Alexander Dumas
Ange Pitou. Band 2
Alexander Dumas

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Königliche Philosophie.

Diese seltsame Beschäftigung eines Königs, dem seine Unterthanen den Thron untergruben; diese Neugierde des Gelehrten, auf eine physische Erscheinung angewendet, während sich in ihrem ganzen Ernste die wichtigste politische Erscheinung entwickelt, die je in Frankreich stattgefunden hatte, nämlich die Verwandlung einer Monarchie in eine Demokratie, – dieses Schauspiel, sagen wir, eines Königs, der sich unter den heftigsten Stürmen selbst vergaß, hätte sicherlich die großen Geister der Zeit, die seit drei Monaten über der Lösung ihres Problems brüteten, lächeln gemacht.

Während der Aufruhr außen tobte, vertiefte sich Ludwig, die furchtbaren Ereignisse des Tages, die Einnahme der Bastille, die Ermordung von Flesselles, de Launay und Losme, die Nationalversammlung, die sich gegen ihren König zu empören geneigt war, vergessend, – in dieser völligen Privatbeobachtung, und die Enthüllung dieser unbekannten Szene nahm ihn ebensosehr in Anspruch, als die höchsten Interessen seiner Regierung.

Sobald er seinem Kapitän der Garden den erwähnten Befehl gegeben, kehrte er auch zu Gilbert zurück, der nun von der Gräfin den Ueberschuß des Fluidums, mit dem er sie beladen, entfernte, um ihr statt dieses konvulsivischen Somnambulismus einen ruhigen Schlaf zu geben.

Nach einem Augenblick war auch das Atmen der Gräfin ruhig und gleichmäßig, wie das eines Kindes. Mit einer einzigen Geberde der Hand öffnete ihr Gilbert die Augen wieder und versetzte sie in Ekstase.

Nun konnte man in ihrem ganzen Glanze die wunderbare Schönheit von Andrée sehen. Völlig befreit von jeder irdischen Beimischung, floß das Blut, das einen Augenblick bis zu ihrem Gesicht emporgestiegen war und vorübergehend ihre Wangen gefärbt hatte, wieder ins Herz zurück, dessen Schläge sofort ihren gemäßigten Lauf annahmen. Das Gesicht war bleich geworden, doch in jener schönen matten Blässe der Frauen des Orients. Die ein wenig über das gewöhnliche Maß geöffneten Augen waren zum Himmel aufgeschlagen und ließen unten den Stern in der perlmutterartigen Weiße des Augapfels schwimmen; leicht erweitert, schien die Nase eine reinere Atmosphäre einzuatmen. Die Lippen, die ihre ganze frischrote Farbe beibehalten hatten, enthüllten, leicht geöffnet, eine Reihe von Perlen, deren lieblicher Glanz noch erhöht wurde durch ihre Feuchtigkeit.

Der Kopf war mit einer unaussprechlichen, beinahe engelhaften Anmut etwas zurückgeworfen.

Der König blieb wie geblendet; Gilbert wandte seufzend den Kopf ab; er hatte dem Wunsche, Andrée diesen Grad übermenschlicher Schönheit zu geben, nicht widerstehen können. Er machte eine Bewegung, ohne nur den Kopf gegen Andrée umzuwenden, und ihre Augen schlossen sich.

Der König wollte sich durch Gilbert diesen wunderbaren Zustand erklären lassen, bei dem sich die Seele vom Körper löst und frei, glücklich, über den menschlichen Erbärmlichkeiten schwebt.

Gilbert vermochte, wie alle wirklich erhabenen Menschen, das Wort auszuspechen, das der Mittelmäßigkeit so schwer fällt: Ich weiß es nicht. Er bekannte dem König seine Unwissenheit; er brachte eine Erscheinung hervor, die er nicht definieren konnte; die Thatsache bestand, die Erklärung der Thatsache fehlte.

Doktor, sagte der König bei diesem Bekenntnis Gilberts, das ist abermals eines von den Geheimnissen, das die Natur für die Gelehrten einer späteren Generation aufbewahrt, und das, wie so viele andre Mysterien, die man für unauflösbar hielt, ergründet werden wird. Wir nennen sie Mysterien, unsre Väter hätten sie Zaubereien oder Hexereien genannt.

Ja, Sire, erwiderte Gilbert lächelnd, und ich hätte die Ehre gehabt, auf der Grève zur Verherrlichung einer Religion, die man nicht begriff, durch Gelehrte ohne Wissen und durch Priester ohne Glauben verbrannt zu werden.

Und unter wem haben Sie diese Wissenschaft studiert? unter Mesmer?

Oh! Sire, antwortete Gilbert lächelnd, ich habe bereits zehn Jahre früher, ehe der Name Mesmer in Frankreich nur genannt ward, die erstaunlichsten Phänomene dieser Wissenschaft gesehen.

Sagen Sie mir, war dieser Mesmer, der ganz Paris in Aufregung versetzte, Ihrer Ansicht nach ein Charlatan, ja oder nein? Mir scheint, Sie gehen viel einfacher zu Werke. Ich habe seine Experimente erzählen hören, sowie die von Deslon, die von Puységur. Sie wissen, was man alles über diesen Gegenstand gesagt hat, Hirngespinste oder Wahrheiten.

Ja, Sire, ich habe die ganze Debatte verfolgt.

Nun, was denken Sie von der berühmten Kufe?

Eure Majestät wolle mich entschuldigen, wenn ich auf alles, was sie mich über die magnetische Kraft fragt, durch den Zweifel antworte. Der Magnetismus ist noch keine Kunst. Er ist nur eine Macht, eine furchtbare Macht, indem er den freien Willen vernichtet, die Seele vom Leibe trennt, den Leib der Somnambule den Händen des Magnetiseurs übergiebt, ohne daß jene die Kraft oder nur auch den Willen, sich zu verteidigen, behält. Ich, was mich betrifft, habe seltsame Phänomene bewerkstelligen sehen. Ich habe selbst bewerkstelligt, und dennoch zweifle ich.

Wie, Sie zweifeln? Sie bewirken Wunder, und Sie zweifeln!

Nein, ich zweifle nicht, ich zweifle nicht. In diesem Moment habe ich den Beweis einer unerhörten und unbekannten Macht vor meinen Augen. Ist aber dieser sichtbare Beweis verschwunden, bin ich allein in meinem Zimmer, meiner Bibliothek gegenüber, dem gegenüber, was die menschliche Wissenschaft seit dreitausend Jahren geschrieben hat; sagt mir die Wissenschaft nein; sagt mir der Geist nein; sagt mir die Vernunft nein: dann zweifle ich.

Und Ihr Meister zweifelte auch, Doktor?

Vielleicht, doch weniger offenherzig, als ich; er sagte es nicht.

War es Deslon, war es Puységur?

Nein, Sire, nein. Mein Meister war ein Mann, der sehr hoch über den Männern stand, die Sie genannt haben. Ich habe ihn, besonders in Bezug auf Verwundungen, wunderbare Dinge verrichten sehen; keine Wissenschaft war ihm unbekannt. Er hatte sich die ägyptischen Theorien angeeignet. Er hatte die Geheimmittel der alten assyrischen Zivilisation erforscht. Er war ein tiefer Gelehrter, ein gewaltiger Philosoph, denn er besaß die Erfahrung des Lebens, verbunden mit der Beharrlichkeit des Willens.

Habe ich ihn gekannt? fragte der König.

Gilbert zögerte einen Augenblick und sagte: Ja, Sire.

Er heißt?

Sire, antwortete Gilbert, nenne ich diesen Namen vor dem König, so setze ich mich vielleicht seinem Mißfallen aus. In diesem Augenblick aber besonders, wo die Mehrzahl der Franzosen mit der königlichen Majestät ein Spiel treibt, möchte ich nicht gern einen Schatten auf die Ehrfurcht werfen, die wir alle der Majestät schuldig sind.

Nennen Sie kühn diesen Namen, Doktor Gilbert, und seien Sie überzeugt, daß ich auch meine Philosophie habe: eine Philosophie, die genug gestählt ist, um über alle Beleidigungen der Gegenwart und alle Drohungen der Zukunft zu lächeln.

Trotz dieser Ermutigung zögerte Gilbert noch.

Der König näherte sich ihm.

Mein Herr, sagte er lächelnd, nennen Sie mir Satan, wenn Sie wollen, ich werde gegen Satan einen Panzer finden, den, welchen Ihre Irrlehrer nicht haben, den, welchen sie nie haben werden, den, welchen ich vielleicht allein in meinem Jahrhundert besitze und ohne mich zu schämen anlege: die Religion!

Es ist wahr. Eure Majestät glaubt wie der heilige Ludwig, sagte Gilbert.

Und eben darin, Doktor – ich gestehe es – liegt meine Stärke; ich liebe die Wissenschaft, ich achte die Resultate des Materialismus; ich bin Mathematiker, wie Ihnen bekannt ist; Sie wissen, eine Additionssumme, eine algebraische Formel erfüllen mich mit Freude. Doch im Gegensatz gegen die Leute, welche die Algebra bis zum Atheismus treiben, habe ich in Reserve meinen tiefen, unerschöpflichen, ewigen Glauben, meinen Glauben, der mich um einen Grad über sie und unter sie stellt: über sie im Guten, unter sie im Bösen. Sie sehen, Doktor, ich bin ein Mann, dem man alles sagen kann, ein König, der alles hören kann.

Sire, sprach Gilbert mit einer Art von Bewunderung, ich danke Eurer Majestät für das, was sie mir gesagt hat; denn es ist beinahe das Geständnis eines Freundes, womit sie mich beehrt.

Oh! ich wünschte, fügte der schüchterne Ludwig XVI. bei, ich wünschte, ganz Europa könnte mich so sprechen hören. Wenn die Franzosen in meinem Herzen alle Stärke und alle Zärtlichkeit, die es enthält, lesen könnten, ich glaube, sie würden mir weniger widerstehen.

Der letzte Teil des Satzes, der auf die bestrittenen königlichen Vorrechte hindeutete, schadete Ludwig XVI. im Geiste von Gilbert.

Er sagte auch rasch und ohne alle Schonung: Sire, da Sie es wollen, mein Meister war der Graf von Cagliostro.

Oh! rief Ludwig errötend, dieser Empiriker!L'empirique, der Empiriker, wird sehr häufig von den Franzosen in der Bedeutung von Charlatan gebraucht

Dieser Empiriker . . . . ja, Sire, sagte Gilbert. Eure Majestät weiß wohl, daß das Wort, dessen sie sich bedient hat, eines der edelsten ist, die man in der Wissenschaft gebraucht. Empiriker will besagen: der Mensch, der versucht. Immer versuchen, Sire, heißt für einen Denker, für einen Praktiker, für einen Menschen endlich, soviel als thun, was Gott den Sterblichen Größtes und Schönstes zu thun erlaubt hat. Der Mensch versuche sein ganzes Leben hindurch, und sein Leben ist ausgefüllt.

Ah! mein Herr, dieser Cagliostro, den Sie verteidigen, war ein großer Feind der Könige, versetzte Ludwig XVI.

Gilbert erinnerte sich der Halsband-Geschichte.

Will Eure Majestät nicht vielmehr sagen: der Königinnen?

Ludwig zuckte unter dem Stachel.

Ja, sagte er, er hat sich bei der ganzen Angelegenheit des Prinzen Louis von Rohan mehr als zweideutig benommen.

Sire, hier wie anderswo erfüllte Cagliostro die menschliche Sendung: er versuchte für sich. In der Wissenschaft, in der Moral, in der Politik giebt es weder Gutes noch Schlimmes, es giebt nur die bestätigten Erscheinungen, die erlangten Thatsachen. Ich gebe ihn nichtsdestoweniger Ihnen preis, Sire. Der Mensch, ich wiederhole es, kann oft den Tadel verdient haben; vielleicht wird dieser Tadel selbst eines Tages ein Lob für ihn sein; die Nachwelt durchsieht die Urteile der Menschen; doch ich habe nicht unter dem Menschen studiert, Sire, sondern unter dem Philosophen, unter dem Gelehrten.

Gut, sagte der König, der noch die doppelte Wunde seines Stolzes und seines Herzens bluten fühlte, gut, wir vergessen die Frau Gräfin, und sie leidet vielleicht.

Ich werde sie aufwecken, Sire, wenn es Eure Majestät haben will; doch ich hätte gewünscht, das Kistchen wäre während ihres Schlafes hieher gebracht worden.

Warum?

Um ihr eine zu harte Lektion zu ersparen.

Man kommt gerade, sagte der König; warten Sie.

Der Befehl des Königs war pünktlich vollzogen worden; das in dem Palais von Charny in den Händen des Polizeiagenten Pas-de-Loup gefundene Kistchen erschien in dem königlichen Kabinett unter den Augen der Gräfin, ohne daß sie es bemerkte.

Nun! sagte Ludwig XVI.

Sire, das ist das Kistchen, das man mir gestohlen hatte.

Oeffnen Sie es.

Sire, wenn Eure Majestät es wünscht, soll es geschehen. Ich muß Eure Majestät nur auf eines aufmerksam machen. Dieses Kistchen enthält, wie ich Eurer Majestät gesagt habe, Papiere, die sehr leicht zu lesen, zu nehmen sind, während die Ehre einer Frau davon abhängt.

Und diese Frau ist die Gräfin?

Ja, Sire; die Ehre wird aber darum nicht Gefahr laufen, daß sie dem Gewissen Eurer Majestät anheimgegeben worden ist. Oeffnen Sie, Sire, sprach Gilbert, indem er sich dem Kistchen näherte und den Schlüssel dem König reichte.

Mein Herr, erwiderte Ludwig XVI. kalt, nehmen Sie dieses Kistchen mit, es ist Ihr Eigentum.

Ich danke, Sire. Was werden wir mit der Gräfin machen?

Oh! wecken Sie sie hier nicht auf. Ich will das Erstaunen, die Schmerzen vermeiden.

Sire, sprach Gilbert, die Frau Gräfin soll nur dort aufwachen, wohin Eure Majestät es für passend hält sie tragen zu lassen.

Gut, bei der Königin also.

Ludwig klingelte. Ein Offizier trat ein.

Herr Kapitän, sagte er, die Frau Gräfin ist hier, als sie die Nachrichten von Paris vernahm, ohnmächtig geworden. Lassen Sie sie zu der Königin tragen.

Wieviel Zeit braucht man, um sie in die Gemächer Ihrer Majestät zu bringen? fragte Gilbert den König.

Ungefähr 10 Minuten, antwortete dieser.

Gilbert streckte die Hand über der Gräfin aus.

In einer Viertelstunde wird sie aufwachen, sagte er.

Auf Befehl des Offiziers traten zwei Soldaten ein und trugen die Gräfin in zwei Lehnstühlen fort.

Herr Gilbert, was wünschen Sie nun noch? fragte der König.

Sire, eine Gunst, die mich in die Nähe Eurer Majestät bringt und mir zugleich die Gelegenheit verschafft, ihr nützlich zu sein.

Der König harrte. Erklären Sie sich, sagte er.

Ich möchte gern Quartal-Arzt des Königs sein, erwiderte Gilbert; ich werde niemand Eintrag thun: das ist ein Ehrenposten, der jedoch mehr auf dem Vertrauen beruht, als Glanz verschafft.

Bewilligt, sprach der König. Adieu, Herr Gilbert . . . Ah! sagen Sie Necker alles Freundliche. Adieu.

Dann im Weggehen rief er: Mein Abendbrot.

Denn kein Ereignis konnte ihn sein Abendbrot vergessen machen.

 


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