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Von Nekrassow bis Nadson

Einen direkten Gegensatz zu Tjutschew stellt in mancher Beziehung Nekrassow dar. Schon durch seine radikale politische Gesinnung und dadurch, daß er seine »Muse der Rache und der Trauer« ganz in den Dienst der Geknechteten und Enterbten stellte. Er ist der klassische Vertreter der anklägerischen Tendenzlyrik, und dementsprechend gehört er zu den wenigen russischen Lyrikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nicht nur nicht ›unter Ausschluß der Öffentlichkeit‹ wirkten, sondern sich sogar einer großen Popularität erfreuten. Das Merkwürdige ist nun, daß Nekrassow trotz seiner Tendenziosität, trotz der zahlreichen in seiner ›bürgerlichen Lyrik‹ verstreuten Trivialitäten ein Dichter von Gottes Gnaden war und daß die Tendenz seine große Begabung nicht zu erdrücken vermochte.

Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Sohn eines großrussischen Gutsbesitzers und Offiziers und einer adligen Polin, wurde 1821 in einem kleinen Nest im Podolischen Gouvernement geboren. Mit sechzehn Jahren kam er auf die Universität Petersburg und mußte, da seine Eltern ziemlich mittellos waren, während seiner Studienzeit große Not leiden. Um sich einigermaßen durchzuschlagen, ergriff er den Beruf eines Journalisten und schrieb Zeitungsnotizen, Aufsätze und sogar Romane. Seine erste Gedichtsammlung erschien 1840 anonym und wurde von Bjelinskij furchtbar heruntergerissen. Im Jahre 1846 übernahm er die Redaktion des von Puschkin begründeten Zeitgenossen, den er bis 1866 leitete. Das war die fruchtbarste Periode seines Lebens, in der seine besten und bekanntesten Tendenzgedichte erschienen, sämtlich erfüllt vom flammenden Protest gegen die Ausbeutung der Bauern und Arbeiter und insbesondere gegen die elende Lage der Frau auf dem Lande; in den gleichen Jahren schrieb er seine Versepen: Frost mit der roten Nase, Dorfhausierer, Die Eisenbahn. Von 1866 bis zu seinem Tode redigierte er die Vaterländischen Annalen. In seinen letzten Jahren erschien die längere Dichtung Russische Frauen, in der er die Dekabristenfrauen verherrlicht, die ihren Männern nach Sibirien gefolgt waren, und die Epopöe Wer lebt gut in Rußland? Nekrassow rang lange Zeit mit dem Tode und starb 1878 zu Petersburg.

In einem seiner Gedichte erzählt Nekrassow, er habe einmal beim Passieren des Heumarktes zu Petersburg gesehen, wie eine junge Bäuerin vom Henker geknutet wurde; »und ich sagte zu meiner Muse: Sieh, das ist deine leibliche Schwester.« Nekrassows Muse war, wie es seine Gedichte und selbst viele Strophen in den Tendenzgedichten beweisen, im Grunde heiter und sorglos wie die Kinder, die in seinem Werk so oft vorkommen. Nun mußte aber diese heitere Muse zeit seines Lebens unter der Knute stöhnen, mußte fortwährend ›Spießruten laufen‹, und es wirkt erschütternd, wie ihre sorglose, melodische Weise immer wieder von herzzerreißenden Schreien unterbrochen wird. Der moderne Lyriker Balmont wies mit Recht darauf hin, daß Nekrassow es als erster gewagt habe, die Musik der Dissonanzen und die Malerei des Häßlichen zu schaffen. Der konservative Dostojewskij wollte an die Aufrichtigkeit der Liebe Nekrassows zum Volke nicht recht glauben: er stand ja auf dem Standpunkt, daß nur die Slawophilen das Recht hätten, über das Volk mitzureden. Außerdem klagte er Nekrassow des Hochmuts und sogar der Habgier an. Als aber Nekrassow tot war, schrieb er in sein Tagebuch: »Nekrassow ist ein russischer historischer Typus, eines der auffallendsten Beispiele dafür, zu welchen Widersprüchen und Zwiespältigkeiten der russische Mensch in unserer traurigen Übergangszeit gelangen kann. Aber dieser Mensch bleibt in unserem Herzen.« Nekrassow wurde, im Gegensatz zu den andern Lyrikern, bei Lebzeiten nicht nur gelesen, sondern blieb auch der Abgott der russischen Jugend, bis ihn in den neunziger Jahren ein anderer ›Dichter‹ verdrängte. Wir brauchen nicht zu erwähnen, daß diese Popularität nicht darauf beruhte, daß Nekrassow tatsächlich ein großer Dichter war, einer wie Tjutschew oder Puschkin, sondern auf Motiven, die mit der Dichtkunst nichts zu tun hatten.

Ein wahrer Dichter war auch der bedeutendste Ideologe des Slawophilentums Alexej Stepanowitsch Chomjakow (1804-1860), dessen ebenso tiefsinnige wie formvollendete Gedichte gar nicht gelesen wurden. An Gedankentiefe erinnern manche von ihnen an Tjutschew, so das schöne Gedicht:

Oh schwere Traurigkeit, die dichten Schatten hüllen
den fernen Westen ein, der heil'gen Wunder Land...

In diesem Gedicht beweint Chomjakow (schon 1850!) den ›Untergang des Abendlandes‹ und ruft das schlafende Morgenland an, in neuem Glanz zu erwachen.

Rußlands erste bedeutende Dichterin, Karolina Karlowna Pawlowa (1810-1894), wurde als Tochter des deutschen Professors Janisch zu Jaroslawl geboren und war mit einem Literaten Pawlow verheiratet. Sie fing mit lyrischen Übertragungen aus dem Russischen ins Deutsche und Französische an und schrieb dann eine Reihe russischer Originalgedichte, die ein außergewöhnliches, durchaus männliches Talent verraten. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte die Pawlowa in Dresden; hier übersetzte sie Alexej Tolstois Dramen ins Deutsche. Ihre Gedichte erschienen nur einmal – 1863 – gesammelt und wurden nie wieder aufgelegt. Erst die ›Dekadenten‹ zogen sie wieder ans Tageslicht und zeigten, daß auch Rußland seine Droste oder Desbordes-Valmore gehabt hatte.

Graf Alexej Konstantinowitsch Tolstoi (1817-1875), den wir schon als den Verfasser der dramatischen Trilogie und des historischen Romans erwähnt haben, war als Lyriker bedeutender. Viele seiner lyrischen Gedichte wurden von Tschaikowskij in Musik gesetzt. Besser als die lyrischen sind seine epischen Gedichte und Balladen aus der russischen Geschichte; so die von Wassilij Schibanow, in die er meisterhaft altrussische Texte aus dem Briefwechsel Iwans des Grausamen hineinflocht. Sehr gut sind seine halb parodistischen Gedichte im Volkston, am stärksten ist er aber in seinen humoristischen und phantastischen Balladen, wie Der Traum des Staatsrats Popow und Ballade vom Kammerherrn Delarue: die letztere ist eine geistreiche Verhöhnung des Prinzips des ›Nichtanstrebens gegen das Böse‹. Köstlich ist seine humoristische Geschichte Rußlands, mit deutschen Worten durchsetzt, die sich höchst pikant mit russischen Worten reimen. Im Jahre 1854, in der Zeit des schwersten Druckes der Zensur, tat sich Tolstoi mit den minder bedeutenden Lyrikern, den Brüdern Alexej und Wladimir Shemtschushnikow, zusammen und schuf gemeinsam mit ihnen die Gestalt des mythischen Kusma Prutkow, eines dichtenden Eichamtsbeamten, in dessen Namen eine Reihe von Gedichten, Fabeln, Sentenzen und Anekdoten im Zeitgenossen veröffentlicht wurde. Die Gedichte sind köstliche Parodien auf gewisse beliebte Dichter jener Zeit, meist viel formvollendeter als die entsprechenden Vorbilder, und auch humoristische Originalballaden in antikem und spanischem Gewande. Es ist etwas von der Meisterschaft eines Christian Morgenstern in ihnen. Der von den drei Dichtern geschaffene Kusma Prutkow, ein russischer Vorläufer Palmströms, ist ein wirklicher Typus von ausgesprochener Individualität, die in jeder Zeile ›seines‹ Werkes zum Ausdruck kommt. Die spätere russische humoristische Lyrik hat nichts aufzuweisen, was sich nur im entferntesten mit den Schöpfungen Kusma Prutkows vergleichen ließe. Zu erwähnen sind Alexej Tolstois meisterhafte Übertragungen deutscher Dichter, vor allem der Goetheschen Braut von Korinth und Gott und Bajadere.

Die drei markantesten Vertreter reiner Lyrik zur Zeit der unumschränkten Herrschaft der Tendenzdichtung: Polonskij, Maikow und Feth wurden immer als ein ›Dreigestirn‹ gemeinsam behandelt, und die älteren Kritiker (so Skabitschewskij) halten Polonskij, bei dem man auch ›bürgerliche‹ Noten heraushören kann, für den bedeutendsten und Feth für den schwächsten. Heute nennt man sie nicht mehr in einem Atem zusammen und weiß, daß Feth die beiden andern himmelhoch überragt. – Jakob Petrowitsch Polonskij (1820-1898) schrieb seine besten Gedichte auf der Universitätsbank und ließ sie 1844 im Sammelband Tonleitern erscheinen. Die Gedichte dieser Sammlung sind fast durchweg schön und frei von jeder Tendenz. Mitte der fünfziger Jahre stieg Polonskij jedoch zum Volke herab und zollte den politisch-liberalen Strömungen der Zeit seinen Tribut. Fast alles, was er von nun an schrieb, ist schwach, blaß und stellenweise trivial, und unter den zahlreichen Gedichten seiner letzten vierzig Lebensjahre kann man höchstens zwanzig finden, die noch an den einstigen Polonskij erinnern. Um so größer aber wurde natürlich sein Erfolg beim Publikum und der Kritik. – Apollon Nikolajewitsch Maikow (1821-1897) war ursprünglich Maler. Sein erstes Buch, 1841 erschienen, enthält fast lauter anthologische und antikisierende Gedichte, über die sich Bjelinskij äußerte, »sie stehen den anthologischen Gedichten Puschkins nicht nur nicht nach, sondern übertreffen sie beinahe«. Seine klassizistischen Gedichte (zu denen auch das längere Poem Die drei Tode gehört, in dem er die Kollision zwischen der Antike und dem Christentum behandelt und an dem er beinahe fünfzehn Jahre arbeitete) sind auch die besten von allen, die er schrieb, werden aber heute lange nicht mehr so geschätzt wie einst. Um die gleiche Zeit, als Polonskij die bürgerlichen Töne anstimmte, verließ auch Maikow die Welt der Antike und wandte sich der Balladendichtung zu, um später gleichfalls zur Tendenzlyrik überzugehen: nur war sie bei ihm nicht liberal, sondern slawophil gefärbt. Unter den Gedichten dieser Periode finden sich einige gelungene Stücke, doch lassen sie sich mit den slawophilen Gedichten eines Chomjakow gar nicht vergleichen. Mit Dostojewskij verband ihn nicht nur die gemeinsame politische Gesinnung, sondern auch eine intime Freundschaft.

Afanassij Afanassjewitsch Feth ist dagegen einer der größten russischen Lyriker und darf wohl neben Puschkin und Tjutschew genannt werden. Er wurde 1820 im Orjolschen Gouvernement als Sohn des reichen Gutsbesitzers Schenschin und einer deutschen Mutter geboren und mußte, da der Ehebund der Eltern in Rußland nicht legalisiert war, den Namen der Mutter tragen. Sein erstes Gedichtbuch veröffentlichte er schon 1840; es heißt Lyrisches Pantheon und enthält recht mäßige Originalgedichte und Übersetzungen. Nach Absolvierung der Universität (1845) trat Feth in den Militärdienst und diente erst bei den Kürassieren, dann bei den Gardeulanen. Er war mit Leib und Seele Kavallerist – wie seinerzeit Denis Dawydow –, und dieser Abschnitt seines Lebens haftete ihm – in den Augen der späteren tendenziösen Kritik – als unauslöschbares Mal an. In seinen Mußestunden dichtete er fleißig und ließ 1850 eine zweite Sammlung seiner Verse erscheinen, die unvergleichlich bedeutender sind als seine ersten Versuche. Turgenjew, mit dem er befreundet war, schrieb ihm anläßlich seiner Gedichte: »Was reden Sie von Heine? Sie stehen über Heine, denn Sie sind vielseitiger und freier als er!« Um die gleiche Zeit kam er auch mit Leo Tolstoi zusammen, der später, in seinen Greisenjahren, zum erbittertsten Gegner der »unnützen« Dichtungen Feths wurde.

Im Jahre 1857 nahm Feth seinen Abschied, heiratete, ließ sich auf dem Lande nieder und widmete sich mit großer Energie der Bewirtschaftung seines Gutes. In den folgenden zwanzig Jahren schrieb er fast gar nichts. Im Jahre 1873 bekam er endlich die Erlaubnis, seinen väterlichen Namen Schenschin zu tragen, zeichnete aber alles, was er noch weiter veröffentlichte, nach wie vor mit ›Feth‹. Die Biographen ziehen eine scharfe Grenze zwischen dem Rittmeister a.D., strengen Gutsbesitzer und Anhänger der Leibeigenschaft Schenschin und dem feinsinnigen Dichter Feth. Um 1877 nahm er seine literarische Tätigkeit wieder auf und übersetzte viel, so Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, Goethes Faust und die römischen Dichter Ovid, Vergil, Catull u.a.m. Gleichzeitig schrieb er Originalverse, die er in drei Bänden unter dem Gesamttitel Abendfeuer 1883-1891 erscheinen ließ. Ins große Publikum drangen diese absolut tendenzlosen Gedichte nicht, wurden aber um so mehr von wenigen Kennern, die es auch bei Hofe gab, geschätzt. Im Jahre 1889 erhielt Feth zu seinem fünfzigjährigen Dichterjubiläum den Kammerherrntitel. In seinen letzten Jahren schrieb er seine zweibändigen, höchst lesenswerten Erinnerungen. Feth starb 1892, zweiundsiebzigjährig, zu Moskau.

Feths Dichtung ist, besonders in seinen späten, im Bande Abendfeuer vereinigten Gedichten die reinste Lyrik, die man sich überhaupt denken kann. Es sind zum Teil ausgesprochen impressionistische Naturschilderungen, wobei der Dichter die Natur nur mit den Sinnen erfaßt, ohne sich, wie etwa Tjutschew, in ihre Seele zu versenken, zum Teil zarte Liebesgedichte, die dem Greise noch besser gelangen als dem Jüngling, zum Teil Verse, die beides, Liebe und Natur, vereinigen. Bezeichnend für diese Art ist folgendes viel zitiertes und auch viel verlachtes Gedicht, in dem kein einziges Prädikat vorkommt und das aus lauter Subjekten besteht:

Flüstern. Scheues Atmen. Ferne –
Schlag der Nachtigall.
Bachgeriesel. Leiser Sterne
Silberglanz im All.

Lange Schatten, schlafumschlungen.
Schimmer weichen Lichts.
Zaubernde Veränderungen
lieblichen Gesichts.

Leichter Wölkchen Purpurrosen.
Bernsteinhauch am Hag.
Tränen, zärtliches Liebkosen, –
und der Tag, der Tag! Deutsch von Wolfgang G. Groeger.

Das Wichtigste an diesem Gedicht wie an allen Gedichten Feths (und in einer Übersetzung nicht wiederzugeben) ist aber nicht sein Inhalt, sondern die unbeschreibliche, berückende Musik des Ganzen und die Harmonie der einzelnen Zeilen und Worte. Man kann wohl sagen, daß melodischere Gedichte bei keinem russischen Dichter zu finden sind. Für alle neueren Dichter, die vor allem nach Musik und nach technischer Vollkommenheit des Verses streben, ist Feth neben Puschkin und Tjutschew ein nie verbleichendes Vorbild. In einigen wenigen Gedichten ist Feth jedoch nicht nur Impressionist der Natur und Liebe, sondern gewährt auch einigen Einblick in seine Dichterseele, die er sonst ebenso keusch wie Tjutschew vor profanen Blicken behütet. In einem an einen »Pseudopoeten« (Nekrassow) gerichteten Gedicht sagt er ihm: »Der du dem Volk zu gefallen den schmeichlerischen Vers durch den Kot zerrtest, – du hast das stolze Wort ›Freiheit‹ niemals mit dem Herzen erfaßt, bist niemals andächtig in den kühlen Höhennebel gestiegen, wo sich nur das freie Lied und der Adler wirklich wohl fühlen.« Diese Strophen öffnen den ganzen Abgrund, der die beiden Dichter (denn auch Nekrassow war Dichter und kein Pseudopoet!) trennt. Interessant ist auch die Stellungnahme Feths zum großen Publikum, das seine reine Kunst verhöhnte. Im Vorwort zum vierten Teil seiner Abendfeuer sagt er folgendes: »Ein Mensch, der seine erleuchteten Fenster am Abend nicht verhängt, gewährt Einlaß allen gleichgültigen und vielleicht auch feindseligen Blicken von der Straße her; es wäre aber verkehrt, daraus zu schließen, daß er die Fenster nicht für die Freunde, sondern in Erwartung der Blicke der Menge erleuchte... Was die Masse der Leser betrifft, die die sogenannte Popularität schaffen, so hat diese Masse vollkommen recht, wenn sie mit uns die gegenseitige Gleichgültigkeit teilt: wir haben beieinander nichts zu suchen.« So stolz fand sich der große Dichter, der inmitten einer tauben Menge seine berückenden Nachtigallenlieder sang, mit seiner Vereinsamung ab! Noch stolzer und ergreifender klingen seine Worte anläßlich des Todes Tjutschews: »Friede deiner Asche, großer Dichter! Dein Schatten kann sich trösten! Nicht umsonst hast du so eifersüchtig deine reine Flamme behütet: du wirst immer der Liebling der Auserwählten bleiben. Die Menge wird niemals imstande sein, dich zu verstehen!«

Von Feths Zeitgenossen nennen wir noch den schon erwähnten slawophilen Kritiker und Freund Dostojewskijs, Apollon Alexandrowitsch Grigorjew (1822-1864), der auch gedankentiefe Gedichte von großer Wucht schrieb und dem großen Publikum ziemlich unbekannt blieb; den Dichter ›aus dem Volke‹ Iwan Ssawitsch Nikitin (1824-1861), einen Landsmann und Nachfolger Kolzows, viel weniger bedeutend, aber ebenso beliebt wie dieser; Alexej Nikolajewitsch Apuchtin (1841-1890), dessen recht triviale Gedichte oft vertont und auch von Vortragskünstlern rezitiert wurden und sich daher einer ziemlichen Beliebtheit erfreuten; den ›Puschkinianer‹ Graf Arssenij Arkadjewitsch Golenischtschew-Kutusow (1848 bis 1913); den zarten Impressionisten Konstantin Michailowitsch Fofanow (1862-1911), einen Dichter von Gottes Gnaden, der an dem Unverständnis des Publikums und an der rauhen russischen Wirklichkeit zugrunde ging und darum nicht all das zu geben vermochte, was sein großes Talent versprochen; schließlich Slutschewskij und Ssolowjow, auf die wir etwas näher eingehen müssen.

Konstantin Konstantinowitsch Slutschewskij (1837-1904) veröffentlichte seine ersten Gedichte Anfang der fünfziger Jahre und erlebte seitens der kunstfeindlichen Kritik eine so energische Ablehnung, daß er viele Jahre nicht mehr als Lyriker hervortreten wollte. Erst in den achtziger Jahren, als er Redakteur des amtlichen Regierungsboten war, fing er wieder an, Gedichte zu schreiben. Was seine Poesie interessant macht, ist die Fülle von Dissonanzen und inneren und äußeren Widersprüchen. Der reine Künstler und der Philosoph (er war Doktor der Philosophie einer deutschen Universität) lagen in ihm immer im Kampf, und dies verleiht seinen auffallend ungleichmäßigen Gedichten einen Zug ins Tragische. Er schrieb orthodox-religiöse, daneben auch gotteslästerliche Gedichte und schlug manchmal Töne an, die zu seinem Kammerherrntitel und zu seiner Stellung als Redakteur des Regierungsboten in krassem Widerspruch standen. Seine Kunstmittel waren nicht sehr groß, aber vielleicht hatte er das Zeug in sich, ein russischer Baudelaire zu werden.

Wladimir Ssergejewitsch Ssolowjow (1853-1900), einer der merkwürdigsten Russen, die je gelebt haben, als Religionsphilosoph auch außerhalb Rußlands berühmt, ist als Lyriker ein Schüler Feths. Seine ersten Gedichte sind von denen Feths kaum zu unterscheiden, aber in den späteren erlangte das Philosophisch-Mystische das Übergewicht über das Künstlerische, obwohl auch dieses immer auf außergewöhnlicher Höhe stand. Der philosophische Inhalt seiner Dichtung entspricht vollkommen seiner Weltanschauung und ist stets der Antinomie zwischen der zeitlichen und der ewigen Welt gewidmet, dem Kampf zwischen Gut und Böse. Die Kraft zum Kampf gegen das Böse findet der Dichter in der Liebe und im ›Ewig-Weiblichen‹ (im religiös-mystischen Sinne), dem seine schönsten Gedichte gewidmet sind: »Wisset, das Ewig-Weibliche schreitet unsterblich im Fleische vom Himmel einher...« Diese Anbetung des ›Ewig-Weiblichen‹ ist vielleicht dem katholischen Marienkult verwandt: Ssolowjow war ja auch heimlicher Katholik. Manchmal schlägt er politische Töne an, und diese haben oft etwas Prophetisches.

Mein Land, vergiß die hohen Ziele,
im Staube liegt dein Doppelaar,
und deine Fahnen sind zum Spiele
gegeben einer gelben Schar...

schrieb er viele Jahre vor dem Japankriege. Nicht zu vergessen sind auch Ssolowjows parodistische und humoristische Gedichte, beinahe im Geiste Kusma Prutkows; einen leichten Hauch von Ironie und Humor kann man übrigens auch an seinen ernsthaftesten Gedichten wahrnehmen. Die merkwürdigste Persönlichkeit spiegelt sich in allen Gedichten Ssolowjows und macht sie zu den aufregendsten, die die russische Literatur aufzuweisen hat.

In denselben Jahren, als Slutschewskij und Ssolowjow in völliger Einsamkeit, dem großen Publikum unbekannt, ihre eigenartigen Gedichte schrieben, als Feths Abendfeuer still verglommen und Tjutschews Werke aus dem Buchhandel verschwunden waren, in denselben achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gelang es einem Lyriker in Rußland, einen Erfolg zu erringen, wie ihn sich weder Puschkin noch Lermontow und nicht einmal der ›bürgerliche‹ Dichter Nekrassow je träumen ließen. Es war Ssemjon Jakowlewitsch Nadson (1862-1887), ein schwindsüchtiger, todgeweihter Jüngling jüdischer Abstammung, der einen wirklich schönen Christuskopf hatte, das Leben und die Liebe nicht kannte, auch nichts von der Dichtkunst verstand und unsagbar triviale und dilettantische Gedichte schrieb, in denen er Liebe zu allen Menschen, Mitleid mit den Unterdrückten und andere schöne Dinge predigte. Diese unbeholfenen Elaborate waren etwa zwanzig Jahre lang in aller Munde; die ganze russische Jugend kannte sie auswendig, sie erlebten innerhalb fünf Jahren zehn Auflagen, und es gab in ganz Rußland tatsächlich kein Bürgerhaus, in dem die rotgebundenen Gedichte Nadsons nicht vorhanden waren. Erst um die Wende des Jahrhunderts, mit dem fortschreitenden Kunstverständnis im russischen Publikum fing Nadsons Stern zu verblassen an, obwohl es gewiß heute noch zahllose Jünglinge und Mädchen gibt, für die Nadson der Inbegriff aller Poesie ist.


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