Alexander Dumas d. Ä
Zehn Jahre später
Alexander Dumas d. Ä

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3. Kapitel.
Bragelonne in England

Graf Rudolf weilte in Hampton Court, dem herrlich am Ufer der Themse gelegenen Lustschloß Karls II. Der prachtvolle Park mit den weiten Rasenflächen und imposanten Baumgruppen war der Schauplatz seiner träumerischen Spaziergänge, seiner Seufzer, seiner schwermütigen Gedanken. Kein Wunder, daß er mit seiner Vorliebe für die Einsamkeit eine interessante Figur an dem leichtlebigen Hofe Karl II. bildete, wo man in kokettem Flirt zwischen Kavalieren und Hofdamen dem Hofe Ludwig XIV. um nichts nachstand. Kein Wunder, daß sich die Damen oftmals in ihren Gesprächen mit Rudolf beschäftigten und daß er auch das Thema war, über das sich die zwei jungen Mädchen unterhielten, die an einem schönen, sonnigen Tage am Themseufer lustwandelten.

»Liebe Graffton,« rief die eine mutwillig, »wenn wir uns nach dieser Seite wenden, so kommen wir zu der Bank, wo der junge Franzose einsam sitzt und seufzt.«

»Nein, dorthin gehe ich nicht,« antwortete Miß Mary Graffton. »Doch sage mir, liebe Lady Stewart, du weißt ja um die kleinen Geheimnisse des Königs – warum ist Herr von Bragelonne in England, und was macht er hier?« – »Mein Gott,« antwortete Lady Stewart, »sein König hat ihn zu unserm König geschickt. Er hat wohl nichts Wichtiges hier zu tun. Das Schreiben, das er unserm Herrscher überbracht hat, war sehr kurz und nichtssagend – oder sehr vielsagend, wie man's nimmt. Es lautete nämlich: ›Mein Bruder, ich sende Ihnen einen Edelmann, den Sohn eines Herrn, den Sie lieben. Behandeln Sie ihn gut und machen Sie ihm England angenehm.‹ Das habe ich über des Königs Achsel hinweg gelesen, Mary. Der König von Frankreich hat wahrscheinlich triftige Gründe, Bragelonne fernzuhalten und anderweitig – als in Frankreich – zu verheiraten.«

»Und deshalb hat Karl II. ihn also so fürstlich aufgenommen und behandelt ihn mit so großer Zuvorkommenheit?« – »Ja, und deshalb hat er dich mit ihm zusammengeführt. Du erscheinst ihm als das schönste Geschenk, das er dem Franzosen anbieten kann, du die Erbin von einer halben Million. Ich fürchte nur, Herr von Buckingham wird eifersüchtig werden.«

Als sie diese Worte sprach, trat Herzog von Buckingham, über die Terrasse schreitend, auf sie zu. »Sie irren sich, Miß Lucy Stewart, ich bin nicht eifersüchtig, wenn Miß Mary Graffton sich Herrn von Bragelonne widmet. Ja, ich bitte Sie, sich ihm jetzt wieder zu widmen, weil ich ein paar Worte mit Ihnen, Mylady, zu sprechen habe.« – Mit diesen Worten verneigte er sich vor Fräulein Graffton und ergriff dann zierlich Lady Lucys Fingerspitzen, um sie fortzuführen. Mary Graffton stand eine Weile zaudernd da, dann schritt sie quer über den Rasen zu jener Bank, auf der Rudolf von Bragelonne, in Gedanken versunken, saß.

»Man sendet mich zu Ihnen, mein Herr,« sprach sie. »Ist's Ihnen recht?« – »Und wem verdanke ich diese Ehre, Fräulein?« fragte Rudolf. – »Herrn von Buckingham,« antwortete sie. »Sie sehen, es scheint sich alles zu verschwören, uns immer wieder und wieder zusammenzuführen. Einmal läßt der König mich bei der Tafel neben Ihnen sitzen, ein ander Mal wieder heißt Buckingham mich Sie aufsuchen. Macht man's in Frankreich ebenso deutlich?«

»Miß Graffton, ich bin ja kaum ein Franzose,« antwortete Rudolf, ein wenig befangen, »ich habe viel in fremden Ländern gelebt, meistens im Kriegslager.« – »Und es gefällt Ihnen in England nicht?« fragte die Schöne. – Rudolf sagte nichts, erst nach einer Weile schaute er auf, erkannte wohl, daß das Fräulein eine Frage an ihn gestellt habe, und sagte: »Verzeihung, ich habe nicht gehört –« – »Man tat sehr unrecht, mich hierher zu schicken,« sagte Fräulein Mary. – »Ja, ich bin ein trauriger Gesellschafter, Gnädige. Sie langweilen sich bei mir. Aber wie kann Lord Buckingham Sie zu mir schicken – er liebt Sie doch, und Sie –«

»Nein, Buckingham liebt nur die Herzogin von Orléans,« antwortete Mary, »und ich hege auch keine Liebe zu ihm.« Rudolf sah das Fräulein erstaunt an. – »Aber dennoch hätte er mich nicht zu Ihnen schicken sollen, denn Sie lieben auch eine andere. Ihr Herz weilt in der Ferne, und kaum gönnen Sie mir das Almosen Ihres Geistes. Herr Graf, gestehen Sie es nur.« – »Ja, Fräulein, ich gestehe es,« sagte Rudolf. – Er war so schlicht und schön, sein Auge hatte so warmen Glanz, sein ganzes Wesen drückte so deutlich Freimütigkeit und festen Sinn aus, daß es einer ausgezeichneten Dame wie Mary Graffton nicht einfallen konnte, ihn für unhöflich zu halten. Sie begriff, er liebte mit der ganzen Innigkeit seines Herzens eine andere.

»Sie lieben ein Mädchen Ihrer Heimat,« sprach sie. »Weiß der Herzog von Buckingham um diese Liebe?«

»Nein? Warum sagen Sie es mir? Weil Sie glauben, ich hätte Sie vielleicht liebgewinnen können, und weil Sie viel zu sehr Edelmann sind, um einer flüchtigen Zerstreuung halber die Hand einer Dame zu nehmen. Ich danke Ihnen, Herr von Bragelonne. Wie sollte ich es Ihnen verargen, daß Sie eine Französin lieben? Bin ich doch selbst halb Französin; denn meine Mutter stammte aus Ihrem Vaterlande, Herr Graf. Ich habe auch jetzt noch eine Verwandte in Frankreich; eine Schwester. Sie ist Witwe. Marquise von Bellière – kennen Sie sie vielleicht?« Rudolf stutzte, als er diesen Namen hörte. Ja, er kannte sie dem Namen nach. Er wußte, daß sie die erklärte Geliebte des Herrn Fouquet war, und daß man von ihr erzählte, sie habe vor kurzem erst, um den Oberintendanten aus einer argen Geldverlegenheit zu retten, all ihr Silbergeschirr und ihre sämtlichen Schmucksachen – man sagte, ihre Diamanten seien die schönsten von Paris – für anderthalb Millionen Livres an einen Goldschmied verkauft. – »Sie schreibt mir, sie liebe wieder und werde wiedergeliebt, also ist sie glücklich,« fuhr Mary Graffton fort. »Wir Grafftons haben sonst nicht viel Glück in der Liebe. Doch reden wir von Ihnen! Wer ist denn Ihre Geliebte?«

»Ein sanftes, blasses, armes Mädchen.« – »Aber wenn Sie von ihr geliebt werden, warum sind Sie so traurig?« – »Weil man mir sagt, sie liebe mich nicht mehr,« antwortete Rudolf. »Ich habe einen anonymen Brief erhalten; lesen Sie!« – Mary Graffton nahm das Schreiben, das der Vicomte schon hundertmal gelesen hatte; es lautete: »Vicomte! Amüsieren Sie sich wacker mit den Schönen in England, Sie tun recht daran, denn am Hofe Ludwigs wird die Hochburg Ihrer Liebe belagert. Bleiben Sie also für immer in London, armer Graf, oder aber kehren Sie schnell nach Paris zurück!«

»Anonym!« rief die Graffton. »Das ist gemein. Das glaubt man nie!« – »Täte ich auch nicht,« antwortete Rudolf. »Aber ich habe noch einen zweiten Brief erhalten, von einem guten, treuen Freunde. Als ich abreiste, sagte ich zu ihm: Wenn irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte, dann schreibe mir nur die Worte: Komme zurück! Nun lesen Sie!« – Und Mary Graffton las: »Mein Freund! Ich bin verwundet und liege krank darnieder. Rudolf, kommen Sie zurück! Ihr Graf Guiche.« –

»Und was denken Sie nun zu tun?« fragte Mary Graffton. – »Ich habe den König um Urlaub gebeten. Aber der König antwortete, mein Gebieter hätte mich ja noch gar nicht zurückgerufen. Er hat recht – ich habe noch keinen Befehl zur Rückreise erhalten. Ich muß also bleiben.« – »Und Ihre Geliebte – schreibt sie Ihnen?«

»Niemals.« – »O, dann liebt sie Sie nicht! Doch still, der Herzog kommt.«

Buckingham erschien am Ende der Allee und kam lächelnd näher. – »Haben Sie sich nun verständigt?« fragte er. – »Worüber?« versetzte die Graffton. – »Ueber das, was Sie glücklich und Rudolf weniger unglücklich machen könnte, liebe Mary,« antwortete der Herzog. – »Mylord, Herr von Bragelonne ist glücklich,« entgegnete Mary. »Er liebt und wird wiedergeliebt.« – »Herr von Bragelonne,« antwortete Buckingham ernst, »steht vor einer schweren Katastrophe. Er hat es mehr als jemals nötig, daß man für sein Herz Sorge trägt.«

»Mylord, ich verstehe Sie nicht!« rief Rudolf, »erklären Sie sich deutlicher!« – »Nach und nach,« erwiderte Buckingham. »Doch kann ich Miß Mary sagen, was Sie noch nicht hören dürfen.« – »Sie spannen mich auf die Folter, Mylord!« entgegnete der Vicomte. – »Mylord, ja! was quälen Sie ihn? Ich habe Ihnen doch gesagt, er liebt ein Mädchen seiner Heimat,« sagte Miß Graffton.

»Er hat unrecht. Denn er liebt ein Weib, das seiner unwürdig ist,« sagte Buckingham mit jenem Phlegma, dessen nur ein Engländer fähig ist.

Miß Mary stieß einen Schrei aus; Bragelonne erbebte. »Herzog, was sagen Sie da! Ich werde keine Sekunde säumen, mir die nähere Erklärung in Paris zu holen!« rief er. – »Sie werden bleiben,« versetzte Buckingham. »Denn Sie haben kein Recht abzureisen. Man vernachlässigt königlichen Dienst nicht um eines Weibes willen.« – »So geben Sie mir Aufschluß!« – »Das will ich tun. Ich werde offen mit Ihnen sprechen.«

In diesem Augenblick erschien ein Lakai des Königs und forderte den Herzog auf, sich zu Seiner Majestät zu verfügen. Der Herzog gehorchte und fand den König vor seinem Schreibtische. – »Kommen Sie herein, lieber Buckingham,« sagte Karl II., »und machen Sie die Tür zu. Wie steht es mit unserm Franzosen?« – »Ich bin seinetwegen in Verzweiflung, Majestät,« antwortete der Herzog. »Die reizende Mary Graffton möchte ihn gern heiraten, aber er will nicht.« – »Sehr einfach, so läßt er's bleiben,« sagte der König. – »Und dabei habe ich ihm schon angedeutet, daß seine Lavallière ihn hintergeht,« setzte Buckingham hinzu. – »Was sagte er dazu?«

»Er tat einen Sprung, als wolle er gleich über das Aermelmeer setzen,« sagte der Herzog. – »So ist er von neuem Willens abzureisen?« fragte Karl II. – »Anfangs schien es, als sei keine Macht der Erde imstande, ihn zurückzuhalten, aber Marys schöne Augen –« – »Nun, sieh, Buckingham,« unterbrach ihn der König, »niemand kann gegen seine Bestimmung. Und dieser junge Mann ist dazu bestimmt –« – »Bestimmt?« wiederholte Buckingham, »wozu?« – »Betrogen zu werden, was nichts ist, – und es mitanzusehen, was viel ist. Er kehrt nach Paris zurück.«

»Aber, Majestät, das ist ganz unmöglich!« rief Buckingham, »dieser junge Mann ist ein Löwe. Sein Zorn ist furchtbar, und wenn er sein Unglück vor Augen hat, dann wehe dem Urheber des Unglücks. Und ob es der König selbst ist, ich möchte dann nicht in seiner Haut stecken.« – »Hier lies und sage mir, was du an meiner Stelle tun würdest,« sagte Karl II. und reichte dem Herzog ein Schreiben, das ihm eben erst durch den Expreßboten aus Frankreich überbracht worden war.

Buckingham las: »Mein königlicher Bruder! Wenn Ihnen Ihre Ehre und meine Ehre und das Heil aller Unsrigen am Herzen liegt, so schicken Sie auf der Stelle Herrn von Bragelonne nach Frankreich zurück. Ihre Schwester Henriette Stuart, Herzogin von Orléans.« – »Was sagst du dazu, Villiers?« fragte Karl II. – »Nichts,« antwortete Buckingham. – »Du hast die Nachschrift nicht gelesen, Villiers. Es steht noch eine Zeile ganz versteckt am Rande.« – Buckingham sah noch einmal auf das Blatt und las die Worte: »Tausend herzliche Grüße allen, die mich lieben.« – Er erblaßte und sah zu Boden. Das Blatt Papier zitterte in seiner Hand.

»Bragelonne folge seinem Schicksal,« sprach Karl II., »wie wir dem unsern folgen mußten. Jeder trägt sein Kreuz auf dieser Welt. Ich habe sogar zwei tragen müssen, mein eigenes und das meiner Familie. Ich mache mir keine Sorgen mehr um andere Leute. Zum Teufel damit! Villiers, rufe mir den Franzosen!«

Bragelonne trat ein. »Herr Graf,« redete Karl II. ihn an, »Sie baten mich gestern um Urlaub, ich schlug es Ihnen ab mit der Begründung, der König von Frankreich habe Sie noch nicht zurückgerufen. Ich bin jetzt in der Lage, Ihrem Wunsche zu willfahren. Wenn Sie noch abreisen wollen, so können Sie es tun. Meine Erlaubnis haben Sie. Sie können heute abend noch in Dover sein. Um zwei Uhr früh ist Flut. Ich sage Ihnen also hiermit Lebewohl, Herr von Bragelonne, und wünsche Ihnen alles Glück. Empfehlen Sie mich mit herzlichen Grüßen dem Herrn Grafen de la Fère!« Er winkte huldvoll mit der Hand, Rudolf war entlassen. Buckingham folgte ihm.

In einem Vorsaal trafen sie Lucy Stewart und Mary Graffton. – »Miß Mary,« sagte Buckingham, »Herr von Bragelonne reist ab. O, bitten Sie ihn doch zu bleiben.« – »Ich werde ihn vielmehr bitten zu reisen,« antwortete Mary. »Ich gehöre nicht zu den Frauen, die mehr Stolz als Herz haben. Wenn er eine Geliebte in Frankreich hat, so kehre er dorthin zurück und segne mich dann, daß ich ihm geraten habe, treu zu bleiben. Wenn er in Frankreich nicht mehr geliebt wird, so kehre er nach England zurück, und ich werde ihn wieder lieben. Er wird durch sein Unglück in meinen Augen nichts verlieren. Das Wappen meines Hauses hat einen Spruch, nach dem ich immer gehandelt habe: »Dem Besitzenden wenig, dem Darbenden alles!«

»Ich bezweifle, Freund,« sagte Buckingham zu Rudolf, »daß Sie drüben so viel finden werden, wie Sie hier verlassen.« – »Ich hoffe wenigstens,« sagte Rudolf mit düsterer Stimme, »daß das, was ich liebe, meiner würdig ist. Ist es aber wahr, was Sie gesagt haben, und finde ich eine Unwürdige, so will ich sie aus meinem Herzen reißen, und sollte ich mir das Herz selbst mit der Liebe ausreißen!«

Nach diesen Worten verneigte er sich und ging.

»Ach, Herzog!« rief das junge Mädchen schluchzend und lehnte das Haupt an die Brust Buckinghams. »Er wird nie wiederkommen!« – »Nun denn, so sage ich Ihnen, Mary,« rief der Lord, »er findet in Frankreich sein Glück zerstört, seine Braut gehört einem andern, seine Ehre ist befleckt! Was wird ihm übrigbleiben, da er hier doch immerhin Ihre Liebe hat schätzen lernen?«

Miß Graffton sah träumerisch auf und sprach mit erstickter Stimme die Verse aus »Romeo und Julia«:

»Ich muß von hinnen und leben
Oder muß bleiben und sterben!«

Der König hatte recht gesprochen. Um zwei Uhr früh war Flut, und Rudolf von Bragelonne trat die Rückfahrt nach Frankreich an.



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