauschten Kämpfer Patronen, unter die furchtsamen Streiter Patronen und Küsse verteilten? Wissen Sie, daß über die Zugbrücke der Bastille ebensoviele Weiber, als Männer stürmten, und daß zu dieser Stunde, wenn die Steine der Bastille stürzen, dies unter der Spitzhaue geschieht, von Weiberhänden gehandhabt? Ah! Madame, rechnen Sie diese Weiber von Paris, rechnen Sie auch die Kinder, die Kugeln gießen, Säbel wetzen, einen Pflasterstein vom sechsten Stock herabwerfen; rechnen Sie dieselben, denn die Kugel, die ein Kind gegossen hat, wird aus der Ferne Ihren besten General darniederstrecken; der Säbel, den es gewetzt hat, wird Ihren Kriegsgenossen die Sehnen entzweischneiden; der blinde Sandstein, der von den Dächern herabfällt, wird Ihre Dragoner und Ihre Garden erschlagen. Rechnen Sie die Greise, Madame, denn wenn sie nicht mehr die Kraft haben, ein Schwert zu schwingen, so haben sie doch noch die Kraft, als Schild zu dienen. Bei der Bastille, Madame, waren Greise; wissen Sie, was diese Greise thaten? Sie stellten sich vor die jungen Leute, welche die Flinten auf ihre Schultern legten, so daß die Kugel Ihrer Schweizer den gebrechlichen Greis tötete, dessen Leib sofort einen Wall bildete zum Schutz des starken Mannes. Rechnen Sie die Greise, denn sie sind es, die seit dreihundert Jahren den aufeinander folgenden Generationen von den Beschimpfungen erzählen, die ihre Mütter erlitten, von dem Notstand ihrer vom Wildbret des Adels zerfressenen Felder, von der Schande ihrer unter den Feudalrechten gebeugten Menschenklasse: und dann ergreifen die Söhne die Axt, die Keule, die Flinte, kurz alles, was sie finden, und töten, als Werkzeuge geladen mit den Verwünschungen des Greises, wie die Kanone mit Pulver und Eisen geladen ist. In Paris schreien in diesem Augenblick Männer, Weiber, Greise und Kinder nach Freiheit. Rechnen Sie alles, was schreit, Madame, rechnen Sie achtmalhunderttausend Seelen in Paris.
Dreihundert Spartaner haben das Heer von Xerxes besiegt.
Ja, doch heute sind Ihre dreihundert Spartaner achtmalhunderttausend, Madame, und Ihre fünfzigtausend Soldaten, das ist das Heer von Xerxes.
Die Königin erhob sich, die Fäuste krampfhaft geballt, das Gesicht rot von Zorn und Scham.
Oh! daß ich vom Throne fiele, sagte sie, daß ich, von Ihren fünfmalhunderttausend Parisern in Stücke zerhauen, stürbe, aber daß ich nicht einen Charny, einen Mann, der mir gehört, so sprechen hören müßte!
Wenn er so mit Ihnen spricht, Madame, so zwingt ihn die Not, denn dieser Charny hat nicht einen Tropfen Blut in den Adern, der nicht würdig ist seiner Ahnen, und der nicht Ihnen gehört.
Dann marschiere er mit mir gegen Paris, und wir werden miteinander sterben.
Ja mit Schmach, versetzte der Graf, ohne einen möglichen Kampf. Wir werden gar nicht kämpfen, wir werden verschwinden wie Philister. Gegen Paris marschieren! Sie wissen also eines nicht? daß in dem Augenblick, wo wir nach Paris kämen, die Häuser über uns einstürzen werden, wie die Wellen des roten Meers über Pharao, und Sie werden in Frankreich einen verfluchten Namen hinterlassen, und Ihre Kinder wird man töten, wie die einer Wölfin.
Wie soll ich sterben, Graf? sagte stolz die Königin; ich bitte, lehren Sie mich das.
Als Opfer, Madame, antwortete ehrfurchtsvoll Herr von Charny, wie eine Königin fällt, lächelnd, und denjenigen, welche Sie schlagen, verzeihend. Ah! hätten Sie fünfmalhunderttausend Mann, wie ich, so würde ich Ihnen sagen: Brechen wir auf; brechen wir noch in dieser Nacht auf, brechen wir auf der Stelle auf, und morgen würden Sie in den Tuilerien regieren; morgen hätten Sie Ihren Thron wiedererobert.
Oh! rief die Königin, Sie sind also verzweifelt, Sie, auf den ich meine erste Hoffnung gesetzt habe?
Ja, ich bin verzweifelt, Madame, weil ganz Frankreich denkt wie Paris, weil Ihr Heer, wäre es siegreich in Paris, von Lyon, Rouen, Lille, Straßburg, Nantes und hundert andren Städten verschlungen würde. Auf, auf, Mut, Madame, den Degen in die Scheide!
Ah! ah! soll ich darum so viele brave Leute um mich versammelt, darum ihnen Mut eingeflößt haben! sagte die Königin.
Wenn das nicht Ihre Ansicht ist, Madame, befehlen Sie, und noch in dieser Nacht marschieren wir gegen Paris. Sprechen Sie.
Es lag so viel Ergebenheit in diesem Anerbieten des Grafen, daß es die Königin mehr erschreckte, als es eine Weigerung gethan hätte; sie warf sich in Verzweiflung auf ein Sopha, wo sie lange gegen ihren Stolz kämpfte.
Endlich erhob sie das Haupt und sprach:
Graf, Sie wünschen, daß ich unthätig bleibe?
Ich habe die Ehre, es Eurer Majestät zu raten.
Das wird geschehen. Kommen Sie wieder.
Ach! Madame, ich habe Sie erzürnt? sagte der Graf, während er die Königin anschaute mit einer Traurigkeit, voll unaussprechlicher Liebe.
Nein; Ihre Hand.
Sich vor der Königin verbeugend, reichte ihr der Graf seine Hand.
Daß ich Sie schelte, sprach Marie Antoinette, indem sie zu lächeln suchte.
Und worüber, Madame?
Wie! Sie haben einen Bruder im Dienst, und ich erfahre es durch Zufall!
Ich verstehe nicht.
Heute abend, ein Offizier von den Husaren von Berchiny . . .
Ah! mein Bruder Georges!
Warum haben Sie mir nie von diesem jungen Mann gesprochen? Warum hat er nicht einen hohen Rang in einem Regiment?
Weil er noch ganz jung und ganz unerfahren ist; weil er nicht würdig ist, als Chef zu befehligen; weil endlich, wenn Eure Majestät die Gnade gehabt hat, ihre Blicke auf mich herabzusenken, der ich Charny heiße, um mich mit ihrer Freundschaft zu beehren, dies noch kein Grund ist, daß ich meine Familie auf Kosten einer Menge von braven Edelleuten unterzubringen suche, die würdiger sind als meine Brüder.
Sie haben also noch einen Bruder?
Ja, Madame, und er ist bereit, für Eure Majestät zu sterben, wie die zwei andern.
Er braucht nichts?
Nichts, Madame; wir sind so glücklich, daß wir nicht nur eine Existenz, sondern auch ein Vermögen zu den Füßen Eurer Majestät zu legen haben.
Als er diese letzten Worte sprach, wobei die Königin ganz durchdrungen war von dieser zarten Redlichkeit, wobei er ganz bebte von dieser anmutreichen Majestät, erweckte sie plötzlich ein Stöhnen, das aus einem anstoßenden Zimmer kam.
Die Königin stand auf, lief nach der Thüre, öffnete sie und stieß einen gewaltigen Schrei aus.
Sie hatte eine Frau erschaut, die, von entsetzlichen Konvulsionen befallen, sich auf dem Teppich krümmte.
Oh! die Gräfin! sagte sie ganz leise zu Herrn von Charny; sie hat uns wohl gehört.
Nein, Madame, erwiderte Charny; sonst würde sie Eure Majestät darauf aufmerksam gemacht haben, daß man uns hören könne.
Und er eilte auf Andrée zu und hob sie in seinen Armen auf.
Die Königin stand zwei Schritte davon, kalt, bleich, zitternd vor Angst.
Andrée kam allmählich wieder zu sich, ohne zu erkennen, wer ihr Hilfe leistete, nur instinktartig begriff sie, daß man ihr beistand.
Ihr Körper erhob sich, ihre Hände klammerten sich an die unerwartete Stütze an, die sich ihr bot.
Doch ihr Geist erwachte nicht mit ihrem Körper; er blieb einige Augenblicke betäubt, schwankend, schlaftrunken.
Nachdem er es versucht hatte, sie zum physischen Leben zurückzurufen, beeiferte sich Herr von Charny, sie zum geistigen Leben zurückzurufen. Doch er strengte seine Kräfte nur gegen einen konzentrierten Irrsinn an.
Endlich hefteten sich die offenen, aber stieren Augen auf ihn, und mit einem Reste von Delirium gab Andrée, ohne den Mann zu erkennen, der sie unterstützte, einen Schrei von sich und stieß ihn hart zurück.
Während dieser ganzen Zeit wandte die Königin den Blick ab, sie, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Schwache zu stärken, zu trösten.
Charny hob Andrée in seinen kräftigen Armen auf, obgleich sie sich zur Wehr zu setzen suchte, wandte sich gegen die Königin um, die immer noch steif und eiskalt da stand, und sagte:
Verzeihen Sie, Madame . . . es hat sich ohne Zweifel etwas Außerordentliches ereignet. Frau von Charny hat nicht die Gewohnheit, in Ohnmacht zu fallen, und es ist heute das erstemal, daß ich sie des Bewußtseins beraubt sehe.
Sie muß also sehr leiden, sagte die Königin, zu der dumpfen Idee zurückkehrend, Andrée habe das ganze Gespräch mit angehört.
Ja, ohne Zweifel leidet sie, erwiderte der Graf, und darum bitte ich Eure Majestät um Erlaubnis, sie in ihre Wohnung bringen zu lassen. Sie bedarf der Pflege ihrer Frauen.
Thun Sie das, sprach die Königin, die Hand nach einer Klingel ausstreckend.
Doch als das Glöckchen ertönte, erstarrte Andrée und rief in ihrem Wahnwitz:
Oh! Gilbert! dieser Gilbert!
Bei diesem Namen bebte die Königin, und der Graf legte erstaunt seine Frau auf ein Sopha.
In diesem Augenblick trat der herbeigerufene Diener ein.
Nichts, sagte die Königin; und sie winkte ihm mit der Hand, daß er sich entferne.
Als sie allein waren, schauten der Graf und die Königin einander an. Andrée hatte die Augen wieder geschlossen und schien von einer neuen Krise befallen.
Herr von Charny kniete am Sopha und hielt sie darauf fest.
Gilbert, wiederholte die Königin, was für ein Name ist das?
Man müßte sich erkundigen.
Ich glaube, ich kenne ihn, sagte Marie Antoinette; ich glaube, es ist nicht das erstemal, daß ich die Gräfin diesen Namen aussprechen höre.
Doch als ob sie von dieser Erinnerung der Königin bedroht worden wäre, als ob diese Drohung sie mitten aus ihren Konvulsionen zurückgeholt hätte, öffnete Andrée die Augen, streckte die Arme zum Himmel aus und richtete sich mit einer Anstrengung völlig auf.
Ihr erster Blick, diesmal ein verständiger Blick, wandte sich Herrn von Charny zu, den sie erkannte und mit einer liebkosenden Flamme umhüllte.
Dann, als ob diese unwillkürliche Kundgebung ihres Gedankens ihrer spartanischen Seele unwürdig gewesen wäre, wandte Andrée die Augen ab und erblickte die Königin.
Sie verneigte sich sogleich.
Oh! mein Gott, was haben Sie denn, Madame? fragte Herr von Charny; Sie haben mich erschreckt. Sie, sonst so stark, so mutvoll, sind einer solchen Ohnmacht preisgegeben?
Mein Herr, erwiderte sie, es gehen in Paris so erschreckliche Dinge vor, daß, wenn die Männer zittern, die Frauen wohl in Ohnmacht fallen können. Sie haben Paris verlassen? Oh! Sie haben wohl daran gethan.
Großer Gott! Gräfin, sagte Charny mit dem Tone des Zweifels, sollten Sie meinetwegen all dies Schlimme erlitten haben?
Andrée schaute abermals ihren Gatten und die Königin an, antwortete jedoch nicht.
Gewiß, Graf, das ist es, warum sollten Sie daran zweifeln? versetzte Marie Antoinette. Die Frau Gräfin ist nicht Königin, sie hat das Recht, für ihren Mann Furcht zu hegen.
Charny fühlte die unter diesen Worten verborgene Eifersucht.
Oh! Madame, sagte er, ich bin fest überzeugt, daß die Gräfin noch mehr für ihre Königin, als für mich bange hat.
Aber Gräfin, warum und wie haben wir Sie ohnmächtig in diesem Kabinett gefunden? fragte Marie Antoinette.
Oh! es wäre mir unmöglich, das zu erzählen, Madame. Ich weiß es selbst nicht; doch bei diesem Leben der Beschwerlichkeiten, der Schrecken und der Gemütsbewegungen, das wir seit drei Tagen führen, ist, wie mir scheint, nichts natürlicher, als die Ohnmacht einer Frau.
Das ist wahr, murmelte die Königin, die bemerkte, daß Andrée die Absicht habe, sich in ihrer Zurückhaltung keinen Zwang gefallen zu lassen.
Aber, sprach Andrée mit der seltsamen Ruhe, die sie nicht verließ, sobald sie wieder Herrin ihres Willens geworden war, und die in schwierigen Umständen um so peinlicher wurde, als man leicht sah, sie sei nur Maske, und bedecke völlig menschliche Gefühle, aber Eure Majestät hat ganz feuchte Augen.
Und diesmal glaubte der Graf in den Worten seiner Frau den ironischen Ausdruck zu finden, den er einen Augenblick zuvor in den Worten der Königin bemerkt hatte.
Madame, sagte er zu Andrée mit einer leichten Strenge, bei der man fühlte, daß seine Stimme nicht daran gewöhnt war, man darf sich nicht wundern, daß die Königin Thränen in den Augen hat; die Königin liebt ihr Volk, und das Blut des Volkes ist geflossen.
Gott hat zum Glück das Ihrige verschont, mein Herr, versetzte Andrée, immer gleich kalt, immer gleich unerforschlich.
Ja, doch es handelt sich nicht um Ihre Majestät, sondern um Sie, Madame! kommen wir also auf Sie zurück, die Königin erlaubt es?
Marie Antoinette nickte beistimmend mit dem Kopf.
Sie haben bange gehabt, nicht wahr?
Ich?
Sie haben gelitten, leugnen Sie es nicht! es ist Ihnen ein Unfall begegnet, welcher? ich weiß es nicht, doch Sie werden es uns sagen.
Sie irren sich, mein Herr.
Sie haben sich über jemand, über einen Mann zu beklagen gehabt?
Andrée erbleichte.
Ich habe mich über niemand zu beklagen gehabt, ich komme vom König.
Unmittelbar?
Unmittelbar. Ihre Majestät kann sich erkundigen.
Wenn es sich so verhält, so hat die Gräfin recht, sagte Marie Antoinette. Der König liebt sie zu sehr und weiß, daß ich ihr zu sehr gewogen bin, um ihr in irgend einer Hinsicht unverbindlich begegnet zu sein.
Aber Sie haben einen Namen ausgesprochen, versetzte Charny beharrlich.
Einen Namen?
Ja, als Sie wieder zu sich kamen.
Andrée schaute die Königin an, als wollte sie dieselbe zu sich rufen; aber, sei es nun, daß die Königin sie nicht verstand oder nicht verstehen wollte, erwiderte sie der Gräfin:
Ja, Sie haben den Namen Gilbert ausgesprochen.
Gilbert! Ich habe den Namen Gilbert ausgesprochen! rief Andrée mit einem Ausdruck so voll Schrecken, daß sich der Graf mehr von diesem Schrei betroffen fühlte, als er es von der Ohnmacht gewesen war.
Ja, sagte er, Sie haben diesen Namen ausgesprochen.
Ah! wahrhaftig, erwiderte Andrée, das ist seltsam.
Allmählich, wie sich der Himmel nach dem Blitze wieder schließt, nahm die Physiognomie der jungen Frau, die bei dem unseligen Namen so gewaltig verstört ausgesehen hatte, wieder ihre Reinheit und Ruhe an, und nur einige Muskeln dieses schönen Gesichts bebten noch fort, wie wenn am Horizont die letzten Zeichen des Sturmes verschwinden.
Gilbert, wiederholte sie, ich weiß es nicht.
Ja, Gilbert, sagte die Königin. Suchen Sie, meine liebe Andrée.
Aber, Madame, sprach der Graf zu Marie Antoinette, wenn das nur Zufall und dieser Name der Gräfin ganz fremd ist?
Nein, erwiderte Andrée; nein, er ist mir nicht fremd. Es ist der eines gelehrten Mannes, eines geschickten Arztes, welcher, glaube ich, von Amerika ankommt und dort mit Herrn von Lafayette in Verbindung stand.
Nun? fragte der Graf.
Nun! wiederholte Andrée auf eine vollkommen natürliche Weise, ich kenne ihn nicht persönlich, aber es soll ein sehr ehrenwerter Mann sein.
Warum dann diese Bewegung, liebe Gräfin? fragte die Königin.
Diese Bewegung? Bin ich bewegt gewesen?
Ja, es war, als empfänden Sie, indem Sie diesen Namen aussprachen, eine Qual.
Das ist möglich; vernehmen Sie, was geschehen ist: ich traf im Kabinett des Königs einen schwarzgekleideten Mann, einen Mann mit strengem Gesicht, der von düsteren, erschrecklichen Dingen sprach; er erzählte mit einer gräßlichen Wirklichkeit die Ermordungen des Herrn de Launay und des Herrn von Flesselles. Ich bin darüber erschrocken und in Ohnmacht gefallen, wie Sie gesehen. Dann habe ich vielleicht gesprochen; dann habe ich vielleicht den Namen dieses Herrn Gilbert genannt.
Das ist möglich, wiederholte Herr von Charny, offenbar geneigt, das Verhör nicht weiter zu treiben; doch zu dieser Stunde sind Sie beruhigt, nicht wahr?
Vollkommen.
Dann will ich Sie um eines bitten, Herr Graf, sagte die Königin. Suchen Sie die Herren von Bezenval, von Broglie und von Lambescq auf, sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Truppen in ihren gegenwärtigen Stellungen kantonieren lassen, der König werde morgen im Rate sehen, was zu thun ist.
Der Graf verbeugte sich, doch im Begriff, wegzugehen, warf er einen letzten Blick auf Andrée.
Dieser Blick war voll liebreicher Besorgnis.
Er entging der Königin nicht.
Gräfin, sagte sie, kehren Sie nicht mit mir zum König zurück?
Nein, Madame, nein, antwortete Andrée lebhaft.
Warum nicht?
Ich bitte Eure Majestät um die Erlaubnis, mich in meine Wohnung zurückziehen zu dürfen; die Gemütsbewegungen, die ich erlitten habe, lassen mich das Bedürfnis nach Ruhe fühlen.
Seien Sie offenherzig, Gräfin, sagte Marie Antoinette, haben Sie etwas mit dem König?
Oh! nichts, Madame, durchaus nichts.
Oh! sprechen Sie, wenn dies der Fall ist. Der König schont meine Freunde nicht immer.
Der König ist wie gewöhnlich voll Güte gegen mich, aber . . .
Aber es ist Ihnen ebenso lieb, ihn nicht zu sehen, nicht wahr? Es steckt offenbar etwas dahinter, Graf, sagte die Königin mit einer geheuchelten Heiterkeit.
In diesem Augenblick schaute Andrée die Königin so ausdrucksvoll, so flehend, so voll von Offenbarungen an, daß Marie Antoinette begriff, es sei Zeit, diesen kleinen Krieg zu beendigen.
In der That, Gräfin, sagte sie, lassen wir Herrn von Charny den Auftrag besorgen, den ich ihm gegeben habe, und gehen Sie in Ihre Wohnung oder bleiben Sie hier, wie es Ihnen beliebt.
Ich danke, Madame, erwiderte Andrée.
Gehen Sie also, Herr von Charny, fuhr Marie Antoinette fort, während sie den Ausdruck von Dankbarkeit, der sich auf dem Gesichte von Andrée verbreitete, bemerkte.
Diesen Ausdruck bemerkte der Graf nicht; er nahm seine Frau bei der Hand und wünschte ihr Glück zu der Wiederkehr ihrer Kräfte und ihrer Farbe.
Dann verbeugte er sich mit tiefer Ehrfurcht vor der Königin und ging weg.
Während er aber wegging, kreuzte er einen letzten Blick mit Marie Antoinette.
Der Blick der Königin sagte: Kommen Sie schnell zurück.
Der des Grafen antwortete: So schnell als ich kann.
Andrée folgte stöhnend, mit gepreßter Brust jeder Bewegung des Grafen.
Sie schien mit ihren Wünschen diesen langsamen, edlen Gang zu beschleunigen, der ihn der Thüre näher brachte, sie trieb ihn mit aller Macht ihres Willens hinaus.
Sobald er die Thüre hinter sich hatte, verschwanden auch alle Kräfte, die Andrée zu Hilfe gerufen, um der Lage die Stirne zu bieten; ihr Gesicht erbleichte, ihre Beine wankten unter ihr, und sie sank in einen Lehnstuhl, der sich in ihrer Nähe fand, während sie es versuchte, sich bei der Königin wegen dieses Verstoßes gegen die Etikette zu entschuldigen.
Die Königin lief an den Kamin, nahm einen Flacon mit Riechsalz und ließ Andrée daran riechen: die junge Frau kam diesmal mehr durch die Macht ihres Willens, als durch die Wirksamkeit der Pflege zu sich, die sie von einer königlichen Hand erhielt.
Es waltete in der That etwas Seltsames zwischen diesen zwei Frauen ob. Die Königin schien Andrée wohlgewogen zu sein, Andrée hegte eine tiefe Ehrfurcht für die Königin, und nichtsdestoweniger schienen sie in gewissen Augenblicken nicht eine wohlgewogene Königin, nicht eine ergebene Dienerin, sondern zwei Feindinnen zu sein.
Ihr allmächtiger Wille hatte auch, wie gesagt, Andrée bald ihre Stärke wiedergegeben. Sie erhob sich, schob ehrerbietig die Hand der Königin auf die Seite, neigte den Kopf vor ihr und sagte: Eure Majestät hat erlaubt, daß ich mich in mein Zimmer zurückziehe.
Ja, allerdings, und Sie sind immer frei, liebe Gräfin, Sie wissen es wohl: die Etikette ist nicht für Sie gemacht. Aber haben Sie mir nicht etwas zu sagen, ehe Sie sich entfernen?
Nein, in welcher Beziehung?
In Beziehung auf Herrn Gilbert, dessen Anblick einen so starken Eindruck auf Sie gemacht hat.
Andrée bebte, schüttelte aber nur, ein Leugnen bezeichnend, den Kopf.
Dann halte ich Sie nicht zurück, liebe Gräfin, Sie sind frei.
Und die Königin machte einen Schritt, um in das an ihr Zimmer anstoßende Kabinett zu gehen.
Andrée aber schritt, nachdem sie vor der Königin eine tadellose Verneigung gemacht hatte, auf die Ausgangsthüre zu.
Doch in dem Augenblick, wo sie öffnen wollte, erschollen Tritte im Korridor, und eine Hand legte sich auf den äußeren Drücker der Thüre.
Zu gleicher Zeit vernahm man die Stimme von Ludwig XVI., der seinem Kammerdiener für die Nacht Befehle gab.
Der König! Madame! sagte Andrée, während sie mehrere Schritte rückwärts that; der König!
Nun! ja, der König! erwiderte Marie Antoinette. Macht er Ihnen dergestalt bange?
Madame, in des Himmels Namen, rief Andrée, daß ich den König nicht sehe, daß ich mich ihm wenigstens heute abend nicht gegenüber befinde; ich würde vor Scham sterben.
Aber Sie werden mir doch sagen . . .
Alles, alles, wenn es Eure Majestät verlangt. Doch verbergen Sie mich.
Treten Sie in mein Boudoir ein, sprach Marie Antoinette, Sie werden es verlassen, sobald der König weggegangen ist. Seien Sie unbesorgt, Ihre Gefangenschaft wird nicht lange währen; der König bleibt nie lange hier.
Oh! Dank! Dank! rief die Gräfin.
Und sie eilte in das Boudoir und verschwand in dem Augenblick, als der König, die Thüre öffnend, auf der Schwelle des Zimmers erschien.
Der König trat ein.
Wie lange diese Unterredung gedauert, vermöchten wir nicht zu sagen, sie verlängerte sich indessen; denn erst gegen elf Uhr abends konnte man die Thüre des Boudoirs der Königin sich öffnen und Andrée auf der Thürschwelle beinahe knieend die Hand von Marie Antoinette küssen sehen.
Dann, als sie sich wieder erhob, wischte die junge Frau ihre von Thränen geröteten Augen ab, während die Königin ihrerseits in ihr Zimmer zurückkehrte.
Andrée, im Gegenteil, als ob sie sich selbst hätte entweichen wollen, entfernte sich rasch.
Von diesem Augenblick an blieb die Königin allein. Als die Dame vom Bettdienst eintrat, um ihr sich auskleiden zu helfen, fand sie Marie Antoinette mit funkelnden Augen und mit großen Schritten im Zimmer auf- und abgehend.
Sie machte mit der Hand eine rasche Geberde, die besagen wollte: Lassen Sie mich.
Die Dame vom Bettdienste entfernte sich sogleich wieder.
Nun war die Königin ganz allein; sie hatte verboten, sie zu stören, wäre es nicht wegen wichtiger, von Paris eintreffender Nachrichten.
Was den König betrifft, so erklärte er, nachdem er sich mit Herrn de la Rochefoucault unterhalten hatte, der ihm den Unterschied, der zwischen einem Aufruhr und einer Revolution obwalte, begreiflich zu machen suchte – er erklärte, er sei müde, legte sich nieder und entschlummerte, nicht mehr und nicht minder ruhig, als wenn er auf der Jagd gewesen wäre und der Hirsch (ein wohl dressierter Hofmann) sich hätte im Schweizer-Teich fangen lassen.
Die Königin schrieb ein paar Briefe, ging in das nächste Zimmer, wo ihre zwei Kinder unter der Obhut der Frau von Tourzel schliefen, und legte sich zu Bette, nicht um zu schlafen, wie der König, sondern um nach ihrem Gefallen zu träumen.
Doch bald, als die Stille Versailles in Besitz genommen hatte, als der ungeheure Palast in Finsternis getaucht war, als man in der Tiefe der Gärten nur noch die auf dem Sande krachenden Tritte der Patrouillen, in den langen Korridors nur noch den sachte auf die Marmorplatte stoßenden Gewehrkolben hörte, stieg Marie Antoinette, ihrer Ruhe müde, das Bedürfnis zu atmen fühlend, aus ihrem Bette, zog ihre Sammetpantoffeln an, hüllte sich in ein langes Nachtgewand, trat ans Fenster, um die von den Kaskaden aufsteigende Kühle zu schlürfen und im Vorüberziehen die Ratschläge aufzufassen, die der Nachtwind den brennenden Stirnen, den gepreßten Herzen zuflüstert.
Dann durchging sie in ihrem Geiste alles, was ihr dieser seltsame Tag an unvorhergesehenen Ereignissen gebracht hatte:
Den Fall der Bastille, dieses sichtbaren Emblems der königlichen Gewalt; die Schwankungen Charnys, dieses ergebenen Freundes, dieses leidenschaftlichen Gefangenen, den sie seit so vielen Jahren unter dem Joche hielt, und der, nachdem er nur Liebe geseufzt hatte, zum ersten Mal Bedauern und Reue zu seufzen schien.
Mit jener Gewohnheit der Zusammenstellung, die den großen Geistern die Bekanntschaft mit Menschen und Dingen giebt, machte Marie Antoinette auf der Stelle zwei Teile aus dem Mißbehagen, das sie empfand und das ein politisches Unglück und einen Herzenskummer in sich schloß.
Das politische Unglück war die große Nachricht, die sich über die Welt verbreiten und in allen Geistern die bis dahin den Königen, als Mandataren Gottes, zugestandene Ehrfurcht angreifen sollte.
Der Herzenskummer war Charnys dumpfer Widerstand gegen die Allmacht seiner geliebten Fürstin. Es war wie eine Ahnung, daß, ohne aufzuhören treu und ergeben zu sein, die Liebe blind zu sein aufhören sollte und ihre Treue und Ergebenheit zu erörtern anfangen konnte.
Dieser Gedanke bedrückte ihr Herz gewaltig und füllte es mit jener bittern Galle, die man die Eifersucht nennt, ein scharfes Gift, das zugleich tausend Wunden in einer verletzten Seele schwären macht.
Kummer in Gegenwart von Unglück, das war indessen etwas Untergeordnetes für die Logik.
Mehr aus einem Vernunftschluß, als aus Bewußtsein, mehr aus Notwendigkeit, als aus Instinkt, überließ auch Marie Antoinette ihre Seele vor allem den ernsten Gedanken über die Gefahr der politischen Lage.
Wohin sie sich auch wenden mochte, so standen Haß und Ehrgeiz sich gegenüber, Schwäche und Gleichgültigkeit an ihrer Seite. Leute waren zu Feinden geworden, die, nachdem sie mit der Verleumdung angefangen, nun zu den Rebellionen fortschritten.
Ihre Verteidiger waren Menschen, die sich daran gewöhnt hatten, alles zu ertragen, und denen folglich das Gefühl fehlte für die Tiefe ihrer Wunden.
Also Leute, die zögern würden, einen Gegenschlag zu thun, aus Furcht, Lärm zu machen.
Man mußte also alles in der Vergessenheit begraben, sich den Anschein geben, als vergäße man, und sich dennoch erinnern; sich den Anschein geben, als verzeihe man, und dennoch nicht verzeihen.
Das war nicht würdig einer Königin von Frankreich, das war besonders nicht würdig einer Tochter von Maria Theresia, dieser Frau von Herz.
Kämpfen! kämpfen! das war der Rat des empörten königlichen Stolzes; aber kämpfen, war das klug? Besänftigt man die Leidenschaften des Hasses mit vergossenem Blut? war er nicht erschrecklich der Name: die Österreicherin? mußte man ihm zur Einweihung, wie es Isabeau und Katharine von Medicis mit dem ihrigen gethan, die Bluttaufe verleihen durch eine allgemeine Schlächterei?
Und dennoch blieb, wenn Charny wahrgesprochen, der Erfolg zweifelhaft.
Kämpfen und besiegt werden? Das waren auf der Seite des politischen Unglücks die Schmerzen der Königin, die aber bei gewissen Wandlungen ihres Nachsinnens aus der Tiefe ihrer Leiden als Königin die Verzweiflung der Frau auftauchen fühlte, die sich weniger geliebt glaubt, weil sie durch ein Übermaß der Liebe verwöhnt ist.
Charny hatte das, was wir ihn sagen hörten, nicht aus Überzeugung, sondern aus Müdigkeit gesagt; er hatte, wie so viele andere, aus demselben Becher mit ihr die Verleumdungen zum Überdruß getrunken. Hatte Charny, der zum erstenmal von seiner Frau, einem bisher von ihrem Manne vergessenen Geschöpf, mit so sanften Worten gesprochen, hatte Charny vielleicht bemerkt, daß diese junge Frau immer noch schön war? Und bei diesem einzigen Gedanken, der sie brannte wie der verzehrende Biß der Natter, erkannte Marie Antoinette mit Erstaunen, das Unglück sei nichts gegen den Kummer.
Denn was das Unglück nicht hatte machen können, bewirkte der Kummer bei ihr. Die Frau sprang wütend aus dem Lehnstuhl auf. Das ganze Verhängnis dieses von Leiden bevorzugten Geschöpfs enthüllte sich in der Seelenstimmung von Marie Antoinette während dieser Nacht.
Wie zugleich dem Unglück und dem Kummer begegnen? fragte sie sich mit unablässig wieder entstehenden Beängstigungen. Sollte man sich entschließen, das königliche Leben aufgebend, in der Mittelmäßigkeit glücklich zu leben; sollte man zu seinem wahren Trianon und zu seiner Hütte, zum Frieden des Sees und zu den unbekannten Freuden der Sennerei zurückkehren; sollte man dieses ganze Volk sich in die Fetzen des Königtums teilen lassen, einige geringfügige Parzellen ausgenommen, welche die Frau mit den bestrittenen Abgaben einiger Getreuen, die durchaus Vasallen bleiben wollten, sich würde aneignen können?
Ach! hier – fing die Schlange der Eifersucht wieder an, tiefer zu beißen.
Glücklich! wäre sie glücklich mit der Demütigung einer verachteten Liebe?
Glücklich! bei Herrn von Charny, der glücklich wäre bei irgend einer geliebten Frau, bei der seinigen vielleicht?
Doch mitten unter dieser fieberhaften Qual ein Blitz der Ruhe! mitten unter dieser bebenden Angst ein Genuß! Sollte Gott in seiner unendlichen Güte das Böse nur geschaffen haben, um das Gute schätzen zu lehren?
Andrée hatte der Königin ihre Bekenntnisse gemacht, sie hatte die Schande ihres Lebens ihrer Nebenbuhlerin enthüllt; Andrée hatte mit Thränen in den Augen, das Gesicht gegen die Erde gesenkt, Marie Antoinette gestanden, sie sei nicht mehr würdig der Liebe und der Achtung eines ehrlichen Mannes: Charny wird also Andrée niemals lieben.
Charny weiß aber nichts, Charny wird nie etwas wissen von jener Katastrophe von Trianon und von den Folgen, die sie gehabt hat. Für Charny ist es daher, als bestände die Katastrophe gar nicht.
Und während sie diese Betrachtungen anstellte, prüfte die Königin im Spiegel ihres Gewissens ihre abnehmende Schönheit, ihre verlorene Heiterkeit, ihre entflohene Jugendfrische.
Dann kehrte sie zu Andrée zurück, zu den seltsamen, beinahe unglaublichen Abenteuern, die sie ihr erzählt hatte.
Sie bewunderte die zauberhafte Kombination des Schicksals, die im Grunde von Trianon, im Schatten der Hütte oder im Kote der Bauernhäuser den kleinen Gärtnerjungen nahm, um ihn mit dem Geschick eines Edelfräuleins zu verbinden, das wiederum mit dem Geschicke einer Königin verbunden ward.
Somit, sagte sie sich, somit hätte sich das in den niedrigsten Regionen verlorene Atom, durch eine Laune höherer Anziehungskräfte, ein Diamantteilchen, mit dem göttlichen Gestirne verschmolzen?
Dieser Gärtnerjunge, dieser Gilbert, war er nicht ein lebendiges Symbol von dem, was zu dieser Stunde sich ereignet, ein Mensch aus dem Volke, aus der Niedrigkeit seiner Geburt hervorgegangen, um sich mit der Politik eines großen Königreichs zu beschäftigen? ein seltsamer Schauspieler, der durch ein Privilegium des bösen Geistes, der über Frankreich schwebte, sowohl die dem Adel angethane Beschimpfung, als den durch den Pöbel gegen das Königtum gemachten Angriff in sich personifizierte.
Dieser Gilbert, ein Gelehrter geworden, mit dem schwarzen Rocke des dritten Standes bekleidet, der Rat des Herrn Necker, der Vertraute des Königs von Frankreich, würde sich nun durch ein Spiel der Revolution mit der Frau parallel finden, der er nächtlicherweise, wie ein Dieb die Ehre gestohlen!
Wieder Weib geworden und unwillkürlich schauernd bei der Erinnerung an die klägliche Geschichte, die ihr Andrée erzählt hatte, machte es sich die Königin gleichsam zur Pflicht, diesem Gilbert ins Gesicht zu schauen und durch sich selbst in den menschlichen Zügen lesen zu lernen, was Gott von der Offenbarung eines so seltsamen Charakters darin legen konnte. Und trotz des soeben erwähnten Gefühles, das sie über die Demütigung ihrer Nebenbuhlerin beinahe freudig stimmte, waltete dabei ein heftiges Verlangen ob, den Mann zu verletzen, der eine Frau so sehr ins Leid gestürzt hatte.
Dann war noch der Wunsch, ihn anzuschauen, wer weiß? vielleicht mit der Angst, die Ungeheuer einflößen, verknüpft, den außerordentlichen Mann zu bewundern, der durch ein Verbrechen sein gemeines Blut mit dem edelsten Blut Frankreichs vermischt hatte; diesen Mann, der, wie es schien, die Revolution hatte machen lassen, damit man ihm die Bastille öffne, in der er ohne diese Revolution hätte lernen müssen, es ewig zu vergessen, daß ein Mann vom Bürgerstand das Recht hat, ein Gedächtnis zu besitzen.
Durch diese fortziehende Folge ihrer Gedanken kam die Königin auf die politischen Schmerzen zurück, und sah auf einem und demselben Haupte die Verantwortlichkeit für alles, was sie gelitten, sich anhäufen.
Der Urheber der Volksrevolution, welche die königliche Gewalt durch die Zertrümmerung der Bastille erschüttert hatte, war also Gilbert, dessen Grundsätze den Billot, den Maillard, den Elie, den Hullin die Waffen in die Hände gegeben.
Gilbert war also zugleich ein giftiges und ein erschreckliches Geschöpf; giftig, denn er hatte Andrée als Liebender zu Grunde gerichtet; erschrecklich, denn er hatte die Bastille als Feind zertrümmern helfen.
Man mußte ihn also kennen, um ihn zu vermeiden, oder noch besser, ihn kennen, um sich seiner zu bedienen.
Man mußte um jeden Preis diesen Mann sprechen, ihn in der Nähe sehen, ihn durch sich selbst beurteilen.
Die Nacht war zu zwei Dritteln vorüber, es schlug drei Uhr, die Morgendämmerung bleichte die Gipfel der Bäume des Parkes von Versailles und die Spitzen der Statuen.
Ein schwerer und brennender Schlaf bemächtigte sich allmählich der unglücklichen Frau. Sie fiel, den Hals zurückgeworfen, auf die Lehne eines Fauteuils beim offenen Fenster nieder.
Sie träumte, sie gehe in Trianon spazieren, und aus einem Gartenbeete komme ein Erdgeist mit fahlem Lächeln, wie man sie in deutschen Balladen trifft, hervor, und dieses höhnische Ungeheuer sei Gilbert, der gekrümmte Finger gegen sie ausstreckte. Sie stieß einen Schrei aus.
Ein Schrei antwortete auf den ihrigen, der sie aufweckte.
Frau von Tourzel hatte ihn von sich gegeben; sie war bei der Königin eingetreten und hatte, als sie Marie Antoinette entstellt und röchelnd auf einem Lehnstuhl sah, den Ausbruch ihres Schmerzes und ihrer Bestürzung nicht zurückhalten können.
Die Königin ist krank! rief sie, die Königin leidet! Soll ich einen Arzt rufen?
Die Königin öffnete die Augen; die Frage von Frau von Tourzel war just eine Antwort auf das Verlangen ihrer Neugierde.
Ja, einen Arzt, erwiderte Sie, den Doktor Gilbert, rufen Sie den Doktor Gilbert.
Wer ist der Doktor Gilbert? fragte Frau von Tourzel.
Ein neuer Quartalarzt, der, wie ich glaube, gestern bei seiner Ankunft von Amerika ernannt worden ist.
Ich weiß, wen Eure Majestät meint, bemerkte schüchtern eine von den Damen der Königin.
Nun? fragte Marie Antoinette.
Der Doktor ist im Vorzimmer des Königs.
Sie kennen ihn also?
Ja, Eure Majestät, stammelte die Dame.
Woher kennen Sie ihn denn? Er ist vor acht bis zehn Tagen von Amerika angekommen und hat gestern erst die Bastille verlassen.
Woher kennen Sie ihn? fragte gebieterisch die Königin.
Die Dame schlug die Augen nieder.
Werden Sie sich wohl entschließen, mir zu sagen, woher Sie ihn kennen?
Madame, ich habe seine Werke gelesen, und da mich seine Werke auf den Verfasser neugierig gemacht hatten, so ließ ich ihn mir heute morgen zeigen.
Ah! versetzte die Königin mit einem unbeschreiblichen Ausdruck zugleich von Hochmut und von Zurückhaltung, ah! es ist gut – da Sie ihn kennen, so sagen Sie ihm, ich sei leidend, und ich wünsche ihn zu sehen.
Die Königin ließ mittlerweile ihre Frauen eintreten, zog ein Morgenkleid an und brachte ihren Kopfputz wieder in Ordnung.
Einige Minuten, nachdem die Königin ihr Begehren ausgesprochen, erschien Gilbert, tief bewegt, doch ohne daß sich etwas auf der Oberfläche kundgab, was Marie Antoinette hätte bemerken können.
Die edle und sichere Haltung, die ausnehmende Blässe des Mannes der Wissenschaft und der Einbildungskraft, dem das Studium eine zweite Natur schafft; die feine, weiße Hand des Operateurs; das so feine, so zierliche, so wohl geformte Bein, daß keiner am Hofe ein besser modelliertes den Kennern und sogar den Kennerinnen des Oeil-de-Boeuf zeigen konnte; – bei alledem eine Mischung von schüchterner Ehrfurcht für die Frau, von ruhiger Kühnheit gegen die Kranke, nichts für die Königin; dies waren die raschen und deutlichen Schattierungen, die Marie Antoinette mit ihrem aristokratischen Verstand in der Person des Doktors Gilbert in dem Augenblick zu lesen wußte, wo sich die Thüre öffnete, um ihn in ihr Schlafzimmer einzulassen.
Je weniger herausfordernd Gilbert in seinem Wesen war, desto mehr fühlte die Königin ihren Zorn wachsen. Sie hatte sich aus diesem Menschen einen widrigen Typus gemacht, sie hatte sich ihn natürlich und beinahe unwillkürlich einem jener Helden der Unverschämtheit ähnlich, wie sie solche häufig um sich sah, vorgestellt. Den Urheber der Leiden von Andrée, diesen Bastard-Zögling von Rousseau, diese zum Mann gewordene Mißgeburt, diesen Doktor gewordenen Gärtner, diesen Philosoph und Seelenbändiger gewordenen Bäume-Abrauper, – Marie Antoinette stellte sich ihn unwillkürlich unter den Zügen Mirabeaus, des Mannes vor, den sie nach dem Kardinal von Rohan und Lafayette am meisten haßte.
Ehe sie Gilbert gesehen, hatte es ihr geschienen, er müßte auch dem Leibe nach etwas Kolossales sein, um seine kolossale Geisteskraft im Zaum zu halten.
Als sie aber einen jungen, geraden, schlanken Mann mit ungezwungenen, eleganten Formen sah, schien ihr dieser Mann das neue Verbrechen begangen zu haben, in seiner äußern Erscheinung eine Lüge zu sein, das heißt, ein sichtbarer Widerspruch mit seinem Innern. Gilbert, ein Mensch aus dem Volke, von dunkler, unbekannter Geburt; Gilbert, ein gemeiner Bauer, war in den Augen der Königin des Verbrechens schuldig, sich das äußere Wesen des Edelmannes und des guten Menschen angemaßt zu haben. Die stolze Oesterreicherin, die geschworene Feindin der Lüge bei andern, entrüstete sich und faßte plötzlich einen wütenden Haß gegen das Atom, das so viele Belastungen zu ihrem Feinde machte.
Ihre Vertrauten konnten leicht sehen, daß ein Orkan voller Blitze und Donner in der Tiefe ihres Herzens tobte.
Doch wie hätte ein menschliches Geschöpf, und wäre es eine Frau gewesen, unter diesem Flammenwirbel von Zorn und Grimm der Spur der seltsamen entgegengesetzten Gefühle folgen können, die im Gehirn der Königin aneinander stießen, und ihr die Brust von allen den tödlichen Giften anschwellten, die Homer beschreibt?
Die Königin entließ mit dem Blick alle Welt, selbst Frau von Misery. Jedermann entfernte sich.
Die Königin wartete, bis die Thüre hinter der letzten Person geschlossen war; dann richtete sie die Augen wieder auf Gilbert, und bemerkte, daß er nicht aufgehört hatte, sie anzuschauen.
So viel Kühnheit brachte sie außer sich.
Dieser Blick des Doktors war scheinbar harmlos; aber stät und fortdauernd, sich absichtlich einbohrend, wurde er dergestalt lästig, daß sich Marie Antoinette genötigt fühlte, dagegen zu kämpfen.
Nun! mein Herr, sagte sie mit der Brutalität eines Pistolenschusses, was stehen Sie so vor mir und schauen mich an, statt mir zu sagen, woran ich leide?
Diese wütende Anrede, verstärkt durch die Blitze des Blickes, hätten jeden Höfling der Königin niedergeschmettert, zu den Füßen von Marie Antoinette um Gnade flehend, einen Marschall von Frankreich, einen Helden, einen Halbgott fallen gemacht.
Gilbert aber antwortete ruhig: Durch die Augen, Madame, urteilt der Arzt zuerst. Wenn ich Eure Majestät, die mich hat rufen lassen, anschaue, so befriedige ich nicht eine leere Neugierde, ich treibe mein Gewerbe, ich gehorche Ihren Befehlen.
So haben Sie mich studiert?
Soviel es in meiner Macht war, Madame.
Bin ich krank?
Nicht in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Eure Majestät leidet an einer Ueberreizung.
Ah! ah! versetzte Marie Antoinette spöttisch, warum sagen Sie nicht lieber kurzweg, ich sei zornig?
Eure Majestät, da sie einen Arzt hat rufen lassen, wird wohl erlauben, daß sich der Arzt des medizinischen Ausdruckes bedient.
Gut. Und woher diese Ueberreizung?
Eure Majestät hat zu viel Geist, um nicht zu wissen, daß der Arzt mittelst seiner Erfahrungen und Ueberlieferungen des Studiums bloß das materielle Uebel errät, daß er aber kein Wahrsager ist, um beim ersten Anblick die menschlichen Seelen ergründen zu können.
Damit meinen Sie, beim zweiten oder dritten Male können Sie sagen, nicht nur, was ich leide, sondern auch, was ich denke?
Vielleicht, Madame, erwiderte Gilbert kalt.
Die Königin hielt bebend inne; man sah auf ihren Lippen das Wort bereit, brausend und zerfressend hervorzuspringen.
Sie bezwang sich.
Man muß Ihnen glauben, sagte sie, Ihnen, einem gelehrten Mann.
Und sie betonte diese letzten Worte mit einer so grimmigen Verachtung, daß auch das Auge Gilberts vom Feuer des Zorns zu flammen schien.
Doch eine Sekunde des Kampfes genügte für diesen Mann, daß er sich selbst besiegte.
Die Stirne ruhig und das Wort frei, antwortete er alsbald:
Eure Majestät ist allzu gütig, daß sie das Patent eines gelehrten Mannes bewilligt, ohne mein Wissen erprobt zu haben.
Die Königin biß sich auf die Lippen.
Sie begreifen, daß ich nicht weiß, ob Sie gelehrt sind, erwiderte sie, aber man behauptet es, und ich sage es aller Welt nach.
Ei! sprach Gilbert ehererbietig, während er sich tiefer verbeugte, als er es vorher gethan hatte, Eure Majestät, ein Verstand wie der Ihre sollte nicht blindlings wiederholen, was der gemeine Haufen behauptet.
Sie wollen sagen, das Volk? versetzte die Königin übermütig.
Der gemeine Haufen, Madame, erwiderte Gilbert mit einer Festigkeit, die das Herz der für unbekannte Bewegungen so schmerzlich empfänglichen Frau beben machte.
Streiten wir nicht hierüber, sagte sie. Man nennt Sie gelehrt, das ist das Wesentliche. Wo haben Sie studiert?
Ueberall, Madame.
Das ist keine Antwort.
Nirgends also.
Ich höre das lieber. Sie haben nirgends studiert?
Wie es Ihnen beliebt, Madame, antwortete der Doktor, sich verbeugend. Und dennoch ist das minder genau, als zu sagen: überall.
So antworten Sie, rief die Königin außer sich, und ich bitte besonders, Herr Gilbert, verschonen Sie mich mit diesen Phrasen.
Dann fügte sie bei, als spräche sie mit sich selbst: Ueberall! Was soll das bedeuten? Das ist das Wort eines Charlatans, eines Empirikers, eines Arztes der öffentlichen Plätze. Beabsichtigen Sie etwa, mir durch großartig klingende Silben zu imponieren?
Und mit glühenden Augen und bebenden Lippen streckte sie einen Fuß aus.
Ueberall! führen Sie einiges an, Herr Gilbert, führen Sie einzelnes an.
Ich habe gesagt, überall, antwortete Gilbert kalt, weil ich in der That überall studiert habe: im Palast und in der Hütte, in der Stadt und in der Wüste, an uns und am Tier, an mir und an andern, wie es sich geziemt für einen Mann, der die Wissenschaft liebt und sie überall nimmt, wo sie ist, das heißt überall.
Besiegt, schleuderte die Königin Gilbert einen furchtbaren Blick zu, indes der Doktor seinerseits sie mit einer in Verzweiflung setzenden Starrheit anschaute.
Sie schüttelte sich krampfhaft und warf, indem sie sich umwandte, den kleinen Guéridon um, auf dem man ihr ihre Chokolade in einer Tasse von Sèvres serviert hatte.
Gilbert sah den Tisch fallen, sah die Tasse zerbrechen, rührte sich aber nicht.
Die Röte stieg Marie Antoinette zu Gesicht; sie fuhr mit einer kalten, feuchten Hand an ihre brennende Stirne und war im Begriff, die Augen abermals zu Gilbert aufzuschlagen, wagte es aber nicht.
Nun schützte sie für sich selbst eine Verachtung vor, die größer sein sollte, als der Uebermut.
Und unter welchem Meister haben Sie studiert? fuhr die Königin, das Gespräch da, wo sie es gelassen hatte, wieder aufnehmend, fort.
Ich weiß nicht, wie ich Eurer Majestät antworten soll, ohne Gefahr zu laufen, sie abermals zu verwunden.
Die Königin fühlte den Vorteil, den ihr Gilbert geboten, und warf sich darauf wie eine Löwin.
Mich verwunden! Sie mich verwunden! rief sie. Oh! mein Herr, was sagen Sie da? Sie eine Königin verwunden! Sie täuschen sich, das schwöre ich Ihnen. Ah! Herr Doktor Gilbert, Sie haben die französische Sprache nicht an so guten Quellen studiert, wie die Arzneikunde. Man verwundet die Leute von meinem Stande nicht, Herr Doktor Gilbert, man ermüdet sie nur.
Gilbert verbeugte sich und machte einen Schritt nach der Thüre, doch ohne daß es der Königin möglich war, in seinem Gesicht die geringste Spur von Zorn, das kleinste Zeichen von Ungeduld zu entdecken.
Die Königin stampfte im Gegenteil vor Wut mit dem Fuß; sie machte einen Sprung, als wollte sie Gilbert zurückhalten.
Er begriff.
Verzeihen Sie, Madame, sagte er. Es ist wahr, ich beging das unverzeihliche Unrecht, zu vergessen, daß ich als Arzt vor eine Kranke gerufen bin. Entschuldigen Sie: ich werde mich fortan dessen erinnern.
Und er blieb.
Eure Majestät, fuhr er fort, scheint mir einer Nervenkrise nahe zu sein. Ich möchte sie bitten, sich dieser Neigung nicht hinzugeben; bald wäre sie nicht mehr Meisterin darüber. In diesem Augenblick muß der Puls stocken, das Blut fließt zum Herzen zurück: Eure Majestät leidet. Eure Majestät ist dem Ersticken nahe, und vielleicht wäre es klug, wenn sie eine von ihren Frauen rufen ließe.
Die Königin ging einmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann wieder und fragte: Sie heißen Gilbert?
Gilbert, ja, Madame.
Das ist seltsam! Ich habe eine Jugenderinnerung, deren sonderbare Existenz, wenn ich sie Ihnen mitteilte, Sie ohne Zweifel sehr verwunden würde. Doch gleichviel! verwundet, würden Sie sich heilen. Sie, der Sie nicht minder solider Philosoph, als gelehrter Arzt sind, fügte die Königin bei.
Und sie lächelte spöttisch.
So ist es gut, Madame, sagte Gilbert, lächeln Sie und bezähmen Sie allmählig Ihre Nerven durch den Spott. Es ist eines der schönsten Vorrechte des verständigen Willens, sich in solcher Weise selbst zu befehlen. Bezähmen Sie, Madame, bezähmen Sie, doch ohne zu zwingen.
Diese Vorschrift des Arztes wurde mit einem so freundlichen und gutmütigen Wesen gegeben, daß die Königin, obgleich sie die Ironie fühlte, über das, was Gilbert ihr gesagt, nicht böse werden konnte.
Nur nahm sie den Angriff wieder auf, wo sie sich darin unterbrochen hatte, und sprach:
Hören Sie also die Jugenderinnerung, von der ich rede.
Gilbert verbeugte sich zum Zeichen, daß er höre.
Die Königin raffte sich zusammen, heftete ihren Blick auf den seinigen und sagte:
Ich war damals Dauphine und wohnte in Trianon. Es befand sich da in dem Garten ein kleiner, ganz schwarzer, erdfarbiger, sehr verdrießlicher Junge, eine Art von kleinem Jean Jacques, der mit seinen gekrümmten Pfoten jätete, abraupte, grub. Er hieß Gilbert.
Das war ich, Madame, sagte der Doktor phlegmatisch.
Sie? versetzte Marie Antoinette mit einem Ausdrucke des Hasses. Ich hatte also recht! Sie sind also kein Mann der Studien!
Ich denke, da Eure Majestät ein so gutes Gedächtnis hat, so erinnert sie sich wohl auch der Epoche, sagte Gilbert. Es war, wenn ich mich nicht täusche, im Jahr 1772, als der kleine Gärtnerjunge, von dem Eure Majestät spricht, in den Blumenbeeten von Trianon die Erde umgrub, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wir sind im Jahre 1789. Die Dinge, die Sie berühren, Madame, sind folglich vor siebzehn Jahren vorgefallen. Das sind viele Jahre in der Zeit, in der wir leben. Das ist mehr, als man braucht, um aus einem Wilden einen Gelehrten zu machen, die Seele und der Geist entwickeln sich rasch in gewissen Verhältnissen, wie die Pflanzen und die Blumen im warmen Gewächshaus frühzeitig treiben; die Revolutionen, Madame, sind die warmen Treibhäuser der Intelligenz. Eure Majestät schaut mich an, und trotz der Schärfe ihres Blickes bemerkt sie nicht, daß das Kind von sechzehn Jahren nunmehr ein Mann von dreiunddreißig ist; sie hat also unrecht, sich zu wundern, daß der unwissende, der unschuldige kleine Gilbert unter dem Flammenhauch von zwei Revolutionen ein Gelehrter und ein Philosoph geworden ist.
Unwissend, das mag sein; doch unschuldig, unschuldig haben Sie gesagt, rief die Königin im höchsten Grade aufgeregt, ich glaube, Sie haben den kleinen Gilbert unschuldig genannt!
Habe ich mich getäuscht, Madame, oder diesen kleinen Knaben mit einer Eigenschaft begabt, die er nicht besaß, so begreife ich nicht, inwiefern Eure Majestät es besser wissen kann, als ich, daß er den entgegengesetzten Fehler hatte.
Oh! das ist etwas andres, sagte die Königin verdüstert; vielleicht werden wir eines Tages hiervon sprechen; doch mittlerweile, ich bitte Sie, kommen wir auf den Mann zurück, auf den gelehrten Mann, auf den vervollkommneten Mann, auf den vollkommenen Mann, den ich vor Augen habe.
Dieses Wort vollkommen nahm Gilbert nicht auf. Er begriff zu sehr, daß es eine neue Beleidigung war.
Kommen wir auf ihn zurück, Madame, antwortete Gilbert einfach, und sagen Sie, in welcher Absicht Eure Majestät ihm den Befehl hat zukommen lassen, bei ihr zu erscheinen.
Sie schlagen sich zum Arzt des Königs vor. Sie begreifen aber, mein Herr, daß mir die Gesundheit meines Gemahls zu sehr am Herzen liegt, um sie einem Manne anzuvertrauen, den ich nicht ganz genau kenne.
Ich habe mich vorgeschlagen, Madame, und ich bin angenommen worden, ohne daß Eure Majestät mit Recht den geringsten Verdacht hinsichtlich meiner Fähigkeit oder meines Eifers fassen kann. Ich bin hauptsächlich politischer Arzt, Madame, empfohlen durch Herrn Necker. Was das übrige betrifft, wenn der König je meiner Wissenschaft bedarf, so werde ich ihm, soweit das menschliche Wissen dem Werke des Schöpfers zu nützen vermag, auch ein guter physischer Arzt sein. Was ich aber besonders dem König sein werde, Madame – außer dem guten Rat und dem guten Arzt – das ist ein guter Freund.
Ein guter Freund! rief die Königin mit einem neuen Ausbruch von Verachtung; Sie, mein Herr, ein Freund des Königs!
Sicherlich, antwortete Gilbert ruhig; warum nicht, Madame?
Ah! ja, immer kraft Ihrer geheimen Gewalten, mit Hilfe Ihrer verborgenen Wissenschaft, murmelte sie. Wer weiß? wir haben die Jacques und die Maillotin gesehen; wir kehren vielleicht zum Mittelalter zurück! Sie rufen die Liebestränke und die Zaubermittel wieder ins Leben. Sie werden Frankreich durch die Magie regieren; Sie werden Faust oder Nikolas Flamel sein.
Ich habe diese Anmaßung nicht, Madame.
Ei, schade, daß Sie sie nicht haben, mein Herr! Wie viel Ungeheuer würden Sie auf der Schwelle unsrer Hölle einschläfern!
Als sie das Wort sprach: Sie würden einschläfern, heftete die Königin ihren Blick forschernder als je auf den Doktor.
Diesmal errötete Gilbert unwillkürlich.
Das war eine unbeschreibliche Freude für Marie Antoinette. Sie fühlte, daß diesmal der Schlag, den sie gethan, wirklich verwundet hatte.
Denn Sie schläfern ein, fuhr sie fort; Sie, der Sie überall und über alles studiert haben, Sie haben ohne Zweifel die Wissenschaft des Magnetismus mit den Einschläferern unsres Jahrhunderts studiert, mit diesen Leuten, die aus dem Schlafe einen Verrat machen und die Geheimnisse der andern in ihrem Schlafe lesen?
In der That, Madame, ich habe oft und lange unter dem gelehrten Cagliostro studiert.
Ja, unter demjenigen, welcher diesen moralischen Diebstahl, von dem ich soeben sprach, ausübte und seine Adepten ausüben ließ, unter demjenigen, welcher mit Hilfe dieses magischen und, wie ich ihn nennen muß, schändlichen Schlafes den einen die Seelen, den andern die Leiber gestohlen hat.
Gilbert begriff abermals und erbleichte diesmal, statt zu erröten. Die Königin bebte darob vor Freude bis in die Tiefe ihres Herzens.
Ah! Elender, murmelte sie, ich habe dich auch verwundet, und ich sehe das Blut.
Doch die tiefsten Gemütsbewegungen blieben auf dem Angesicht Gilberts nicht lange bemerkbar. Er näherte sich der Königin, die ihn, erfreut über ihren Sieg, vermessen anschaute.
Madame, sagte er, Eure Majestät würde sich sehr im Unrecht befinden, den gelehrten Männern, von denen Sie sprechen, den schönsten Gehalt ihrer Wissenschaft streitig zu machen, diese Macht, nicht Opfer, sondern Unterthanen durch den Magnetismus einzuschläfern; sie würde besonders im Unrecht sein, wenn sie ihnen das Recht nicht einräumen wollte, durch alle möglichen Mittel eine Entdeckung zu verfolgen, deren Gesetze, einmal anerkannt und geregelt, vielleicht berufen sind, die Welt zu revolutionieren.
Während er sich der Königin näherte, hatte sie Gilbert ebenfalls mit jener Willensmacht angeschaut, der die nervöse Andrée unterlegen war.
Die Königin fühlte, daß bei der Annäherung dieses Mannes ein Schauer ihre Adern durchlief.
Schande! sagte sie, Schande über die Menschen, die gewisse finstere und geheime Kunstgriffe mißbrauchen, um die Seelen oder die Leiber zu verderben . . . Schande über diesen Cagliostro!
Oh! erwiderte Gilbert mit einem gefühlvollen Ausdruck, hüten Sie sich, Madame, im Urteil über die Fehler der menschlichen Geschöpfe gar so übermäßig streng zu sein.
Mein Herr!
Jedes menschliche Geschöpf, Madame, ist dem Irrtum unterworfen; jedes Geschöpf schadet dem Geschöpfe, und ohne den individuellen Egoismus, der die allgemeine Sicherheit bildet, wäre die Welt ein weites Schlachtfeld. Diejenigen sind die Besten, die gut sind, das ist das Ganze. Andre würden Ihnen sagen: Diejenigen sind die Besten, die minder schlecht sind. Die Nachsicht muß größer sein, Madame, je höher der Richter steht. Von Ihrem Throne herab, haben Sie weniger als irgend jemand das Recht, streng gegen die Fehler andrer zu sein. Auf dem Throne der Erde sollen Sie die höchste Nachsicht sein, wie auf dem Throne des Himmels Gott die höchste Barmherzigkeit ist.
Mein Herr, ich schaue meine Rechte und besonders meine Pflichten mit einem andern Auge an, als Sie: ich bin auf dem Throne, um zu strafen und zu belohnen.
Ich glaube nicht, Madame. Meiner Ansicht nach sind Sie als Frau und Königin auf dem Thron, um zu versöhnen und zu verzeihen.
Ich denke, Sie moralisieren nicht, mein Herr.
Sie haben recht, Madame, und ich antworte nur Eurer Majestät. Ich entsinne mich dieses Cagliostro zum Beispiel, von dem Sie vorhin sprachen und dem Sie seine Wissenschaft streitig machten, – und diese Erinnerung ist älter als die Ihrige aus Trianon, – ich entsinne mich, daß er in den Gärten des Schlosses Taverney Gelegenheit hatte, der Dauphine von Frankreich eine Probe von seiner Wissenschaft, ich weiß nicht welche, zu geben, von der sie ein tiefes Andenken bewahrt haben muß; denn diese Probe hatte einen grausamen Eindruck auf sie gemacht, dergestalt, daß sie in Ohnmacht fiel.
Das war nun auch ein Schlag von Gilbert; er schlug allerdings auf den Zufall, doch der Zufall bediente ihn, und er schlug so richtig, daß die Königin entsetzlich bleich wurde.
Ja, sagte sie mit einer heiseren Stimme, ja, er hat mich im Traume eine abscheuliche Maschine sehen lassen; doch wüßte ich bis jetzt nicht, daß diese Maschine in Wirklichkeit existiert.
Ich weiß nicht, was er Sie hat sehen lassen, Madame, erwiderte Gilbert, zufrieden mit der Wirkung, die er hervorgebracht: doch ich weiß, daß man den Gelehrtentitel einem Mann nicht abstreiten kann, der über andre, über Menschen seinesgleichen, eine solche Gewalt ausübt.
Seinesgleichen . . . murmelte verächtlich die Königin.
Es mag sein, daß ich mich täusche, versetzte Gilbert; und seine Macht ist um so größer, als er den Kopf der Könige und Fürsten der Erde, unter dem Joche der Angst, zu seinem Standpunkt niederbeugt.
Schändlich! schändlich sind diejenigen, sage ich Ihnen, welche die Schwäche oder die Leichtgläubigkeit mißbrauchen.
Schändlich, sagen Sie, seien diejenigen, welche von der Wissenschaft Gebrauch machen?
Schimären, Lügen, Erbärmlichkeiten!
Was will das besagen? fragte Gilbert ruhig.
Das will besagen, daß Cagliostro ein erbärmlicher Charlatan, und daß sein angeblicher magnetischer Schlaf ein Verbrechen ist.
Ein Verbrechen!
Ja, ein Verbrechen, fuhr die Königin fort, denn er ist das Resultat eines Trankes, einer Vergiftung, deren Urheber die menschliche Gerechtigkeit, die ich vertrete, zu erreichen und zu bestrafen wissen wird.
Madame, versetzte Gilbert mit derselben Geduld, wenn ich bitten darf, etwas Nachsicht für diejenigen, welche in dieser Welt gefehlt haben.
Ah! Sie gestehen also?
Die Königin täuschte sich und glaubte nach der Sanftheit von Gilberts Stimme, er flehe für sich selbst.
Sie täuschte sich; das war ein Vorteil, den sich Gilbert wohlweislich nicht entschlüpfen ließ.
Wie! rief er, während er sein entflammtes Auge, unter dem Marie Antoinette ihren Blick wie vor einem blendenden Sonnenstrahl niederzuschlagen genötigt war, weit öffnete.
Die Königin ward betroffen, strengte sich aber gegen sich selbst an und sagte: Man fragt eine Königin ebensowenig, als man sie verwundet, erfahren Sie dies abermals, Sie, der Sie Ankömmling bei Hofe sind; doch Sie sprachen, wie mir scheint, von denjenigen, welche gefehlt haben, und verlangten Nachsicht von mir.
Ach! Madame, welches ist das vorwurfsfreie menschliche Geschöpf? Ist es vielleicht dasjenige, welches sich in dem tiefen Rückenschild seines Gewissens so wohl zu verschließen weiß, daß der Blick der andern nicht einzudringen imstande ist? Das ist es, was man häufig die Tugend nennt. Seien Sie nachsichtig, Madame.
Hernach, versetzte unklug die Königin, hernach giebt es also keine tugendhafte Geschöpfe für Sie, mein Herr, für Sie, den Zögling der Männer, deren Blick die Wahrheit aus der Tiefe der Gewissen hervorholt?
Das ist wahr, Madame.
Sie brach in ein Gelächter aus, ohne entfernt darauf bedacht zu sein, die Verachtung, die dieses Gelächter in sich schloß, zu verbergen.
Oh! ich bitte, mein Herr, rief sie, wollen Sie sich doch erinnern, daß Sie nicht auf einem öffentlichen Platze mit blödsinnigen Bauern oder Patrioten sprechen.
Ich weiß, mit wem ich spreche, Madame, glauben Sie mir das, erwiderte Gilbert.
Dann mehr Achtung, mein Herr, oder mehr Geschicklichkeit! Durchgehen Sie selbst Ihr ganzes Leben, sondieren Sie die Tiefen dieses Gewissens, das auch die Männer der Thaten, trotz ihres Genies und ihrer Erfahrung, als ein Gemeingut der Sterblichen besitzen müssen; erinnern Sie sich wohl alles dessen, was Sie niedriges, schädliches, strafbares gedacht, alles dessen, was Sie an Grausamkeiten, an Attentaten, an Verbrechen sogar begangen haben können. Unterbrechen Sie mich nicht, und wenn Sie die Summe von alledem gemacht haben werden, Herr Doktor, so beugen Sie das Haupt, werden Sie demütig, nähern Sie sich nicht mit diesem frechen Stolz der Wohnung der Könige, die wenigstens bis zu einer neuen Ordnung der Dinge – von Gott eingesetzt sind, um die Seelen der Verbrecher zu ergründen, die Falten der Gewissen zu erforschen und ohne Mitleid, wie ohne Appellation, die Strafen auf die Schuldigen anzuwenden . . . Das ist es, mein Herr, was sich für Sie zu thun geziemt, fuhr die Königin fort. Man wird Ihnen für Ihre Reue Dank wissen. Glauben Sie mir, das beste Mittel, eine Seele, die so krank ist, wie die Ihrige, zu heilen, wäre, in der Einsamkeit zu leben, fern von den Größen, die den Menschen falsche Ideen von ihrem eigenen Werte geben. Ich würde Ihnen also raten, sich nicht dem Hofe zu nähern und darauf zu verzichten, den König bei seinen Krankheiten zu pflegen. Sie haben eine Kur zu machen, für die Ihnen Gott mehr Dank wissen wird, als für irgend eine fremde Kur: Ihre eigene. Das Altertum hatte ein Sprichwort hierüber: Ipse cura medici.
Statt sich gegen diesen Vorschlag zu empören, den die Königin als den unangenehmsten der Schlüsse betrachtete, antwortete Gilbert mit sanftem Ton: Madame, ich habe schon alles gethan, was mir Eure Majestät zu thun empfiehlt.
Und was haben Sie gethan, mein Herr?
Ich habe nachgedacht.
Ueber Sie selbst?
Ueber mich, ja, Madame.
Und in Beziehung auf Ihr Gewissen?
Besonders in Beziehung auf mein Gewissen, Madame.
Glauben Sie dann, ich sei hinreichend von dem unterrichtet, was Sie darin gesehen haben?
Ich weiß nicht, was mir Eure Majestät sagen will, doch ich vermute es; wie oft muß ein Mensch von meinem Alter Gott beleidigt haben!
Wahrhaftig, Sie sprechen von Gott?
Ja. Warum nicht?
Ein Philosoph! Glauben die Philosophen an Gott?
Ich spreche von Gott und glaube an ihn.
Und Sie entfernen sich nicht?
Nein, ich bleibe, Madame.
Herr Gilbert, nehmen Sie sich in acht, rief die Königin.
Und ihr Gesicht nahm einen unbeschreiblichen Ausdruck von Drohung an.
Oh! ich habe wohl nachgedacht, Madame, und durch diese Erwägungen bin ich zum Bewußtsein gekommen, daß ich nicht weniger wert bin, als ein andrer: Jeder hat seine Sünden. Diese Grundwahrheit habe ich einsehen gelernt, nicht, indem ich die Bücher durchblätterte, sondern indem ich das Gewissen andrer durchforschte.
Diese Grundwahrheit ist wahrscheinlich universell und unfehlbar? versetzte die Königin spottend.
Ach! Madame, wenn nicht universell, wenn nicht unfehlbar, so doch wenigstens sehr heilsam im menschlichen Elend, sehr erprobt in tiefen Schmerzen. Und das ist so wahr, daß ich Ihnen sagen würde, – wenn ich nur den Kreis Ihrer ermüdeten Augen, wenn ich nur die Linie, die sich von einer Ihrer Brauen zur andern zieht, wenn ich nur die Falte sehe, welche die Winkel Ihres Mundes zusammenzieht, – daß ich Ihnen sagen würde, Madame, wie viel strenge Prüfungen Sie ausgestanden haben, wie oft Ihr Herz vor Bangigkeit geschlagen, wie viel geheimen Freuden dieses Herz sich hingegeben hat, um getäuscht zu erwachen. Dies alles, Madame, wenn Sie es wünschen sollten, kann ich Ihnen sagen. Ich werde es Ihnen sagen mit der Sicherheit, nicht Lügen gestraft zu werden; ich werde es Ihnen offenbaren, indem ich bloß einen Blick auf Sie hefte, der lesen kann und will. Und wenn Sie das Gewicht dieses Blickes, wenn Sie das Blei dieser Forschgierde in die Tiefe Ihrer Seele eindringen fühlen, wie das Meer das Blei der Sonde fühlt, die in seine Abgründe eindringt, dann werden Sie begreifen, Madame, daß ich viel vermag, und daß man mir, wenn ich mich ruhig verhalte, Dank wissen muß, statt mich zum Kriege herauszufordern.
Diese Sprache, unterstützt durch einen entsetzlich unbeugsamen, herausfordernden Willen des Mannes gegen die Frau; diese Verachtung aller Etikette in Gegenwart der Königin machten einen unbeschreiblichen Eindruck auf Marie Antoinette.
Sie fühlte es wie einen kalten Nebel auf ihre Stirn fallen und ihre Ideen vereisen; sie fühlte ihren Haß in Schrecken verwandelt, ließ ihre Hände ermattet fallen und machte einen Schritt rückwärts, um der Annäherung dieser unbekannten Gefahr zu entfliehen.
Und nun, Madame, sprach Gilbert, der klar sah, was in ihr vorging, begreifen Sie, daß es mir sehr leicht ist, zu erfahren, was Sie vor aller Welt verbergen und was Sie sogar vor sich selbst verbergen; begreifen Sie, daß es mir leicht ist, Sie auf diesem Stuhle auszustrecken, den Ihre Finger instinktartig suchen, um eine Stütze daran zu finden.
Oh! machte die Königin erschrocken, denn sie fühlte unbekannte Schauer bis in ihr Herz eindringen.
Ich darf nur ein Wort in mich selbst hineinsprechen, das ich nicht sagen will, fuhr Gilbert fort, ich darf nur einen Willen befestigen, auf den ich verzichte, und Sie fallen niedergedonnert in meine Gewalt. Sie zweifeln, Madame; oh! zweifeln Sie nicht. Sie würden mich vielleicht versuchen, und wenn Sie mich einmal versuchen! Doch nein, nicht wahr, Sie zweifeln nicht?
Halb zurückgeworfen, stöhnend, beklommen, verwirrt, klammerte sich die Königin mit der Energie der Verzweiflung und der Wut einer nutzlosen Verteidigung an die Lehne ihres Stuhles an.
Oh! fuhr Gilbert fort, glauben Sie mir, Madame, wenn ich nicht der ehrerbietigste, der ergebenste, der fußfälligste Ihrer Unterthanen wäre, so würde ich Sie durch ein furchtbares Experiment überzeugen. Aber seien Sie unbesorgt! Ich neige mich in Demut; sage ich Ihnen, einen Gedanken zu haben, der Ihren Gedanken nur oberflächlich antastet, ich würde mich eher töten, als daß ich Ihre Seele zu beengen suchte.
Mein Herr, mein Herr, rief die Königin, indem sie mit ihren Armen die Luft schlug, als wollte sie Gilbert, der mehr als drei Schritte von ihr entfernt stand, zurückstoßen.
Und dennoch haben Sie mich in die Bastille einsperren lassen, fuhr Gilbert fort. Sie bedauern es nur, daß sie erstürmt ist, weil das Volk mir die Thore geöffnet hat. Ihr Haß bricht in Ihren Augen gegen einen Mann aus, dem Sie persönlich nichts vorzuwerfen haben. Und sehen Sie, ich fühle es, seitdem ich den Einfluß abspanne, mit dem ich Sie im Zaume hielt – wer weiß, ob Sie nicht mit dem freien Atemzug wieder den Zweifel in sich aufnehmen!
In der That, seitdem Gilbert nachließ, ihr mit Blick und Hand zu befehlen, hatte sich Marie Antoinette beinahe drohend wieder erhoben, wie der Vogel, der, von der Erstickung der Luftpumpe befreit, seinen Gesang und seinen Flug wieder zu beginnen versucht.
Ah! Sie zweifeln; Sie spotten; Sie verachten. Soll ich Ihnen die entsetzliche Idee mitteilen, die mir durch den Kopf gegangen ist? Hören Sie, Madame, was ich zu thun im Begriffe war: ich wollte Sie verurteilen, mir Ihre innersten Leiden, Ihre verborgensten Gedanken zu enthüllen; ich wollte Sie nötigen, sie hier auf diesem Tisch, den Sie in diesem Augenblick berühren, aufzuschreiben; und wenn Sie später erwachend zu sich gekommen wären, hätte ich Ihnen durch Ihre Handschrift bewiesen, wie wenig schimärisch die Macht ist, die Sie zu bestreiten scheinen; wie echt besonders die Geduld – soll ich es sagen? ja, ich werde es sagen – die Großmut des Mannes ist, den Sie beleidigt haben, den Sie seit einer Stunde fortwährend beleidigen, ohne daß er Ihnen einen Augenblick das Recht oder den Vorwand dazu gegeben hat.
Mich nötigen, zu schlafen, mich zwingen, im Schlafe zu sprechen, mich! rief die Königin, völlig erbleichend. Sie hätten das gewagt, mein Herr? Kennen Sie den Umfang der Drohung, die Sie gegen mich aussprechen? Das ist ein Verbrechen der beleidigten Majestät, mein Herr. Bedenken Sie, das ist ein Verbrechen, das ich, sobald ich wieder erwacht und in den Besitz meiner selbst gelangt wäre, mit dem Tode hätte bestrafen lassen.
Madame, erwiderte Gilbert, die schwindelhafte Aufregung der Königin mit dem Blicke verfolgend, beeilen Sie sich nicht, anzuklagen und besonders zu drohen. Gewiß hätte ich Eure Majestät eingeschläfert; gewiß hätte ich der Frau alle ihre Geheimnisse entrissen; doch sicherlich, glauben Sie mir, wäre es nicht bei einer Gelegenheit, wie diese, geschehen. Es wäre nicht bei einem Alleinsein der Königin mit ihrem Unterthan, der Frau mit einem fremden Manne geschehen; nein, ich hätte die Königin eingeschläfert, das ist wahr, und nichts wäre mir leichter gewesen; doch ich hätte mir nicht erlaubt, sie einzuschläfern, hätte mir nicht erlaubt sie sprechen zu machen, ohne einen Zeugen zu haben.
Einen Zeugen?
Ja, Madame, einen Zeugen, der getreu alle Ihre Worte, alle Ihre Geberden, kurz alle Einzelheiten der Szene, die ich hervorgerufen, aufgenommen hätte, um Ihnen selbst nach Vollendung dieser Szene nicht einen Augenblick einen Zweifel zu lassen.
Einen Zeugen? wiederholte die Königin erschrocken, und wer wäre dieser Zeuge gewesen? Bedenken Sie, mein Herr, das Verbrechen würde sich verdoppelt haben, denn in diesem Fall hätten Sie sich einen Mitschuldigen beigesellt.
Und wenn dieser Mitschuldige, Madame, kein andrer, als der König selbst gewesen wäre? versetzte Gilbert.
Der König? rief Marie Antoinette mit einem Schrecken, der die Gattin energischer verriet, als es das Bekenntnis der Somnambule hätte tun können. Oh! Herr Gilbert! Herr Gilbert!
Der König, fügte Gilbert ruhig bei, der König, Ihre Stütze, Ihr natürlicher Verteidiger, der König, der Ihnen bei Ihrem Erwachen, Madame, erzählt hätte, wie ehrerbietig und stolz zugleich ich der allerverehrtesten Fürstin gedient, meine Wissenschaft zu beweisen.
Und nachdem Gilbert diese Worte gesprochen, ließ er der Königin volle Zeit, um über ihre Tiefe nachzusinnen.
Die Königin verharrte einige Minuten in einem Stillschweigen, das nur das Geräusch ihres schweren Atems unterbrach.
Mein Herr, sprach sie endlich, nach allem, was Sie mir gesagt haben, müssen Sie ein Todfeind sein . . .
Oder ein feuerfester Freund, Madame.
Unmöglich, mein Herr, die Freundschaft kann nicht neben der Furcht oder dem Mißtrauen leben.
Die Freundschaft, Madame, im Verhältnis des Untertans zur Königin, kann nur durch das Vertrauen leben, das der Unterthan einflößt. Nicht wahr, Sie werden sich schon gesagt haben, daß derjenige unmöglich ein Feind ist, der sich schon beim ersten Wort das Mittel zu schaden entreißen läßt, ganz besonders, wenn er sich die Waffen des ersten Angriffs verbietet?
Was Sie da sagen, mein Herr, darf man daran glauben? versetzte die Königin mit Aufmerksamkeit und Bangigkeit, indem sie Gilbert mit einer forschenden Miene anschaute.
Warum sollten Sie nicht daran glauben, Madame, da Sie alle Beweise von meiner Aufrichtigkeit haben?
Man ist veränderlich, mein Herr, man ist veränderlich!
Madame, ich habe das Gelübde getan, das gewisse in der Handhabung gefährlicher Waffen ausgezeichnete Männer taten, ehe sie ins Feld zogen. Ich werde meine Vorteile immer nur benützen, um das Unrecht, das man mir antun will, zurückzuschlagen, nicht für den Angriff, sondern für die Verteidigung. Das ist mein Wahlspruch.
Ach! seufzte die Königin.
Ich verstehe Sie, Madame. Es ist schmerzlich für Sie, Ihre Seele in den Händen des Arztes zu sehen, für Sie, die Sie sich zuweilen empörten, ihm Ihren Körper zu überlassen. Fassen Sie Mut. Derjenige will Ihnen wohl raten, welcher Ihnen heute den Beweis von Langmut gegeben, den Sie von mir erhalten haben. Ich will Sie lieben, Madame; ich will daß man Sie liebe. Die Ideen, die ich schon dem König gegeben, werde ich Ihnen erörtern.
Doktor, nehmen Sie sich in acht! versetzte ernst die Königin; Sie haben mich in der Falle gefangen, nachdem Sie dem Weibe bange gemacht, glauben Sie die Königin beherrschen zu können?
Nein, Madame, erwiderte Gilbert, ich bin kein elender Spekulant. Ich habe meine Ideen, ich begreife, daß Sie die Ihrigen haben. Ich weise von diesem Augenblick an die Beschuldigung zurück, die Sie ewig gegen mich vorbringen würden, die Beschuldigung, ich habe Sie in Schrecken gesetzt, um Ihre Vernunft zu unterjochen. Ich sage mehr: Sie sind die erste Frau, in der ich gleichzeitig alle Leidenschaften des Weibes und alle Herrscherfähigkeiten des Mannes vereinigt finde. Sie können zugleich eine Frau und ein Freund sein. Die ganze Menschheit wird sich zur Not in Ihnen zusammenfassen. Ich bewundere Sie, und ich werde Ihnen dienen. Ich werde Ihnen dienen, ohne etwas von Ihnen zu empfangen, einzig und allein, um Sie zu studieren, Madame. Ich werde noch mehr für Ihren Dienst thun; für den Fall, daß ich Ihnen als ein zu sehr beengendes Palastgeräte erscheinen würde, für den Fall, daß der Eindruck der heutigen Szene sich nicht in Ihrem Gedächtnis verwischen sollte, verlange ich von Ihnen, bitte ich Sie, mich entfernen zu dürfen.
Sich entfernen? rief die Königin mit einem Ausdruck, der Gilbert nicht entging,
Wohl denn, das ist beschlossen, Madame, sprach er mit einer bewunderungswürdigen Kaltblütigkeit. Ich werde dem König nicht einmal sagen, was ich ihm zu sagen hatte, und abreisen. Muß ich so weit gehen, um Sie zu beruhigen?
Sie schaute ihn an, erstaunt über diese Verleugnung.
Ich sehe, sprach er, was Eure Majestät denkt. Mehr als man glaubt, von den Geheimnissen des magnetischen Einflusses unterrichtet, die Sie vorhin erschreckten, sagt sich Eure Majestät: ich würde in der Entfernung gefährlich und nicht weniger beunruhigend sein.
Wieso? fragte die Königin.
Ja, ich wiederhole es, Madame, wenn irgend jemand durch die Mittel, die Sie soeben meinen Meistern und mir vorgeworfen haben, schaden wollte, so könnte er seine schädliche Tätigkeit ebensogut ausüben auf die Entfernung von hundert oder tausend Meilen, als auf die Distanz von drei Schritten. Seien Sie sorglos, Madame, so was werde ich niemals versuchen.
Die Königin blieb einen Augenblick nachdenkend und wußte nicht, was sie diesem seltsamen Mann, der ihre festesten Entschlüsse wanken machte, zur Antwort geben sollte.
Plötzlich vernahm man in der Tiefe des Korridors ein Geräusch von Tritten, und Marie Antoinette richtete sich auf.
Der König, sagte sie, der König kommt.
Dann, Madame, antworten Sie mir, ich bitte Sie, soll ich bleiben, soll ich gehen?
Aber . . .
Beeilen Sie sich, ich kann dem König ausweichen; wenn Sie es wünschen, so wird mir Eure Majestät eine Thüre bezeichnen, durch welche ich mich entferne.
Bleiben Sie, sagte die Königin.
Gilbert verbeugte sich, während Marie Antoinette in seinen Zügen zu lesen suchte, in welchem Grade der Triumph verräterischer wäre, als es der Zorn oder die Unruhe gewesen.
Gilbert blieb unempfindlich.
Er hätte wenigstens Freude offenbaren müssen, sagte die Königin zu sich selbst.
Der König trat nach seiner Gewohnheit lebhaft und zugleich schwerfällig ein.
Er hatte eine geschäftige, neugierige Miene, die seltsam mit der eisigen Strenge in der Haltung der Königin kontrastierte.
Die frische Farbe hatte den König nicht verlassen. Er war frühzeitig aufgestanden, und das Gefühl guter Gesundheit, das er mit der Morgenluft eingeschlürft, machte ihn ganz stolz; er atmete geräuschvoll und trat mit dem Fuß sehr kräftig auf dem Boden auf.
Der Doktor? sagte er, was ist aus dem Doktor geworden?
Guten Tag, Sire. Wie geht es Ihnen heute? Sind Sie sehr müde?
Ich habe sechs Stunden geschlafen, das ist meine Zeit. Ich befinde mich sehr wohl. Der Geist ist scharf. Sie sind ein wenig bleich, Madame. Der Doktor, man hat mir gesagt, Sie haben ihn zu sich gerufen?
Hier ist der Doktor Gilbert, erwiderte die Königin, während sie die Fenstervertiefung enthüllte, in welcher der Doktor bis zu diesem Augenblick verborgen gewesen war.
Die Stirne des Königs klärte sich sogleich auf.
Ah! ich vergaß! sagte er. Sie haben den Doktor gerufen; Sie sind also leidend.
Die Königin errötete.
Sie erröten? rief Ludwig XVI.
Sie wurde purpurrot.
Abermals ein Geheimnis? sagte der König.
Welches Geheimnis, mein Herr? unterbrach ihn die Königin mit Stolz.
Sie verstehen mich nicht, ich sage Ihnen, Sie, die Sie Ihre Lieblingsärzte haben, konnten den Doktor Gilbert nicht rufen, ohne den bewußten Wunsch . . .
Welchen Wunsch meinen Sie?
Den, es immer zu verbergen, wenn Sie leiden.
Ah! machte die Königin, ein wenig beruhigt.
Ja, fuhr Ludwig XVI. fort, doch nehmen Sie sich in acht, Herr Gilbert gehört zu meinen Vertrauten, und wenn Sie ihm etwas erzählen, so wird er es mir berichten.
Gilbert lächelte.
Was das betrifft, nein, Sire, sagte er.
Gut, so verdirbt die Königin meine Leute.
Marie Antoinette ließ jenes kurze erstickte Lachen hören, das nur bedeutet, daß man das Gespräch abbrechen will, oder daß man es sehr langweilig findet.
Gilbert begriff, der König begriff nicht.
Hören Sie, Doktor, sprach er, da es die Königin belustigt, erzählen Sie mir, was sie Ihnen sagte.
Ich fragte den Doktor, unterbrach ihn Marie Antoinette, warum Sie ihn so frühzeitig gerufen haben. Ich gestehe in der That, daß seine Gegenwart in Versailles schon am frühen Morgen mich neugierig macht und beunruhigt.
Ich erwartete den Doktor, um über Politik mit ihm zu reden, erwiderte der König, während seine Miene sich verfinsterte.
Ah! sehr gut, sprach die Königin.
Und sie setzte sich, als wollte sie zuhören.
Kommen Sie, Doktor, sagte der König, indem er sich nach der Thüre wandte.
Gilbert verbeugte sich tief vor der Königin und schickte sich an, Ludwig XVI. zu folgen.
Wohin gehen Sie? rief die Königin; wie! Sie entfernen sich?
Wir haben nicht über sehr heitere Dinge zu reden, Madame, und es ist besser, wir machen der Königin eine Sorge weniger.
Sie nennen Sorgen Schmerzen! rief majestätisch die Königin.
Ein Grund mehr, meine Teure.
Bleiben Sie, ich will es haben, sprach Marie Antoinette. Herr Gilbert, ich denke, Sie werden mir nicht ungehorsam sein.
Herr Gilbert! rief der König sehr unwillig.
Nun! was?
Ei! Herr Gilbert! der mir einen Rat geben, der frei und nach seinem Gewissen mit mir sprechen sollte, Herr Gilbert wird hier Anstand nehmen.
Warum denn? versetzte die Königin.
Weil Sie da sein werden, Madame.
Gilbert machte eine eigentümliche Geberde, der die Königin sogleich eine wichtige Bedeutung beilegte.
In welcher Hinsicht, sagte sie, um ihn zu unterstützen, in welcher Hinsicht wird Herr Gilbert Gefahr laufen, mir zu mißfallen, wenn er nach seinem Gewissen spricht?
Das ist leicht zu begreifen, Madame, erwiderte der König: Sie haben Ihre eigene Politik; sie ist nicht immer die unsre . . . so daß . . .
So daß Herr Gilbert – Sie sagen mir das klar – in seinen Ansichten sehr weit von meiner Politik abweicht.
Nach den Ideen, Madame, die Eure Majestät als die meinigen kennt, ist das nicht anders möglich. Nur darf Eure Majestät versichert sein, daß ich die Wahrheit eben so frei vor ihr, als in Gegenwart des Königs allein sagen werde.
Ah! das ist schon etwas, sprach Marie Antoinette.
Die Wahrheit ist nicht immer gut zu sagen, murmelte Ludwig XVI.
Wenn sie nützlich ist? versetzte Gilbert.
Oder auch nur auf einer guten Absicht beruht, fügte die Königin bei.
Was das betrifft, so werden wir nicht daran zweifeln, sprach der König. Doch wenn Sie vernünftig wären, Madame, so würden Sie dem Doktor die volle Redefreiheit lassen, die mir gegenwärtig Bedürfnis ist.
Sire, erwiderte, Gilbert, da die Königin die Wahrheit selbst herausfordert, da ich weiß, daß der Geist Ihrer Majestät edel und mächtig genug ist, um sie nicht zu fürchten, so spreche ich lieber vor meinen beiden Souveräns.
Sire, sagte die Königin, ich bitte darum.
Ich hege Vertrauen zu der Weisheit Eurer Majestät, sprach Gilbert, indem er sich vor der Königin verbeugte. Es handelt sich um das Glück und den Ruhm Seiner Majestät des Königs.
Sie haben recht, wenn Sie Vertrauen hegen, versetzte die Königin. Fangen Sie an, mein Herr.
Alles das ist sehr schön, entgegnete der König, der seiner Gewohnheit nach hartnäckig wurde; aber die Frage ist zarter Natur, und ich weiß, Madame, daß Sie in Bezug auf meine Person mich sehr beengen werden.
Die Königin konnte sich einer Bewegung der Ungeduld nicht erwehren; sie stand auf und setzte sich dann wieder, ihren raschen, kalten Blick in den Geist des Doktor tauchend.
Ludwig XVI., als er sah, daß ihm kein andres Mittel blieb, um der ordentlichen und außerordentlichen Folter zu entgehen, setzte sich mit einem schweren Seufzer in einen Lehnstuhl Gilbert gegenüber.
Um was handelt es sich? fragte die Königin, nachdem sich diese Art Ratsversammlung konstituiert und installiert hatte.
Gilbert schaute den König zum letztenmal an, als wollte er ihn um Vollmacht bitten, ohne Zwang sprechen zu dürfen.
Immerzu, mein Gott, immerzu, mein Herr, da es die Königin will, sagte Ludwig XVI.
Wohl denn, Madame, sagte der Doktor, ich werde mit wenigen Worten Eure Majestät von dem Zwecke meines frühzeitigen Besuches in Versailles unterrichten. Ich kam, um Seiner Majestät zu raten, sich nach Paris zu begeben.
Ein Funke, der auf die vierhundert Centner Pulver, die damals das Stadthaus enthielt, gefallen wäre, hätte nicht die Explosion hervorgebracht, die diese Worte im Herzen der Königin bewirkten.
Der König nach Paris! der König! ah!
Und sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus, der Ludwig XVI. beben machte.
Da haben Sie es, sprach der König, Gilbert anschauend; was sagte ich Ihnen, Doktor?
Der König, fuhr Marie Antoinette fort, der König in einer Stadt, die in der Empörung begriffen ist! Der König mitten unter Heugabeln und Sensen! Der König unter diesen Menschen, welche die Schweizer niedergemetzelt, Herrn de Launay und Herrn von Flesselles ermordet haben! der König über den Platz vor dem Stadthause hinschreitend und im Blute seiner Verteidiger watend! . . . Sie sind ein Wahnsinniger, mein Herr, daß Sie so gesprochen! Oh! ich wiederhole Ihnen, Sie sind ein Wahnsinniger.
Gilbert schlug die Augen nieder wie ein Mensch, den der Respekt zurückhält; doch er erwiderte nicht ein Wort.
Bis in die Tiefe seiner Seele bewegt, drehte sich der König in seinem Lehnstuhle hin und her, wie ein Gefolterter auf dem Rost der Inquisitoren.
Ist es möglich! fuhr die Königin fort, ist es möglich, daß eine solche Idee in einem verständigen Kopf, in einem französischen Herzen Raum gefunden hat? Wie, mein Herr, Sie wissen also nicht, daß Sie mit dem Nachfolger des heiligen Ludwig, mit dem Urenkel von Ludwig XIV. sprechen?
Der König stieß mit dem Fuß auf den Teppich.
Ich denke indessen nicht, fuhr Marie Antoinette abermals fort, ich denke nicht, daß Sie den König des Beistands seiner Garden und seines Heeres berauben wollen; daß Sie ihn aus seinem Palaste, der eine Festung ist, zu locken suchen, um ihn allein und nackt seinen erbittertsten Feinden preiszugeben; Sie haben nicht den Wunsch, den König ermorden zu lassen, nicht wahr, Herr Gilbert?
Wenn ich glauben könnte, Eure Majestät hege nur einen Augenblick den Gedanken, ich sei eines solchen Verrates fähig, so wäre ich nicht ein Wahnsinniger, sondern würde mich als einen Elenden betrachten. Doch, Gott sei Dank, Sie glauben das ebensowenig als ich; nein, ich bin gekommen, um meinem König einen Rat zu geben, weil ich den Rat für gut und sogar für besser als jeden andern halte.
Die Königin preßte ihre Finger auf ihrer Brust so krampfhaft zusammen, daß der Batist unter dem Drucke krachte.
Mit einer leichten Bewegung der Ungeduld zuckte der König die Achseln.
Um Gottes willen! sagte er, hören Sie ihn doch an, Madame; es wird immer noch Zeit sein, nein zu sagen, wenn Sie ihn gehört haben.
Der König hat recht, Madame, sprach Gilbert; denn was ich Eurer Majestät zu sagen habe, wissen Sie nicht; Sie glauben sich inmitten einer sicheren, ergebenen Armee, einer Armee, bereit, für Sie zu sterben – Irrtum; unter den französischen Regimentern konspiriert die Hälfte mit den Männern der Wiedergeburt für die revolutionäre Idee.
Mein Herr, rief die Königin, nehmen Sie sich in acht. Sie beschimpfen die Armee.
Ganz im Gegenteil, Madame, erwiderte Gilbert, ich spende ihr Lob. Man kann seinen König achten und seinem König ergeben sein, während man zugleich sein Vaterland liebt und der Freiheit ergeben ist.
Die Königin schleuderte auf Gilbert einen Blick, ähnlich dem flammenden Blitz.
Mein Herr, rief sie, diese Sprache . . .
Ja, diese Sprache verletzt Sie, Madame, ich begreife das; denn aller Wahrscheinlichkeit nach hört sie Eure Majestät zum erstenmal.
Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, murmelte Ludwig XVI. mit dem fügsamen, gesunden Verstand, der seine Hauptstärke bildete.
Nie! rief Marie Antoinette, nie!
Hören Sie doch! hören Sie! rief der König; ich finde, daß das, was der Doktor sagt, ganz vernünftig ist.
Die Königin setzte sich zitternd nieder.
Gilbert fuhr fort:
Ich sagte, Madame, ich habe Paris gesehen, und Sie haben nicht einmal Versailles gesehen. Wissen Sie, was Paris in diesem Augenblick thun will?
Nein, erwiderte der König unruhig.
Es will vielleicht nicht zum zweitenmal die Bastille nehmen, versetzte die Königin mit Verachtung.
Sicherlich nicht, Madame, erwiderte Gilbert; aber Paris weiß, daß es eine andre Festung zwischen dem Volke und seinem König giebt. Paris hat im Sinne, die Abgeordneten der zwanzig Bezirke, die es bilden, zu versammeln und diese Abgeordneten nach Versailles zu schicken.
Sie mögen kommen, sie mögen kommen, rief die Königin mit einer wilden Freude. Oh! sie werden hier gut empfangen werden.
Warten Sie, Madame, entgegnete Gilbert, und nehmen Sie sich in acht, diese Abgeordneten werden nicht allein kommen.
Und mit wem werden sie kommen?
Sie werden kommen, unterstützt von zwanzigtausend Mann Nationalgarde.
Nationalgarde! versetzte die Königin, was ist das?
Oh! Madame, sprechen Sie nicht so leicht von diesem Institut, es wird eines Tags eine Macht werden, es wird binden und lösen.
Zwanzigtausend Mann! rief der König.
Ei! mein Herr, sprach die Königin, Sie haben hier zehntausend Mann, die soviel wert sind, als hunderttausend Empörer. Rufen Sie sie, sage ich Ihnen; die zwanzigtausend Schurken werden hier die Bestrafung und das Beispiel finden, wie es dieser ganze revolutionäre Auswurf nötig hat, den ich in acht Tagen ausfegen würde, wenn man nur eine Stunde auf mich hören wollte.
Gilbert schüttelte traurig den Kopf und erwiderte: Oh! Madame, wie täuschen Sie sich, oder wie hat man Sie vielmehr getäuscht. Ach! ach! bedenken Sie, den Bürgerkrieg durch eine Königin herausgefordert! Eine einzige hat das gethan, und sie hat den gräßlichen Beinamen: die Fremde mit ins Grab genommen.
Herausgefordert, von mir, mein Herr, wie verstehen Sie das? Habe ich ohne Herausforderung gegen die Bastille geschossen ?
Ei! Madame, sagte der König, statt zur Gewaltthätigkeit zu raten, hören Sie zuerst die Vernunft!
Die Schwäche!
Hören Sie, Antoinette, hören Sie, sprach der König mit strengem Tone, die Ankunft von zwanzigtausend Mann, die man wird hier mit Kartätschen niederschießen müssen, ist keine geringfügige Sache.
Dann sich an Gilbert wendend: Fahren Sie fort, – mein Herr.
Alle diese Gehässigkeiten, die sich durch die Entfernung erhitzen, alle diese Prahlereien, die bei Gelegenheit Mut werden; all dieses Gemenge einer Schlacht, deren Ausgang unsicher ist, ersparen Sie es dem König und sich selbst, Madame, sprach der Doktor; Sie können durch die Milde diese Ankunft zerstreuen, die Ihre Gewaltthätigkeiten vielleicht verstärken werden. Die Menge will zum König ziehen; kommen wir ihr zuvor, lassen Sie den König zu der Menge gehen; lassen Sie ihn umgeben, wie er es heute von seinem Heere ist, morgen eine Probe von Kühnheit und politischem Geist ablegen. Diese zwanzigtausend Mann, von denen wir sprechen, könnten vielleicht den König erobern. Lassen wir den König allein diese zwanzigtausend Mann erobern, denn diese zwanzigtausend Mann, Madame, die sind das Volk.
Der König konnte sich nicht enthalten, ein Zeichen des Beifalls zu geben, das Marie Antoinette nicht entging.
Unglücklicher, sagte sie zu Gilbert, Sie wissen also nicht, was die Gegenwart des Königs in Paris, unter den Bedingungen, wie Sie es verlangen, wird besagen wollen? Das will besagen: Ich billige . . . das will besagen: Ihr habt wohl daran gethan, meine Schweizer zu töten . . . das will besagen; Ihr habt wohl daran gethan, meine Offiziere niederzumetzeln, meine schöne Hauptstadt mit Feuer und Schwert zu verheeren; Ihr habt wohl daran gethan, mich zu entthronen! Ich danke, meine Herren, ich danke.
Und ein verächtliches Lächeln zog über die Lippen von Marie Antoinette.
Nein, Madame, erwiderte Gilbert, Eure Majestät täuscht sich, das wird nichts andres besagen, als: der Schmerz des Volkes hat einige Gerechtigkeit für sich. Ich habe verziehen, ich bin das Haupt und der König; ich bin an der Spitze der Revolution, wie sich einst Heinrich III. an die Spitze der Ligue gestellt hat. Eure Generale sind meine Offiziere; Eure Nationalgarden meine Soldaten; Eure Behörden meine Geschäftsführer; statt mich anzutreiben, folgt mir, wenn Ihr könnt. Die Größe meines Schrittes wird abermals beweisen, daß ich der König von Frankreich, der Nachfolger von Karl dem Großen bin.
Er hat recht, sagte der König traurig.
Oh! rief die Königin, ich flehe Sie an, hören Sie diesen Mann nicht, dieser Mann ist Ihr Feind.
Madame, sprach Gilbert, Seine Majestät wird Ihnen selbst sagen, was sie von meinen Worten denkt.
Ich denke, mein Herr, daß Sie bis jetzt der einzige gewesen sind, der es gewagt hat, mir die Wahrheit zu sagen, versetzte der König.
Die Wahrheit! rief die Königin. Oh! was sagen Sie mir da, großer Gott!
Ja, Madame, sprach Gilbert, und glauben Sie, die Wahrheit ist in diesem Augenblicke die einzige Fackel, deren Licht es verhindern kann, daß der Thron und das Königtum nicht in den Abgrund rollen.
Nachdem er so gesprochen, verbeugte sich Gilbert demütig bis auf die Kniee vor Marie Antoinette.
Zum erstenmale schien die Königin tief bewegt zu sein. War es von der Vernunftsprache des Doktors, war es von seiner Demut?
Der König war mit einer entschlossenen Miene aufgestanden.
Aber gewohnt, nichts zu thun, ohne die Königin um Rat zu fragen, sagte er zu dieser: Madame, billigen Sie . . .
Ich muß es wohl, mein Herr, antwortete Marie Antoinette.
Ich verlange von Ihnen diese Verleugnung nicht, Madame, sagte der König ungeduldig. Ich verlange von Ihnen eine Ueberzeugung, welche die meinige bestärkt.
Sie verlangen von mir eine Ueberzeugung? Oh! wenn es nur das ist, ich bin überzeugt, mein Herr.
Von was?
Davon, daß der Augenblick gekommen ist, der aus der Monarchie den beklagenswertesten und erniedrigendsten Stand machen wird, den es auf der Welt giebt.
Oh! sagte der König, Sie übertreiben. Beklagenswert, das will ich zugeben, aber erniedrigend, das ist unmöglich.
Mein Herr, es ist Ihnen von den Königen, Ihren Ahnen, ein trauriges Erbe vermacht worden, sprach düster Marie Antoinette.
Ja, sagte Ludwig XVI., ein Erbe, das ich Sie zu meinem Schmerze teilen lasse, Madame.
Wollen Sie erlauben Sire, versetzte Gilbert, den im Grunde seines Herzens Mitleid mit diesen gefallenen Fürsten ergriff; ich glaube nicht, daß Eure Majestät Ursache hat, die Zukunft so entsetzlich anzusehen, als sie sagt. Eine despotische Monarchie hat aufgehört, eine konstitutionelle Regierung beginnt.
Ei! mein Herr, sprach der König, bin ich denn der Mann, den Frankreich braucht, um eine solche Regierung zu gründen?
Warum nicht, Sire? versetzte die Königin, ein wenig gestärkt durch die Worte Gilberts.
Madame, sagte der König, ich bin ein Mann von gutem Verstand und ein unterrichteter Mann. Ich sehe klar, statt trübe zu sehen, und ich weiß genau, was ich alles nicht zu wissen brauche, um dieses Land zu regieren. Von dem Tage an, wo man mich von der Unverletzlichkeit der absoluten Fürsten herabstürzt, – von dem Tage an, wo man in mir den einfachen Menschen entblößt läßt, verliere ich die ganze scheinbare Stärke, die allein für die Regierung Frankreichs nötig war, wie sich, genau genommen, Ludwig XIII., Ludwig XIV. und Ludwig XV. durchaus und nur mittelst dieser scheinbaren Stärke erhalten haben. Was brauchen die Franzosen heute? Einen Herrn. Ich fühle mich nur fähig, ein Vater zu sein. Was brauchen die Revolutionäre? Ein Schwert. Ich fühle nicht die Kraft in mir, zu schlagen.
Sie fühlen nicht die Kraft in sich, zu schlagen, rief die Königin, Leute zu schlagen, welche die Güter Ihrer Kinder rauben, und alle Kleinodien der Krone Frankreichs, eines nach dem andern, auf Ihrer Stirne zerbrechen wollen?
Was werde ich antworten? sagte ruhig Ludwig XVI.; werde ich Nein antworten? Ich werde abermals Stürme bei Ihnen hervorrufen, die mich in meinem Leben stören. Sie vermögen zu hassen! Oh! desto besser für Sie; Sie vermögen sogar ungerecht zu sein, ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, das ist eine ungeheure Eigenschaft bei Herrschern.
Würden Sie mich zufällig ungerecht gegen die Revolution finden? sprechen Sie.
Bei meiner Treue, ja.
Sie sagen ja, Sire, Sie sagen ja?
Wenn Sie eine einfache Bürgerin wären, meine liebe Antoinette, so würden Sie nicht sprechen, wie Sie es thun.
Ich bin es nicht.
Darum entschuldige ich Sie; doch das will nicht heißen, daß ich Ihre Ansicht billige. Nein, Madame, nein, fügen Sie sich; wir sind in einem Augenblicke des Sturms auf den Thron von Frankreich gekommen; wir müßten die Kraft haben, den mit Sensen bewaffneten Karren, den man die Revolution nennt, vorwärts zu stoßen, und an dieser Kraft fehlt es uns.
Das ist gerade schlimm! rief Marie Antoinette, denn er wird über unsre Kinder hinfahren.
Ach! ich weiß es; doch wir werden ihn nicht vorwärts stoßen?
Wir werden ihn zurückweichen machen, Sire.
Oh! versetzte Gilbert mit einem tiefen Ausdruck, nehmen Sie sich in acht, Madame, zurückweichend wird er Sie zermalmen.
Mein Herr, sagte die Königin ungeduldig, ich bemerke, daß Sie die Freimütigkeit Ihrer Ratschläge weit treiben.
Ich werde schweigen, Madame.
Ei! mein Gott, Madame, lassen Sie ihn doch sprechen, rief der König, wenn er das, was er Ihnen da verkündigt, nicht in zwanzig Blättern gelesen hat, die es seit acht Tagen sagen, so hat er es nicht lesen wollen. Wissen Sie ihm wenigstens Dank, daß er die Wahrheit seines Wortes nicht in Bitterkeit hüllt.
Marie Antoinette schwieg eine Zeit lang.
Dann sprach sie mit einem schmerzlichen Seufzer:
Ich fasse mich kurz oder ich wiederhole mich vielmehr: gehen Sie aus eigenem Antrieb nach Paris, so sanktionieren Sie dadurch alles, was geschehen ist.
Ja, sprach der König, ich weiß es wohl.
Sie demütigen, Sie verleugnen Ihr Heer, das Sie zu verteidigen sich anschickte.
Es wird aber dadurch das französische Blut gespart.
Sie erklären, daß fortan der Aufruhr und die Gewaltthat dem Willen des Königs die den Aufrührern und Verrätern beliebige Richtung geben können.
Madame, ich glaube, Sie haben vorhin die Güte gehabt, zu gestehen, ich sei so glücklich gewesen, Sie zu überzeugen.
Ja, vorhin, ich gestehe es, hat sich eine Ecke des Schleiers vor mir erhoben. Jetzt, mein Herr, oh! jetzt werde ich wieder blind, wie Sie sagen, und ich will lieber in meinem Innern die Herrlichkeiten sehen, an die mich die Erziehung, die Überlieferung, die Geschichte gewöhnt haben; ich will mich immer lieber als Königin sehen, als eine schlechte Mutter für dieses Volk sein, das mich beleidigt und haßt.
Antoinette! Antoinette! rief Ludwig XVI., erschrocken über die plötzliche Blässe, die sich der Wangen der Königin bemächtigte, was nichts andres war, als das Vorzeichen eines heftigen Zornausbruches.
Oh! nein, nein, Sire, ich werde sprechen, erwiderte die Königin.
Nehmen Sie sich in acht, Madame, sagte Ludwig XVI., während er sie durch einen Augenwink aufmerksam machte auf die Anwesenheit des Doktors.
Ei! der Herr weiß alles, was ich sagen werde. Er weiß sogar, was ich denke, fügte sie mit einer bitteren Erinnerung an die Szene bei, die kurz zuvor zwischen ihr und Gilbert stattgefunden hatte; warum sollte ich mir also Zwang anthun? Ueberdies haben wir den Herrn als einen Vertrauten aufgenommen, und so wüßte ich nicht, warum ich etwas fürchten sollte! Ich weiß aber, daß man Sie entführt, fortreißt, Sire. Wohin gehen Sie . . . Ich weiß es nicht; doch Sie gehen dahin, von wo Sie nie mehr zurückkommen werden!
Ei, nein, Madame, ich gehe ganz einfach nach Paris, antwortete Ludwig XVI.
Marie Antoinette zuckte die Achseln.
Halten Sie mich für toll? sagte sie mit einer dumpf gereizten Stimme. Sie gehen nach Paris; gut. Doch wer sagt Ihnen, Paris sei nicht der Schlund, den ich nicht sehe, aber errate? Warum sollte man Sie in dem Tumult, der notwendig um Sie her stattfinden wird, nicht töten? Wer weiß, woher die verlorne Kugel kommt? wer kennt unter hunderttausend drohenden Fäusten eben diejenige, die den Stoß mit dem Dolch geführt hat?
Oh! von dieser Seite fürchten Sie nichts, Madame, sie lieben mich, rief der König.
Oh! sagen Sie mir das nicht, Sie würden mein Mitleid erregen, Sire. Sie lieben Sie und töten und erwürgen und schlachten diejenigen, welche auf Erden in Ihrem Namen, in des Königs Namen handeln! Sie, Sie sind das Ebenbild Gottes! Der Gouverneur der Bastille, das war Ihr Vertreter, das war das Ebenbild des Königs. Glauben Sie mir, ich werde mich nicht der Übertreibung beschuldigen lassen: wenn sie de Launay, diesen braven und treuen Diener getötet haben, so hätten sie, wären Sie an de Launays Statt in ihrer Gewalt gewesen, auch den König getötet, und zwar noch leichter als ihn, denn sie kennen Sie und wissen, daß Sie, statt sich zu verteidigen, ihnen die Seite dargeboten hätten.
Machen Sie Ihren Schluß, sprach der König.
Ich glaube ihn gemacht zu haben, Sire.
Sie werden mich töten?
Ja, Sire.
Nun!
Und meine Kinder? rief die Königin.
Gilbert dachte, es sei Zeit, dazwischen zu treten.
Madame, sagte er, der König wird dergestalt in Paris geachtet, und seine Gegenwart wird dort ein solches Entzücken bereiten, daß ich, wenn ich je etwas befürchte, nichts für den König, sondern für die Fanatiker fürchte, welche imstande sind, sich unter den Füßen seiner Pferde zertreten zu lassen.
Oh, mein Herr, mein Herr! rief Marie Antoinette.
Dieser Zug nach Paris wird ein Triumphzug sein, Madame.
Aber, Sire, Sie antworten nicht.
Weil ich ein wenig der Ansicht des Doktors bin, Madame.
Und nicht wahr, es drängt Sie die Ungeduld, diesen Triumph zu genießen?
Der König hätte in diesem Falle recht, und seine Ungeduld würde beweisen, mit welch tief richtigem Sinn Seine Majestät die Menschen und die Dinge beurteilt. Je mehr Seine Majestät sich beeilen wird, desto größer wird der Triumph sein.
Ja, Sie glauben das, mein Herr?
Ich bin dessen sicher, denn wenn er zögert, kann der König den ganzen Vorteil der Freiwilligkeit verlieren. Bedenken Sie wohl, Madame, man kann anderswo den Anfang mit einer Bitte machen, die dann in den Augen der Pariser die Stellung Seiner Majestät verändern und sie gleichsam einem Befehle würde nachkommen lassen.
Sie sehen, rief die Königin, der Doktor gesteht: man würde Ihnen befehlen. Oh! Sire, sehen Sie doch!
Der Doktor sagte nicht, man habe befohlen, Madame.
Geduld! Geduld! verlieren Sie die Zeit, und die Bitte oder vielmehr der Befehl wird kommen.
Gilbert preßte seine Lippen mit einem Gefühle des Ärgers leicht zusammen, was die Königin, wie schnell sich auch die verdrießliche Miene wieder verzog, dennoch sogleich bemerkte.
Was habe ich gesagt! murmelte sie, ich arme Wahnsinnige, die ich bin, ich habe gegen mich selbst gesprochen.
Worin, Madame? fragte der König.
Darin, daß ich durch einen Aufschub Ihnen den Vorteil entreiße, den ersten freiwilligen Schritt zu thun, und dennoch nicht davon ablassen kann, einen Aufschub von Ihnen zu fordern.
Oh! Madame! Madame! verlangen Sie alles, nur dieses nicht.
Antoinette, sprach der König, den Kopf schüttelnd, Sie haben geschworen, mein Verderben zu bereiten.
Oh! Sire, rief die Königin mit einem Ausdruck des Vorwurfs, der alle Bangigkeiten ihres Herzens offenbarte, können Sie so mit mir sprechen!
Warum versuchen Sie es denn, diese Reise zu verzögern? fragte der König.
Bedenken Sie wohl, Madame, unter solchen Umständen ist der geeignete Zeitpunkt alles. Bedenken Sie wohl das Gewicht der Zeit, die man in solchen Augenblicken unbenutzt verschwinden läßt, während ein ganzes in Wut geratenes Volk voller Ungeduld die Stundenschläge zählt.
Nur nicht heute, Herr Gilbert. Morgen, Sire, oh! morgen, bewilligen Sie mir die Frist bis morgen, und ich schwöre Ihnen, daß ich mich dieser Reise nicht mehr widersetzen will.
Ein verlorner Tag, murmelte der König.
Vierundzwanzig lange Stunden, sagte Gilbert, bedenken Sie, Madame, bedenken Sie.
Sire, es muß sein, sprach flehend die Königin.
Einen Grund wenigstens, versetzte der König.
Nichts als meine Verzweiflung, Sire, nichts als meine Thränen, nichts als mein Flehen.
Weiß man denn, was von jetzt bis morgen geschehen wird? rief der König, ganz verwirrt beim Anblick der Verzweiflung von Marie Antoinette.
Was soll geschehen? fragte die Königin, indem sie Gilbert mit flehender Miene anschaute.
Oh! erwiderte Gilbert, dort noch nichts; eine Hoffnung, und wäre sie auch so schwankend wie eine Wolke, wird genügen, um sie zum Warten bis morgen zu bewegen; aber . . .
Aber hier, nicht wahr? sagte der König.
Ja, Sire.
Die Nationalversammlung?
Gilbert nickte mit dem Kopf.
Die Nationalversammlung, fuhr der König fort, die mit Männern, wie Herr Monnier, Herr Mirabeau, Herr Sieyès imstande ist, mir eine Adresse zu schicken, die mir allen Vorteil meines guten Willens nehmen wird.
Nun wohl! rief die Königin mit einer düstern Wut, desto besser, weil Sie dann abschlagen, weil Sie dann Ihre Königswürde behaupten, weil Sie nicht nach Paris gehen werden, und weil, wenn hier der Krieg auszuhalten ist, wir ihn aushalten werden! weil wir, wenn man hier sterben muß, als erhabene und unangetastete Personen, wie wir sind, als Könige, als Gebieter, als Christen, die auf Gott bauen, von dem Sie Ihre Krone haben, sterben werden.
Als König Ludwig XVI. diese fieberhafte Überspannung der Königin sah, begriff er, daß in diesem Augenblick nichts andres zu thun war, als nachzugeben . . .
Er winkte Gilbert, ging auf Marie Antoinette zu, nahm sie bei der Hand und sagte: Beruhigen Sie sich, Madame, es wird geschehen, wie Sie wünschen. Sie wissen, liebe Gemahlin, daß ich um mein Leben nichts thun möchte, was Ihnen unangenehm wäre, denn ich hege die gerechteste Zuneigung für eine Frau von Ihrem Verdienst, und besonders von Ihrer Tugend.
Ludwig XVl. betonte diese Worte mit einem unaussprechlichen Adel und erhob so mit allen seinen Kräften die so sehr verleumdete Königin, und zwar in den Augen eines Zeugen, der zur Not fähig war, zu berichten, was er gesehen und gehört.
Diese Zartheit rührte Marie Antoinette aufs tiefste; sie drückte ihm die Hand und sprach: Nun, Sire, bis morgen, also nicht später, das ist die äußerste Frist; doch um diese bitte ich Sie inständig, auf den Knieen; morgen, zur Stunde, die Ihnen beliebt, das schwöre ich Ihnen, werden Sie nach Paris abreisen.
Nehmen Sie sich in acht, Madame, der Doktor ist Zeuge, sagte lächelnd der König.
Sire, Sie haben mich nie ein Wort brechen sehen, erwiderte die Königin.
Nein, nur gestehe ich, daß es mich zu erfahren verlangt, warum Sie vierundzwanzig Stunden von mir fordern. Erwarten Sie eine Nachricht von Paris? eine Nachricht von Deutschland? handelt es sich um ein Eintreffen von Truppen, um eine Verstärkung, um eine politische Berechnung?
Sire! Sire! murmelte die Königin im Tone des Vorwurfs. Es handelt sich um nichts.
Dann ist es ein Geheimnis.
Nun wohl, ja; das Geheimnis einer besorgten Frau, nichts andres.
Laune, nicht wahr?
Laune, wenn Sie wollen.
Oberstes Gesetz.
Das ist wahr. Warum ist es nicht in der Politik wie in der Philosophie, warum ist es nicht den Königen erlaubt, ihre politischen Launen als oberste Gesetze aufzustellen?
Man wird dazu kommen, seien Sie unbesorgt. Was mich betrifft, so ist das schon geschehen, sprach der König scherzend. Morgen also.
Morgen, erwiderte trübsinnig die Königin.
Behalten Sie den Doktor, Madame? fragte der König.
Oh! nein, nein, entgegnete die Königin mit einer Art von Lebhaftigkeit, die Gilbert lächelnd machte.
Ich werde ihn also mitnehmen.
Gilbert verbeugte sich zum dritten Male vor Marie Antoinette, die diesmal seinen Gruß nicht mehr als Königin, sondern als Frau erwiderte.
Der König ging auf die Thüre zu, und Gilbert folgte ihm.
Mir scheint, sagte der König, während er die Galerie durchschritt, Sie stehen gut mit der Königin, Herr Gilbert?
Sire, erwiderte der Doktor, das ist eine Gunst, die ich Eurer Majestät zu verdanken habe.
Es lebe der König! riefen die Höflinge, die schon in die Vorzimmer strömten.
Es lebe der König! wiederholte eine Menge von Offizieren und fremden Soldaten, die sich an den Thüren des Palastes drängten.
Diese Zurufe bereiteten dem Herzen Ludwigs XVI. eine Freude, die er bei noch so zahlreichen Gelegenheiten vielleicht noch niemals empfunden hatte.
Die Königin war an dem Fenster sitzen geblieben, wo sie so furchtbare Augenblicke zugebracht hatte. Als sie diese Zurufe der Ergebenheit und Liebe hörte, die den König auf seinem Wege empfingen und in der Ferne unter den Säulenlauben und im dichtesten Schatten verrauschten, sagte sie: Es lebe der König! Oh! ja, es lebe der König! Er soll leben, und zwar dir zum Trotz, schändliches Paris! Abscheulicher Schlund, blutiger Abgrund, dieses Opfer sollst du nicht verschlingen. Ich werde es dir entreißen, ich, mit diesem so schwachen, so magern Arm, der dich in diesem Augenblick bedroht und dem Fluche der Welt und der Rache Gottes überzieht.
Und indem sie so mit einer Heftigkeit des Hasses sprach, welche die wütendsten Freunde der Revolution erschreckt haben würde, streckte die Königin gegen Paris ihren schwachen Arm aus, der gleich einem Schwert, das aus der Scheide springt, unter der Hülle von Silberspitzen glänzte.
Dann rief sie Madame Campan, zu der sie unter ihren Frauen am meisten Vertrauen hatte, schloß sich in ihr Kabinett ein und gab Befehl, jedermann abzuweisen.
Am andern Morgen erhob sich, glänzend und rein, wie am vorhergehenden Tage, eine blendende Sonne und vergoldete den Marmor und den Sand von Versailles.
Die Königin war um fünf Uhr aufgestanden. Sie ließ den König bitten, sogleich nach seinem Erwachen zu ihr zu kommen.
Ein wenig ermüdet durch den Empfang einer Deputation der Nationalversammlung, der bei ihrer Erscheinung am vorhergehenden Tag hatte antworten müssen, – das war der Anfang der Reden, – hatte Ludwig XVI., um sich von seiner Müdigkeit zu erholen, und damit man nicht sagen sollte, die Natur komme bei ihm zu kurz, etwas länger geschlafen.
Kaum hatte man ihn angekleidet, als die Bitte der Königin, während er seinen Degen nahm, zu ihm gelangte:
Er faltete leicht die Stirne und sagte: Wie, die Königin ist schon aufgestanden? Ist sie noch krank?
Nein, Sire.
Und was will die Königin so frühzeitig von mir?
Ihre Majestät hat nichts geäußert.
Der König nahm ein erstes Frühstück und ging zu Marie Antoinette.
Er fand die Königin ganz angekleidet wie für einen feierlichen Empfang, schön, bleich, Ehrfurcht gebietend. Sie empfing ihren Gemahl mit jenem kalten Lächeln, das wie eine Wintersonne auf den Wangen der Königin glänzte, wenn sie an großen Empfangstagen des Hofes der Menge einen Strahl zuwerfen mußte.
Der König begriff die Traurigkeit dieses Lächelns und dieses Blickes nicht. Er war nur über eines besorgt, nämlich über den wahrscheinlichen Widerstand, den Marie Antoinette in Beziehung auf den am Tage vorher gefaßten Plan leisten würde.
Wieder eine neue Laune, dachte er.
Darum faltete er die Stirne.
Die Königin verfehlte nicht, durch die ersten Worte, die sie vernehmen ließ, diese Meinung bei ihm zu verstärken.
Sire, sagte sie, ich habe seit gestern wohl überlegt.
Ah! da kommt es, dachte der König.
Ich bitte, Sire, schicken Sie alles weg, was nicht zum Vertrautesten gehört.
Der König gab murrend seinen Hofleuten Befehl, sich zu entfernen.
Eine einzige von den Frauen der Königin blieb bei Ihren Majestäten: das war Madame Campan.
Da legte die Königin ihre schönen Hände auf den Arm des Königs und sprach:
Warum sind Sie schon angekleidet? das ist schlimm.
Wie, schlimm! warum?
Ließ ich Sie nicht bitten, sich nicht anzukleiden, ehe Sie hieher kämen? Ich sehe Sie mit der Weste und dem Degen, während ich hoffte, Sie würden im Schlafrock kommen.
Der König schaute sie ganz erstaunt an.
Diese Laune der Königin erweckte in ihm eine Menge seltsamer Gedanken, deren Neuheit gerade den Eindruck des Sonderbaren noch verstärkte.
Was haben Sie, sagte er zur Königin, beabsichtigen Sie das, worüber wir gestern miteinander übereingekommen, zu verzögern oder zu verhindern?
Keineswegs, Sire.
Ich bitte Sie, nur keinen Spott mehr über einen Gegenstand von solchem Ernst! Ich muß, ich will nach Paris gehen, ich kann mich nicht mehr hievon frei machen. Mein Hausstaat ist bestellt; die Personen, die mich begleiten werden, sind schon seit gestern bezeichnet.
Sire, ich beabsichtige nichts, doch . . .
Bedenken Sie, sprach der König, der sich stufenweise belebte, um sich Mut zu geben, bedenken Sie, daß die Nachricht von meiner Reise nach Paris schon den Parisern hat zukommen müssen, daß sie sich vorbereitet haben, daß sie mich erwarten; daß die sehr günstige Stimmung, die nach der Vorhersagung diese Reise in den Geistern erregt hat, sich in eine unheilvolle Feindseligkeit verwandeln könnte. Bedenken Sie endlich . . .
Aber, Sire, ich bestreite Ihnen nicht, was Sie mir zu sagen mich beehren, ich habe mich gestern gefügt und bin auch heute ergeben.
Warum dann diese Umschweife, Madame? Warum dann diese Fragen über meine Kleidung, über meine Pläne?
Ueber die Kleidung, jawohl! erwiderte die Königin, indem sie abermals jenes Lächeln versuchte, das durch sein fortwährendes Verschwinden immer düsterer wurde. Ich wünschte, Sie würden Ihr Kleid ablegen.
Scheint es Ihnen nicht anständig? Es ist ein seidenes Kleid von veilchenblauer Farbe. Die Pariser sind gewohnt, mich so gekleidet zu sehen; sie liebten bei mir diese Farbe, auf der überdies ein blaues Band gut steht. Sie haben es mir oft selbst gesagt.
Sire, ich habe keine Einwendung gegen die Farbe Ihres Kleides zu machen.
Gegen was denn?
Gegen das Futter.
Wahrhaftig, Sie machen mich neugierig mit diesem ewigen Lächeln . . . das Futter . . . welcher Scherz . . .
Ah! ich scherze nicht.
Gut, nun betasten Sie meine Weste, mißfällt sie Ihnen auch? Taffet, weiß und Silber, eine Garnitur, die Sie mir selbst gestickt haben, eine von meinen Lieblingswesten.
Ich habe auch nichts gegen die Weste.
Wie sonderbar sind Sie: ist es der Busenstreif, ist es das Hemd von gesticktem Batist, was Ihnen mißfällt? Ei! muß ich mich nicht putzen, um meine gute Stadt Paris zu besuchen?
Ein bitteres Lächeln faltete die Lippen der Königin, ihre Unterlippe besonders, die man ihr als Österreicherin so sehr zum Vorwurf machte, verdickte sich, als ob sie von allen Giften des Hasses und des Zornes geschwollen wäre.
Nein, Sire, sagte sie, ich tadle nicht Ihre schöne Toilette, es ist immer das Futter, immer, immer.
Das Futter meines gestickten Hemdes! ah! erklären Sie sich endlich!
Nun wohl, ich erkläre mich. Der König, gehaßt, überlästig, der sich in die Mitte von siebenmalhunderttausend triumph- und revolutionstrunkenen Parisern werfen will, der König ist kein Fürst des Mittelalters; und dennoch müßte er heute seinen Einzug in Paris in einem guten eisernen Panzer, unter einem Helm von gutem Mailänder Stahl halten; dieser Fürst müßte es so einrichten, daß keine Kugel, kein Pfeil, kein Stein, kein Messer den Weg zu seinem Fleische finden könnte.
Das ist im Grunde wahr, sagte Ludwig XVI. nachdenkend; doch, meine Freundin, da ich weder Karl VIII., noch Franz I., noch sogar Heinrich IV. heiße, da die Monarchie von heute nackt ist unter dem Sammet und der Seide, so werde ich nackt unter meinem seidenen Kleide gehen, ja, ich werde mit einem Zielpunkte gehen, der Kugeln lenken kann. Ich habe den Ordensstern auf dem Herzen.
Die Königin gab einen erstickten Seufzer von sich.
Sire, sagte sie, wir fangen an uns zu verstehen. Sie werden sehen, Ihre Frau scherzt nicht.
Sie machte Madame Campan, die im Hintergrunde des Zimmers geblieben war, ein Zeichen, und diese nahm aus einer Schublade einen Gegenstand von breiter, flacher, länglicher Form, der in ein seidenes Tuch gehüllt war.
Sire, sagte die Königin, das Herz des Königs gehört vor allem Frankreich, das ist wahr, doch ich glaube auch, daß es seiner Frau und seinen Kindern gehört. Ich, für meinen Teil, will nicht, daß dieses Herz den feindlichen Kugeln ausgesetzt sei. Ich habe meine Maßregeln getroffen, um meinen Gemahl, meinen König, den Vater meiner Kinder vor allem zu schützen.
Zu gleicher Zeit nahm sie aus der seidenen Umhüllung ein Bruststück von feinen, stählernen, mit einer so wunderbaren Kunst gekreuzten Panzerringelchen, daß man hätte glauben sollen, es sei ein arabischer Stoff, dergestalt war durch den Einschlag der Mohr nachgeahmt, so viel Geschmeidigkeit und Elasticität fand sich im Gewebe und Spiel der Oberflächen.
Was ist das? sagte der König.
Betrachten Sie es, Sire.
Ein Bruststück wie mir scheint.
Ja, Sire, ein Bruststück, das bis an den Hals schließt, mit einem kleinen Kragen, der, wie Sie sehen, den Kragen der Weste zu verdoppeln bestimmt ist.
Der König nahm die Unterweste in seine Hände und untersuchte sie neugierig.
Als die Königin diese wohlwollende Aufmerksamkeit sah, war sie erfüllt von Freude.
Der König schien ihr mit Wonne jede der Maschen dieses wunderbaren Netzes zu zählen, das mit der Dehnbarkeit einer wollenen Strickerei unter seinen Fingern wogte.
Das ist wunderbarer Stahl, sagte er, und eine herrliche Arbeit.
Nicht wahr?
Ich weiß wahrhaftig nicht, wo Sie sich das haben verschaffen können.
Ich habe es gestern von einem Manne gekauft, der es mir seit langer Zeit für den Fall, daß Sie in den Krieg ziehen würden, angeboten.
Das ist wunderbar! wunderbar! sagte der König, der die Sache als Künstler prüfte.
Und das muß Ihnen stehen, Sire, wie eine Weste von Ihrem Schneider.
Oh! glauben Sie?
Probieren Sie es.
Der König sprach nicht ein Wort; er mißtraute selbst seinem veilchenblauen Kleid.
Die Königin zitterte vor Freude; sie half Ludwig XVI. die Orden ablegen und Madame Campan das übrige.
Der König legte selbst seinen Degen ab. Wer in diesem Augenblick das Antlitz der Königin betrachtet hätte, würde es von jener Klarheit des Triumphes erleuchtet gesehen haben, welche die höchste Glückseligkeit widerstrahlt. Der König ließ sich seine Halsbinde ausziehen, und die zarten Hände der Königin steckten den stählernen Kragen darunter.
Dann befestigte Marie Antoinette selbst die Spangen dieses Bruststücks, das, um den Druck des Stahls auf das Fleisch zu schwächen, mit seinem Büffelleder gefüttert, auf eine bewunderungswürdige Art an die Körperform sich schmiegte.
Dieses Bruststück ging tiefer herab, als ein Küraß, und beschützte den ganzen Körper.
Waren Weste und Hemd darüber angezogen, so bedeckten sie es völlig. Es vermehrte nicht um eine halbe Linie die Dicke des Leibes und gestattete, ohne irgend eine Beengung zu verursachen, jede Bewegung.
Ist es sehr schwer? fragte die Königin.
Nein.
Sehen Sie doch meinen König an! welch ein Wunder, nicht wahr? sagte die Königin händeklatschend und gegen Madame Campan gewendet, welche die Knöpfe an den Aermeln des Königs vollends zumachte.
Madame Campan äußerte ihre Freude ebenso naiv, als die Königin.
Ich habe meinen König gerettet! rief Marie Antoinette. Versuchen Sie diesen unsichtbaren Panzer, legen Sie ihn auf einen Tisch, versuchen Sie es, ihn mit einem Messer zu durchschneiden, versuchen Sie es, ihn mit einer Kugel zu durchbohren, versuchen Sie es! versuchen Sie es!
Oh! machte der König mit einer Miene des Zweifels.
Versuchen Sie es, wiederholte Marie Antoinette in ihrer Begeisterung.
Ich würde es aus Neugierde gern thun, versetzte der König.
Thun Sie es nicht, es ist unnötig, Sire.
Wie, es ist unnötig, daß ich die Vortrefflichkeit Ihres Wunders probiere!
Ah! so sind die Menschen! denken Sie, ich hätte dem Zeugnis eines andern, eines Gleichgültigen Glauben geschenkt, da es sich um das Leben meines Gatten, um das Heil Frankreichs handelt?
Es scheint mir doch, das haben Sie gethan, Antoinette, Sie haben einem andern Glauben geschenkt.
Sie schüttelte den Kopf mit einer reizenden Hartnäckigkeit.
Fragen Sie, sagte sie auf Madame Campan deutend, fragen Sie diese gute Campan, was wir heute morgen gethan haben.
Mein Gott! was denn? fragte der König im höchsten Maße neugierig.
Heute morgen, was sage ich, heute nacht, haben wir, wie zwei Tolle, alles Dienstpersonal entfernt und uns in dessen Zimmer, das ganz hinten im Bau der Pagen liegt, eingeschlossen. Wir haben uns versichert, daß uns niemand überraschen konnte, ehe wir unsern Plan ins Werk gesetzt.
Campan hielt den Sack, in dem dieser Brustharnisch verschlossen war, ich, ich trug ein langes deutsches Jagdmesser von meinem Vater, diese unfehlbare Klinge, die so viele Wildschweine tötete.
Campan schloß drei Thüren und verpolsterte die dritte; wir befestigten den Brustharnisch an der Wand, auf der Gliederpuppe, die zum Ausspannen meiner Kleider dient, und ich versetzte mit einer festen Hand, das schwöre ich Ihnen, dem Küraß einen Messerstich; die Klinge bog sich, sprang aus meinen Händen und fuhr zu unserm großen Schrecken in den Boden.
Teufel! rief der König,
Warten Sie doch, sage ich Ihnen. Campan hob die Klinge auf und sprach zu mir: Sie sind nicht stark genug, Madame, und Ihre Hand zitterte vielleicht; ich, ich werde kräftiger sein. Sie werden sehen. Sie ergriff das Messer und gab der an der Wand befestigten Gliederpuppe damit einen so mächtigen Stoß, daß meine arme deutsche Klinge auf den Maschen völlig abbrach. Sehen Sie, hier sind die zwei Stücke, Sire. Ich will Ihnen aus dem, was übrig ist, einen Dolch machen lassen.
Oh! das ist fabelhaft, rief der König; und keine Bresche?
Eine Schramme auf dem obersten Kettenglied, und es sind, mit Ihrer Erlaubnis, drei übereinander.
Ich möchte das sehen.
Sie werden es sehen. Und die Königin entkleidete den König mit einer wunderbaren Behendigkeit, um ihn schneller ihre Ideen und ihre Großmut bewundern zu lassen.
Hier ist eine etwas verdorbene Stelle, wie mir scheint, sagte der König, indem er mit dem Finger auf eine leichte, an der Oberfläche befindliche etwa einzöllige Niederdrückung deutete.
Das ist von der Pistolenkugel, Sire.
Wie, Sie haben auch mit der Pistole geschossen?
Ich zeige Ihnen die abgeplattete, noch schwarze Kugel. Sehen Sie; glauben Sie nun, daß Ihr Leben in Sicherheit ist?
Sie sind ein Schutzengel, sprach der König, während er langsam das Bruststück aufhakte, um die Spur des Messerstichs und der Kugel besser zu betrachten.
Beurteilen Sie meine Angst, teurer König, als ich den Pistolenschuß auf den Panzer thun mußte, sagte Marie Antoinette. Ach! es war noch nichts, den abscheulichen Lärm zu machen, vor dem ich so sehr Angst hatte; aber, indem ich auf das für Ihren Schutz bestimmte Bruststück schoß, kam es mir vor, als schösse ich auf Sie selbst; ich hatte bange, Sie zu verwunden, ich befürchtete ein Loch zu sehen, und dann waren meine Arbeit, meine Bemühungen, meine Hoffnung auf immer ruiniert.
Teure Antoinette, sagte Ludwig XVI., wieviel Dank bin ich Ihnen schuldig!
Und er legte den Brustharnisch auf den Tisch.
Ei! was machen Sie denn? fragte die Königin.
Und sie nahm das Bruststück und reichte es zum zweiten Mal dem König.
Doch er erwiderte mit einem Lächeln voll Anmut und Adel: Nein ich danke.
Sie schlagen es aus? rief die Königin.
Ich schlage es aus.
Oh! bedenken Sie doch, Sire.
Sire . . . flehte Madame Campan.
Es ist die Rettung; es ist das Leben.
Genug! genug! rief der König.
Oh! Sie weigern sich, aber sie werden Sie töten!
Meine Liebe, wenn die Edelleute im achtzehnten Jahrhundert im Felde sind, so sind sie es mit einem Kleide von Tuch, mit Weste und Hemd, das ist für die Kugeln; stellen sie sich auf den Boden eines Ehrenkampfes, so behalten sie nur das Hemd, das ist genug für den Degen. Ich, ich bin der erste Edelmann meines Reiches, ich werde weder mehr noch weniger thun, als meine Freunde. Ueberdies: da wo sie Tuch nehmen, habe ich allein das Recht, Seide zu tragen. Ich danke, meine liebe Frau, ich danke, meine gute Königin, ich danke.
Ah! rief die Königin, zugleich in Verzweiflung und entzückt, warum hört ihn seine Armee nicht?
Der König aber hatte sich ruhig vollends angekleidet, ohne daß er den Akt des Heldenmuts, den er vollbracht, nur zu begreifen schien.
Kann denn eine Monarchie verloren sein, die in solchen Augenblicken ihren Stolz findet? murmelte die Königin.
Als Ludwig XVI. von der Königin wegging, fand er sich unmittelbar umgeben von allen Offizieren und Personen seines Hauses, welche bestimmt waren, ihn nach Paris zu begleiten.
Es waren die Herren von Beauvau, von Villeroy, von Nesle und von Estaing.
Gilbert mischte sich unter die Menge und stand voller Erwartung, daß ihn Ludwig XVI. bemerke, und wäre es nur, um ihm einen Blick zuzuwerfen.
Es war sichtbar, daß alle diese Menschen im Zweifel schwebten, und daß man nicht an den Bestand dieses Entschlusses glauben konnte.
Nach dem Frühstück, meine Herren, brechen wir auf, sagte der König.
Dann, als er Gilbert erblickte, fuhr er fort:
Ah! Sie sind da, Doktor . . . sehr gut. Sie wissen, daß ich Sie mitnehme.
Zu Ihren Befehlen, Sire.
Der König ging in sein Kabinett, wo er zwei Stunden arbeitete.
Er hörte sodann mit seinem ganzen Hofstaate die Messe, und gegen neun Uhr setzte er sich zu Tisch.
Das Mahl fand mit dem gewöhnlichen Zeremoniell statt; nur wollte die Königin, die man seit der Messe mit geschwollenen, roten Augen sah, ohne im geringsten daran teil zu nehmen, dennoch dem Mahle des Königs beiwohnen, um länger in seiner Nähe zu sein.
Die Königin hatte ihre zwei Kinder mitgebracht, welche beide, ohne Zweifel schon aufgeregt durch die mütterlichen Ratschläge, ihre Augen ängstlich vom Gesicht ihres Vaters auf der Menge der Offiziere und Garden umherlaufen ließen.
Überdies wischten die Kinder von Zeit zu Zeit, auf Befehl ihrer Mutter, eine Thräne ab, welche an ihren Augenwimpern hervorbrach, und dieses Schauspiel erfüllte die einen mit Mitleid, die andern mit Zorn, die ganze Versammlung mit Unbehagen.
Der König aß stoisch. Er sprach wiederholt mit Gilbert, ohne ihn anzuschauen; er sprach beinahe beständig mit der Königin und immer mit einer tiefen Zuneigung.
Endlich gab er seinen Kapitänen Verhaltungsregeln.
Er beendigte eben sein Mahl, als man ihm meldete, eine dicht gescharte Menge Menschen zu Fuß komme von Paris, und erscheine am Ende der großen Allee, welche auf den Paradeplatz ausmündet.
Auf der Stelle stürzten die Offiziere und Garden aus dem Saal; der König erhob das Haupt und schaute Gilbert an; da er aber sah, daß Gilbert lächelte, so aß er ruhig weiter.
Die Königin erbleichte, neigte sich gegen Herrn von Beauvau und bat ihn, sich zu erkundigen.
Herr von Beauvau lief hastig hinaus.
Die Königin trat an ein Fenster.
Fünf Minuten nachher kam Herr von Beauvau zurück.
Sire, sagte er, es sind die Nationalgarden von Paris, welche sich, da sich gestern in der Hauptstadt das Gerücht von der Absicht Eurer Majestät, die Pariser zu besuchen, verbreitete, zu etwa zehntausend vereinigt haben, um Ihnen entgegenzukommen. Als sie aber, indem sie Ihnen entgegengingen, sahen, daß Eure Majestät zögerte, marschierten sie bis Versailles.
Welche Absichten scheinen sie zu haben? fragte der König.
Die besten der Welt, antwortete Herr von Beauvau.
Gleichviel! versetzte die Königin, schließen Sie die Gitter.
Hüten Sie sich davor, entgegnete der König, es ist genug, wenn die Thüren des Palastes verschlossen bleiben.
Die Königin faltete die Stirne und warf Gilbert einen Blick zu.
Gilbert, erwartete diesen Blick, denn die Hälfte seiner Vorhersagung hatte sich schon verwirklicht. Er hatte die Ankunft von zwanzigtausend Mann versprochen; es waren schon zehntausend da.
Der König wandte sich gegen Herrn Beauvau um und sagte zu ihm: Seien Sie dafür besorgt, daß man diesen braven Leuten Erfrischungen giebt.
Herr von Beauvau ging zum zweiten Mal hinab, überbrachte den Schaffnern die Befehle des Königs und kam dann wieder herauf.
Nun? fragte die Königin.
Sire, Ihre Pariser sind in einem großen Streit mit den Herren von der Garde begriffen.
Wie! rief der König, es findet ein Streit statt?
Oh! ein Streit der reinen Höflichkeit. Da sie erfahren haben, der König breche erst in zwei Stunden auf, so wollen sie den Abgang des Königs abwarten und hinter dem Wagen Seiner Majestät marschieren.
Aber sie sind zu Fuß, denke ich? fragte die Königin.
Ja, Madame.
Wohl! der König hat Pferde an seinem Wagen, und der König fährt rasch, sehr rasch. Sie wissen, Herr von Beauvau, daß der König sehr rasch zu fahren pflegt.
Diese Worte so betont bedeuteten:
Binden Sie Flügel an den Wagen Seiner Majestät.
Der König winkte mit der Hand, daß man das Gespräch abbreche.
Ich werde im Schritt fahren, sagte er.
Die Königin stieß einen Seufzer aus, der einem Schrei des Zornes glich.
Es ist nicht billig, fügte Ludwig XVI. ruhig bei, daß ich diese braven Leute, die sich, um mir Ehre anzuthun, Mühe gemacht haben, laufen lasse; ich werde im Schritt fahren, und zwar im kurzen Schritt, damit mir alle Welt folgen kann.
Die Versammelten bezeigten ihre Verwunderung; doch zu gleicher Zeit sah man auf mehreren Gesichtern den Ausdruck der Mißbilligung, ganz besonders deutlich hervortretend in den Zügen der Königin, die in so großer Seelengüte nichts als Schwäche sehen wollte.
Ein Fenster öffnete sich.
Die Königin wandte sich erstaunt um: es war Gilbert, der in seiner Eigenschaft als Arzt von seinem Rechte Gebrauch machte, ein Fenster öffnen zu lassen, um die im Saale durch den Geruch der Speisen und das Atmen von mehr als hundert Personen verdichtete Luft zu erneuern.
Der Doktor stellte sich hinter die Vorhänge des geöffneten Fensters, und durch das offene Fenster drangen die Stimmen der im Hofe versammelten Menge ein.
Was ist das? fragte der König.
Sire, antwortete Gilbert, es sind die Nationalgarden, die es unter den Sonnenstrahlen auf dem Pflaster sehr heiß haben müssen.
Warum ladet man sie nicht ein, mit dem König zu frühstücken? sagte leise zur Königin einer von ihren Lieblingsoffizieren.
Man soll sie in den Schatten führen, in den Marmorhof, unter die Vorplätze, kurz überall hin, wo ein wenig Kühle ist, sprach der König.
Zehntausend Menschen unter die Vorplätze? sagte die Königin.
Nach allen Seiten hin verteilt, werden sie Raum haben, sprach der König.
Überall verteilt? versetzte Marie Antoinette, aber Sire, Sie sind im Begriff, ihnen den Weg zu Ihrem Schlafzimmer zu weisen.
Eine entsetzliche Prophezeiung, die sich in Versailles selbst noch vor Ablauf dreier Monate verwirklichen sollte.
Sie haben viele Kinder bei sich, Madame, bemerkte Gilbert mit sanftem Tone.
Kinder? fragte die Königin.
Ja, Madame, viele von ihnen haben ihre Kinder wie auf einen Spaziergang mitgenommen. Die Kinder sind als kleine Nationalgarden gekleidet, so groß ist die Begeisterung für das neue Institut.
Die Königin öffnete den Mund, neigte aber beinahe in demselben Augenblick das Haupt. Sie hatte Lust gehabt, ein gutes Wort zu sagen, der Stolz und der Haß hielten sie wieder zurück.
Gilbert schaute sie aufmerksam an.
Ei! rief der König, diese armen Kinder! . . . wenn man Kinder mit sich führt, hat man nicht Lust, einem Familienvater ein Leid anzuthun; ein Grund mehr, die armen Kleinen in den Schatten zu bringen. Führt sie herein; führt sie herein!
Gilbert schüttelte sachte den Kopf und schien zur Königin, die geschwiegen hatte, zu sagen:
Madame, so hätten Sie sprechen sollen, ich bot Ihnen die Gelegenheit dazu. Das Wort wäre wiederholt worden, und Sie hätten dabei auf zwei Jahre die Liebe des Volkes gewonnen.
Die Königin verstand diese stumme Sprache Gilberts, und die Röte stieg ihr zur Stirne.
Sie fühlte ihren Fehler und entschuldigte sich sogleich durch ein Gefühl des Hochmuts und des Widerstandes, das sie als Antwort an Gilbert zurücksandte.
Mittlerweile entledigte sich Herr von Beauvau des ihm vom König erteilten Auftrags.
Da hörte man von der bewaffneten Menge, während man sie auf Befehl des Königs in das Innere des Palastes zuließ, laute Freudenrufe und Segnungen.
Die Zurufe, die Glückwünsche, die Vivats stiegen in Wirbeln bis zu dem königlichen Ehepaar empor und beruhigten es über die Stimmung von dem so sehr gefürchteten Paris.
Sire, fragte Herr von Beauvau, welchen Befehl giebt Eure Majestät in Betreff Ihres Gefolges?
Wie steht es mit dem Streite der Nationalgarden mit meinen Offizieren?
Oh! Sire, alles verdunstet, verschwunden; die braven Leute sind so glücklich, daß sie nun sagen: Wir werden gehen, wohin man uns stellt; der König gehört so gut uns, als den andern; wohin er gehen mag, wird er uns gehören.
Der König schaute Marie Antoinette an. Marie Antoinette zog mit einem höhnischen Lächeln ihre hoffärtigen Lippen zusammen.
Sagen Sie den Nationalgarden, sprach Ludwig XVI., sie mögen ihre Stellung nehmen nach ihrem Belieben.
Eure Majestät wird nicht vergessen, daß es ein unveräußerliches Recht Ihrer Garde-du-corps ist, den Wagen zu umgeben, sprach die Königin.
Als die Offiziere den König ein wenig unschlüssig sahen, traten sie hinzu, um die Königin zu unterstützen.
Das ist im Grunde richtig, versetzte der König. Nun! man wird sehen.
Herr von Beauvau und Herr von Villeroy gingen ab, um ihre Stellen einzunehmen und ihre Befehle zu geben.
Es schlug zehn Uhr in Versailles.
Auf, sagte der König, ich werde morgen arbeiten. Diese braven Leute sollen nicht warten.
Der König erhob sich.
Marie Antoinette öffnete die Arme und umschlang den König. Die Kinder hingen sich weinend an den Hals ihres Vaters. Gerührt, bemühte sich der König, sich sachte ihren Umarmungen zu entziehen: er wollte die Gemütsbewegung verbergen, die wohl bald überströmt wäre.
Die Königin hielt alle Offiziere zurück, faßte diesen beim Arm, jenen bei seinem Degen.
Alle legten die Hand an ihr Herz und an ihren Degen.
Die Königin lächelte, um zu danken.
Gilbert war unter den Letzten.
Mein Herr, sprach die Königin zu ihm. Sie haben dem König diese Fahrt nach Paris geraten; Sie haben den König bestimmt, trotz meines Flehens. Bedenken Sie, mein Herr, daß Sie eine furchtbare Verantwortlichkeit vor der Gattin und vor der Mutter übernommen haben!
Ich weiß es, Madame, antwortete Gilbert kalt.
Und Sie werden mir den König unversehrt zurückbringen! sprach die Königin mit einer feierlichen Gebärde.
Ja, Madame.
Bedenken Sie, daß Sie mir mit Ihrem Kopf für ihn haften!
Gilbert verbeugte sich.
Bedenken Sie, mit Ihrem Kopfe! wiederholte Marie Antoinette mit der Drohung und der unbarmherzigen Autorität einer absoluten Königin.
Mit meinem Kopfe, sprach der Doktor, sich verbeugend; ja, Madame, und dieses Pfand würde ich als einen Leibbürgen von geringem Werte betrachten, wenn ich den König bedroht glaubte; doch ich habe es gesagt, Madame, heute führe ich Seine Majestät zum Triumph.
Ich will alle Stunden Nachricht haben, fügte die Königin bei.
Sie werden sie erhalten, Madame, ich schwöre es Ihnen.
Gehen Sie nun, mein Herr, ich höre die Trommeln; der König begiebt sich auf den Weg.
Gilbert verbeugte sich und begegnete, auf der großen Treppe verschwindend, einem Adjutanten von den Haustruppen des Königs, der ihn auf Befehl Seiner Majestät suchte. Man ließ ihn in einen Wagen steigen, der Herrn von Beauvau, dem Oberstzeremonienmeister gehörte, denn man wollte ihn nicht in einer königlichen Kutsche fahren lassen, da er keine Adelsprobe für sich hatte.
Gilbert lächelte, als er sich allein in diesem mit Wappen geschmückten Wagen sah. Herr von Beauvau ritt nämlich, und tummelte sein Pferd neben dem königlichen Kutschenschlag.
Dann kam ihm der Gedanke, es sei lächerlich von ihm, so einen Wagen einzunehmen, der Wappen und Krone habe.
Dieses Bedenken währte noch fort, als er unter der Menge der Nationalgarden, die den Wagen umschloß, von Leuten, die sich neugierig vorbeugten, folgende Worte flüstern hörte:
Ah! dieser da ist der Prinz von Beauvau!
Ei! sagte ein Kamerad, du täuschest dich.
Doch, doch, da am Wagen das Wappen des Prinzen ist.
Das Wappen! das Wappen! Ich sage dir, daß das nichts zur Sache thut.
Bei Gott! das Wappen, was beweist das?
Das beweist, daß, wenn das Wappen des Herrn von Beauvau am Wagen ist, Herr von Beauvau selbst darin sein muß.
Herr von Beauvau, ist das ein Patriot? fragte eine Frau.
Ah! jawohl! versetzte ein Nationalgardist.
Gilbert lächelte abermals.
Aber ich sage dir, wiederholte der erste Widersprecher, ich sage dir, daß es nicht der Prinz ist; der Prinz ist fett, dieser ist mager. Der Prinz trägt den Rock eines Kommandanten der Garden, dieser hat einen schwarzen Rock; es ist der Intendant.
Ein nicht sehr freundliches Gemurmel empfing die Person des durch diesen wenig schmeichelhaften Titel entstellten Gilbert.
Ei, Mord und Teufel! rief eine dicke Stimme, bei deren Ton Gilbert bebte, die Stimme eines Mannes, der sich mit seinen Ellenbogen und seinen Fäusten bis zum Wagen Bahn brach; nein, es ist weder Herr von Beauvau, noch sein Intendant, es ist ein braver trefflicher Patriot, und sogar der trefflichste der Patrioten . . . Ei! Herr Gilbert, was machen Sie denn im Wagen eines Prinzen?
Ah! Sie sind es, Vater Billot! rief der Doktor.
Bei Gott! ich habe mich wohl gehütet, die Gelegenheit zu versäumen, antwortete der Pächter.
Und Pitou? fragte Gilbert.
Oh! er ist nicht fern. Hollah! Pitou, komm herbei, vorwärts.
Auf diese Einladung schlüpfte Pitou, mittelst eines kräftigen Spiels der Schultern, bis in die Nähe von Billot und verbeugte sich mit Bewunderung vor Gilbert.
Guten Morgen, Herr Gilbert, sagte er.
Guten Morgen, Pitou; guten Morgen, mein Freund.
Gilbert! Gilbert! wer ist das? fragte die Menge.
So ist es mit dem Ruhm! dachte der Doktor. Wohl bekannt in Villers-Cotterêts, ja; doch in Paris . . . es lebe die Volkstümlichkeit!
Er stieg aus dem Wagen, der nun im Schritt fuhr, und ging, sich auf den Arm von Billot stützend, zu Fuß unter der Menge weiter.
Er erzählte sodann dem Pächter mit wenigen Worten seinen Besuch in Versailles und sprach von der guten Stimmung des Königs und der königlichen Familie. Er machte in einigen Minuten eine solche Propaganda von Royalismus in dieser Gruppe, daß diese, für die guten Eindrücke noch leicht empfänglichen, braven Leute, naiv und entzückt, ein langes: Es lebe der König! ertönen ließen, das, verstärkt durch die vorangehenden Reihen, den König in seinem Wagen betäubte.
Ich will den König sehen, sagte Billot elektrisiert; ich muß ihn von nahe sehen. Ich habe den Weg deshalb gemacht. Ich will ihn nach seinem Gesicht beurteilen. Das Gesicht eines ehrlichen Mannes, das errät sich. Nähern wir uns, Herr Gilbert, wenn Sie wollen!
Warten Sie, das wird uns leicht sein, sagte Gilbert, denn ich sehe den Adjutanten des Herrn von Beauvau.
Gilbert rief ihn an.
Suchen Sie nicht den Doktor Gilbert, mein Herr? fragte er.
Ja, antwortete der Adjutant.
Ich bin es.
Gut. Herr von Beauvau läßt Sie auf Befehl des Königs ersuchen.
Diese schallenden Worte machten, daß sich für Gilbert die Augen der Menschenmenge und ihre Reihen öffneten; Gilbert schlüpfte, gefolgt von Billot und Pitou, hinter dem Reiter durch, während dieser wiederholt ausrief:
Geben Sie Raum, meine Herren, geben Sie Raum! Platz im Namen des Königs, meine Herren, Platz!
Gilbert kam bald an den Schlag des königlichen Wagens, der im Ochsenschritte fuhr, der Ochsen aus der merovingischen Zeit.
So antreibend, so angetrieben, aber immer dem Adjutanten des Herrn von Beauvau folgend, kamen Gilbert, Billot und Pitou endlich zu dem Wagen, in dem der König, begleitet von den Herren von Estaing und Villequier, unter einer wachsenden Menschenmasse langsam vorrückte.
Ein seltsames, unerhörtes, unbekanntes Schauspiel, denn es fand zum ersten Male statt. Alle diese Nationalgarden vom Lande, improvisierte Soldaten, liefen mit Freudenschreien auf dem Wege des Königs herbei, begrüßten ihn mit ihren Glückwünschen, suchten sich sehen zu lassen und nahmen in dem Zuge ihre Reihe ein und begleiteten die Reise des Königs.
Ludwig XVI. erblickte Gilbert, auf den Arm von Billot gestützt; hinter ihm marschierte Pitou, beständig seinen großen Säbel schleppend.
Ah! Doktor, das schöne Wetter und das schöne Volk!
Sie sehen, Sire, erwiderte Gilbert.
Und er neigte sich gegen den König und fügte bei:
Was hatte ich Eurer Majestät versprochen?
Ja, mein Herr, ja, und Sie haben auf eine würdige Art Ihr Wort gehalten.
Der König erhob das Haupt und sprach mit der Absicht, gehört zu werden: Wir marschieren sehr langsam, doch mir scheint, wir marschieren immer noch zu schnell für alles das, was es heute zu sehen giebt.
Sire, sagte Herr von Beauvau, Sie machen in dem Schritt, den Eure Majestät fährt, eine Meile in drei Stunden. Es ist schwierig, langsamer zu fahren.
Die Pferde hielten in der That jeden Augenblick an; es wurden Reden und Erwiderungen ausgetauscht; die Nationalgarden fraternisierten – man hatte das Wort gefunden – mit den Gardes-du-corps Seiner Majestät.
Ah! sagte Gilbert, der dieses seltsame Schauspiel als Philosoph betrachtete, zu sich selbst, wenn man mit den Gardes-du-corps fraternisiert, so ist dies deswegen, weil sie, ehe sie Freunde wurden. Feinde gewesen sind.
Sagen Sie uns doch, Herr Gilbert, sprach Billot halblaut, ich habe den König gut angeschaut, ich habe ihm wohl zugehört. Nun! meiner Ansicht nach ist der König ein braver Mann.
In seinem Enthusiasmus betonte Billot diese letzten Worte so, daß der König und der Generalstab sie hörten.
Der Generalstab lachte.
Der König lächelte, nickte mit dem Kopf und sagte:
Das ist ein Lob, das mir gefällt.
Diese Worte wurden laut genug gesprochen, daß Billot sie hörte.
Oh! Sie haben recht, Sire, denn ich spende es nicht jedermann, erwiderte Billot, der mit seinem König geradeswegs ins Gespräch eintrat, wie Michaud mit Heinrich IV.
Das schmeichelt mir um so mehr, sagte der König verlegen, denn er wußte nicht, wie er es machten sollte, um freundlich sprechend seine Königswürde und doch auch als guten Patrioten sich zu behaupten.
Ach! der arme Fürst war noch nicht gewöhnt, der König der Franzosen zu heißen.
Er glaubte noch der König von Frankreich zu sein.
In seinem freudigen Entzücken gab sich Billot nicht die Mühe, darüber nachzudenken, ob Ludwig vom philosophischen Standpunkt aus den Königstitel niedergelegt habe, um den Titel eines Menschen anzunehmen.
Billot, der fühlte, wie sehr sich diese Sprache der ländlichen Gutherzigkeit näherte, Billot wünschte sich Glück, daß er einen König verstand und von ihm verstanden wurde. Von diesem Augenblick an hörte Billot nicht mehr auf, sich für den König zu begeistern. Er trank aus den Zügen des Königs, nach dem Virgilschen Ausdruck, eine lange Liebe für das konstitutionelle Königtum und teilte sie Ange Pitou mit, der, zu voll von seiner eigenen Liebe und von dem Überfluß der Liebe Billots, das ganze Gefühl nach außen verbreitete, indem er mächtig, dann kreischend, und endlich, indem er nur noch unbestimmt schrie:
Es lebe der König! es lebe der Vater des Volkes!
Dieser Wechsel in der Stimme Pitous bewerkstelligte sich nach Maßgabe seines Heiserwerdens.
Pitou war völlig heiser, als der Zug am Point-du-Jour ankam, wo Herr Lafayette, das berühmte weiße Roß reitend, die undisziplinierten und bebenden Scharen der Nationalgarde in Atem erhielt, die seit fünf Uhr morgens aufgestellt waren, um das Geleit des Königs zu bilden.
Es war nun zwei Uhr.
Die Zusammenkunft des Königs mit dem neuen Chef der französischen Armee ging auf eine für die Anwesenden befriedigende Weise vor sich.
Der König fing an müde zu werden, er sprach nicht mehr und lächelte nur.
Der Obergeneral der Pariser Milizen seinerseits befahl nicht mehr und gestikulierte nur.
Der König bemerkte zu seiner Befriedigung, daß man beinahe ebenso sehr: Es lebe der König! als: Es lebe Lafayette! rief. Leider war es das letzte Mal, daß er dieses Vergnügen der Eitelkeit kosten sollte.
Gilbert befand sich immer am Wagenschlage des Königs, Billot bei Gilbert, Pitou bei Billot.
Gilbert hatte, seinem Versprechen getreu, Mittel gefunden, seitdem er Versailles verlassen, vier Kuriere an die Königin abzusenden.
Diese Kuriere hatten nur gute Nachrichten gebracht, denn überall auf seinem Wege sah der König die Mützen in die Luft fliegen; nur glänzte an allen diesen Mützen eine Kokarde mit den Nationalfarben, eine Art von Vorwurf gegen die weißen Kokarden gerichtet, welche die Garden des Königs und der König selbst an ihrem Hut trugen.
In seiner Freude und in seiner Begeisterung war diese Verschiedenheit das einzige, was Billot unangenehm berührte. Er trug an seinem Dreispitz eine ungeheure dreifarbige Kokarde.
Der König hatte eine weiße Kokarde an seinem Hut, der König und der Unterthan hatten folglich keinen ganz gleichen Geschmack.
Dieser Gedanke beschäftigte ihn dergestalt, daß er sich Gilbert in dem Augenblick, wo der Doktor nicht mehr mit Seiner Majestät sprach, eröffnete.
Herr Gilbert, fragte er, warum hat der König die Nationalkokarde nicht angenommen?
Mein lieber Billot, weil der König entweder nicht weiß, daß es eine neue Kokarde gibt, oder weil er denkt, seine Kokarde müsse die der Nation sein.
Nein, nein, weil seine Kokarde weiß und die unsre dreifarbig ist.
Geduld, versetzte Gilbert, der Billot in dem Augenblick zurückhielt, wo er sich kopfüber in die Zeitungsphrasen stürzen wollte, die Kokarde des Königs ist weiß, wie die Fahne von Frankreich weiß ist. Das ist nicht die Schuld des Königs. Kokarde und Fahne waren weiß, lange ehe der König zur Welt kam; übrigens, mein lieber Billot, hat die Fahne ihre Probe gemacht und die weiße Kokarde auch. Es war eine weiße Kokarde an dem Hute des Bailly von Suffren, als er auf der indischen Halbinsel unsere Fahne wieder aufpflanzte. Es war eine weiße Kokarde an dem Hute von Assas, und daran erkannten ihn die Deutschen in der Nacht, als er sich eher töten, als seine Soldaten überfallen ließ. Es war eine weiße Kokarde am Hute des Marschalls von Sachsen, als er die Engländer bei Fontenon schlug. Es war, endlich eine weiße Kokarde am Hute des Herrn von Condé, als er die Kaiserlichen bei Rocroy bei Freiburg und bei Lens schlug. Diese und noch viele anderen Dinge hat die weiße Kokarde getan, mein lieber Billot, während die Nationalkokarde, welche vielleicht die Reise um die Welt machen wird, wie Lafayette prophezeit, noch nicht Zeit gehabt hat, etwas zu thun, in Betracht, daß sie erst seit drei Tagen existiert. Verstehen Sie wohl, ich sage nicht, sie werde müßig bleiben; da sie aber noch nichts geleistet hat, so gibt sie dem König das Recht, zu warten, bis sie sich tatsächlich bewährt.
Wie, die Nationalkokarde hat noch nichts getan? versetzte Billot, hat sie nicht die Bastille erobert?
Doch, antwortete Gilbert traurig. Sie haben recht, Billot.
Darum, sprach der Pächter triumphierend, darum müßte sie der König annehmen.
Gilbert stieß Billot gewaltig mit dem Ellenbogen in die Seite, denn er hatte bemerkt, daß der König aufhorchte. Dann sagte er leise: Sind Sie verrückt? und gegen wen ist denn die Bastille genommen worden? Gegen das Königtum, wie mir scheint. Und Sie wollen den König die Trophäen Ihres Sieges und die Insignien seiner Niederlage tragen lassen? Wahnsinniger! der König ist voll Gemüt, voll Güte und Offenherzigkeit, und Sie wollen einen Heuchler aus ihm machen?
Aber, versetzte Billot demütiger, jedoch ohne sich noch ganz ergeben zu haben, aber die Bastille ist nicht gerade gegen den König, sondern gegen den Despotismus genommen worden.
Gilbert zuckte die Achseln, jedoch mit einer Zartheit des überlegenen Mannes, der, aus Furcht, ihn zu zertreten, den Fuß nicht auf den ihm Untergeordneten setzen will.
Nein, fuhr Billot, sich belebend, fort, nicht gegen unsern König haben wir gekämpft, sondern gegen die Trabanten.
In jener Zeit sagte man in der Politik Trabanten statt Soldaten, wie man auf dem Theater Roß statt Pferd sagte.
Übrigens, fuhr Billot mit einem Anschein von Schlußfolgerung fort, übrigens mißbilligt er ihr Benehmen, da er in unsre Mitte kommt, und wenn er ihr Benehmen mißbilligt, so billigt er das unsere. Wir, als die Sieger der Bastille, haben für unser Glück und für seine Ehre gearbeitet.
Ach! ach! murmelte Gilbert, der nicht wußte, wie er das, was auf dem Gesichte des Königs, mit dem, was in seinem Herzen vorging, vereinigen sollte.
Der König vernahm unter dem verworrenen Gemurmel des Marsches allmählig ein paar Worte von der Erörterung, die an seiner Seite stattfand.
Gilbert entging die Aufmerksamkeit, die der König der Erörterung schenkte, nicht, und er strengte sich daher an, um Billot auf ein minder schlüpfriges Terrain zu führen.
Plötzlich hielt man an. Man war beim Cours-la-Reine in den Champs-Elysees angelangt.
Hier war eine Deputation von Wählern und Schöppen, unter dem neuen Präsidium des neuen Stadtrichters Bailly, in schöner Ordnung aufgestellt; nebstbei eine von einem Oberst befehligte Wache von dreihundert Mann und wenigstens dreihundert Mitglieder der Nationalversammlung, alle, wie leicht zu begreifen, aus den Reihen des dritten Standes genommen.
Zwei von den Wählern vereinigten ihre Kräfte und ihre Geschicklichkeit, um eine Platte von vergoldetem Silber, auf der zwei ungeheure Schlüssel, die Schlüssel der Stadt Paris aus der Zeit Heinrichs IV. ruhten, im Gleichgewicht zu halten.
Dieses eindrucksvolle Schauspiel machte alle Privatgespräche verstummen, und jeder, der sich in den Reihen oder in den Gruppen befand, trachtete danach, die Reden zu hören, die bei dieser Veranlassung ausgetauscht werden sollten.
Bailly, der würdige Gelehrte, der wackere Astronom, den man wider seinen Willen zum Abgeordneten, wider seinen Willen zum Maire gemacht hatte, hielt eine lange Ehrenrede bereit. Diese Rede wurde nach den strengsten Regeln der Rhetorik mit einer Lobeserhebung des Königs eröffnet, anhebend von der Zeit, als Herr Turgot zur Regierung gelangt war, bis zur Einnahme der Bastille. Es fehlte wenig – so groß ist das Vorrecht der Beredsamkeit – daß man dem König die selbstherrliche Urheberschaft der Ereignisse zuschrieb, denen sich das bedrängte Volk höchstens unterzogen und, wie wir gesehen, mit Widerwillen unterzogen hatte.
Bailly war sehr zufrieden mit seiner Rede, als ein Vorfall, – Bailly erzählt diesen Vorfall selbst in seinen Denkwürdigkeiten, – als ein Vorfall ihm einen neuen Eingang lieferte, der ihm noch viel treffender däuchte, als der, den er vorbereitet hatte. Der neue ist übrigens der einzige, der im Gedächtnis des Volkes geblieben, das sich immer geneigt zeigt, die guten und besonders die schönen Redensarten aufzufassen, die auf eine wirkliche Thatsache sich gründen.
Während er mit den Schoppen und den Wählern ging, ängstigte sich Bailly wegen des Gewichtes der Schlüssel, die er dem König überreichen sollte.
Glauben Sie denn, sagte er lachend, nachdem ich dieses Monument dem König gezeigt habe, werde ich mich dadurch ermüden, daß ich die Schlüssel nach Paris zurücktrage?
Was werden Sie damit machen? fragte ein Wähler.
Was ich damit machen werde? versetzte Bailly, ich werde sie Ihnen geben oder gar in einen Graben am Fuße eines Baumes werfen.
Hüten Sie sich wohl, entgegnete der Wähler, der sich über diese Äußerung ärgerte. Wissen Sie nicht, daß diese Schlüssel dieselben sind, welche die Stadt Paris Heinrich IV. nach der Belagerung überreicht hat? sie sind kostbar, eine unschätzbare Antiquität.
Sie haben recht, erwiderte Bailly, die Heinrich IV., dem Eroberer von Paris, angebotenen Schlüssel überreicht man Ludwig XVI., der . . . . Ei! sagte der würdige Maire zu sich selbst, das giebt eine ziemlich hübsche Antithese.
Und sogleich nahm er einen Bleistift und schrieb über die Rede, die er bereit hielt, folgenden Eingang: Sire, ich bringe Eurer Majestät die Schlüssel der guten Stadt Paris. Es sind dieselben, welche Heinrich IV. überreicht worden sind. Er hatte sein Volk wieder erobert, heute erobert das Volk seinen König wieder.
Die Phrase war schön, sie war richtig, sie prägte sich dem Geiste der Pariser ein, und von der ganzen Rede Baillys, von seinen Werten sogar ist dies das einzige, was ihn überlebt hat.
Ludwig XVI. nickte beifällig mit dem Kopfe, er errötete aber zugleich, denn er fühlte, obgleich unter Redeblumen und dem Scheine der Ehrfurcht verkleidet, den scharfen Stachel der Ironie.
Dann murmelte er leise: Marie Antoinette ließe sich von dieser falschen Verehrung des Herrn Bailly nicht berücken, und ihre Antwort würde für den unglücklichen Astronomen ganz anders lauten, als die meine.
Weil nun Ludwig XVI. den Anfang der Baillyschen Rede zu gut gehört hatte, hörte er das Ende gar nicht; ähnlich war es bei der Rede des Herrn Delavigne, von der er weder den Anfang noch das Ende vernahm.
Als die Reden beendigt waren, antwortete der König – da er befürchtete, nicht ganz erfreut genug über das zu scheinen, was man ihm hatte sagen wollen – mit einem sehr edlen Ton und ohne in irgend einer Beziehung auf das, was man ihm gesagt hatte, anzuspielen, die Huldigungen der Stadt Paris und der Wähler seien ihm unendlich angenehm.
Worauf er Befehl zum Aufbruch gab.
Ehe er übrigens wieder weiter fuhr, entließ er seine Gardes-du-corps, um durch ein freundliches Vertrauen die halben Artigkeiten zu erwidern, die ihm die Munizipalität durch das Organ der Wähler und durch Herrn Bailly bezeigt hatte. Hiernach rückte der Wagen unter der ungeheuren Masse der Nationalgarden und Neugierigen rascher vor.
Gilbert und sein Gefährte Billot hielten sich fortwährend am Wagenschlage rechts.
Indem Augenblick, wo der Wagen über die Place Louis XV. fuhr, knallte ein Schuß auf der andern Seite der Seine, und ein weißer Dampf stieg wie ein Weihrauchschleier zum blauen Himmel auf, wo er alsbald verschwand.
Als ob das Geräusch dieses Schusses ein Echo in ihm gehabt hätte, fühlte sich Gilbert von einem heftigen Schlage getroffen. Einen Augenblick fehlte ihm der Atem, und er fuhr mit der Hand an seine Brust, wo er einen lebhaften Schmerz empfand.
Zugleich erscholl ein Notschrei in der Nähe des königlichen Wagens; eine Frau, durchbohrt von einer Kugel, die unter ihre linke Schulter eingedrungen, war niedergestürzt.
Einer von den Knöpfen am Rocke Gilberts, ein Knopf von schwarzem Stahl, nach der Mode der Zeit breit und mit Facetten geschnitten, war von derselben Kugel schräg getroffen worden.
Er hatte einen Panzer gebildet und die Kugel zurückgesandt, daher der Schlag und Schmerz bei Gilbert.
Seine schwarze Weste und sein Busenstreif waren teilweise zerrissen worden.
Diese an Gilberts Knopf abgeprallte Kugel hatte die unglückliche Frau getötet, die man eiligst forttrug.
Der König hatte den Schuß gehört, aber nichts gesehen.
Er neigte sich heraus und lächelte Gilbert zu.
Er sprach: Dort verbrennt man mir zu Ehren Pulver.
Ja, Sire, antwortete Gilbert.
Nur hütete er sich wohl, Seiner Majestät zu sagen, was er von der Huldigung dachte, die man ihr darbrachte.
Doch in seinem Innern gestand er sich ganz leise, die Königin habe doch mit Recht gefürchtet, da ohne ihn, der den Kutschenschlag hermetisch schloß, diese an seinem Stahlknopf abgeprallte Kugel gerade zum König gedrungen wäre.
Von welcher Hand kam nun dieser wohlgezielte Schuß?
Man wollte es damals nicht wissen! . . . so daß man es nie erfahren wird.
Billot, schreckenbleich darüber, was er mit angesehen, seine Augen unablässig auf den Riß in Gilberts Rock, Weste und Busenstreif geheftet, nötigte nun Pitou, mit verdoppelten Kräften zu schreien: Es lebe der Vater der Franzosen!
Das Hauptereignis war übrigens so groß, daß man die Episode schnell vergessen hatte.
Endlich kam Ludwig XVI. vor das Stadthaus, nachdem er auf dem Pont-Neuf mit einer Salve von Kanonen, die man wenigstens diesmal nicht mit Kugeln geladen hatte, begrüßt worden war.
Auf der Fassade des Stadthauses breitete sich eine Inschrift mit mächtigen Buchstaben aus, die, am Tage schwarz, bei Eintritt der Nacht erleuchtet werden und transparent glänzen sollte. Diese Inschrift verdankte man den geistvollen Arbeiten der Munizipalität.
Sie war in folgenden Worten abgefaßt:
Ludwig XVI., dem Vater der Franzosen und König eines freien Volkes.
Das war eine zweite Antithese, noch viel bedeutender, als die in Baillys Rede, allen auf dem Platze versammelten Parisern entlockte sie auch Schreie der Bewunderung.
Diese Inschrift zog auch Billots Auge auf sich.
Da aber Billot nicht lesen konnte, so ließ er sie Pitou lesen.
Billot ließ die Inschrift zweimal wiederholen, als hätte er beim ersten Mal nicht gehört.
Dann, als Pitou den Satz, ohne ein Wort daran zu ändern, wiederholt hatte, rief er:
Ist es das? ist es das?
Allerdings, erwiderte Pitou.
Die Munizipalität hat also schreiben lassen, der König sei der König eines freien Volkes?
Ja, Vater Billot.
Dann, rief Billot, wenn die Nation frei ist, hat sie das Recht, dem König ihre Kokarde anzubieten.
Und mit einem Sprung war er vor Ludwig XVI., der den Stufen des Stadthauses gegenüber aus seinem Wagen stieg, und sagte: Sire, Sie haben gesehen, daß das Erzbild Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf die Nationalkokarde trägt.
Nun! versetzte der König.
Nun! Sire, wenn Heinrich IV. die Nationalkokarde trägt, so können Sie sie wohl auch tragen.
Gewiß, erwiderte Ludwig XVI. verlegen, und wenn ich eine hätte . . .
Wohl! rief Billot, die Stimme erhebend und den Arm ausstreckend, im Namen des Volkes biete ich Ihnen diese statt der Ihrigen an . . . nehmen Sie sie an.
Bailly trat dazwischen.
Der König war bleich. Er fing an, die Fortschreitung zu fühlen. Ludwig XVI. schaute Bailly an, als wollte er ihn fragen.
Sire, sagte dieser, das ist das unterscheidende Zeichen jedes Franzosen.
Dann nehme ich sie an, sprach der König.
Und er nahm die Kokarde aus den Händen Billots, legte seine weiße auf die Seite und befestigte die dreifarbige Kokarde an seinem Hut.
Ein ungeheures Triumphgeschrei erscholl auf dem Platze.
Gilbert wandte sich innerlich tief verwundet ab.
Er fand, das Volk greife zu rasch um sich, und der König widerstehe nicht genug.
Es lebe der König! rief Billot, der so das Signal zu einer zweiten Beifallssalve gab.
Der König ist tot, murmelte Gilbert . . . Es giebt keinen König mehr in Frankreich.
Von dem Orte an, wo der König aus dem Wagen stieg, bis zum Saale, wo man ihn erwartete, war durch tausend ausgestreckte Schwerter ein stählernes Gewölbe um ihn gebildet worden.
Er ging unter diesem Gewölbe durch und verschwand in den Tiefen des Stadthauses.
Das ist kein Triumphbogen, sagte Gilbert; das sind die Caudinischen Pässe.
Und mit einem Seufzer fügte er bei:
Ah! was wird die Königin sagen!
Im Innern des Stadthauses wurde dem König ein sehr schmeichelhafter Empfang zuteil: man nannte ihn den Wiederhersteller der Freiheit.
Eingeladen zu sprechen – denn der Durst nach Reden wurde alle Tage heftiger, und der König wollte am Ende den Grund der Gedanken von jedem erfahren – legte Ludwig XVI. die Hand auf sein Herz und sagte nur:
Meine Herren, Sie können immer auf meine Liebe zählen.
Während er im Stadthause die Mitteilung der Regierung anhörte, machte sich das Volk außen mit den schönen Pferden des Königs, mit den vergoldeten Wagen, mit den Lakaien und Kutschern Seiner Majestät vertraut.
Seit dem Eintritt des Königs in das Stadthaus hatte sich Pitou mittelst eines Louisd'or, den ihm der Vater Billot geschenkt, damit beschäftigt, aus vielen blauen, roten und weißen Bändern eine Sammlung Nationalkokarden von allen Größen zu machen, mit denen er sodann die Ohren der Pferde, die Geschirre und die ganze Equipage schmückte.
Sobald dies bemerkt wurde, verwandelte das nachahmende Publikum den Wagen Seiner Majestät buchstäblich in eine Kokardenbude.
Die Kutscher und die Bedienten wurden verschwenderisch damit geschmückt.
Man hatte auch ein Dutzend vorrätig in das Innere gesteckt.
Als der König herauskam und diesen ganzen buntscheckigen Aufwand wahrnahm, gab er bloß den Laut von sich: Höh! höh!
Dann wandte er sich an Herrn von Lafayette, der sich ehrerbietig näherte, den Degen senkend.
Herr von Lafayette, sprach der König, ich suche Sie, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie im Kommando der Nationalgarden bestätige.
Und er stieg in den Wagen unter einem allgemeinen Zuruf.
Gilbert war, wegen des Königs nunmehr beruhigt, mit den Wählern und Bailly im Sitzungssaale geblieben.
Seine Beobachtungen waren noch nicht beendigt.
Als er jedoch das gewaltige Geschrei hörte, das den Abgang des Königs begrüßte, trat er an ein Fenster und warf einen letzten Blick auf den Platz, um das Benehmen seiner zwei Landleute zu überwachen.
Sie waren immer noch die besten Freunde des Königs.
Plötzlich sah Gilbert vom Quai Pelletier im raschesten Schritt einen mit Staub bedeckten Reiter kommen, vor dem sich die Reihen der noch ehrfurchtsvollen und gehorsamen Volksmassen öffneten.
Gut und gefällig an diesem Tag, lächelte das Volk und wiederholte: Ein Offizier des Königs!
Und dieser Offizier wurde mit dem vielseitigen Rufe: Es lebe der König! begrüßt, und die Hände der Frauen streichelten sein vom Schaum weißes Pferd.
Er drang bis zum Wagen vor und gelangte an den Schlag, in dem Augenblick, wo ihn der Diener hinter dem König geschlossen hatte.
Ah! Sind Sie es, Charny? sagte Ludwig XVI.
Und er fragte leiser: Wie geht es dort?
Dann noch leiser: Die Königin?
Sehr unruhig, Sire, antwortete der Offizier, indem er seinen Kopf beinahe ganz in den königlichen Wagen steckte.
Kehren Sie nach Versailles zurück?
Ja.
Nun, so beruhigen Sie unsere Freunde; alles ist vortrefflich gegangen.
Charny verbeugte sich, schaute empor und erblickte Herrn von Lafayette, der ihm ein freundschaftliches Zeichen machte.
Charny ritt auf ihn zu, und Lafayette reichte ihm die Hand, worauf der Offizier des Königs samt Pferd durch die wogende Menge gleichsam getragen wurden bis zum Quai, auf dem sich durch die Wachsamkeit der Nationalgarde zur Durchfahrt Seiner Majestät bereits ein Spalier gebildet hatte.
Der König befahl, bis zur Place Louis XV. fortwährend nur im Schritt zu fahren. Hier fand man die Gardes-du-corps wieder, die nicht ohne Ungeduld auf die Rückkehr des Königs gewartet hatten.
Gilbert hatte vom Balkon des Fensters aus die Ankunft des Reiters begriffen, obgleich er ihn nicht kannte. Er erriet, wie vielen Besorgnissen die Königin preisgegeben sein mußte, um so mehr, als seit drei Stunden kein Kurier diese Menschenmassen hätte passieren können, ohne Verdacht zu erregen oder eine Schwäche zu verraten.
Er mutmaßte indessen nur einen kleinen Teil von dem, was in Versailles vorgefallen war.
Wir werden den Leser nach Versailles zurückführen.
Die Königin hatte den letzten Kurier des Königs um drei Uhr erhalten.
Gilbert hatte Mittel gefunden, ihn in dem Augenblick abzusenden, wo der König, unter dem stählernen Gewölbe durchgehend, unversehrt in das Stadthaus eingetreten war.
Bei der Königin befand sich die Gräfin von Charny, die kaum erst das Bett verlassen, wo sie seit dem vorhergehenden Tage ernstliche Unpäßlichkeit zurückgehalten hatte.
Sie war noch sehr bleich und hatte kaum die Kraft, die Augen aufzuschlagen, deren schwere Lider wie unter dem Gewichte eines Schmerzes oder einer Scham immer niederfielen.
Als die Königin die Gräfin erblickte, lächelte sie ihr zu, doch mit jenem Gewohnheitslächeln, das für ihre Vertrauten auf die Lippen der Fürsten und Könige stereotypiert zu sein scheint.
Dann, noch frisch begeistert von der Freude, Ludwig XVI. in Sicherheit zu wissen, sprach sie zu ihrer Umgebung: Abermals eine gute Nachricht, möchte der ganze Tag so vergehen.
Oh! Madame, sprach ein Höfling, Eure Majestät ängstigt sich mit Unrecht. Die Pariser wissen wohl, welche Verantwortlichkeit auf ihnen lastet.
Aber, Madame, fragte ein andrer Höfling minder beruhigt, ist Eure Majestät auch völlig sicher, daß die Nachrichten echt sind?
Oh! ja, erwiderte die Königin, derjenige, welcher sie mir zuschickt, hat sich für den König mit seinem Kopf verbürgt; überdies halte ich ihn für einen Freund.
Oh! wenn es ein Freund ist, sprach der Höfling, sich verbeugend, dann ist es etwas andres.
Frau von Lamballe war einige Schritte entfernt; sie näherte sich und fragte Marie Antoinette:
Nicht wahr, es ist der neue Arzt des Königs?
Gilbert, ja, antwortete unbesonnen die Königin, ohne zu bedenken, daß sie jemand an ihrer Seite einen furchtbaren Schlag versetzte.
Gilbert! rief Andrée bebend, als ob eine Schlange sie ins Herz gestochen hätte. Gilbert, ein Freund Eurer Majestät?
Andrée wandte sich um; das Auge entflammt, die Hände durch Zorn und Scham krampfhaft zusammengezogen, klagte Andrée mit Stolz in Blick und Haltung die Königin an.
Aber . . . doch . . . sagte die Königin zögernd.
Oh! Madame, Madame! murmelte Andrée im Tone des bittersten Vorwurfs.
Eine Totenstille trat bei diesem geheimnisvollen Zwischenfalle ein. Mitten unter dem Schweigen vernahm man bescheidene Tritte auf dem Boden des anstoßenden Zimmers.
Herr von Charny! sagte halblaut die Königin, als wollte sie Andrée ermahnen, sich zu fassen.
Charny hatte gehört, Charny hatte gesehen; aber der eigentliche Vorgang blieb ihm dunkel.
Er bemerkte die Blässe von Andrée und die Verlegenheit von Marie Antoinette.
Es geziemte sich nicht für ihn, die Königin zur Rede zu stellen; aber Andrée war seine Frau, bei ihr hatte er das Recht, sie zu befragen.
Er näherte sich ihr und fragte mit dem Ton der freundschaftlichsten Teilnahme: Was giebt es, Madame?
Andrée machte eine Anstrengung gegen sich selbst und erwiderte: Nichts, Herr Graf.
Sie schienen an der Ergebenheit des Herrn Gilbert zu zweifeln, sagte er dann; sollten Sie einen Grund haben, seine Treue zu beargwöhnen?
Andrée schwieg.
Sprechen Sie, Madame, sprechen Sie, fügte Charny dringend bei.
Dann, als Andrée immer stumm blieb, fuhr er fort:
Oh! sprechen Sie, Madame, diese Zartheit wäre hier verdammenswert; bedenken Sie, daß es sich um das Heil unsrer Gebieter handelt.
Ich weiß nicht, mein Herr, in welcher Beziehung Sie das sagen, antwortete Andrée.
Sie haben gesagt, und ich habe es gehört, Madame . . . ich berufe mich überdies auf die Prinzessin . . . Charny verbeugte sich vor Frau von Lamballe . . . Sie haben gesagt und ausgerufen: Oh! dieser Mann, dieser Mann! Ihr Freund! . . .
Es ist wahr. Sie haben das gesagt, meine Liebe, bestätigte die Prinzessin von Lamballe mit ihrer naiven Gutmütigkeit.
Dann näherte sie sich Andrée ebenfalls und sprach:
Ja, Sie wissen etwas. Herr von Charny hat recht.
Haben Sie Mitleid, Madame, haben Sie Mitleid, betonte Andrée mit so leiser Stimme, daß sie nur von der Prinzessin gehört werden konnte.
Die Prinzessin entfernte sich.
Als die Königin wahrnahm, daß sie, wenn sie die Redlichkeit nicht verletzen wolle, länger nicht zögern dürfe, sich ins Mittel zu legen, versetzte sie: Ei! mein Gott, es war von geringer Bedeutung; die Frau Gräfin drückte eine Furcht aus, aber eine völlig unbestimmte; sie sagte, es lasse sich schwer glauben, daß ein Revolutionär von Amerika, ein Freund von Herrn Lafayette, unser Freund sei.
Ja, unbestimmt, wiederholte Andrée maschinenmäßig, sehr unbestimmt.
Aber es bedurfte mehr als dies, um Charny zu überzeugen. Die auffallende Verlegenheit, die er bei seiner Ankunft bemerkt hatte, brachte ihn auf die Spur eines Geheimnisses.
Er blieb beharrlich.
Gleichviel, Madame, sagte er, mir scheint, es wäre Ihre Pflicht, nicht eine unbestimmte Furcht auszusprechen, sondern sich im Gegenteil klar und deutlich zu äußern.
Wie! versetzte die Königin ziemlich hart. Sie kommen abermals hierauf zurück, mein Herr?
Entschuldigen Sie, Madame, erwiderte Charny, es geschieht aus Interesse für . . .
Für Ihre Eitelkeit, nicht wahr? Ah! Herr von Charny, fügte die Königin mit einer Ironie bei, deren Gewicht der Graf begriff, sagen Sie es offenherzig, Sie sind eifersüchtig.
Eifersüchtig! rief der Graf errötend, eifersüchtig, auf wen? Das frage ich Eure Majestät.
Offenbar auf Ihre Frau, fuhr die Königin mit Bitterkeit fort.
Madame, stammelte Charny, völlig betäubt durch diese Herausforderung.
Das ist ganz natürlich, sprach trocken Marie Antoinette, es ist bei der Gräfin sicherlich der Mühe wert.
Charny schleuderte der Königin einen Blick zu, der sie aufmerksam darauf machen sollte, daß sie zu weit gehe.
Doch das war vergebliche Mühe, überflüssige Vorsicht. Wenn bei dieser verwundeten Löwin der Schmerz seinen brennenden Biß eindrückte, so hielt die Frau nichts mehr zurück.
Ja, ich begreife, daß Sie eifersüchtig sind, Herr von Charny, eifersüchtig und unruhig; das ist der gewöhnliche Zustand jeder Seele, die liebt und folglich wacht.
Madame, wiederholte Charny.
So erfüllt mich, fuhr die Königin fort, so erfüllt mich zu dieser Stunde durchaus dasselbe Gefühl wie Sie; ich habe zugleich Eifersucht und Unruhe (sie legte einen starken Nachdruck auf das Wort: Eifersucht); der König ist in Paris und ich lebe nicht mehr.
Aber, Madame, versetzte Charny, der nichts von diesem Sturm begriff, welcher sich immer mehr mit Blitzen und Donnern belud. Sie haben soeben Nachrichten vom König erhalten; diese Nachrichten waren gut und müßten Sie folglich beruhigen.
Sind Sie beruhigt gewesen, als die Gräfin und ich Sie vorhin unterrichteten?
Charny biß sich auf die Lippen.
Andrée fing an, zugleich erstaunt und erschrocken das Haupt zu erheben: erstaunt über das, was sie hörte, erschrocken über das, was sie zu begreifen glaubte.
Das Stillschweigen, das einen Augenblick vorher bei der ersten Frage von Charny ihretwegen eingetreten war, beobachtete die Versammlung nur der Königin wegen.
In der That, fuhr die Königin mit einer Art von Wut fort, es liegt im Schicksal der Leute, die lieben, daß sie nur an den Gegenstand ihrer Zuneigung denken; ja unbarmherzig alles zu opfern, alles dem einzigen Gefühle, das sie beherrscht, bereitet den armen Herzen sogar eine Freude. Mein Gott! wie besorgt bin ich um den König!
Madame, wagte einer von den Anwesenden zu bemerken, andre Kuriere werden kommen.
Oh! warum bin ich nicht in Paris, statt hier zu sein; warum bin ich nicht beim König, sprach Marie Antoinette, die gesehen hatte, daß Charny unruhig wurde, seitdem sie ihn in den Zustand der Eifersucht zu versetzen suchte, die sie selbst so heftig empfand.
Charny verbeugte sich.
Wenn es nur das ist, Madame, sagte er, so will ich dahin gehen, und wenn, wie Eure Majestät denkt, eine Gefahr für den König stattfindet, wenn dieses edle Haupt preisgegeben ist, glauben Sie mir, Madame, so wird es nicht meine Schuld sein, daß ich nicht das meinige preisgegeben habe. Ich gehe.
Er verbeugte sich in der That und machte einen Schritt, um sich zu entfernen.
Andrée aber warf sich ihm entgegen und rief:
Mein Herr, mein Herr, schonen Sie sich!
Es fehlte bei dieser Szene nichts mehr, als der Ausbruch der Befürchtungen von Andrée.
Kaum hatte auch Andrée, unwillkürlich aus ihrer gewöhnlichen Kälte herausgerissen, diese unvorsichtigen Worte ausgesprochen und diese außerordentliche Besorgnis geäußert, als die Königin entsetzlich bleich wurde.
Ei! Madame, sagte sie zu ihr, wie kommt es, daß Sie sich hier die Rolle der Königin anmaßen?
Ich, Madame? stammelte Andrée, indem es ihr zum Bewußtsein kam, sie habe das in ihrer Seele schon so lang verschlossene Feuer zum erstenmal über ihre Lippen springen lassen.
Wie! fuhr Marie Antoinette fort, Ihr Gatte ist im Dienste des Königs, er will den König aufsuchen; wenn er sich einer Gefahr aussetzt, so geschieht es für den König, und während es sich um den Dienst des Königs handelt, ermahnen Sie Herrn von Charny, sich zu schonen!
Bei diesen niederschmetternden Worten verlor Andrée das Bewußtsein; sie schwankte und wäre auf den Boden gefallen, hätte sie nicht Charny, hastig auf sie zutretend, in seinen Armen aufgefangen.
Eine Gebärde der Entrüstung, die Charny nicht zu beherrschen vermochte, brachte die Königin vollends in Verzweiflung, sie glaubte nur eine verwundete Nebenbuhlerin zu sein, während sie eine ungerechte Fürstin gewesen war.
Die Königin hat recht, sprach endlich Charny mit einer gewissen Anstrengung, und Ihre Gemütsbewegung, Frau Gräfin, ist schlecht berechnet gewesen; Sie haben keinen Gatten, Madame, wenn es sich um die Interessen des Königs handelt, und es wäre an mir, Ihnen zuerst zu befehlen, mit Ihrer Empfindsamkeit sparsam zu sein, wenn ich bemerkte, daß Sie einige Furcht für mich hegen wollten.
Dann wandte er sich an Marie Antoinette und sagte kalt:
Ich bin zu den Befehlen der Königin und gehe. Ich werde Ihnen Nachrichten vom König bringen, gute Nachrichten, Madame, oder ich bringe Ihnen gar keine.
Nachdem er diese Worte gesprochen, verbeugte er sich bis auf die Erde und ging ab, ohne daß die Königin, zugleich von Schrecken und Zorn betroffen, nur daran dachte, ihn zurückzuhalten.
Einen Augenblick nachher hörte man auf dem Pflaster des Hofes die Hufeisen eines galoppierenden Pferdes schallen.
Die Königin blieb unbeweglich, aber von einer inneren Aufregung erfaßt, die um so furchtbarer war, je mehr sie sich anstrengte, sie zu verbergen.
Andrée ging mit den andern aus dem Gemache weg und überließ Marie Antoinette den Liebkosungen ihrer zwei Kinder, die sie hatte zu sich rufen lassen.
Die Nacht war eingetreten mit ihrem Gefolge von Befürchtungen und finsteren Visionen, als plötzlich am Ende des Palastes Ausrufungen erschollen.
Die Königin bebte und stand auf. Ein Fenster war ihr zur Hand; sie öffnete es.
Beinahe in demselben Augenblick traten freudetrunkene Diener bei Ihrer Majestät ein und riefen:
Ein Kurier, Madame! ein Kurier!
Drei Minuten nachher stürzte sodann ein Husar in die Vorzimmer.
Es war ein von Herrn von Charny abgeschickter Leutnant. Er kam mit verhängten Zügeln von Sèvres.
Und der König? fragte die Königin.
Seine Majestät wird in einer Viertelstunde hier sein, antwortete der Offizier, der kaum sprechen konnte.
Gesund und wohlbehalten?
Gesund und wohlbehalten, Madame.
Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?
Nein, Madame; doch Herr von Charny hat es mir gesagt, als er mich abschickte.
Die Königin bebte abermals bei diesem Namen, den der Zufall mit dem Namen des Königs verschlungen hatte.
Ich danke, mein Herr, ruhen Sie aus, sprach die Königin zu dem jungen Edelmann.
Der junge Mann verbeugte sich und trat ab.
Sie nahm ihre zwei Kinder bei der Hand und wandte sich nach der großen Freitreppe, auf der sich schon alle Diener und Höflinge gruppierten.
Das durchdringende Auge der Königin erblickte auf der ersten Stufe eine weiße junge Frau, die sich auf das steinerne Geländer stützte und einen gierigen Blick in die Schatten der Nacht tauchte.
Das war Andrée, deren Beklommenheit die Gegenwart der Königin nicht zu zerstreuen vermochte.
Offenbar hatte sie, die sonst so eifrig war, sich an die Seite der Königin zu stellen, ihre Gebieterin nicht gesehen oder nicht sehen wollen.
Sie hegte also einen Groll wegen der Heftigkeit von Marie Antoinette, einer grausamen Heftigkeit, unter der sie am Tage zu leiden gehabt hatte.
Oder von einem Gefühl mächtiger Teilnahme angetrieben, erwartete sie auf ihre eigene Rechnung die Rückkehr von Charny, für den sie so viele liebevolle Befürchtungen geäußert hatte.
Ein doppelter Dolchstoß, der bei der Königin eine noch blutende Wunde wieder öffnete.
Sie hörte nur noch mit zerstreutem Ohr auf die Glückwünsche und die Freude ihrer andren Freundinnen und der Höflinge.
Sie fühlte sich sogar einen Augenblick dem heftigen Schmerz entrückt, der sie den ganzen Abend niedergebeugt hatte. Ein Waffenstillstand trat an die Stelle der Unruhe, die in ihrem Herzen die Reise des durch so viele Feinde bedrohten Königs erregte.
Doch mit einer starken Seele verjagte sie bald alles, was nicht die gesetzliche Zuneigung ihres Herzens war. Sie legte zu den Füßen Gottes ihre Eifersucht, sie opferte ihren geheimen Zorn und ihre geheimen Freuden der Heiligkeit des ehelichen Schwures.
In diesem Augenblick wenigstens fühlte sie: der Stolz des Königtums erhob die Königin über alle irdischen Leidenschaften; die Liebe des Königs war ihr Egoismus:
Sie hatte also sowohl die kleinen Rachgieren der Frau, als die leichtfertigen Koketterien der Liebhaberin völlig von sich ausgetrieben, als die Fackeln der Eskorte im Hintergrunde erschienen. Dieses Feuer vergrößerte sich in jeder Sekunde durch die Raschheit des Laufes.
Man hörte die Pferde wiehern und schnaufen; der Boden zitterte in der Stille der Nacht unter dem taktmäßigen Gewicht der schnell herbeikommenden Schwadronen.
Die Gitter öffneten sich, die Posten stürzten mit tausend begeisterten Ausrufungen dem König entgegen; der Wagen rollte geräuschvoll auf dem Pflaster des großen Hofes.
Geblendet, entzückt, bezaubert, trunken von allem, was sie empfunden, eilte die Königin die Stufen hinab, auf den König zu.
Ludwig XVI. hatte seinen Wagen verlassen und stieg so rasch als möglich unter seinen, durch die Ereignisse und ihren Triumph bewegten Offizieren die Treppe hinauf, während unten die Garden, ohne Umstände mit den Stallknechten und Stallmeistern vermischt, von den Wagen und Geschirren alle Kokarden abrissen, die der Enthusiasmus der Pariser daran befestigt hatte.
Der König und die Königin begegneten sich auf einem marmornen Ruheplatze. Mit einem Schrei der Freude und Liebe umarmte die Königin ihren Gemahl wiederholt.
Sie schluchzte, als ob sie ihn nie mehr zu sehen geglaubt hätte.
Ganz dieser Bewegung eines zu vollen Herzens hingegeben, sah sie den stillen Händedruck nicht, den Charny und Andrée ausgetauscht hatten.
Es war nur ein Händedruck, aber Andrée war die erste unten an den Stufen: sie hatte Charny zuerst gesehen und zuerst berührt.
Die Königin, nachdem sie ihre Kinder dem König vorgestellt, ließ diese Ludwig XVI. umarmen, und da rief der Dauphin, als er am Hute seines Vaters die neue Kokarde sah, auf welche die Fackeln ein blutiges Licht warfen, in seinem kindlichen Erstaunen: Ah! Papa, was haben Sie denn an Ihrer Kokarde, Blut?
Das war die rote Nationalfarbe.
Die Königin schrie und schaute ebenfalls.
Der König bückte sich, scheinbar um seine Tochter zu küssen, in Wirklichkeit aber, um seine Scham zu verbergen.
Marie Antoinette riß die Kokarde mit einem tiefen Ekel ab, ohne in ihrer fürstlichen Wut zu ahnen, daß sie dadurch das Volk in seinem Herzen verwundete, das sich eines Tages dafür rächen würde.
Werfen Sie das weg, mein Herr, sagte sie, werfen Sie es weg.
Und sie schleuderte die Kokarde die Stufe hinab, so daß die Füße der ganzen Eskorte, die den König in seine Gemächer geleitete, darauf traten.
Dieser seltsame Übergang hatte bei der Königin alle eheliche Begeisterung ausgelöscht. Sie suchte mit den Augen Herrn von Charny, der sich als ein Soldat in seiner Reihe hielt.
Ich danke Ihnen, mein Herr, sagte sie, als sich ihre Blicke nach mehreren Sekunden des Zögerns von seiten des Grafen begegnet waren; ich danke Ihnen, Sie haben Ihr Versprechen gut gehalten.
Mit wem sprechen Sie? fragte der König.
Mit Herrn von Charny, antwortete sie mutig.
Ah! der arme Charny, er hat viel durchzumachen gehabt, um zu mir zu kommen. Und . . . Gilbert, ich sehe ihn nicht? fügte er bei.
Aufmerksam seit der Lektion am Abend, sagte die Königin, das Gespräch wechselnd: Kommen Sie zum Abendbrot, Sire.
Herr von Charny, fuhr sie fort, suchen Sie die Frau Gräfin von Charny; sie mag mit uns kommen. Wir werden in Familie speisen.
Hier war sie Königin. Doch sie seufzte bedenklich, als sie Charny bei dieser Einladung, noch kurz vorher traurig, plötzlich heiter sah.
Billot schwamm in Freuden. Er hatte die Bastille genommen, er hatte Gilbert die Freiheit wiedergegeben, er war von Lafayette, der ihn bei seinem Namen nannte, ausgezeichnet worden.
Er hatte endlich die Beerdigung von Foulon gesehen.
Wenige Menschen waren in jener Zeit so verhaßt wie Foulon; ein einziger vielleicht hätte mit ihm konkurrieren können, das war sein Schwiegersohn, Herr Berthier von Sauvigny.
Beide hatten auch am Tage nach der Einnahme der Bastille glücklich gespielt.
Foulon war gestorben, und Berthier hatte sich geflüchtet.
Foulons Unbeliebtheit beim Volke war dadurch auf den höchsten Grad gestiegen, daß er beim Rückzug des Herrn von Necker die Stelle des tugendhaften Genfers, wie man ihn damals nannte, angenommen, und daß er drei Tage Generalkontrolleur gewesen war.
Bei seiner Beerdigung hatten auch viele Gesänge und Tänze stattgefunden.
Man hatte wohl einen Augenblick den Gedanken gehabt, den Leichnam aus dem Sarge zu reißen und ihn aufzuhängen. Billot war aber auf einen Weichstein gestiegen und hatte eine Rede über die dem Toten gebührende Achtung gehalten, worauf der Leichenwagen weiter fahren durfte.
Pitou hatte den Stand eines Helden erreicht, er war der Freund von Herrn Elie und Herrn Hullin, welche die Gewogenheit hatten, ihm ihre Aufträge zu erteilen.
Er war überdies der Vertraute von Lafayette, der den Pächter mit seinen breiten Schultern und Herkulesfäusten zuweilen beauftragte, um ihn her die Polizei zu handhaben.
Seit der Fahrt des Königs nach Paris arbeitete Gilbert, durch Herrn von Necker mit den Hauptpersonen der Nationalversammlung und der Munizipalität in Verbindung gesetzt, ohne Unterlaß an der Erziehung dieser in der Kindheit begriffenen Revolution.
Er vernachlässigte also Billot und Pitou, und diese warfen sich mit allem Eifer in die Bürgervereine, in deren Schoße man Fragen von übersinnlicher Politik verhandelte.
Eines Tages nun, als Billot drei Stunden damit zugebracht hatte, daß er den Wählern seinen Rat über die Verproviantierung von Paris gegeben, und dann des Sprechens müde, aber im Grunde glücklich, den Redner gemacht zu haben, bei dem monotonen Geräusch der Reden seiner Nachfolger, die anzuhören er sich wohl hütete, voll Wonne ausruhte, lief Pitou ganz außer sich, schlüpfte wie ein Aal in den Sitzungssaal des Stadthauses und sagte mit einer bewegten Stimme, die mit der gewöhnlichen Ruhe seines Ausdrucks kontrastierte:
Oh! Herr Billot! lieber Herr Billot!
Nun! was?
Große Neuigkeit! Sie wissen, daß ich in den Klub der Tugenden, an der Barrière de Fontainebleau, gegangen bin?
Ja. Nun?
Man sagte etwas sehr Außerordentliches. Wissen Sie, daß sich der Schurke Foulon für einen Toten ausgegeben und sich zum Scheine sogar hat begraben lassen?
Wie! sich für einen Toten ausgegeben? Er ist bei Gott sehr tot, da ich das Leichenbegängnis habe vorüberziehen sehen.
Herr Billot, er lebt, er lebt wie Sie und ich.
Du bist ein Narr!
Lieber Herr Billot, der Verräter Foulon, der Feind des Volks, der Blutegel Frankreichs, der Wucherer, ist nicht tot.
Wenn ich dir aber sage, daß man ihn nach einem Schlaganfall begraben hat, wenn ich dir wiederhole, daß ich das Leichenbegängnis habe vorüberziehen sehen, und daß ich es sogar verhindert, daß man ihn nicht aus seinem Sarge riß, um ihn aufzuhängen.
Und ich, ich habe ihn soeben lebendig gesehen, wie ich Sie sehe, Herr Billot. Es scheint, einer von seinen Bedienten ist gestorben, und der Schurke hat ein aristokratisches Leichenbegängnis anordnen lassen. Oh! alles ist entdeckt; er hat aus Angst vor der Rache des Volkes so gehandelt.
Erzähle mir das, Pitou.
Kommen Sie ein wenig ins Vorhaus, Herr Billot, wir werden dort bequemer sein.
Sie verließen den Saal und gingen ins Vorhaus.
Vor allem muß ich wissen, ob Herr Bailly hier ist, sagte Pitou.
Sprich immerhin, er ist hier.
Gut. Ich war also im Klub der Tugenden, wo ich die Rede eines Patrioten anhörte. Es war der, welcher Schnitzer im Französischen machte! Man sah wohl, daß er nicht beim Abbé Fortier in die Schule gegangen war.
Immer zu! versetzte Billot, du weißt, man kann ein guter Patriot sein und weder zu schreiben, noch zu lesen verstehen. –
Das ist wahr. Plötzlich lief ein Mann ganz atemlos herbei und rief: Sieg! Sieg! Foulon war nicht tot, Foulon lebt noch: ich habe ihn entdeckt, ich habe ihn gefunden!
Man war wie Sie, Vater Billot, man wollte nicht glauben. Die einen sagten: Wie! Foulon? die andern sagten: Nun! während du dort warst, hättest du zugleich seinen Schwiegersohn Berthier entdecken müssen.
Berthier! rief Billot.
Ja, Berthier von Sauvigny. Sie wissen wohl, unser Intendant von Compiègne, der Freund des Herrn Isidor von Charny.
Allerdings, derjenige, welcher so hart gegen jedermann und so artig gegen Katharine war.
Ganz richtig, ein Greuel von einem Finanzpächter, ein zweiter Blutegel des französischen Volks, der Fluch des Menschengeschlechts, die Schande der zivilisierten Welt.
Weiter! weiter! rief Billot.
Ich sage Ihnen also, daß sich Foulon für einen Toten ausgegeben, daß er statt seiner einen von seinen Bedienten hat begraben lassen. Dieser gute Bürger, dieser atemlose Patriot, der die Nachricht brachte, hatte ihn in Viry, wo er sich verborgen hielt, erkannt. Als er ihn erkannt hatte, zeigte er ihn an, und der Syndicus, ein Herr Rappe, ließ ihn auf der Stelle verhaften.
Und wie heißt der brave Patriot, der den Mut gehabt hat, eine solche Handlung zu vollbringen?
Man nennt ihn Herr Saint-Jean.
Saint-Jean? das ist ein Lakaienname.
Ei! es ist auch der Lakai dieses Schurken Foulon. Ha! Aristokrat, das geschieht dir recht, warum hast du Lakaien?
Pitou, du interessierst mich, sagte Billot, indem er näher zum Erzähler trat.
Sie sind sehr gütig, Herr Billot . . . Der Foulon ist also angezeigt, verhaftet; man führte ihn nach Paris; der Denunziant lief voraus, um die Neuigkeit zu verkündigen und den Preis für seine Anzeige in Empfang zu nehmen, so daß Foulon hinter ihm bei der Barrière ankam.
Und dort hast du ihn gesehen?
Ja, er sah drollig aus; man hatte ihm ein Halsband von Nesseln statt der Kravatte angezogen.
Nesseln, warum dies?
Weil der Schurke, wie es scheint, gesagt hat, das Brot sei für die Menschen, der Hafer für die Pferde, die Nesseln seien aber gut genug für das Volk.
Er ging zu Fuß, und man versetzte ihm den ganzen Weg entlang eine Menge von Streichen in die Hüften und an den Kopf.
Ah! ah! machte Billot, weniger enthusiastisch.
Das ist sehr belustigend, fuhr Pitou fort; nur konnte ihm aber nicht jedermann geben; da mehr als zehntausend Personen da waren, die hinter ihm schrien. Dann hat man ihn zum Präsidenten des Saint-Marcel-Distrikts geführt – ein guter, wie Sie wissen.
Ja, Herr Acloque.
Acloque! ganz richtig; dieser aber hat Befehl gegeben, ihn in das Stadthaus zu führen, weil er nicht wußte, was er mit ihm machen sollte, so daß Sie ihn sehen werden.
Aber wie kommt es, daß du das verkündigst, und nicht der berufene Saint-Jean?
Weil meine Beine sechs Zoll länger sind als die seinigen. Er war vor mir abgegangen, aber ich habe ihn eingeholt und bin ihm dann zuvorgekommen. Ich wollte Sie benachrichtigen, damit Sie Herrn Bailly davon in Kenntnis setzen können.
Welches Glück hast du!
Ich werde morgen noch viel mehr haben.
Woher weißt du das?
Derselbe Saint-Jean, der Foulon denunzierte, hat sich anheischig gemacht, es dahin zu bringen, daß man auch des Herrn von Berthier, der auf der Flucht ist, habhaft werde.
Er weiß also, wo er ist?
Ja, es scheint, es war ihr Vertrauter, dieser gute Herr Saint-Jean, und hat vom Schwiegervater und vom Schwiegersohn, die ihn bestechen wollten, viel Geld bekommen.
Und er hat das Geld genommen?
Gewiß; es ist immer gut, das Geld eines Aristokraten zu nehmen; doch er hat gesagt: Ein guter Patriot verrät die Nation nicht für Geld.
Ja, murmelte Billot, er verrät nur seinen Herrn. Weißt du, Pitou, daß mir dein Saint-Jean eine große Kanaille zu sein scheint?
Das ist möglich, doch gleichviel, man wird Herrn von Berthier festnehmen, wie man Meister Foulon festgenommen hat, und man wird sie beide Nase an Nase henken. Was für eine abscheuliche Grimasse werden sie, einander anschauend, machen!
Und warum wird man sie henken? fragte Billot.
Weil es Schurken find, die ich verabscheue.
Herr Berthier, der in den Pachthof gekommen ist, Herr Berthier, der bei seinen Rundreisen in der Ile-de-France bei uns Milch gegessen und von Paris aus goldene Ohrringe für Katharine geschickt hat! Oh! nein, nein, man wird ihn nicht henken.
Bah! versetzte Pitou grimmig, er war ein Aristokrat, ein schmeichelnder Betrüger!
Billot schaute Pitou ganz erstaunt an. Unter dem Blicke Billots errötete Pitou unwillkürlich bis an das Weiße der Augen.
Plötzlich gewahrte der würdige Pächter Herrn Bailly, der nach einer Beratung aus dem Saale in sein Kabinett ging; er eilte auf ihn zu und teilte ihm die Neuigkeit mit.
Nun war aber die Reihe an Billot, einen Ungläubigen zu finden.
Foulon! Foulon! rief der Maire, Tollheiten!
Hören Sie, Herr Bailly, sprach der Pächter, hier ist Pitou, der ihn gesehen hat.
Ich habe ihn gesehen, Herr Maire, sagte Pitou, indem er eine Hand an die Brust legte und sich verbeugte.
Und er erzählte Bailly, was er Billot erzählt hatte.
Da sah man den armen Bailly erbleichen; er begriff den ganzen Umfang der Katastrophe.
Und Herr Acloque schickt ihn hieher?
Ja, Herr Maire.
Aber warum schickt er ihn?
Oh! seien Sie unbesorgt, sagte Pitou, der sich in der Unruhe von Bailly täuschte, es sind Leute dabei, um den Gefangenen zu bewachen; man wird ihn auf dem Wege nicht entführen.
Wollte Gott, daß man ihn entführte, murmelte Bailly.
Dann wandte er sich an Pitou und fragte:
Leute . . . was verstehen Sie darunter, mein Freund?
Ich meine das Volk. Mehr als zwanzigtausend Männer, die Weiber nicht gerechnet, antwortete Pitou triumphierend.
Der Unglückliche! rief Bailly. Meine Herren! meine Herren Wähler!
Und mit scharfer Stimme rief er alle Beisitzer zu sich.
Bei seiner Erzählung hörte man nur Ausrufungen und Angstschreie.
Während eines Stillschweigens des Schreckens, das sodann eintrat, drang allmählich ein verworrener, ferner, unbestimmter Lärm in das Stadthaus.
Was ist das? fragte ein Wähler.
Oh! es ist der Lärm der Menge, antwortete ein andrer.
Plötzlich rollte ein Wagen rasch auf den Platz; er enthielt zwei bewaffnete Männer, die einen dritten bleichen, zitternden Mann aussteigen ließen.
Hinter dem Wagen, geführt von Saint-Jean, der atemloser als je, liefen ungefähr hundert junge Leute von zwölf bis achtzehn Jahren mit bleicher Gesichtsfarbe und flammenden Augen.
Sie schrieen: Foulon! Foulon! und liefen beinahe so rasch als die Pferde.
Die zwei bewaffneten Männer hatten indessen ein paar Schritte Vorsprung vor ihnen, was ihnen Zeit gab, Foulon in das Stadthaus zu schieben, dessen Thüren man vor den heiseren Bellern schloß.
Endlich ist er hier, sagten sie zu den Wählern, die oben auf der Treppe warteten. Teufel! das ist nicht ohne Mühe abgegangen.
Meine Herren! rief Foulon zitternd, werden Sie mich retten?
Ah! mein Herr! antwortete Bailly mit einem Seufzer, Sie sind ein großer Verbrecher!
Aber ich hoffe, mein Herr, es wird doch eine Gerechtigkeit geben, die meine Verteidigung zuläßt? fragte Foulon, immer ängstlicher.
In diesem Augenblick verdoppelte sich außen der Tumult.
Verbergen Sie ihn rasch, rief Bailly den Leuten zu, die ihn umgaben, oder . . .
Er wandte sich gegen Foulon und sagte zu ihm:
Hören Sie, die Lage ist so ernst, daß wir Sie um Ihre Willensmeinung fragen müssen. Wollen Sie – vielleicht ist es noch Zeit – wollen Sie es versuchen, durch eine der Hinterthüren des Stadthauses zu entfliehen?
Oh! nein, rief Foulon, man wird mich erkennen und umbringen.
Ziehen Sie es vor, in unserer Mitte zu bleiben? Ich und diese Herren werden thun, was Menschen möglich ist, um Sie zu verteidigen. Nicht wahr, meine Herren?
Wir versprechen es, riefen die Wähler einstimmig.
Oh! ich will lieber bei Ihnen bleiben. Meine Herren, verlassen Sie mich nicht.
Ich habe Ihnen gesagt, wir werden alles thun, was Menschen möglich ist, um Sie zu retten, antwortete Bailly mit Würde.
In diesem Augenblick entstand ein großes Geschrei auf dem Platze, verbreitete sich durch die Luft und drang durch die offenen Fenster ins Stadthaus ein.
Hören Sie? hören Sie? murmelte Foulon erbleichend.
Die Menge brach in der That brüllend und entsetzlich anzuschauen aus allen nach dem Stadthause mündenden Straßen, und besonders vom Quai Pelletier und aus der Rue de la Bannerie hervor.
Bailly trat an ein Fenster.
Die Augen, die Messer, die Piken, die Sensen und Musketen glänzten in der Sonne. In weniger als zehn Minuten hatte sich der große Platz mit Menschen gefüllt. Das war das Gefolge Foulons, wovon Pitou gesprochen; es hatte sich noch durch Neugierige vermehrt, die, als sie einen gewaltigen Lärm vernahmen, gegen die Grève, als einen Sammelpunkt, liefen.
Alle diese Stimmen, und es waren mehr als zwanzigtausend, schrieen: Foulon! Foulon!
Nun sah man die hundert Vorläufer dieser Wütenden, wie sie der ganzen brüllenden Masse die Thüre bezeichneten, durch die Foulon eingetreten war; diese Thüre wurde sogleich bedroht, und man fing an, sie mit Fußtritten, mit Kolbenstößen und Hebestangen zu bearbeiten.
Plötzlich öffnete sie sich.
Die Wachen des Stadthauses erschienen und rückten gegen die Angreifenden vor; diese wichen anfangs vor den Bajonetten zurück und ließen in ihrem ersten Schrecken einen großen leeren Raum vor der Fassade.
Die Wache nahm auf den Stufen eine feste Stellung ein. Statt zu drohen, sprachen übrigens die Offiziere freundlich zu der Menge und suchten sie zu beschwichtigen.
Bailly hatte beinahe den Kopf verloren. Es war das erste Mal, daß sich der arme Astronom einem Volkstumult gegenüber befand.
Was ist zu thun? fragte er die Wähler.
Man muß ihn richten! riefen mehrere Stimmen.
Man richtet nicht unter der Einschüchterung der Menge, sagte Bailly.
Ah! rief Billot, haben Sie Truppen genug, um sich zu verteidigen?
Oh! wenn Herr von Lafayette benachrichtigt wäre, sagte Bailly.
So benachrichtigen Sie ihn.
Wer wird die Wogen dieser Menge zu durchschneiden wagen?
Ich! erwiderte Billot. Und er schickte sich an, wegzugehen. Bailly hielt ihn zurück. Wahnsinniger, sprach er, schauen Sie diesen Ozean an. Wir werden von einer einzigen seiner Wellen verschlungen werden. Wenn Sie bis zu Herrn Lafayette dringen wollen, gehen Sie hinten hinaus.
Gut, antwortete Billot einfach, und er eilte fort.
Auf dem Platze entzündeten sich indes die Geister, wie es der immer mehr zunehmende Lärm der Menge bewies. Es war schon nicht mehr Haß, es war Abscheu. Die Schreie: Nieder mit Foulon! Foulon den Tod! kreuzten sich wie tödliche Wurfgeschosse bei einem Bombardement, Und schon begannen in dieser Menge Gerüchte in Umlauf zu kommen und sich zu vergrößern, die zu Gewaltthaten aufforderten.
Diese Gerüchte bedrohten nicht nur Foulon, sondern auch die Wähler, die ihn beschützten.
Sie haben den Gefangenen entfliehen lassen! sagten die einen. Gehen wir hinein! gehen wir hinein! sagten die andern.
Zünden wir das Stadthaus an! Vorwärts! vorwärts!
Da Herr von Lafayette immer noch nicht kam, sah Bailly darin noch das einzige Rettungsmittel: die Wähler sollten selbst hinabgehen, sich unter die Gruppen mischen und die Wütendsten zu bekehren suchen.
Foulon! Foulon! Dies war der unablässige Schrei, das ununterbrochene Gebrülle der rasenden Wogen.
Ein allgemeiner Sturm bereitete sich vor; die Mauern hätten nicht widerstanden.
Mein Herr, sagte Bailly zu Foulon, wenn Sie sich nicht der Menge zeigen, so werden diese Leute glauben, wir haben Sie entwischen lassen; sie werden die Thüre sprengen, sie werden hier hereinkommen, und finden sie Sie dann hier, so stehe ich für nichts mehr.
Oh! ich wußte nicht, daß ich so verhaßt bin, murmelte Foulon, indem er seine Arme mutlos niederfallen ließ.
Und von Bailly unterstützt, schleppte er sich zum Fenster.
Ein entsetzliches Geschrei erhob sich bei seinem Anblick. Die Wachen wurden überwältigt, die Thüren eingestoßen; der Strom stürzte sich auf die Treppen, in die Eingänge, in die Säle, die in einem Augenblick mit Menschen gefüllt waren.
Was nur immer an Wachen verfügbar war, stellte Bailly sofort um den Gefangenen auf, und begann sodann zu den Volksmassen zu reden.
Er wollte diesen Menschen begreiflich machen, daß man durch Mord zuweilen einen Akt der Rache begeht, aber in keinem Fall Gerechtigkeit übt.
Nach unerhörten Anstrengungen, und nachdem er zwanzigmal sein eigenes Leben gewagt, gelang es ihm endlich.
Ja, ja, riefen die Stürmenden, man richte ihn! man richte ihn! doch man hänge ihn auf.
Soweit waren sie mit ihrer Beweisführung, als Herr von Lafayette, geführt von Billot, im Stadthause erschien.
Der Anblick seines dreifarbigen Federbusches, eines der ersten, die man getragen, dämpfte sogleich das Geschrei und die Ausbrüche des Zorns.
Der Obergeneral ließ sich Platz machen und wiederholte noch energischer, als Bailly, was dieser bereits gesagt hatte.
Seine Rede wirkte schlagend auf alle, die ihn hören konnten, und die Sache Foulons war im Saale der Wähler gewonnen.
Außen aber hatten zwanzigtausend Wütende Herrn von Lafayette nicht gehört und blieben unerschütterlich in ihrer Raserei.
Auf denn! endigte Lafayette, der natürlich glaubte, die Wirkung, die er auf die Menschen, die ihn umgaben, hervorgebracht, erstrecke sich auch nach außen; auf denn! dieser Mensch muß gerichtet werden.
Ja! rief die Menge.
Infolgedessen befehle ich, daß man ihn ins Gefängnis führt, fuhr Lafayette fort.
Ins Gefängnis! ins Gefängnis! brüllte die Menge.
Zu gleicher Zeit winkte der General den Wachen des Stadthauses, und diese ließen den Gefangenen vorschreiten.
Die Menge dachte nicht andres, als daß nun ihre Beute zu ihr komme. Sie glaubte nicht von fern daran, daß irgend jemand hoffe, ihr diese Beute streitig zu machen.
Sie roch, sozusagen, das frische Fleisch, das die Treppe hinabstieg.
Billot hatte sich mit einigen Wählern, mit Bailly selbst, an das Fenster gestellt, um dem Gefangenen, während er unter dem Geleite der Wachen des Stadthauses über den Platz schreiten würde, mit den Augen zu folgen.
Auf dem Wege richtete Foulon dahin und dorthin verlorene Worte, die, trotz der Beteuerung seines festen Vertrauens, seine tiefe Angst bezeugten.
Edles Volk, sagte er, während er die Treppe hinabstieg, ich fürchte nichts; ich bin unter meinen Mitbürgern.
Und schon kreuzten sich das Gelächter und die Schmähungen um ihn her, als er sich plötzlich außerhalb des düsteren Gewölbes oben auf den Treppen befand, die auf den Platz führten; hier trafen ihn Luft und Sonne ins Gesicht.
Sogleich drang ein einziger Schrei, ein Schrei der Wut, ein Brüllen der Drohung und des Hasses, aus der Brust von zwanzigtausend Menschen hervor. Bei dieser Explosion werden die Wachen durchbrochen, von der Erde aufgehoben, zerstreut, tausend Arme erheben sich gegen Foulon, schleppen ihn fort und tragen ihn an die unselige Ecke unter die Laterne, den gemeinen brutalen Galgen des Zorns, den das Volk seine Rechtspflege nannte.
Billot sah es und schrie von seinem Fenster aus; auch die Wähler trieben die Wache an, die aber nichts mehr thun konnte.
Lafayette stürzte in Verzweiflung aus dem Stadthause; doch er war nicht einmal imstande, durch die ersten Reihen dieser Menge zu dringen, die sich wie ein ungeheurer See zwischen ihm und der Laterne ausbreitete.
Auf die Weichsteine steigend, um besser zu sehen, an den Fenstern, an den Vorsprüngen der Gebäude, an allen Unebenheiten, die ihnen geboten waren, sich anhängend, ermutigten die einfachen Zuschauer durch ihr furchtbares Geschrei die Schauspieler in ihrem entsetzlichen Feuereifer.
Die Schauspieler selbst spielten mit ihrem Opfer, wie es ein Trupp von Tigern mit einer wehrlosen Beute machen würde.
Alle stritten um Foulon. Endlich begriffen sie, daß man die Rollen unter sich verteilen müsse, wenn man an seinem Todeskampf sich weiden wolle.
Er würde sonst in Stücke zerrissen werden.
Die einen hoben Foulon, der schon nicht mehr die Kraft besaß, zu schreien, in die Höhe.
Die andern, die ihm seine Halsbinde abgenommen und seinen Rock zerrissen hatten, schlangen ihm einen Strick um den Hals.
Wieder andre, die auf die Laterne gestiegen waren, ließen den Strick herab, den ihre Gefährten dem Exminister um den Hals schlangen.
Einen Augenblick hielt man Foulon mit den Armen empor und zeigte ihn so, den Strick um den Hals und die Hände auf den Rücken gebunden, der Menge.
Dann, als die Menge den armen Sünder mit Lust beschaut, als sie beifällig in die Hände geklatscht hatte, wurde das Signal gegeben und Foulon bleich und blutig unter einem Gezische, das erschrecklicher als der Tod, zur Höhe des eisernen Laternenarmes aufgehißt.
Alle, die bis dahin nichts hatten sehen können, erblickten nun den über der Menge schwebenden öffentlichen Feind.
Ein neues Geschrei erscholl; dieses galt den Henkern. Sollte Foulon so schnell sterben?
Die Henker zuckten die Achseln und deuteten nur auf den Strick.
Der Strick war alt. Die verzweifelten Bewegungen, die Foulon in seinem Todeskampfe machte, lösten vollends den Faden, der ihn zurückhielt, der Strick riß, und Foulon fiel halb erwürgt auf das Pflaster.
Er war erst bei der Vorrede der Hinrichtung. Jeder stürzte auf den armen Sünder zu; man war ruhig, er konnte nicht fliehen; er hatte bei seinem Fall nur das Bein über dem Schenkel gebrochen.
Und dennoch erhoben sich einige Flüche und Verwünschungen, unverständige, verleumderische Verwünschungen: man klagte die Henker an, man hielt sie für ungeschickte Leute . . . . sie, die doch im Gegenteil so sinnreich zu Werke gegangen waren, sie, die den alten, abgenutzten Strick in der Hoffnung, er werde reißen, gewählt hatten.
Man machte einen Knoten an den Strick und schlang ihn abermals um den Hals des Unglücklichen, der, halbtot, die Augen stier, die Stimme erstickt, um sich her suchte, ob in dieser Stadt, die man den Mittelpunkt des zivilisierten Weltalls nennt, nicht eines von den Bajonetten dieses Königs, dessen Minister er gewesen und der hunderttausend besaß, ein Loch in diese Kannibalenhorde brechen würde.
Doch nichts um ihn her, nichts als der Haß, nichts als die Schmähung, nichts als der Tod.
Tötet mich wenigstens, ohne mich so grausam leiden zu lassen! rief Foulon in Verzweiflung.
Höre, antwortete eine Stimme, warum sollten wir deine Hinrichtung abkürzen? Du hast die unsre lange genug dauern lassen.
Und dann, sagte eine andre, du hast noch nicht Zeit gehabt, deine Nesseln zu verdauen.
Wartet! wartet! rief eine dritte, man wird ihm seinen Schwiegersohn Berthier bringen; es ist Platz an der Laterne gegenüber. Wir wollen das Gesicht sehen, das sich der Schwiegervater und der Schwiegersohn machen werden!
Macht ein Ende! macht ein Ende! rief der Unglückliche.
Bailly und Lafayette baten, flehten, schrieen mittlerweile und suchten durch die Menge zu dringen. Plötzlich erhebt sich Foulon abermals am Ende des Stricks, der abermals reißt, und ihre Bitten, ihr Flehen, ihr Kampf, der nicht minder schmerzlich, als der Todeskampf des armen Sünders, verlieren sich, vermengen sich, erloschen in dem allgemeinen Gelächter, mit dem man diesen zweiten Sturz empfängt.
Bailly und Lafayette, drei Tage vorher noch die unumschränkten Beherrscher des Willens von sechsmalhunderttausend Parisern – heute hörte nicht einmal ein Kind auf sie. Man murrt: sie beengen, sie unterbrechen das Schauspiel.
Vergebens hat ihnen Billot mit seiner Stärke Beistand geleistet, der kräftige Athlet hat zwanzig Menschen niedergeworfen, doch um bis zu Foulon zu gelangen, müßte er fünfzig, hundert, zweihundert niederwerfen, und seine Kräfte sind erschöpft; und während er inne hält, um den mit Blut vermengten Schweiß, der von seiner Stirne fließt, abzuwischen, erhebt sich Foulon bis zum Kolben der Laterne.
Diesmal hat man Mitleid mit ihm gehabt, man hat einen neuen Strick gefunden.
Endlich ist der Verurteilte tot. Das Opfer leidet nicht mehr.
Eine halbe Minute hat der Menge genügt, um außer Zweifel zu sein, daß der Lebensfunke erloschen ist. Nun hat der Tiger getötet, er kann verschlingen.
Oben von der Laterne herabgestürzt, ließ man dem Leichnam nicht einmal Zeit, die Erde zu berühren; er wurde noch früher in Stücke zerrissen.
In einer Sekunde hatte man den Kopf vom Rumpfe getrennt, und in einer Sekunde hob man ihn am Ende eines Spießes in die Höhe. Zu jener Zeit war es stark in der Mode, den Kopf seiner Feinde in solcher Art zu tragen.
Bei diesem Schauspiel erschrak Bailly ungemein, er sah in diesem Kopf die Medusa des Altertums.
Bleich, den Degen in der Hand, schob Lafayette mit Ekel die Wachen von sich, die sich zu entschuldigen suchten, daß sie die minder Starken gewesen.
Stampfend vor Wut und dahin und dorthin ausschlagend, wie eines von den brausenden Pferden der Wildnis, kehrte Billot ins Stadthaus zurück, um nichts mehr von dem zu sehen, was auf diesem mit Blut besudelten Platze vorging.
Was Pitou betrifft, so hatte sich sein Ungestüm für die Volksrache in eine krampfhafte Bewegung verwandelt, und er hatte das abschüssige Ufer des Flusses erreicht, wo er die Augen und die Ohren schloß, um nichts mehr zu sehen und zu hören.
Im Stadthause herrschte Bestürzung: die Wähler fingen an zu begreifen, sie werden nie imstande sein, die Bewegung des Volkes anders zu lenken, als in der Richtung, die dem Volke belieben würde.
Plötzlich, während die Wütenden sich damit belustigen, daß sie den enthaupteten Körper von Foulon in den Gossen umherschleppen, erschallt ein neues Geschrei, rollt ein neuer Donner über die Brücken.
Ein Eilbote stürzt herbei. Die Neuigkeit, die er bringt, weiß die Menge schon. Sie hat auf die Andeutung ihrer geschicktesten Führer erraten, wie die Meute nach der Eingebung des geübtesten Leithundes die Fährte aufnimmt.
Die Menge drängt sich um den Eilboten und schließt ihn ein; sie fühlt, daß er eine neue Beute berührt hat; sie riecht, daß er von Berthier sprechen will.
Aus dem Munde von zehntausend Menschen zugleich befragt, sieht sich der Eilbote genötigt, zu antworten: Herr Berthier von Sauvigny ist in Compiègne verhaftet worden.
Dann dringt er in das Stadthaus ein, wo er Lafayette und Bailly dasselbe verkündigt.
Gut, gut, ich wußte es, erwidert Lafayette.
Wir wußten es, sagte Bailly, und es sind Befehle gegeben, daß man ihn dort bewacht.
Dort bewacht? wiederholte der Eilbote.
Allerdings; ich habe zwei Kommissare mit einer Bedeckung abgeschickt.
Eine Bedeckung von zweihundertfünfzig Mann, nicht wahr? fragte ein Wähler, dies ist mehr als genügend.
Meine Herren, entgegnet der Eilbote, das ist es gerade, was ich Ihnen sagen wollte: die Bedeckung ist zerstreut und der Gefangene durch die Menge entführt worden.
Entführt! ruft Lafayette. Die Bedeckung hat sich ihren Gefangenen entführen lassen?
Klagen Sie nicht an. Alles, was sie thun konnte, hat sie gethan.
Aber Herr Berthier? fragte Bailly ängstlich.
Man bringt ihn nach Paris, antwortete der Eilbote, und in diesem Augenblick ist er in Bourget.
Wenn er hieher kommt, ist er verloren! rief Bailly.
Geschwind! geschwind! rief Lafayette, fünfhundert Mann nach Bourget! Die Kommissäre und Herr Berthier sollen dort anhalten und bleiben; während der Nacht werden wir die Sache überlegen und einen Entschluß fassen.
Aber wer wird es wagen, diesen Auftrag zu übernehmen? versetzte der Eilbote, der aus dem Fenster voll Schrecken das stürmische Meer betrachtete, von dem jede Welle ihren Todesschrei auswarf.
Ich! rief Billot; diesen werde ich retten!
Aber Sie werden umkommen! rief der Eilbote; die Straße ist schwarz von Menschen.
Ich gehe, sagte der Pächter.
Unnütz, murmelte Bailly, der gehorcht hatte. Höret!
Da vernahm man in der Richtung von Porte Saint-Martin ein Geräusch, dem Tosen des Meeres auf den Strandsteinen ähnlich. Dieser wütende Lärm drang über die Häuser empor wie der brodelnde Dampf über den Rand eines Gefäßes.
Sie kommen, sie kommen! murmelte der Eilbote.
Ein Regiment! ein Regiment! rief Lafayette mit dem edlen Wahnsinn der Menschenliebe, der die glänzende Seite seines Charakters war.
Ei! Mord und Tod! rief Bailly, vergessen Sie, daß unsere Armee gerade diese Menge ist, die Sie bekämpfen wollen? Und er verbarg sein Gesicht in seinen Händen.
Die Schreie, die man in der Ferne gehört, hatten sich von der in der Straßen zusammengescharten Menge mit der Schnelligkeit eines Lauffeuers dem Volke mitgeteilt, das auf dem Platze in dichten Haufen stand.
Man sah nun diejenigen, welche die traurigen Ueberreste von Foulon beschimpften, ihr blutiges Spiel verlassen, um einer neuen Rache entgegenzueilen.
Die dem Platze anliegenden Straßen spieen sogleich einen großen Teil dieser brüllenden Menge aus, die, Messer und drohende Fäuste emporhaltend, sich nach der Rue Saint-Martin dem neuen Todeszuge entgegenwälzte.
Die Verbindung war bald bewerkstelligt, man hatte auf beiden Seiten dieselbe Eile.
Einige von den Sinnreichen, die wir auf der Grève gesehen, brachten dem Schwiegersohn am Ende eines Spießes den Kopf seines Schwiegervaters.
Herr Berthier kam mit dem Kommissär durch die Rue Saint-Martin. Er saß in seinem Wagen.
Unter Geschrei, Gezisch und Drohungen fuhr Berthier Schritt für Schritt weiter und sprach ruhig mit dem Wähler Rivière, dem Kommissär, den man nach Compiègne abgesandt hatte, um ihn zu retten.
Das Volk hatte mit dem Wagen angefangen und zuerst dessen Verdeck zerbrochen, so daß Berthier und der Kommissär entblößt und allen Blicken und Streichen ausgesetzt waren.
Unterwegs hörte er sich an seine Verbrechen erinnern, von der Wut des Volkes erläutert und noch vergrößert.
Er hatte Paris aushungern wollen.
Er hatte befohlen, den Roggen und den Weizen grün abzuschneiden; dadurch war der Preis des Getreides gestiegen, und er hatte ungeheure Summen eingenommen.
Man hatte bei ihm ein Portefeuille erwischt; in diesem fanden sich mordbrennerische Briefe, Befehle zum Niedermetzeln, der Beweis, daß zehntausend Patronen an seine Agenten ausgeteilt worden seien.
Das waren entsetzliche Albernheiten; doch es ist ja bekannt, daß die Menge, wenn sie einmal den Paroxismus ihres Zorns erreicht hat, die wahnsinnigsten Neuigkeiten für wahr ausgiebt.
Berthier war noch ein junger Mann von dreißig bis zweiunddreißig Jahren, elegant gekleidet, beinahe lächelnd unter den Streichen und Beleidigungen; mit vollkommener Sorglosigkeit sah er um sich her die schändlichen Anschlagszettel an, die man ihm zeigte, und plauderte ohne Prahlerei mit Riviere.
Zwei über seine Gelassenheit aufgebrachte Menschen wollten ihn erschrecken und aus seiner Haltung bringen. Sie stellten sich jeder auf einen Fußtritt des Wagens und hielten Berthier das Bajonett ihrer Flinte auf die Brust.
Aber mutig bis zur Verwegenheit, ließ sich Berthier dadurch nicht aus der Fassung bringen und sprach fortwährend mit dem Wähler.
Tief gereizt durch diese Verachtung, die so seltsam mit Foulons Angst kontrastierte, brüllte die Menge um den Wagen her und wartete mit Ungeduld auf den Augenblick, wo sie statt einer Drohung einen Schmerz auferlegen könnte.
Da heftete Berthier seinen Blick auf etwas Ungestaltes, Blutiges, das man vor ihm schüttelte, und erkannte plötzlich den Kopf seines Schwiegervaters, der sich bis zur Höhe seiner Lippen neigte. Man wollte ihn den Kopf küssen lassen.
Herr Riviere schob mit seiner Hand den Spieß entrüstet auf die Seite. Berthier wandte sich nicht einmal um.
So kam man auf die Grève, und der Gefangene wurde den Wählern im Stadthause übergeben.
Die Menge nahm ihre Stellung auf den guten Plätzen, bewachte alle Ausgänge, traf ihre Vorkehrungen und bereitete neue Stricke am Kloben der Laterne.
Als Billot Berthier sah, der ruhig die große Treppe des Stadthauses hinaufstieg, weinte er bitterlich.
Pitou, der das Ufer verlassen hatte und wieder zum Quai hinaufgestiegen war, sobald er glaubte, die Hinrichtung sei vorüber, kauerte sich erschrocken hinter eine Bank.
Berthier, als hätte es sich gar nicht um ihn gehandelt, war mittlerweile in den Ratssaal eingetreten und plauderte vertraut mit den Wählern, von denen er die Mehrzahl kannte.
Diese entfernten sich von ihm mit dem Schrecken, der schüchterne Seelen ergreift, wenn sie mit einem Menschen, der beim Volke verhaßt ist, in öffentliche Berührung treten soll.
Berthier sah sich auch bald beinahe allein mit Bailly und Lafayette. Er ließ sich alle Einzelheiten von der Hinrichtung Foulons erzählen; dann zuckte er die Achseln und sagte: Ja, ich begreife das: man haßt uns, weil wir die Werkzeuge sind, mit denen man das Volk gefoltert hat.
Man wirft Ihnen große Verbrechen vor, mein Herr, sprach Bailly mit strengem Ton,
Mein Herr, erwiderte Berthier, wenn ich alle Verbrechen begangen hätte, die man mir vorwirft, so wäre ich ein wildes Tier oder ein Teufel; doch, wie ich glaube, wird man mich richten, und dann wird es klar werden.
Allerdings, sprach Bailly.
Nun! fuhr Berthier fort, das ist alles, was ich wünsche. Man hat meine Korrespondenz, man wird sehen, welchen Befehlen ich gehorcht habe, und die Verantwortlichkeit wird auf diejenigen zurückfallen, denen sie gebührt.
Die Wähler schauten auf den Platz hinaus, von wo furchtbares Geschrei aufstieg.
Berthier begriff die Antwort.
Da durchschnitt Billot die Menge, die Bailly umgab, näherte sich dem Intendanten, bot ihm seine redliche große Hand und sagte: Guten Tag, Herr von Sauvigon.
Ah! du bist es, Billot, rief Berthier lachend, indem er mit einer festen Hand die ihm dargebotene Hand ergriff; du willst also in Paris Aufruhr treiben, mein braver Pächter, du, der du dein Getreide auf den Märkten von Villers-Cotterêts, von Crépy und von Soissons so gut verkauftest?
Trotz seiner demokratischen Bestrebungen konnte Billot nicht umhin, die Ruhe dieses Mannes zu bewundern, der in solcher Weise scherzte, während sein Leben an einem Faden hing.
Nehmen Sie Ihre Plätze ein, meine Herren, sprach Bailly zu den Wählern, wir wollen die Instruktion gegen den Angeklagten beginnen.
Gut, sagte Berthier, nur muß ich Sie darauf aufmerksam machen, meine Herren, daß ich erschöpft bin; seit zwei Tagen habe ich nicht geschlafen; von Compiègne nach Paris bin ich heute gestoßen, geschlagen, gezerrt worden; wenn ich zu essen verlangte, bot man mir Heu, was nicht sehr erfrischend ist; lassen Sie mir einen Ort anweisen, wo ich schlafen kann, und wäre es nur eine Stunde.
In diesem Augenblick ging Lafayette aus dem Saal, um sich zu erkundigen. Er kam niedergeschlagener als je zurück.
Mein lieber Bailly, sagte er, die Erbitterung ist bis auf den höchsten Grad gestiegen. Herrn Berthier hier behalten heißt sich einer Belagerung aussetzen; das Stadthaus verteidigen heißt den Wütenden den Vorwand geben, den sie verlangen; das Stadthaus nicht verteidigen heißt die Gewohnheit annehmen, nachzugeben, so oft man es angreifen wird.
Während dieser Zeit hatte sich Berthier auf eine Bank gesetzt und dann gelegt. Er schickte sich an, zu schlafen.
Die wütenden Schreie gelangten zu ihm durch das Fenster, störten ihn aber nicht; sein Gesicht bewahrte die Ruhe des Mannes, der alles vergißt, um den Schlaf über sein Bewußtsein sich lagern zu lassen.
Bailly beriet sich mit den Wählern und mit Lafayette.
Lafayette sammelte rasch die Stimmen, wandte sich an den Gefangenen, der einzuschlafen anfing, und sagte zu ihm:
Mein Herr, wollen Sie sich bereit halten.
Berthier stieß einen Seufzer aus, erhob sich auf seinen Ellenbogen und fragte: Wozu bereit?
Diese Herren haben beschlossen, daß Sie nach der Abbaye gebracht werden sollen.
Nach der Abbaye? gut, sagte der Intendant. Doch, fügte er bei, indem er die verlegenen Richter anschaute, deren Verlegenheit er begriff, machen wir auf die eine oder die andere Art ein Ende.
Lange zurückgehalten, drang auf einmal wieder ein Ausbruch des Zorns und der Ungeduld von der Grève empor.
Nein, meine Herren, nein, wir werden ihn in diesem Augenblick nicht gehen lassen, rief Lafayette.
Bailly faßte einen Entschluß, er ging mit zwei Wählern auf den Platz hinab und gebot Stillschweigen.
Das Volk wußte so gut, als er, was er sagen würde; da es aber die Absicht hatte, das Verbrechen wiederzubeginnen, so wollte es nicht einmal den Vorwurf hören, und als Bailly den Mund öffnete, erhob sich aus der Menge ein ungeheures Geschrei und brach seine Stimme, bevor sie sich nur hatte vernehmbar machen können.
Da Bailly sah, daß es ihm unmöglich sei, auch nur ein einziges Wort zu artikulieren, kehrte er nach dem Stadthause zurück, verfolgt von den Schreien: Berthier! Berthier!
Dann drangen andre Schreie durch diesen durch. Man brüllte: An die Laterne! An die Laterne!
Als Lafayette Bailly zurückkommen sah, eilte er ihm entgegen. Er ist jung, er ist glühend, er ist geliebt. Was der Greis mit seiner Volkstümlichkeit von gestern nicht hat erlangen können, wird er, der Freund von Washington und Necker, ohne Zweifel, mit dem ersten Wort erlangen.
Doch vergebens drang der Volksgeneral in die Gruppen der Wütendsten; vergebens sprach er im Namen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Nicht eines von seinen Worten wurde gehört.
Von Stufe zu Stufe zurückgestoßen, kniete er auf der Freitreppe des Stadthauses nieder und beschwor diese Tiger, die er seine Mitbürger nannte, ihre Nation nicht zu entehren, sich selbst nicht zu entehren, die Schuldigen nicht zu Märtyrern zu erheben, denen das Gesetz einen Teil Ehrlosigkeit mit einem Teil Bestrafung schuldig sei.
Als er beharrlich fortfuhr, gelangten die Drohungen bis zu ihm, doch er kämpfte gegen die Drohungen. Einige Rasende zeigten ihm dann die Faust und hoben ihre Gewehre gegen ihn empor.
Er ging ihren Streichen entgegen, und ihre Waffen senkten sich.
Aber wenn man Lafayette bedroht hatte, so bedrohte man Berthier noch viel mehr.
Wie Bailly, so kehrte auch Lafayette besiegt ins Stadthaus zurück.
Alle Wähler waren Augenzeugen gewesen, wie machtlos Lafayette gegen den Sturm angekämpft; damit war ihr letzter Wall niedergestürzt.
Sie beschlossen, die Wache des Stadthauses sollte Berthier nach der Abbaye führen.
Das hieß Berthier in den Tod schicken.
Endlich! sagte Berthier, als der Beschluß gefaßt war.
Und er schaute alle diese Menschen mit tiefer Verachtung an und stellte sich unter die Wachen, nachdem er Bailly und Lafayette durch ein Zeichen gedankt und Billot die Hand gereicht hatte.
Bailly wandte seinen Blick voll Thränen, Lafayette seine Augen voll Entrüstung ab.
Berthier stieg die Treppe des Stadthauses mit demselben Schritte hinab, mit dem er sie heraufgestiegen war.
In dem Augenblick, wo er auf der Freitreppe erschien, machte ein entsetzliches, vom Platze ausgehendes Geschrei selbst die steinernen Stufen, auf die er den Fuß setzte, zittern.
Doch, verächtlich und unempfindlich, schaute er alle diese flammenden Augen mit ruhigen Augen an, zuckte die Achseln und sprach die Worte: Wie seltsam ist dieses Volk! Was hat es so zu brüllen!
Er hatte nicht vollendet, als er schon diesem Volke gehörte. Schon auf der Freitreppe rissen ihn grimmige Fäuste aus der Mitte der Wachen heraus. Eiserne Haken zogen ihn an, sein Fuß glitt aus, und er rollte in die Arme seiner Feinde.
Dann riß eine unwiderstehliche Woge den Gefangenen auf dem mit Blut besudelten Wege fort, auf dem Foulon zwei Stunden zuvor geschleppt worden war.
Schon saß ein Mensch, mit dem Stricke in der Hand, auf der unseligen Laterne.
Doch ein andrer Mensch hatte sich an Berthier angeklammert, und dieser Mensch teilte wütend, wahnsinnig, Schläge und Verwünschungen an die Henker aus.
Er schrie: Ihr werdet ihn nicht töten!
Es war Billot, den die Verzweiflung toll gemacht hatte, und zwar toll wie zwanzig Menschen.
Den einen rief er zu: Ich bin einer von den Siegern der Bastille!
Und einige, die ihn wirklich kannten, ließen in ihren Angriffen nach.
Zu andern sagte er: Laßt ihn richten; ich hafte für ihn; läßt man ihn entwischen, so werdet Ihr mich statt seiner henken.
Armer Billot, armer ehrlicher Mann! Die Wellen rissen ihn fort, ihn und Berthier, wie ein Wetterwirbel in seinen weiten Kreisen eine Feder und einen Strohhalm von hinnen trägt.
Er flog und wußte nicht wie und wo, bis er an Ort und Stelle war.
Berthier, den man rückwärts fortgeschleppt und aufgehoben hatte, wandte sich, als er sah, daß man anhielt, um, schlug die Augen auf und erblickte den schändlichen Strang, der über seinem Kopfe baumelte.
Durch eine ebenso heftige, als unerwartete Anstrengung machte er sich von den Händen, die ihn festhielten, los, riß einem von der Nationalgarde eine Flinte aus den Händen und ging mit Bajonettstößen auf seine Henker los.
Doch in einer Sekunde trafen ihn tausend Streiche von hinten, er fiel, und tausend Stöße tauchten aus einem Kreise auf ihn nieder.
Billot war unter den Füßen der Mörder verschwunden.
Berthier hatte keine Zeit zu leiden. Sein Blut entströmte aus unzähligen Wunden seines Leibes.
Da konnte Billot ein Schauspiel sehen, das noch greulicher war, als alles, was er bis jetzt erblickt. Er sah einen Menschen seine Hand in die offene Brust des Leichnams tauchen und das noch rauchende Herz herausziehen.
Derselbe steckte dann dieses Herz an die Spitze seines Säbels, trug es mitten unter der brüllenden Menge, die sich auf seinem Wege vor ihm öffnete, und legte es auf die Tafel des großen Rates nieder, wo die Wähler ihre Sitzungen hielten.
Billot, der eiserne Mann, konnte diesen Anblick nicht ertragen; zehn Schritte von der unseligen Laterne fiel er auf einen Weichstein nieder.
Lafayette, als er diese schändliche, seiner Autorität, der Revolution, die er lenkte, oder vielmehr zu lenken geglaubt hatte, zugefügte Beleidigung sah, Lafayette zerbrach seinen Degen und warf die Stücke davon den Mördern an den Kopf.
Pitou hob den Pächter auf, trug ihn in seinen Armen weg und flüsterte ihm ins Ohr:
Billot! Vater Billot, nehmen Sie sich in acht; wenn sie sehen, daß Sie sich übel befänden, so würden die Mörder Sie für einen Mitschuldigen halten und auch umbringen . . . Das wäre schade . . . ein so guter Patriot! . . .
Hernach zog er ihn nach dem Flusse fort, wobei er ihn so gut, als es ihm möglich war, vor den Blicken einiger Hitz- und Murrköpfe verbarg.