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Nunmehr begeben wir uns von der Orangerie nach dem Jagdpavillon. Im Erdgeschosse dieses Pavillons saßen Porthos und d'Artagnan und teilten die langen Stunden ihrer Gefangenschaft, welche diesen beiden Temperamenten so widerwärtig war. D'Artagnan schritt mit stieren Augen und manchmal dumpf brüllend längs der eisernen Stangen eines breiten Fensters, das auf den Diensthof ging, einem Tiger ähnlich, auf und nieder. Porthos wiederkäute stillschweigend ein kostbares Mittagsmahl, von dem die Ueberreste eben weggetragen wurden. Der Eine schien der Vernunft beraubt und tiefsinnig; der Andere schien in tiefes Nachdenken verloren und schlief; nur war sein Schlaf ein schwerer Traum, was sich aus der abgebrochenen und unzusammenhängenden Weise seines Schnarchens erraten ließ. »Seht, der Tag neigt sich,« sprach d'Artagnan. »Es muß ungefähr vier Uhr sein. Es sind bald 183 Stunden, daß wir hier sitzen.« »Hm,« machte Porthos, als wollte er damit eine Antwort gegeben haben. »Hört Ihr denn nicht, ewiger Schläfer!« rief d'Artagnan ungeduldig, daß sich ein Anderer bei Tage dem Schlafe hingeben könne, wo er alle Mühe von der Welt hatte, um nachts schlafen zu können. »Was?« fragte Porthos. »Was ich sage.« »Was sagt ihr denn?« »Ich sage, daß wir schon bald 183 Stunden hier sitzen,« entgegnete d'Artagnan, »Daran seid Ihr Schuld,« sagte Porthos. »Wie, ich bin daran Schuld . . .?« »Ja, ich habe Euch angeboten, uns aus dem Staube zu machen.« »Indem Ihr eine Stange wegrisset oder eine Türe durchbrächet?« »Allerdings.« »Porthos, Leute wie wir gehen nicht so schlicht und einfach davon.« »Meiner Treue! ich würde doch fortgehen mit diesem Schlachtrock und einfach, was Euch gar so verächtlich vorkommt.« D'Artagnan zuckte die Achseln und sprach: »Dann ist auch damit noch nicht alles abgetan, wenn wir aus diesem Gemache wegkommen.« »Lieber Freund,« erwiderte Porthos. »Eure heutige Laune scheint mir etwas besser als die gestrige. Erklärt mir, wie nicht alles abgetan sei, wenn wir von hier wegkommen.« »Es ist damit noch nicht alles abgetan, weil wir ohne Waffen und Losungswort im Hofe nicht fünfzig Schritte machen könnten, ohne auf eine Schildwache zu stoßen.« »Nun,« antwortete Porthos, »so schlagen wir diese Schildwache nieder, und bemächtigen uns ihrer Waffen.« »Ja, bevor sie aber ganz niedergemacht, wird sie einen Schrei oder wenigstens ein Ächzen ausstoßen, wonach der Wachtposten hervortreten wird; man wird uns umringen und wie Füchse fangen, uns, die wir Löwen sind.«
So stand es mit unseren Gefangenen, als Comminges eintrat, dem ein Sergeant und zwei Mann vorangingen, die das Abendessen in einem Korbe voll Schüsseln und Tellern brachten. »Richtig, wieder Hammelfleisch!« rief Porthos. »Lieber Herr von Comminges,« sprach d'Artagnan, »wisset, daß mein Freund, Herr du Vallon, das Äußerste tun will, wenn Herr von Mazarin fortfährt, uns mit dieser Art Fleisch zu füttern.« »Ich erkläre sogar, daß ich nichts anderes essen werde,« sagte Porthos, »wenn man das nicht fortschafft.« »Tragt das Hammelfleisch wieder fort,« sagte Comminges, »ich will, daß Herr du Vallon auf angenehme Weise nachtmahle, um so mehr, da ich ihm eine Botschaft zu bringen habe, welche ihm, davon bin ich überzeugt, Appetit machen wird.« »Ist etwa Herr von Mazarin gestorben?« fragte Porthos. »Nein, ich bedaure sogar, Euch sagen zu müssen, daß er sich recht wohl befindet.« »Desto schlimmer,« entgegnete Porthos. »Macht es Euch Freude, zu erfahren, daß sich der Herr Graf de la Fère wohl befindet?« fragte Comminges. D'Artagnan riß seine kleinen Augen weit auf und rief: »Ob mir das Freude macht? es würde mich derart freuen, daß ich glücklich wäre.« »Nun denn, ich bin von ihm selbst beauftragt, Euch seinen Gruß zu überbringen, und zu melden, daß er gesund ist.« D'Artagnan wäre vor Entzücken fast aufgesprungen. Ein flüchtiger Blick übersetzte Porthos seinen Gedanken. »Wenn Athos weiß wo wir sind,« sprach dieser Blick, »wenn er uns grüßen läßt, so wird Athos alsbald auch handeln.« Porthos war nicht sehr gewandt, Blicke zu verstehen, da er aber diesmal bei Athos' Namen denselben Eindruck empfunden hatte, so verstand er auch. »Allein,« fragte der Gascogner schüchtern, »Ihr sagt, der Graf de la Fère beauftragte Euch mit einem Gruß für Herrn du Vallon und mich?« »Ja, mein Herr.« »Habt Ihr ihn gesehen?« »Allerdings.« »Wo das? ohne Unbescheidenheit.« »Gar nicht weit von hier!« entgegnete Comminges lächelnd. »Gar nicht weit von hier?« wiederholte d'Artagnan mit strahlenden Augen. »So nahe, daß, wären die Fenster nicht vermauert, welche nach der Orangerie gehen, Ihr ihn von der Stelle aus, wo Ihr eben steht, sehen könntet.« Er streicht da herum, dachte d'Artagnan, dann sprach er laut: »Habt Ihr ihn vielleicht auf der Jagd getroffen – im Parke?« »O nein; näher noch, viel näher. Seht dort, hinter jener Mauer,« sprach Comminges und klopfte an die Wand. »Hinter jener Mauer? Was ist denn dort hinter der Mauer? Man brachte mich des Nachts hierher, und so weiß ich den Teufel, wo ich mich befinde.« »Nun, so setzt eines voraus,« sprach Comminges. »Ich will alles voraussetzen, was Ihr wollet.« »Setzt voraus, es befindet sich an dieser Wand ein Fenster.« »Nun?« »Nun, so könntet Ihr von diesem Fenster aus den Herrn de la Fère an dem seinigen erblicken.« »Wohnt also de la Fère im Schlosse?« »Ja.« »Unter welchem Titel?« »Ebenso wie Ihr,« »Athos ist Gefangener?« »Ihr wißt doch,« erwiderte Comminges lächelnd, »in Rueil gibt es keine Gefangenen, weil es da kein Gefängnis gibt.« »Streiten wir nicht um Worte, mein Herr! Athos wurde also verhaftet?« »Gestern in Saint Germain, als er von der Königin wegging.« Die Arme d'Artagnan's glitten schlaff an seiner Seite herab, als wäre er vom Blitze getroffen worden. Die Blässe ergoß sich wie eine weiße Wolke in sein Antlitz, verschwand aber sogleich wieder. »Gefangen!« stammelte er. »Gefangen!« wiederholte Porthos niedergeschlagen. Auf einmal richtete d'Artagnan den Kopf wieder empor, und man sah in seinen Augen einen Blitz zucken, den Porthos kaum bemerkt hätte. Dann folgte diesem flüchtigen Scheine die vorige Niedergeschlagenheit wieder.
Comminges, der zu d'Artagnan wirklich eine freundschaftliche Neigung gefaßt hatte, und zwar seit jenem großen Dienste, den ihm dieser am Tage von Broussel's Verhaftung erzeigt hatte, wo er ihn den Händen der Pariser entriß, sprach zu ihm: »Ha doch! weit entfernt, daß ich Euch eine traurige Botschaft überbringen wollte. Bei dem jetzigen Kriege ist unser ganzes Sein ungewiß. Lacht also über den Zufall, der Euren Freund und Euch näher bringt, statt daß Ihr untröstlich darüber seid.« Diese Aufforderung hatte aber keinen Einfluß auf d'Artagnan, er behielt seine traurige Miene. »Was für eine Miene machte er denn?« fragte Porthos, der die Gelegenheit nützen und sein Wort anbringen wollte, als er sah, daß d'Artagnan das Gespräch fallen ließ. »Nun, eine recht gute Miene,« antwortete Comminges. »Anfangs zeigte er sich wohl ziemlich trostlos wie Ihr; als er jedoch erfuhr, daß ihm der Kardinal diesen Abend noch einen Besuch machen wollte . . .« »Ha!« rief d'Artagnan, »der Herr Kardinal will dem Grafen de la Fère einen Besuch machen . . .« »Ja, er ließ es ihm melden, und als der Herr Graf de la Fère das hörte, gab er mir den Auftrag, Euch zu sagen, er wolle diese Gunst des Kardinals dazu nützen, für Eure Sache und für die seinige zu reden.« »O der liebe Graf!« rief d'Artagnan. »Eine hübsche Sache!« murmelte Porthos, »eine große Gunst! Bei Gott! der Graf de la Fère, dessen Familie mit den Montmorencys und den Rohans verwandt ist, ist doch ebenbürtig mit Herrn von Mazarin!« »Gleichviel,« entgegnete d'Artagnan in seinem plattesten Tone; »wenn man das in Erwägung zieht, lieber du Vallon, so ist es viel Ehre für den Herrn Grafen de la Fère, auch läßt sich viel Hoffnung dabei nähren. Ein Besuch – nach meiner Ansicht ist es selbst eine so große Ehre für einen Gefangenen, daß ich glaube, Herr von Comminges sei im Irrtume.« »Wie? ich bin im Irrtume?« »Herr von Mazarin wird wohl nicht den Grafen de la Fère besuchen, sondern der Herr Graf de la Fère wird zu Herrn von Mazarin berufen werden.« »Nein, nein, nein!« rief Comminges, der darauf hielt, daß man die Dinge in ihrer ganzen Genauigkeit herstelle. »Ich habe das, was der Herr Kardinal gesagt hat, ganz richtig verstanden. Er wird den Herrn Grafen de la Fère besuchen.« D'Artagnan war bemüht, von Porthos einen Blick aufzufangen, ob sein Freund die Wichtigkeit dieses Besuches einsehe, allein Porthos sah gar nicht nach dieser Seite hin. »Es ist also eine Gewohnheit des Herrn Kardinals, daß er in seiner Orangerie spazieren geht?« fragte d'Artagnan. »Er schließt sich dort jeden Abend ein,« antwortete Comminges; »es scheint, daß er dort über die Staatsangelegenheiten nachdenke.« »Dann fange ich an zu glauben,« versetzte d'Artagnan, »daß Herr de la Fère von seiner Eminenz einen Besuch empfangen werde; überdies wird er sich sicher begleiten lassen.« »Ja, von zwei Soldaten.« »Und so wird er vor zwei Fremden über Geschäfte sprechen?« »Die Soldaten sind Schweizer aus kleinen Kantons und verstehen bloß Deutsch. Ueberdies werden sie wahrscheinlich an der Türe warten.« D'Artagnan grub seine Fingernägel in die Ballen seiner Hände, damit sein Gesicht keinen andern Ausdruck annehme, als den er ihm eben erlauben wollte, und sprach dann: »Herr von Mazarin mag auf seiner Hut sein, bei dem Grafen de la Fère so allein einzutreten, da der Graf de la Fère wütend sein muß.« Comminges fing an zu lachen und fragte: »Ha doch, man sollte wirklich meinen, Ihr wäret Menschenfresser; Herr de la Fère ist höflich und überdies hat er keine Waffen. Auf den ersten Ruf Seiner Eminenz würden die zwei Soldaten, die ihn stets begleiten, herbeistürzen.« »Zwei Soldaten,« versetzte d'Artagnan, während er seine Erinnerungen zu sammeln schien, »zwei Soldaten; ja, also deshalb höre ich jeden Abend zwei Mann rufen, die ich oft eine halbe Stunde lang unter meinem Fenster auf- und niederschreiten sehe?« »Ganz richtig, sie warten auf den Kardinal, oder Bernouin vielmehr, der sie ruft, wenn der Kardinal ausgeht.« »Hübsche Männer, meiner Treue,« sprach d'Artagnan. »Es ist das Regiment, welches bei Lens war, und das der Prinz dem Kardinal gab, um ihm Ehre zu erweisen.« »O, mein Herr,« sagte d'Artagnan, um daß lange Gespräch gleichsam in ein Wort zu fassen, »wenn sich nur Seine Eminenz erweichen läßt, und Herrn de la Fère unsere Befreiung zugesteht.« »Das wünschte ich von ganzem Herzen,« entgegnete Comminges. »Würdet Ihr es dann nicht ungebührlich finden, ihn zu erinnern, wenn er auf diesen Besuch vergessen sollte?« »Ganz und gar nicht.« »O, das beruhigt mich wieder ein bißchen.« Diese schlaue Wendung des Gespräches hätte jedem ein erhabenes Manöver geschienen, der in des Gascogners Herzen zu lesen verstand. »Nun noch eine letzte Vergunst,« fuhr er fort, »ich bitte Euch, lieber Herr Comminges.« »Ich bin ganz zu Euren Diensten, mein Herr.« »Ihr werdet den Grafen de la Fère wiedersehen?« »Morgen früh.« »Wollet Ihr ihm für mich einen guten Tag wünschen und ihm sagen, er möchte für mich um dieselbe Gunst nachsuchen, die er wird erlangt haben.« »Ihr wünscht also, der Herr Kardinal möge hierher kommen?« »Nein, ich kenne mich, ich verlange nicht so viel. Möge mir nur Seine Eminenz die Ehre erzeigen, mich anzuhören, mehr wünsche ich nicht.« »O,« murrte Porthos kopfschüttelnd, »das hätte ich nie von ihm gedacht. Wie doch das Unglück einen Menschen erniedrigt.« »Das soll geschehen,« versetzte Comminges. »Versichert auch den Grafen, daß es mir wohl gehe, und wie Ihr mich zwar traurig gesehen habt, doch ergeben in mein Schicksal.« »Mein Herr, Ihr gefallt mir, wenn Ihr das sagt.« »Sagt dasselbe auch für Herrn du Vallon.« »Für mich? o nein,« rief Porthos; »ich bin ganz und gar nicht ergeben in mein Schicksal.« »Doch werdet Ihr Euch darein ergeben, Freund.« »Niemals!« »Er wird sich darein ergeben, Herr von Comminges, ich kenne ihn besser, als er sich selbst kennt, und weiß von ihm tausend ausgezeichnete Eigenschaften, die ihm selbst unbewußt sind. Schweigt, lieber du Vallon, und ergebt Euch in Euer Los.« »Gott befohlen, meine Herren,« sprach Comminges. »Gute Nacht!« »Wir wollen dahin trachten.«
Comminges verneigte und entfernte sich. D'Artagnan folgte ihm mit den Augen in derselben demutsvollen Haltung und derselben ergebenen Miene. Doch kaum war die Türe hinter dem Gardekapitän wieder geschlossen, als er auf Porthos zurannte, und ihn mit einem Ausdruck von Freude umarmte, an dem man nicht irre werden konnte. »O,« rief Porthos, »o, was ists denn? armer Freund, werdet Ihr etwa verrückt?« »Was es ist?« versetzte d'Artagnan; »daß wir gerettet sind.« »Ich finde das ganz und gar nicht heraus,« entgegnete Porthos; »im Gegenteil sehe ich, daß wir alle gefangen sitzen, Aramis ausgenommen, und daß sich unsere Aussicht auf Befreiung verringert hat, seit einer mehr in Mazarins Schlinge geraten ist.« »Ganz und gar nicht, Porthos, mein Freund, diese Schlinge war zureichend für Zwei, wird aber für Drei zu schwach.« »Ich verstehe Euch durchaus nicht.« erwiderte Porthos. »Es ist auch nicht nötig,« sprach d'Artagnan; »setzen wir uns zu Tische, und sammeln wir Kräfte, die wir wohl in der Nacht brauchen werden.« »Was wollen wir denn diese Nacht tun?« fragte Porthos mehr und mehr gespannt. »Wir werden wahrscheinlich reisen.« »Doch . . .« »Setzen wir uns zu Tische, lieber Freund, die Gedanken kommen mir während des Essens. Habe ich nach dem Mahle meine Gedanken beisammen, will ich sie Euch mitteilen.