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Der größte lyrische Dichter Rußlands neben Puschkin, nur um vier Jahre jünger als dieser, der kongeniale Zeitgenosse Gogols, Turgenjews, Dostojewskijs, Tolstois, blieb den Russen (natürlich einige wenige Kenner und Liebhaber wahrer Dichtkunst ausgenommen) im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts so gut wie unbekannt. Selbst die neueren Literaturgeschichten erwähnen ihn kaum. Mereshkowskij beklagte sich 1910, daß die Gedichte Tjutschews im russischen Buchhandel nicht aufzutreiben seien. Die meistverbreiteten Anthologien russischer Lyrik bringen von Tjutschew nur einige wenige Stücke, um der Pflicht zu genügen. Der Grund dieser beispiellosen Erscheinung (man stelle sich vor, daß in Deutschland und England die Werke der zweitgrößten Dichter dieser Länder, etwa Schillers und Byrons, unbekannt blieben!) liegt erstens in der grenzenlosen Verachtung für jede reine Dichtkunst, die, von Pissarew und Genossen gezüchtet, in Rußland während der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte und für die folgende zwei Aussprüche charakteristisch sind: »Alle Dichter sind Narren. Ist es denn nicht Wahnsinn, wenn sich ein Mensch stundenlang den Kopf zerbricht, um die normale Menschensprache um jeden Preis in abgemessene Zeilen hineinzuzwängen, die sich auch noch reimen müssen?« (Ssaltykow) und: »Die neueren Gedichte sind, im Grunde genommen, überflüssig« (Iwan Aksakow); zweitens darin, daß Tjutschew extrem konservativer politischer Gesinnung war; vor allem aber darin, daß er selbst eine organische Abneigung gegen den Ruhm hatte und seine Gedichte mehr für sich selbst als für das Publikum schrieb: in dieser Beziehung steht er wohl in der gesamten Weltliteratur einzig da. Die Gründe seiner mimosenhaften Scheu vor der Öffentlichkeit hat er selbst im Gedicht Silentium dargestellt, das wir vollständig zitieren, um den Leser gleich am Anfang mit dieser merkwürdigen Dichterpersönlichkeit bekannt zu machen.
Verstumm, entweich, schließ in dich ein
die Träume und Gefühle dein!
Was in der Seele leis erwacht,
mag wie die Sterne in der Nacht
stumm auf- und niedergehen: neig
dein Haupt in Dankbarkeit und schweig.
Kann je ein Herz verkünden – sich?
Ein andrer je ergründen – dich?
Und deines Lebens Sinn und Fug?
Gedanken, ausgedrückt, sind Lug.
Du trübst den Born, drin wühlend: neig
zum Quell dein Angesicht und schweig.
Lern leben ganz in dir allein:
ein Weltall ist die Seele dein,
wo Zauber und Geheimnis spricht;
sie blendet grelles Tageslicht,
betäubt der Lärm des Lebens: neig
dein Ohr dem Sphärenklang und schweig.
Deutsch, wie alle Gedichte in diesem Kapitel, von Wolfgang E. Groeger.
Dieser Anschauung blieb Tjutschew sein ganzes Leben treu. Sehr merkwürdig waren auch seine äußeren Lebensumstände, die es mit sich brachten, daß fast alle seine Gedichte außerhalb Rußlands und ohne jeden Kontakt mit der russischen Gesellschaft entstanden. Auf dieses eigentümliche Dichterleben wollen wir nun näher eingehen.
Fjodor Iwanowitsch Tjutschew stammte aus einer adligen Beamtenfamilie und wurde 1803 auf dem Erbgut seiner Eltern im Gouvernement Orjol geboren. Mit fünfzehn Jahren kam er auf die philologische Fakultät der Universität Moskau. Bei einer Universitätsfeier im Jahre 1820 las er – öffentlich – sein erster Gedicht vor; es heißt Urania und ist ganz im Geiste Lomonossows. Im Jahre 1821 absolvierte er die Universität, bekam einen Posten am Ministerium des Äußern und ging 1822 in diplomatischen Diensten nach Deutschland.
Im Ausland blieb Tjutschew mit kurzen Unterbrechungen zweiundzwanzig Jahre, die ersten siebzehn Jahre als Gesandtschaftsattaché in München. Hier verliefen die schönsten Jahre seines Lebens, hier schrieb er seine besten Gedichte, hier war er zweimal verheiratet (das erstemal mit einer Frau v. Peterson, geborene Gräfin Bothmer, das zweitemal mit einer Baronin Dörnheim, geborene Baronin Pfeffel). München hatte damals seine Glanzzeit, und Tjutschew verkehrte viel mit den deutschen Gelehrten und Dichtern, die an den Hof Ludwigs I. zusammengeströmt waren. Er traf oft mit Schelling zusammen und wurde besonders intim mit Heine, der damals oft nach München kam und ihn in einem seiner Briefe »den besten von seinen Münchner Freunden« nannte. So war Tjutschew während dieser ganzen Zeit ohne jede Verbindung mit dem geistigen Rußland und stand zugleich unter dauerndem Einfluß des geistigen Deutschland. Ein neuerer russischer Kritiker, der Dichter Valerij Brjussow, stellt auch fest, daß Tjutschew fast keine Lehrmeister unter den russischen Dichtern hatte (es lassen sich nur gewisse Einflüsse Dershawins und Shukowskijs erkennen), dafür aber ganz im Banne der deutschen Dichter Heine, Lenau, Eichendorff und vor allem Goethes stand. Er übersetzte auch eine ganze Reihe deutscher Gedichte, darunter Goethes Nord und West und Süd zersplittern aus dem Divan und Schillers An die Freude. Diese Übersetzungen sowie die Originalgedichte, die er um jene Zeit schrieb, schickte er manchmal nach Rußland, wo sie in wenig gelesenen Almanachen erschienen und völlig unbemerkt blieben. Wie schon gesagt, legte Tjutschew gar keinen Wert auf Berühmtheit; an die Veröffentlichung einer Gedichtsammlung dachte er niemals und kümmerte sich sogar nicht viel um die bloße Erhaltung seiner Verse: einmal verbrannte er aus Versehen mit anderen Papieren ein ganzes Heft mit Gedichten und tröstete sich mit dem Gedanken, daß auch die Alexandrinische Bibliothek in Flammen aufgegangen sei. – Der Neffe des russischen Gesandten in München, der Jesuit Fürst Gagarin, der Tjutschews Verse in München kennengelernt hatte und, von dort nach Petersburg zurückgekehrt, mit Erstaunen feststellte, daß in Rußland niemand den großen Dichter kannte, erhielt von ihm nach vielen Bitten die Abschriften seiner Gedichte. Diese zeigte er (1835) Puschkin, der in Tjutschew sofort seinen echten Bruder in Apoll erkannte und sechzehn Gedichte in dem von ihm herausgegebenen Zeitgenossen unter den Initialen F.T. abdruckte. Niemand aber erfuhr, wer der Dichter war.
Im Jahre 1837 wurde Tjutschew an die Gesandtschaft in Turin versetzt. Hier ließ er sich ein Disziplinarvergehen zuschulden kommen (er unternahm eine Reise ohne Erlaubnis), was zur Folge hatte, daß er seines Postens enthoben wurde und auch seinen Kammerherrntitel verlor (1839). Nun ging er wieder nach München und lebte hier als Privatmann. Erst 1842 kehrte er ganz nach Rußland zurück. Auf Verwendung einer Großfürstin wurde er in seine Ämter und Würden wieder eingesetzt; 1848 bekam er einen Posten am Zensurkomitee für ausländische Bücher und wurde 1857 Vorsitzender dieses Komitees. Erst 1848 kam wieder ein Gedicht von ihm in die Öffentlichkeit, und zwar anonym und ohne sein Wissen. Es war eines der politischen Gedichte, zu denen ihn die Ereignisse des Jahres 1848 begeistert hatten, Meer und Fels betitelt: der Fels ist das heilige Rußland, das Meer – die europäische Revolution, die machtlos am Felsen zerschellt. Dieses Gedicht erregte sogar ein gewisses Aufsehen. 1850 erschien im Zeitgenossen ein begeisterter Aufsatz Nekrassows über Tjutschew; im gleichen Heft wurden sämtliche bis dahin anonym veröffentlichte – zweiundzwanzig – Gedichte Tjutschews noch einmal abgedruckt. 1854 bekam Turgenjew, der gleichfalls am Zeitgenossen mitarbeitete, von Tjutschew die Erlaubnis, seine Gedichte in Buchform herauszugeben. Diesem schmächtigen Bändchen mit etwa hundert Gedichten folgte bei Lebzeiten Tjutschews nur noch eine einzige vermehrte Neuauflage (1868). – Im Jahre 1861 erschien in München eine von einem gewissen H. Noé besorgte Sammlung recht mäßiger deutscher Übersetzungen. Die erste vollständige Sammlung erschien russisch erst 1900!
Turgenjew schrieb über den Gedichtband u. a.: »Tjutschew ist einer der bemerkenswertesten russischen Dichter und steht entschieden über allen heute lebenden Brüdern in Apoll... Seine Gedichte erscheinen sämtlich für bestimmte Gelegenheiten geschrieben, wie es Goethe wollte, d. h. sie sind nicht erfunden, sondern selbst gewachsen, wie die Frucht auf dem Baume, und an dieser wertvollen Eigenschaft erkennen wir den Einfluß Puschkins, den Abglanz seines Zeitalters ... Wir können Tjutschew jedoch keine Popularität prophezeien, und er strebt wohl auch selbst gar nicht nach ihr. Sein Talent ist nicht an die Menge gerichtet, und nicht von ihr erwartet er Widerhall und Lob. Aber er hat Worte geschaffen, die niemals sterben werden.« Diesem begeisterten Urteil Turgenjews wollen wir als Kuriosum eine Äußerung des im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts populären Kritikers Skabitschewskij gegenüberstellen: »Turgenjew wird es wohl als Kenner ästhetischer Schönheiten besser wissen. Wir wollen dem hinzufügen, daß Tjutschew in seiner tadellosen Schönheit genügend langweilig und schwer zu lesen ist: nur die eingeschworenen Ästheten schätzen ihn.«
Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens bekleidete Tjutschew den Posten eines Oberzensors am Auswärtigen Amt. In der Petersburger Gesellschaft, in der er viel verkehrte, war er hauptsächlich als Urheber witziger und bissiger Aussprüche bekannt; daß er Dichter war, wußten nur wenige. Am Neujahrstage 1873 erlitt Tjutschew einen Schlaganfall. Ein halbes Jahr lebte er, ans Bett gefesselt, versuchte aber noch zu dichten. Im Juni kam ein zweiter Schlaganfall, und am 27. Juli 1873 gab er, siebzigjährig, seinen Geist auf.
Das Werk Tjutschews besteht neben einigen politischen Aufsätzen aus rund zweihundertneunzig Gedichten, von denen an die vierzig Nachdichtungen sind. Etwa fünfzig Gedichte sind ausgesprochen politisch und fallen von den übrigen ab. Die Mehrzahl der Tjutschewschen Originalgedichte ist aber durchaus philosophisch. Das Grundthema kehrt in den meisten Gedichten, die sämtlich auffallend kurz sind und die Gedanken in wunderbar komprimierter Form enthalten, immer wieder: wirkliches Sein hat nur die Natur: »sie ist voll Seele und voll Freiheit, in ihr ist Liebe und das Wort«. Im gleichen Gedicht, dem der letzte Satz entnommen ist, spricht Tjutschew voll Mitleid von den Menschen, die
... hausen wie in dunklen Zellen,
ihr Aug ist blind und taub ihr Ohr,
für solche leben nicht die Wellen,
und atmet nicht der Sonnen Chor.
Und da in Nächten ein Gezitter
durchschauert rauschend Wald und Strom,
pflog Rats mit ihnen kein Gewitter
in überirdischem Idiom.
Tjutschew gehörte allerdings nicht zu diesen Blinden; ihm war die Natur so beseelt wie höchstens noch Goethe, und er verstand ihre ›unirdischen Zungen‹ wie kein anderer. Er hörte sie nicht nur dort, wo sie auch der gewöhnliche Sterbliche wahrnimmt: im Gewitter, in der Meeresbrandung, im nächtlichen Heulen des Windes, sondern auch in der absoluten Stille, wo sie nur der Auserwählte sieht. Er hatte ein eigenes Organ, mit dem er die Natur als Ganzes umfaßte, fühlte und sogar sah. Für dieses ganz ungewöhnliche kosmische Gefühl ist folgendes kurze Gedicht (1854) bezeichnend:
Des Schweigens tiefste Stunde hat geschlagen,
da Zeichen werden und das Wunder webt;
des Weltenalls lebend'ger Strahlenwagen
sichtbar im Heiligtum des Himmels schwebt.
Dann – wie das Chaos über Wassern – schwillt die Nacht,
wie Atlas drückt die Erde Wahngeschwele;
und nur der Muse jungfräuliche Seele
der Gott zu seherischem Traum entfacht.
Selbst in solchen Gedichten, in denen Tjutschew einen Abend, den Frühling, das Alpenglühen bloß ›beschreibt‹, klingt ein beinahe unheimlicher Unterton, und der Leser hat das unbeschreibliche Gefühl, daß Tjutschew zu allen Dingen der Schöpfung eine viel geringere Distanz habe und von ihnen viel mehr wisse als alle anderen Sterblichen.
Die meisten Gedichte Tjutschews sind Liebeserklärungen an die Natur:
Harmonisch tönt des Sturmes Lied,
melodisch Meereswogen singen,
und musisch traumbewegtes Klingen
weht lispelnd aus dem schwanken Ried.
Welch unerschütterliches Schalten,
welch Einklang webt in der Natur!
In falscher Freiheit bringen nur
wir Zwiespalt in ihr einig Walten.
Wo kommt er her? Und warum singt
die Seele in dem Bundeschore
nicht das, was aus dem Meere klingt,
aus dem gedankenschweren Rohre?
Immer strebt er nach ihr, immer sucht er in ihre tiefste Seele einzudringen, und den Leser befällt ein namenloses Grauen, wenn er den Dichter in nächster Berührung mit den heimlichsten kosmischen Tiefen, mit dem Chaos fühlt. Diesen Eindruck hinterläßt zum Beispiel das herrliche Gedicht, in dem Tjutschew die Sprache des nächtlichen Windes zu ergründen sucht und ihn anfleht:
Sing nicht das grauenvolle Lied
vom trauten Chaos, von dem greisen!
Die Welt der nächtigen Seele zieht
es gierig zu den Heimat weisen!
Sie strebt aus körperlicher Acht
ins Orphische, des Stimmen riefen ...
Weck nicht entschlafner Stürme Schlacht:
das Chaos regt sich in den Tiefen ...
In dem Gedicht Wahnsinn stellt Tjutschew die Frage von der Beziehung zwischen Wirklichkeit und dichterischer Betrachtung. Der »des Geistes armer Wahn« des in seine Träume versunkenen menschlichen Geistes, der »unbesorgt« um das Gegebene, sich dagegen »aufbäumend«, schlafwandlerisch an den äußersten Grenzen der Erkenntnis irrt, dort, wo das Bewußte sich traumhaft mit dem Unterbewußten vermengt, wo »Himmel und Erde ineinander verschmelzen«, – wird hier mit einer inneren Anschaulichkeit und fieberhaften Eindringlichkeit dargestellt, die etwas Unheimliches hat:
Dort, wo der Himmel mit der Erde
verschmilzt wie Rauch im fernen Plan,
dort treibt mit sorgloser Gebärde
sein Spiel des Geistes armer Wahn.
Umwogt von lohen Strahlenrillen,
versinkend in entflammten Sand,
sucht er mit gläsernen Pupillen
ein Etwas in der Wolkenwand.
Und bäumt empor und lauscht verloren
an der geborstnen Erde Brust,
vernimmt etwas mit gierigen Ohren,
voll selbstbetrügerischer Lust.
Und meint, der Wasser Lauf zu lauschen
im unterirdischen Geschicht,
und ihrem leisen Wiegenrauschen,
und sturmdurchbrausten Sturz ans Licht.
Für den Menschen mit allen seinen Freuden und Leiden hat diese beseelte Natur nichts übrig:
Nichts weiß von dem Vergangnen die Natur,
fremd sind ihr unsre geisterhaften Jahre,
und wir erkennen dumpf vor ihrer Klare
uns selbst in ihr – als ihre Träume nur.
Sie holt sich ihre Kinder all, die wund
ihr Werk, das unnütze, vollziehn hienieden,
in ihres Abgrunds nimmersatten Schlund,
in ihres Abgrunds ewiglichen Frieden.
Der Mensch ist Staub und Gras, ein »denkendes Schilf«, er vermag die göttliche Harmonie nur zu stören. Die Seele des Dichters sehnt sich daher aus dieser Welt, wo sie nur Mißtöne erzeugt, fort; sie strebt nach dem jungfräulichen Schnee der Bergesgipfel und noch höher, zu den Sternen hinauf.
Nun aber erwacht im Dichter die Liebe, eine gewöhnliche irdische Leidenschaft: als Fünfzigjähriger verliebt er sich so glühend wie ein Jüngling in die Erzieherin seiner Töchter, und diese Liebe überdauert den Tod der Geliebten und erfüllt den Dichter bis an sein eigenes Ende. Diesem Gefühl entspringt eine ganze Reihe von Liebesgedichten, in denen der Schmerz des »denkenden Schilfes« alle Stürme und Stimmen des Chaos übertönt:
Und rinnt auch spärlicher das Blut –
die Zärtlichkeit bleibt unbetroffen ...
O letzte Liebe! Abendglut!
O wehe Wonne, so ohne Hoffen!
Auch andere Gefühle beseelen den Dichter: so eine tiefe Gläubigkeit und eine heiße Liebe zu seiner Heimat, von der er in seinem oft zitierten Gedicht sagt (übrigens dem einzigen, das wirklich berühmt geworden ist):
Diese ärmlichen Gesinde,
diese kärglichen Gefilde
sind das Heimatland des Duldens,
sind das Heimatland der Russen!
Nicht verstehen wird, nicht schätzen
fremder Völker stolzes Trachten,
seiner demütigen Nacktheit
innerliches Wehen, Leuchten.
Kreuzgebeugt und schmerzlich leidend,
hat dich, heimatliche Erde,
einst als Knecht der Herr und Heiland
leis durchwandert, still gesegnet.
Rußland war für Tjutschew, der seine besten Jahre in der Fremde verbracht hatte, der Inbegriff aller Größe und aller Heiligkeit; politisch gehörte er mit Leib und Seele zu der Slawophilenpartei, deren Zierde und eine der wichtigsten Stützen er war. Seine slawophilen Ansichten äußerte er nicht nur in Aufsätzen, sondern auch in einer Reihe von Gedichten, die, wie das bereits erwähnte Gedicht Fels und Meer, fast sämtlich nach dem Jahre 1848 entstanden sind. Die slawophilen Gedichte Tjutschews sind zum größten Teil schwach, und die Tendenz erdrückt jede Poesie. Wenn es die russischen Ansprüche auf Konstantinopel zu besingen gilt, wird dem Dichter sein so feiner Geschmack untreu. Einmal leistet er sich die Geschmacklosigkeit, den berüchtigten ›Henker von Wilna‹ Murawjow anzusingen. Wohl gibt es unter Tjutschews politischen Gedichten ein absolut vollkommenes; es ist an die Dekabristen gerichtet:
O Opfer der Gedankenlüge!
Verblendete, ihr glaubtet wohl,
daß euer karges Blut genüge,
zu schmelzen diesen ewigen Pol ...
In seiner Jugend hatte Tjutschew übrigens, wie es in Rußland so oft der Fall ist, ganz anderen Ansichten gehuldigt und als Siebzehnjähriger eine höchst freiheitliche Epistel an Puschkin anläßlich dessen Jugendode An die Freiheit gerichtet.
Was die äußere Form seiner Gedichte und seine Kunstmittel betrifft, war Tjutschew seiner Zeit weit voraus. Er gebrauchte oft seltene Reime, Binnenreime, Assonanzen und andere Finessen, für die die Zeitgenossen gar kein Verständnis hatten. Er war ein »Lehrer der Dichtkunst für die Dichter«, wie ein moderner Kritiker sagt. Alle Schönheiten seiner Kunst wurden erst um die Wende des 19. Jahrhunderts von den sogenannten ›Dekadenten‹ entdeckt, und die modernen russischen Lyriker verehren in Tjutschew ihren größten Lehrmeister.