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Weil Seltsames zu erzählen ist, so sei vorausgeschickt, daß das Erzählte sich in Wahrheit in einer süddeutschen Stadt begeben hat, aber trotzdem etwas von einem Zeichen und Gleichnis an sich zu haben scheint.
In den Sommertagen des großen deutschen Krieges, da der Aufbruch unserer Heere vor sich ging, stand neugierig auch ein junges, schönes Mädchen auf der Gasse und schaute dem ausgewechselten Triebwerk zu. Es war ein Bild jener holden, von einer edlen Mutter gepflegten Jungfräulichkeit, die noch nichts in ihrem Grund angerührt hat. Im weißen Kleid stand das dunkelblonde Morgenwesen an der Ecke, von der Sonne und frischen Winden in freundlichem Spiel gehalten.
Der hochbewegte Gang der Stunde ließ indes den kecken Versuch zu, daß plötzlich ein junger Feldsoldat aus der Menschenflut vor die helle Gestalt hin heraustauchte und ihr unversehens einen Kuß gab. Dieser galt wohl der betroffen zurückweichenden Wange, traf aber oben an der Brust die Mitte des kleinen, vorne spitzen Halsausschnittes.
Die heftig Erschrockene sah in auffälligem Gegensatz zu solcher Kühnheit ein Paar auch beinahe in Schrecken geratene Augen, die vielleicht braun waren, und hörte von bittend durchwärmter Stimme etliche Worte der Entschuldigung. Dann war der Angreifer wieder verschwunden.
Sie griff mit der einen Hand rasch bedeckend nach der überfallenen Stelle, in der anderen Hand hielt sie neben dem schwarzseidenen Beutel eine vorher nicht dagewesene rote Rose, die jetzt schier weggeworfen wurde, aber dennoch zögernd blieb.
Die Mauerwand des Eckhauses war nicht weit zurück und bot Platz, sich daran zu lehnen. Eine Freundin kam wehend des Weges, staute ihre Eile und frug: »Was hast du denn, Elisabeth?«
Die Gefragte konnte nur weinen und ließ sich, wie von einem Unfall betäubt, heimbegleiten.
Niemand, auch nicht die sonst in allem zur Vertrauten gemachte Mutter, erfuhr etwas von dem Vorfall.
Am nächsten Tag und fortan trug das Mädchen ein um den Hals geschlossenes Kleid. Diese unscheinbare Änderung aber verwandelte dennoch die ganze Erscheinung. Mit dem geborgenen Fleck barg sich auch diese und zog die sprühende Luft des ungestörten Zustandes um ihre Ränder ein; über Nacht war ein ernstes, zugefaltetes Fräulein geworden. Wer es sah, sagte, ohne zu wissen warum, auch seinen Namen anders, schwerer betont.
Fräulein Elisabeth stand darauf an, Krankenpflegerin draußen im Feld zu werden, bei diesem Wunsch auf das Vorbild ihrer edlen thüringischen Patronin verweisend; und seltsam sah zunächst niemand mehr die eben noch kindhafte Jugend oder fand sonst einen Einwand. Es war natürlich, daß die von dem Ereignis des Krieges Ergriffene ihren Weg ging; auch die Mutter gab nur eine zärtliche, leis stolze Befriedigung kund.
Erst der die samaritanischen Anwärterinnen auswählende Arzt traf kühlen Blickes den Mangel; er sagte, solch früher Eifer werde sonst genug Arbeit kriegen.
Und da geschah von neuem Überraschendes; als hätte das Wort des Kenners die Hülle jener inneren Abschließung wieder gelockert, wendete die Fortgewiesene sich den mancherlei äußeren Gelegenheitsdiensten der bedürftigen Zeit zu. Gleich einem Vogel war sie bald bei den Geldsammlerinnen, bald in den Armenstuben, bald in den Nähsälen, bald an den Truppenzügen mit der Kaffeekanne, bald in den Lazaretten unter freiwilligen Konzertgebern.
Von einem Drang der Allgegenwart getrieben, wollte sich jede ihrer Stunden der allenthalben rufenden Not verschenken. Die ganze Stadt wurde ein Gehäus und Gangwerk ihrer Füße, denen nimmerruhende Schuhe anzuhaften schienen.
Dennoch brachte die Willkommene jedem Ort und jeglichen Menschen eine Rast. Wo man sie kannte, wartete man fortan auf ihren Tritt und ihre Art, die Türklinke zu drücken; wo sie zum erstenmal erschien, wurden auch trübe Augen vor dem Begebnis klar. Wohltat ging mit ihr aus und ein.
Einmal am Bahnhof winkten die abfahrenden Soldaten aus den Wagen noch der Trankspenderin zu; dabei stürzte der Dankbarste auf den Bahnsteig hinunter. Wenige Tage nachher saß der Mann mit geschienten Armen unter den Zuhörern, als Elisabeth wieder den Verwundeten sang. Das ist ein Beispiel.
Der Sängerin zumal wuchs bald eine Glorie um das schon an sich scheinende Gesicht. Ihr alter Lehrer hatte die dem Helfen aufgetane Schülerin zum Auftritt bestimmt und seitdem am Klavier begleitet. Es war etwas gleich einem Wunder, wie die meist einfachen, oft gehörten Lieder von dem Mund der Achtzehnjährigen ausgingen, als hätte noch kein Mund vorher ihre Worte und Weise gesungen, als entdeckten die Horcher den bisher taub gebliebenen Sinn ihrer Schönheit und ihres Inhaltes. Wurde es danach wieder still im Raum, dann fragten alle Augen: Du junges Mädchen, woher hast du das?
Diese begnadeten Reize wirkten denn auch aus den Vorgängen, die gehütet dahinter spielten.
Elisabeth hatte den Groll gegen den verwegenen Abenteuerer eher verloren, als die Scham es wahrhaben mochte, und sich ihm bald als demjenigen zugekehrt, der ihr Schicksal geworden war. Sie wurde das Geschöpf dieser absonderlich entzündeten Liebe.
Wohl konnte die Vorstellung nicht nach deren Gegenstand greifen, und keiner der inneren Spiegel brachte es fertig, das vorübergeglittene Bild des Jünglings zu stellen. Vielleicht hatte er braune Augen …
Sie wußte nur, ein fremdes Wesen war über ihr Wesen gekommen und hatte davon Besitz genommen. Nichts, denn der Treff des Kusses blieb, der den geschreckten Körper bis durch die Seele hindurch schlug und auslieferte.
Ihre Gedanken und Gefühle mußten überallhin, zu suchen, und fanden nirgendhin. Sie waren in die weiserlose Kreuzung von tausend Wegen gestellt nach Schlachtfeldern hinaus; unter jedem Himmelsstrich konnte der Geliebte kämpfen, unter jedem Sternbild schlafen. Alle Gefahren der Ferne rundum umlegten ihn, und kein Zeichen der Geängstigten kam nahe. Diese zitterte unter jeder besorglichen und hob sich unter jeder siegreichen Nachricht. Sie stand mitten inne, die argen Geschehnisse liefen wie in ein Gefäß auf ihren Platz zu. Die europäische Karte hing an der blauen Wand des Mädchenzimmers.
So geschah es, daß die Braut des Namenlosen auf rätselhafte Art etwas wurde, wie die Braut auch eines jeden der draußen stehenden Streiter und gleichsam das Sinnbild der Frauen, die ihrer einen fortgegeben hatten. Das Herz des Inbegriffs aller daheimgebliebenen Liebe war sie geworden.
Manchmal verhielt die plötzlich Bewegte es nicht, auf der Straße einem Urlauber die Hand zu geben, dann aber, selber betreten, nur nach Gleichgültigem zu fragen oder eine Blume zu schenken. Auch ließ sie sich von Freundinnen über deren Verlobte erzählen und Briefe zeigen, stille, unbestimmte Vergleiche zwischen das Vernommene webend.
Der Quell solcher schier zauberhaften Wandlung war der von dem Fremdling berührte Fleck auf ihrer Brust, den seither kein Auge mehr gesehen hatte. Es hing jetzt über dem Kleid an der Stelle eine kleine Goldkapsel, nur mit einem Rosenblatt darin. Nachts lag die rechte Hand dort im Schlaf und legte sich des Tages dorthin bei einer Überraschung, bei einem inständigen Wort, auch wenn etwa die Sängerin dem Beifall ihrer Zuhörer dankte.
Eines Morgens – etwa anderthalb Jahre nach dem Kriegsbeginn – kam Elisabeth schwarz angezogen zu der Mutter herab, erzählte ihre Geschichte und sagte, ihr Anvertrauter sei gefallen. Dann öffnete sie das Kleid, ein rotes Mal zeigend, das in der Nacht entstanden war.
Abends ging sie wieder, zu singen.
Bald darauf offenbarte sich, daß das von einem so merkwürdigen Geschick heimgesuchte Frauenwesen an den Erlebnissen mehr und mehr von seinem irdischen Gewicht verlor, dünnwandig wurde und sich verzehrte.
In den Tagen der Sommeschlacht fing die Hinfällige an, über ein Opfer zu sprechen, das ihr zu bringen aufgetragen sei. Dann starb sie und wurde mit dem roten Mal auf der reinen, weißen Brust begraben.