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1828 – 1870
Albrecht von Graefe darf als der Begründer der modernen Augenheilkunde bezeichnet werden. Nachdem er Zehntausenden Licht gespendet und Tausenden Führer und Lehrer gewesen ist, wurde er im Beginn des besten Mannesalters durch tückische Krankheit hinweggerafft.
Graefes Leidensgeschichte beginnt im Herbst 1868. Als er fühlte, daß sein dem Wohl der Kranken und dem Ausbau der Wissenschaft geweihtes Leben einem früheren Ende zuneigte, als sein noch jugendliches Alter hätte erwarten lassen, arbeitete er mit rücksichtslosem, verdoppeltem Eifer weiter, um die kleine Frist auszunützen, die ihm noch vergönnt war. Immer kürzer wurden die Zwischenräume leidlichen Wohlseins, immer verhängnisvoller bildete sich aus den Rückfällen der Rippenfellentzündung das erschöpfende Lungenleiden aus, über dessen Ausgang er sich selbst völlig klar war.
In den an seine Freunde gerichteten Briefen spricht Graefe mehr von Arbeitsunfähigkeit als von Krankheit, mehr über die Erkrankung seiner Frau und vom Tode seines Söhnchens als von seinem eigenen Leiden. Julius Hirschberg hat in der kleinen Biographie (Feuer-Verlag, Leipzig), die er seinem Lehrer und Meister gewidmet hat, die Briefe aus Graefes letzter Zeit mitgeteilt, wo es u. a. am 23. Mai 1870 heißt: »Daß ich mir als verständiger Mensch und Arzt keine übertriebenen Hoffnungen mache, versteht sich von selbst; allein Beschäftigung bis zum letzten Augenblick scheint mir das Beste und hält jedenfalls von unnützem Grübeln ab.« Sein Arzt Traube hatte Graefe nach Inselbad bei Paderborn und später nach Lippspringe geschickt. Am 20. Juli 1870 ist Graefe in Berlin seinen Leiden allzufrüh erlegen.
Obwohl Graefe nur in den Morgenstunden und auf seinen Reisen zu literarischer Arbeit kam, hat er doch 2500 Druckseiten mit seinen Schriften gefüllt, etwa soviel wie Lessing geschrieben hat. Erst zwei Jahre vor seinem Tode wurde Graefe ein besonderer Lehrstuhl, eine Abteilung für Augenkranke an der Universität in Berlin eingerichtet.
Den Verlauf seiner Krankheit hat Graefe in einem Brief an einen Freund geschildert, der leider ohne Datum wiedergegeben ist. (A. v. Graefe, Ein Lebensbild von seinem Enkel Joachim von Bonin. 1917. Nicht im Handel. S. 46 ff.)
»Mein Übel, ein rechtsseitiges pleuritisches Exsudat, hatte ich ohne Zweifel die letzten Wochen meines Berliner Aufenthalts bei mir herumgeschleppt ... Auf der Brust hatte ich jedoch nicht das Mindeste gespürt. Erst Abends, während des Treppensteigens bemerkte ich einige Beklemmungen, welches die erste Veranlassung gab, mich beim Schlafengehen zu percutieren. Ich traute meinen Fingern und Ohren nicht, soweit ich aus dem Percutieren meines Secretärs entnehmen konnte, bis zur Spina scapulae. Tags darauf war ich ein deprimierter Mann – aber Ende September kam der Hauptstoß ... Durch die Heftigkeit des Fiebers, die wiederkehrenden Fröste und typischen Exacerbationen bekam die Sache bald ein ziemlich ominöses Aussehen. Man mußte teils an eitrige Metamorphose des Exsudates, teils an eine bevorstehende tuberkulöse Infiltration denken. Hierbei nahm das Körpervolumen stetig ab und erreichte im November die macies einen formidablen Grad. Obwohl meine Gedanken nun zwischen der Chance des Unterliegens und der weit schlimmeren, einer bleibenden Invalidität, schwebten, so hatte doch meine moralische Stimmung seit jener Zeit ... wesentlich gewonnen, ja ich kam allmählich in eine gewisse Heiterkeit, soweit sie sich mit einer Summe bürgerlicher Plagen verträgt, hinein.
Wenn der Mensch frisch von einem Unglück getroffen ist, mißt er nur die Größe des Verlustes, er fühlt sich auf der Glücksleiter plötzlich heruntergeschleudert, und kann seinen wehmütigen Blick von dem höheren Standpunkt nicht abwenden, den er früher einnahm. – Später, wenn sich das Unglück eingebürgert, lernt er von seinen früheren individuellen Glücksansprüchen abstrahieren, kommt auf die allgemeinen Menschenrechte zurück und gewinnt für sein Schicksal förderliche Vergleichspunkte. So ging es auch mir; ich war aus einem belebten und mich befriedigenden Wirkungskreise, aus den Trümmern eines langersehnten häuslichen Glücks plötzlich herausgerissen, um vielleicht nur dem Kampfe meines geschäftigen Temperaments gegen einen gebrechlichen Körper unfruchtbare Jahre zu weihen. Der Ruck in meinem Wesen war erheblich und warf mich anfangs moralisch sehr darnieder. Später, als sich das Bild des Glückshelden allmählich verdunkelte und das des allgemeinen menschlichen Pleuritikers – um in meiner Sprechweise zu bleiben – in den Vordergrund trat, da fühlte ich mich, umgeben von so vielen und treuen Pflegern, überschüttet mit den Zeichen der Teilnahme von allen Ecken und Enden relativ recht beglückt und vom Himmel wahrlich bevorzugt, wenn ich an den armen, verlassenen Pleuritiker in einem Hospitale dachte, welcher dieselben geistigen und körperlichen Zustände, ohne all' die physischen und gemütlichen Komforts durchzumachen hat, welche mir vergönnt waren. Könnten wir doch diese Auffassungsweise, die wir freilich oft genug formulieren, aber doch nicht eigentlich wirken lassen, in die gesunden Tage mit hinüber nehmen, wie anders würden wir das Dasein genießen! – ... Die Verhältnisse in der Brust haben sich in bestmöglicher Weise umgestaltet; vorn und in der Seite ist das Exsudat verschwunden; hinten reicht eine Dämpfung, von zurückgebliebenen Schwarten herrührend, noch ziemlich hoch hinauf. Es scheint, daß die Lunge ihre Functionen ohne wesentliche Störungen wieder übernehmen wird. Natürlich schwebt über meinem Haupte immer noch das Damoklesschwert, die Gefahr eines Recidivs. Auch der Tuberkulose halte ich mich nicht eher für entronnen, als bis der freie Verkehr mit der frischen Luft glücklich eröffnet ist ...«
Anfang Februar – wohl 1862 – war Graefe soweit wieder hergestellt, daß er von Baden-Baden nach Nizza übersiedeln konnte, wo er den Winter (1862/63) blieb. Er schien soweit wieder hergestellt, daß er im Mai nach Berlin zur Arbeit in seine geliebte Klinik wieder zurückkehren konnte.
Als ein Russe sein Kind Graefe – ein Jahr vor dessen Tode (1869) – zur Operation anvertrauen wollte, fand er ihn bleicher geworden, und ein leidender Zug umflorte sein Antlitz. Die Augen waren eingesunken, und die Stimme hatte ihren Silberklang verloren. Während Graefe sprach, überraschten ihn Anfälle von Lungenbluten. Dabei äußerte er resigniert und doch so richtig: »Cette maladie va vite, parfois il est tout arrosé de sang«, indem er auf das Taschentuch wies. Er hatte sich nicht getäuscht, daß er nur noch wenige Monate vor sich hatte.