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Die von uns bisher behandelten Dichter waren vorzugsweise Lyriker, und selbst der erste russische Roman Jewgenij Onjegin ist in Versen geschrieben. Die große russische Literatur, die auch außerhalb Rußlands bekanntgeworden ist, beginnt erst mit Gogol: er ist der Vater des auch dem Nichtrussen bekannten Teiles der russischen Literatur, nämlich der russischen Prosa. Nikolai Wassiljewitsch Gogol-Janowskij, kein eigentlicher Russe, sondern Ukrainer, wurde 1809 zu Ssorotschinzy (in der Ukraine) geboren, in einem heiteren, sonnigen Lande, unter einem beinahe italienischen Himmel. Seine Kindheit verlief unter einfachen Leuten, die so ganz anders waren als die Bewohner der großrussischen Städte; auch die ukrainischen Märchen und Heldensagen, denen er als Kind lauschte, waren eine Welt für sich; vom russischen, etwa Petersburger Standpunkte aus war die Ukraine Ausland und Gogol ein Ausländer. Sein erstes Werk, die Idylle Hans Küchelgarten, schrieb er auf der Schulbank zu Njeshin; von diesem ersten dichterischen Versuch sagte er sich später übrigens los. Nach Beendigung des Njeshiner Gymnasiums kam Gogol 1828 nach Petersburg. Die Hauptstadt machte auf den jungen Provinzler zuerst einen starken Eindruck; er war geblendet und betäubt. Allmählich reifte aber im Sohne des Südens ein tiefer Haß gegen die kalte nordische Stadt und die herzlosen Petersburger. Er merkte jedoch, daß in der Petersburger Gesellschaft ein Interesse für das Ukrainische als für etwas Exotisches vorhanden war, und nützte dieses Interesse aus. Er frischte in seinem Gedächtnis die ukrainischen Sagen, die er als Kind gehört hatte, auf, ließ sich andere von seiner Mutter und Bekannten in der Heimat sammeln und verarbeitete das Material in acht Erzählungen, die 1831/32 unter dem Titel Abende auf dem Vorwerke bei Dikanjka erschienen. Die unmittelbare Frische dieser von der Petersburger und Moskauer Tradition abweichenden Erzählungen und die ›exotischen‹ ukrainischen Stoffe waren so neu und ungewohnt, daß Gogol auf einen Schlag berühmt wurde und Aufnahme in die literarischen Kreise Petersburgs fand, wo sich seiner Shukowskij und Puschkin annahmen. Puschkin schenkte dem Anfänger, dessen ungewöhnliche Begabung er richtig erkannte, besondere Aufmerksamkeit; Gogol seinerseits hing an Puschkin mit rührender Verehrung und unternahm nichts ohne seinen Rat. Den Abenden ließ er noch einen dritten Band ukrainischer Novellen Mirgorod (1835) folgen. Diese Sammlung enthält vier Novellen, von denen jede ein Meisterwerk ist: die schönste russische Idylle Gutsbesitzer der guten alten Zeit, den historischen Roman Taras Bulba, die an E. T. A. Hoffmann gemahnende Gruselgeschichte Wij und die erste russische Humoreske Wie Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch sich verzankten. Gogols ukrainischer Humor war für die russische Literatur etwas ganz Neues; dieses harmlose Lachen ohne Galle war ihr unbekannt. Der schriftstellerische Ruhm genügte Gogol übrigens nicht, er wollte auch als großer Gelehrter die Welt in Staunen setzen. Shukowskij verschaffte ihm 1834 einen Lehrauftrag für Geschichte an der Petersburger Universität. Als Geschichtsprofessor (eigentlich ›Adjunkt‹) machte er aber eine ausgesprochen lächerliche Figur, und seine Vorlesungen waren nach Aussagen seiner Hörer von einer großen unfreiwilligen Komik. Schon in diesem Mißverhältnis zwischen dem großen Dichter und dem lächerlichen Geschichtsprofessor zeigte sich der tiefe Zwiespalt, der durch Gogols Leben und Persönlichkeit geht und ihn zu einer der tragischsten Gestalten der russischen Geschichte macht.
Nach dem Mirgorod wandte sich Gogol von heimatlichen ukrainischen Motiven für immer ab und schrieb eine Reihe Petersburger Novellen: Das Porträt, Der Wagen, Die Nase, Der Mantel, Der Newskij-Prospekt. Der Mantel– die Tragödie eines kleinen Petersburger Beamten, dem sein Mantel, den er sich für mühsam erspartes Geld angeschafft hat, gestohlen wird, und der später als Gespenst in den nächtlichen Straßen Petersburgs herumspukt und allen Passanten die Mäntel raubt – ist die bedeutendste unter ihnen und enthält Keime, die später im Werke eines anderen Großen – Dostojewskijs – zu apokalyptischen Visionen aufgingen. Auch die ergreifenden Aufzeichnungen eines Irrsinnigen sind an dieser Stelle zu nennen.
Das Thema seines folgenden großen Werkes, des Lustspiels Der Revisor, hatte ihm Puschkin gegeben, der einmal in einer Provinzstadt für einen heimlich zur Aufdeckung von Mißbräuchen kommandierten Beamten gehalten wurde. Der Held des Lustspiels, Chljestakow, der ohne sein Zutun für den Revisor gehalten wird, sich aber dann in diese Rolle hineinspielt und aus ihr Nutzen zieht, der gar nicht bösartige, sogar sympathische Lügner, der mehr aus Liebe zur Kunst lügt, ist wohl die vollendetste Hochstaplerfigur der Weltliteratur, und sein Name ist im russischen Sprachgebrauch schon längst zu einem Gattungsnamen geworden. Auch die verschiedenen Beamten der Stadt – ausnahmslos Diebe und Gauner – stellen eine Galerie erschütternd komischer Karikaturen dar. Von Gribojedows Lustspiel unterscheidet sich der Revisor dadurch, daß im letzteren kein einziger anständiger Mensch und Ankläger auftritt. Darum ist das eigentlich jeder Tendenz entbehrende Werk Gogols unendlich komischer als das Gribojedowsche; auch heute noch wälzt sich bei einer halbwegs anständigen Aufführung das Publikum vor Lachen. Kaiser Nikolai I., der unerbittliche Zensor Puschkins, erlaubte seltsamerweise die Aufführung des Stückes, in dem die gesamte Obrigkeit als aus lauter Gaunern und Dieben bestehend dargestellt wird; die einzige gute Eigenschaft dieses Kaisers war, daß er die Korruption der Beamten mit grausamer Strenge verfolgte. Das Publikum nahm das Stück bei der ersten Aufführung (1836) als ein liberales Tendenzwerk auf; die Liberalen frohlockten, die konservativen Beamten waren tief empört; noch tiefer empört aber war Gogol selbst über diese Aufnahme des Stückes; daß man ihn, den Erzkonservativen, zu einem Liberalen stempeln wollte, kränkte ihn am meisten. Er verließ das ihm so verhaßte Petersburg und ging ins Ausland.
In Rom fand Gogol eine zweite Heimat. Italien war dem Sohn der Ukraine viel näher als das kalte Petersburg. Hier arbeitete er an seinem Hauptwerk, den Toten Seelen, das er schon 1836 begonnen hatte und dessen erster Band 1841 fertig wurde. Das erste Kapitel hatte er Puschkin in Petersburg vorgelesen. Dem gewaltigen Werk liegt ein recht primitives anekdotisches Motiv zugrunde: die verstorbenen leibeigenen Bauern (›Seelen‹) wurden nicht gleich nach ihrem Tode, sondern erst bei den periodisch stattfindenden Revisionen in den Listen gestrichen; in der Zwischenzeit wurden sie aber auf dem Papier als Lebende geführt, und ihre Besitzer mußten für sie die Steuern entrichten. Ein Industrieritter, der wegen Mißbräuchen entlassene Zollbeamte Tschitschikow, macht sich diesen Umstand zunutze und kauft – natürlich nur auf dem Papier – bei den Gutsbesitzern die ›toten Seelen‹ zusammen: die einen bekommt er für ein Spottgeld, die andern ganz umsonst; jeder ist froh, diese nichtexistierenden Bauern, von denen er keinen Nutzen hat, für die er aber die Steuern bezahlen muß, loszuwerden. Tschitschikow hat aber die Absicht, die von ihm erworbene, nur auf dem Papier vorhandene Ware, natürlich unter Verschweigung dieses letzteren Umstandes, mit schönem Profit zu versetzen und dann mit dem Gelde zu verschwinden. Tschitschikow reist von Gut zu Gut durch das ganze heilige Rußland, kommt mit allerlei Gutsbesitzern und Beamten zusammen und fällt schließlich herein. Das ist der ganze Inhalt des Romans oder »Poems«, wie Gogol sein Werk nannte. Er hatte sich ein gewaltiges Ziel gesteckt: wie Dante in seiner Commedia alle Kreise der Hölle und des Himmels schilderte, so wollte er ein monumentales Gemälde des ganzen Rußland mit seinen Sündern und Heiligen schaffen; er wollte nicht nur schildern, sondern auch lehren und predigen, und diese letztere Arbeit verdarb schließlich das Werk, oder vielmehr seinen zweiten Teil. Der Dämon des Lachens, der in ihm steckte, lag im Kampf mit dem ›Propheten‹ im Puschkinschen Sinne, der er um jeden Preis sein wollte, und der Künstler unterlag dem Prediger; es ist dieselbe Erscheinung, die sich ein halbes Jahrhundert später bei Tolstoi wiederholte, nur daß sie bei Gogol zu einer ergreifenden Tragödie wurde, der der Dichter zum Opfer fiel. Der erste Band der Toten Seelen, der von Tendenz ziemlich frei ist (als Buch 1842 erschienen), ist ein gewaltiges Epos, tatsächlich mit Dante und noch mehr mit Homer vergleichbar. An Homer gemahnen nicht nur die sprachlichen Schönheiten und die Art der Erzählungen, sondern auch die wahrhaft ›homerischen‹ Übertreibungen. Gogol selbst hielt aber den ersten Band nur für einen bescheidenen Vorhof zu einem glänzenden Palast; diesen aufzuführen war ihm jedoch nicht beschieden. Der zweite Band, von dem uns nur Bruchstücke erhalten sind, hält gar keinen Vergleich mit dem ersten aus: hier hat der Prediger den Künstler vollständig erdrückt. Nur eine einzige Episode – der Besuch beim Fresser Pjotr Petrowitsch Pjetuch – erinnert noch an den alten Gogol mit seinem homerischen Lachen; sonst ist aber alles einfach langweilig; die Burne-Jones'schen Engel im russischen Kaufmannsrock, wie der Branntweinpächter Murasow, sind so gar nicht überzeugend, beinahe lächerlich. Zwischendurch arbeitete Gogol an seinem zweiten Lustspiel Die Heirat, das er 1842 vollendete.
Die innere Tragödie Gogols entwickelte sich indessen weiter. Er verfiel immer mehr dem religiösen Mystizismus, an dem schon etwas Krankhaftes war. Eine Frucht der neuen Stimmungen war das 1847 erschienene Buch Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit den Freunden. Diese Apologie des Absolutismus, der Leibeigenschaft, der ganzen in Rußland bestehenden Ordnung rief bei ihrem Erscheinen einen wahren Sturm der Entrüstung hervor. Der maßgebende Kritiker Bjelinskij, der Abgott der liberalen Jugend, schleuderte gegen Gogol seinen Bannfluch; »Prediger der Knute, Lobsinger tatarischer Sitten, was tun Sie!« schrieb er ihm in seinem bekannten Brief. Mit den Liberalen und Westlern wetteiferten im Schimpfen die Konservativen und Slawophilen, denen der Briefwechsel schon zu konservativ war und die Gogol Hochmut und sogar die Absicht, durch dieses Buch den Posten des Erziehers des Thronfolgers zu erschleichen, zuschrieben. Alle diese Angriffe erschütterten noch mehr das seelische Gleichgewicht Gogols, aber er nahm sie als eine ihm vom Himmel bestimmte Prüfung hin. 1848 unternahm er eine Wallfahrt nach Jerusalem und ließ sich dann in Moskau nieder. Hier geriet er unter den Einfluß eines fanatischen Geistlichen, eines gewissen P. Matthäus, der von vielen für die gänzliche Zerrüttung seines Geistes verantwortlich gemacht wird. Der innere Kampf, der zuletzt zu einem Kampf zwischen Seele und Körper wurde, tobte weiter. »In Gott leben heißt außerhalb des Körpers leben«, hatte Gogol einmal mit der ihm eigenen Übertreibungssucht gesagt. Er entschloß sich für das »Leben in Gott«. In den großen Fasten des Jahres 1852 begann er sein Fleisch abzutöten und keine Speise zu sich zu nehmen. Das war ihm aber noch zu wenig: er beschloß auch das Letzte, was ihn mit dem früheren Gogol verband, zu vernichten, und verbrannte eines Morgens das ganze Manuskript des zweiten Teiles der Toten Seelen, alles, was er in den Jahren 1845–1852 geschrieben hatte (einzelne Kapitel aus diesem zweiten Teil hatte er vorher einigen Freunden vorgelesen). Er verbrannte das Werk, nicht weil er etwa mit ihm unzufrieden gewesen wäre; im Gegenteil, er schätzte es sehr hoch. Wahrscheinlich wollte er wie Abraham Gott sein Liebstes opfern. Nach der Verbrennung der Handschrift lebte er nur noch neun Tage. Diese Tage waren ein schreckliches Martyrium. Er wollte trotz des Zuredens der Geistlichen und der Ärzte nichts zu sich nehmen, hatte schreckliche Visionen, sehnte den Tod herbei und fürchtete zugleich das Jenseits. Die Ärzte entschlossen sich zuletzt, ihn gewaltsam in Behandlung zu nehmen. Der geschwächte Körper Gogols konnte den Mitteln der damaligen Medizin nicht widerstehen. Der große Dichter starb unter schrecklichen Qualen am 4. März 1852. »Das ganze Leben Gogols war ein Weg zwischen Abgründen gewesen, die ihn anzogen; es war der Kampf des festen Willens und des Bewußtseins der hohen Pflicht, die ihm zugefallen, mit dem Feuer, das in seiner Seele loderte und ihn zu vernichten drohte. Und als Gogol dieser inneren Gewalt, die in ihm lebte, schließlich die Freiheit gab, verbrannte sie ihn in einem Augenblick zu Asche« (Brjussow).
Gogol galt jahrzehntelang als der erste russische Realist; er war wohl der Vater der realistischen Literatur, kann aber selbst nur im gleichen Maße zu den Realisten gerechnet werden wie etwa Homer. Seine Art ist phantastisch, zuweilen romantisch, aber niemals realistisch. Diese Entdeckung wurde von der russischen Kritik ziemlich spät gemacht und erst 1909, bei der Feier des 100. Geburtstags Gogols, von Valerij Brjussow in prägnanter Form ausgesprochen. Man durchforschte sein ganzes Werk und fand darin zum allgemeinen Erstaunen keine einzige Zeile, die die Wirklichkeit einfach und natürlich wiedergäbe; alles ist ins Maßlose übertrieben oder ins Groteske verzerrt. Puschkins Schilderungen wirken daneben beinahe photographisch. Die berühmte Beschreibung des Dnjepr in der Schrecklichen Rache, die die russischen Schüler als Muster realistischer Naturschilderung auswendig lernen mußten, ist eine einzige Übertreibung: »Nur wenige Vögel erreichen die Mitte des Dnjepr... Es gibt keinen Strom, der ihm gliche!« Was sind alle vor Troja vollbrachten Heldentaten gegen die Wunder kosakischer Tapferkeit im ›historischen‹ Roman Taras Bulba! Tschitschikow trägt nicht etwa einen mit Bärenpelz gefütterten Mantel, sondern »schleppt einen ganzen Bären auf den Schultern«. Und das im Sommer. Es ist für Gogols »realistische« Art ungemein charakteristisch, daß die Jahreszeit, in der sich die Handlung der Toten Seelen abspielt, nicht festzustellen ist; einerseits fährt Tschitschikow in dem bekannten Bärenpelz, in einer Mütze mit Ohrenklappen herum, andererseits staubt die Landstraße, und Bauernweiber durchwaten einen Fluß. Ein Versehen ist das sicher nicht; diese phantastische Unmöglichkeit gehörte zweifellos zu den künstlerischen Absichten Gogols, die man heute vielleicht expressionistisch nennen würde. Das Phantastische und Groteske wirkt bei Gogol um so stärker, als der Ort der Handlung eine öde russische Provinz ist und die Träger dieser Züge keine Sagengestalten, sondern durchaus gewöhnliche russische Beamte sind. Der Vermischung des Homerisch-Phantastischen mit dem Russisch-Trivialen entspricht eine analoge Eigenschaft in Gogols Stil; nämlich die klug berechnete Vermischung feinster Ziselierarbeit, unvergleichlich poetischer Stellen mit bewußten Plattheiten; diese letzteren lassen die Glanzlichter noch blendender erscheinen und einzelne stilistische Schönheiten wie Blitze aufleuchten. Diese eigentümliche Technik finden wir bei keinem zweiten Dichter der Weltliteratur.
Gogol hat keine eigentliche Schule geschaffen, er hatte auch keine ›Plejade‹ um sich. Er hatte sich aber als erster der alltäglichen russischen Wirklichkeit mit ihren sozialen Nöten zugewandt, und in diesem Sinne ist er, trotz seiner homerischen Eigentümlichkeiten, der Vater der russischen realistischen Literatur, die mit Turgenjew, Dostojewskij und Tolstoi ihren Höhepunkt erreicht.