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Unter den zahlreichen russischen Dichtern, deren Geburtsjahre in das erste Drittel und deren literarische Tätigkeit in die Mitte und die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen, sind neben Turgenjew, Dostojewskij und Tolstoi die drei, deren Namen an der Spitze dieses Kapitels stehen, die bedeutendsten. Wie verschieden sie an Temperament und Richtung auch sind, wir wollen sie hier nebeneinander behandeln, um das Bild des literarischen Rußland in seiner großen Zeit zu vervollständigen.
Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) erreichte ein für einen russischen Dichter ungewöhnlich hohes Alter, war aber zugleich der am wenigsten fruchtbare von allen. Sein ganzes Werk besteht, außer einer Reisebeschreibung und mehreren Skizzen, aus nur drei Romanen, die er mit zwölfjährigen Pausen erscheinen ließ und die eigentlich alle das gleiche Thema behandeln: das Versumpfen des Menschen, der der Banalität des Alltags keine innere Kraft entgegenzusetzen vermag. Der erste Roman Eine gewöhnliche Geschichte erschien 1847. Der Held, Alexander Adujew, ein für Schiller schwärmender Romantiker, kommt aus der Provinz nach Petersburg, erlebt da eine unglückliche, aber durchaus nicht aufregende Liebesgeschichte und verwandelt sich allmählich, den guten Ratschlägen seines Onkels folgend, in einen ruhigen, behäbigen Beamten, der nur noch an die Karriere und an eine vorteilhafte Vernunftheirat denkt. Dieses Unterliegen der Prosa des Staatsdienstes, diese Verwandlung des jugendlichen Romantikers in einen Streber oder ruhigen Bürger ist eine typisch russische Erscheinung, und schon Puschkin prophezeite dem göttingischen Schwärmer Lenskij das gleiche Ende: wäre er nicht im Duell gefallen, so hätte er den Musen entsagt, wäre in gestepptem Schlafrock auf dem Lande versauert und, von Kindern, Weibern und Ärzten umgeben, friedlich in seinem Bett gestorben. Dem Schwächling Alexander Adujew wird als positiver Typus sein Onkel und Lehrmeister Pjotr Iwanowitsch gegenübergestellt, dessen ganze Tugend darin besteht, daß er weiß, was er will, und die prosaischen Ziele seines Strebens gar nicht verheimlicht, darin also ehrlicher ist als sein Neffe. Gontscharow zeigt sogar eine gewisse Sympathie für diesen zielbewußten ›arrivierten‹ Beamten, was ihm von der damaligen Kritik übelgenommen wurde. In Wirklichkeit ist aber sein Verhältnis zu seinem Helden rein objektiv, und diese Objektivität zeichnet ihn vor allen russischen Schriftstellern jener Zeit aus. Bjelinskij, der die Gewöhnliche Geschichte noch erlebte, äußerte sich über Gontscharow durchaus richtig: »Es ist bei ihm nichts zu finden außer Talent; er ist mehr als jemand heutzutage Dichter und Künstler.« Für das künstlerische Credo Gontscharows sind übrigens seine folgenden Worte überaus bezeichnend: »Ein Kunstwerk mit dem Verstand allein zu schaffen, wäre dasselbe, wie von der Sonne zu verlangen, daß sie bloß leuchte, aber nicht mit ihren Strahlen in der Luft, in den Bäumen, im Wasser spiele, nicht die Farben, Töne und Schattierungen erzeuge, die der Natur Schönheit und Glanz verleihen! Wäre es denn sonst Realismus?« Im Roman geschieht eigentlich nichts: er ist eine ›gewöhnliche Geschichte‹ im buchstäblichen Sinne des Wortes; wir finden darin keine starken Charaktere oder Gemütsregungen, dafür aber wahre Wunder behaglicher Kleinmalerei, die an die flämischen Kleinmeister und noch mehr an Flaubert gemahnen, mit dem Gontscharow auch die übertrieben sorgfältige Arbeitsmethode gemein hatte und den er abgöttisch verehrte.
Der des Lebens Prosa unterliegende Romantiker Alexander Adujew ist übrigens niemand anders als Gontscharow selbst, was er auch gar nicht verschwieg: auch er hatte sich in seiner Jugend für die Romantiker und besonders für Schiller begeistert (dessen Prosaschriften er sogar übersetzte) und war mit dreiundzwanzig Jahren nach Petersburg gekommen und Beamter am Finanzministerium geworden. Dreiundzwanzig Jahre diente er im Departement für auswärtigen Handel, bekleidete darauf fünfzehn Jahre das Amt eines Zensors und nahm mit sechzig Jahren seinen Abschied, um dann noch weitere zwanzig Jahre als Geheimrat a. D. zu vegetieren. Der Staatsdienst war sein eigentliches Element: »Jeden Tag, jede Stunde, heute wie gestern und ewig arbeitet die bürokratische Maschine harmonisch, ordentlich, unermüdlich, als gäbe es gar keine Menschen, sondern nur Räder und Uhrfedern« – schildert er nicht ohne Behagen dieses Element in der Gewöhnlichen Geschichte.
Sehr merkwürdig erscheint bei dem ruhigen Beamten und Stubenhocker Gontscharow die Vorliebe, sogar Leidenschaft für das Wasser und Seefahrten; vielleicht war sie in ihm von seinem Taufpaten und Erzieher, einem alten Seeoffizier, geweckt worden. So kam es, daß Gontscharow im Jahre 1852, natürlich nicht ohne sein Zutun, vom Marineministerium den Auftrag bekam, als Sekretär eines Admirals an einer Weltumseglung teilzunehmen. Die Briefe, die er von dieser Weltreise an seine Amtskollegen schrieb, verarbeitete er nach seiner Rückkehr zu einem zusammenhängenden Buch, das unter dem Titel Fregatte Pallas 1856 erschien. Es ist eines der schönsten und eigenartigsten Reisetagebücher, eigenartig in seiner erstaunlichen Objektivität: der Autor läßt sich durch nichts hinreißen oder verblüffen; das Großartige und Wilde ist seiner friedlichen Natur direkt zuwider, ein Orkan im Indischen Ozean ärgert ihn bloß. Um so reicher ist das Buch an einzelnen feinen Beobachtungen, stillen Stimmungsbildern und geistreichen Betrachtungen über das Fremdländische und Russische. Gontscharow konnte sich auch gar nicht all den neuen Eindrücken ganz hingeben, denn seine Gedanken waren während der Weltreise dauernd mit einem neuen Roman beschäftigt, der an die zehn Jahre reifen mußte, ehe er 1858 erschien.
Oblomow ist das Hauptwerk Gontscharows und machte seinen Namen sofort und für immer berühmt. Es ist wiederum die ›gewöhnliche‹ Geschichte des langsamen Versumpfens eines Menschen, nur daß er diesmal Oblomow heißt und der Prozeß sich nicht in einer Petersburger Kanzlei, sondern in der ländlichen Weltabgeschiedenheit auf einem Sofa abspielt. Oblomow ist der passive, faule Russe, wie ihn in solcher Vollendung noch niemand geschildert, wie ihn Gogol in einigen Gestalten der Toten Seelen nur angedeutet hat. Der Roman erschien am Vorabend der ›großen Reformen‹ Alexanders II., und die Zeitgenossen glaubten, Gontscharow hätte in Oblomow die Passivität der Gesellschaft des russischen ›Vormärz‹ geißeln wollen; der Typus gehöre der Vergangenheit an, und im reformierten Rußland werde es dergleichen nicht mehr geben; diese Ansicht stimmte jedoch nicht, und das vom Namen des Helden abgeleitete Wort ›Oblomowschtschina‹ (Oblomowerei) bezeichnet eine stehende Einrichtung, einen Zustand, an dem die russische Gesellschaft immer krankt. Gontscharow selbst verfolgte aber gar keine Tendenz: er wollte einfach den faulen Russen schildern, wie er selbst einer war. Wie in der Gewöhnlichen Geschichte ist auch hier diesem passiven Typus ein aktiver entgegengestellt. Es ist bezeichnend, daß Gontscharow dafür keinen reinen Russen, sondern den Deutsch-Russen Stolz wählte. Diese Wahl, die von manchen Kritikern bemängelt wurde, begründete Gontscharow selbst auf folgende Weise: »Ich nahm einen hier geborenen und russifizierten Deutschen und das deutsche System der kräftigenden, praktischen und den Menschen nicht verzärtelnden Erziehung. Die russifizierten Deutschen, z.B. die Balten, verschmelzen, wenn auch schwer und langsam, mit dem russischen Leben und werden in ihm zweifellos einmal ganz aufgehen. Es wäre ungerecht und unmöglich, den Nutzen dieses Zuflusses eines fremden Elements in das russische Leben zu leugnen. Es bringt alle Arten von Tätigkeit, vor allen Dingen Geduld und Ausdauer seiner Rasse hinein und dann auch noch viele andere Eigenschaften...« Nicht weniger bezeichnend ist es, daß, während der verschlafene Oblomow durchaus lebendig und echt dasteht, sein ›tüchtiger‹ Gegenpart als ein wenig überzeugendes Kunstgebilde wirkt. Die Tendenz, die dem Oblomow einst zugeschoben wurde, interessiert heute längst nicht mehr; was dem Roman seinen unvergänglichen Wert verleiht, ist wiederum die entzückende Kleinmalerei, die ihren Höhepunkt in Oblomows idyllischem Traum erreicht.
Der Roman Oblomow hatte einen Zwillingsbruder: Gontscharows dritter und letzter Roman, sein Lieblingswerk Der Abgrund, keimte zur gleichen Zeit mit dem Oblomow in seinem Kopfe, erblickte aber das Licht der Welt erst zwölf Jahre später (1868). Der Held, Raiskij, ist diesmal kein passiver Faulpelz und Opportunist, sondern ein Künstler und Mann der Tat (der ursprüngliche Titel des Romans lautete sogar ›Der Künstler›); dies hindert ihn jedoch nicht, gleich Adujew und Oblomow zugrunde zu gehen, und zwar an seinem Dilettantismus. Gontscharow selbst charakterisierte ihn mit folgenden Worten: »Raiskij ist der Held der folgenden, d.h. der Übergangsepoche, er ist der erwachte Oblomow... eine talentierte Natur, aber dennoch ein Sohn Oblomows.« Ihm sind in diesem Roman gleich mehrere zielbewußte und energische Menschen entgegengestellt: der Streber Ajanow, der viel Ähnlichkeit mit Adujews Onkel hat, der Nihilist Mark Wolochow, eine Karikatur auf den Turgenjewschen Basarow, und Tuschin, ein ins Russische übersetzter Stolz. Im Grunde sind sie aber alle ebensowenig positive Gestalten wie Raiskij selbst. Ausgesprochen sympathisch sind in diesem Roman nur die Frauen, gegen die (wie bei Turgenjew) die Männer stark abfallen: die junge Wjera und die alte Großmutter. Der Abgrund wurde von der Kritik ziemlich kühl aufgenommen und vermochte den Erfolg des Oblomow niemals zu erringen. Nach diesem Roman schrieb Gontscharow nur noch einige belanglose Skizzen. Von 1873, als er seinen Abschied nahm, bis zu seinem Tode (1891) lebte er in Petersburg als Exzellenz a.D. in völliger Einsamkeit und echt Oblomowscher Untätigkeit.
Michaïl Jewgrafowitsch Ssaltykow (Pseudonym: Schtschedrin, der größte russische Satiriker und einer der bedeutendsten Satiriker der Weltliteratur, wäre wohl auch außerhalb seiner Heimat ebenso berühmt geworden wie ein Turgenjew und Tolstoi, wenn seine Satiren gegen allgemein menschliche Schwächen gerichtet wären. Er behandelte aber ausschließlich lokale russische Erscheinungen, meist von aktueller Bedeutung, und so können seine Werke selbst in Rußland heute nicht mehr mit dem gleichen Interesse gelesen werden, dem sie bei ihrem Erscheinen begegneten. Ssaltykow wurde als Sproß eines der ältesten russischen Adelsgeschlechter 1826 geboren und genoß seine Erziehung im Lyzeum von Zarskoje-Ssjelo, das schon einen Puschkin hervorgebracht hatte. Fast jeder Zögling dieses Instituts, der nur einigermaßen zu schreiben verstand, sah sich berufen, den Fußstapfen Puschkins zu folgen. So schrieb auch Ssaltykow als Jüngling eine Reihe lyrischer, sehr belangloser Gedichte, um später ganz zur Prosa überzugehen. 1847 veröffentlichte er seine beiden ersten Novellen, die schon den großen Satiriker verraten. Obwohl er in ihnen den Kreis der Fourieristen um Petraschewskij herum verspottete, wurden diese Novellen von der damals besonders wütenden Zensur als staatsgefährlich angesehen, und Ssaltykow bekam eine Strafversetzung nach Wjatka, wo er sieben Jahre als Beamter an der Gouvernementskanzlei wirkte. So hatte er Gelegenheit, die russische Beamtenschaft aus nächster Nähe kennenzulernen. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung veröffentlichte er 1856/57 im Russischen Boten unter dem Gesamttitel Gouvernementsskizzen eine Reihe satirischer Feuilletons aus dem Leben der Beamten und Bürger in der Provinz. Zugleich setzte er seine Beamtenlaufbahn fort und brachte es sogar zum Vizegouverneur und stellvertretenden Gouverneur von Kasan und Twer. 1868 nahm er jedoch seinen Abschied, widmete sich ganz der Literatur und trat in die Redaktion der von Nekrassow geleiteten, führenden Monatsschrift Vaterländische Annalenein. In dieser Zeitschrift erschienen auch seine wichtigsten Werke.
Ssaltykows Satire erreicht ihren Höhepunkt in der Geschichte einer Stadt nach Originalurkunden (1869/70). Diese angeblich von mehreren Stadtarchivaren verfaßte Chronik von Glupow (Dummstadt) ist eine bissige Verhöhnung der gesamten russischen Geschichte, selbst des russischen Volkscharakters. Die einzelnen Perioden und Personen lassen sich unschwer identifizieren. Sie beginnt mit der Berufung der Warjagerfürsten und bricht mit dem Jahre 1825 (Regierungsantritt Nikolais I.) ab, wo »die literarische Betätigung selbst Stadtarchivaren unmöglich gemacht wurde«. Das köstliche ›Verzeichnis der Stadthauptleute‹ umfaßt 22 Nummern und endet mit dem Major Archistratig Stratilatowitsch Perechwat-Salichwatzkij (etwa: »Feste druff!«). »Über diesen schweige ich. Er zog in Glupow auf einem weißen Pferde ein, verbrannte das Gymnasium und hob die Wissenschaften auf.« Gemeint ist natürlich Nikolai I. Für die Borniertheit der damaligen Zensur ist es bezeichnend, daß sie die so deutlichen Anspielungen gar nicht merkte und die Geschichte anstandslos passieren ließ.
In Pompadoure beiderlei Geschlechts läßt Ssaltykow eine Reihe von Gouverneuren und ihre Gemahlinnen aufmarschieren. Im Milieu der Mäßigkeit und Akkuratesse schildert er die niederen Beamten. In den Taschkentern verspottet er die in den westlichen und östlichen Gebieten wirkenden Russifikatoren. Köstlich ist der Band Jenseits der Grenze (1880/81), in dem die in Westeuropa, in Paris und in den deutschen Kurorten (die Ssaltykow »Lakaienstädte« nennt) sich herumtreibenden Russen gezeigt werden. Die Ausländer, namentlich die Franzosen, werden als höchst lächerlich hingestellt, noch lächerlicher wirken aber die russischen Vergnügungsreisenden und die von verschiedenen Ministerien zu Studienzwecken abkommandierten Beamten (der eine hat den amtlichen Auftrag, festzustellen, ob an den ausländischen Lehranstalten die Regel » Tolle me, mu, mi, mis, si declinare domum vis« ebenso befolgt werde wie an den russischen). Im gleichen Werke kommt auch der berühmte Dialog zwischen dem ›Knaben mit Hose‹ (dem Deutschen) und dem ›ohne Hose‹ (dem Russen) vor. Obwohl der erstere der vernünftigere ist und alle Vorzüge materieller Kultur besitzt, bleibt der Russe im Wortstreit Sieger: er hat seine Seele dem Teufel nicht verkauft wie der Deutsche, sondern geschenkt, kann sie ihm daher jederzeit wieder wegnehmen und ist der innerlich freiere. Dieser Dialog zeigt, daß Ssaltykow seinen Russen, den er sonst so sehr schmähte, doch über alle Ausländer stellte. Sonst findet man in seinem ganzen Werk keinen einzigen russischen Menschen und keine einzige russische Institution, für die er Anerkennung hätte: Gouverneure und niedere Beamte, Bürger und Kaufleute, Gutsbesitzer und Bauern, Alte und Junge – alle sind gleich lächerlich, und selbst die ›großen Reformen‹ Alexanders II. brachten keinen ordentlichen Russen hervor. Ssaltykow war eben ganz Galle und vermochte an keiner Erscheinung die Lichtseite zu erkennen.
Einige seiner Werke wirken nicht mehr satirisch, sondern ausgesprochen tragisch. Da ist vor allem die Familienchronik Die Herren Golowljew (1877) zu nennen, eines der düstersten Werke der Weltliteratur, ohne einen einzigen Lichtpunkt. Der Held dieses Romans, Juduschka (Diminutiv von Judas), ist wohl das abstoßendste Scheusal, das man sich denken kann, die Verkörperung aller Todsünden. Die damalige Kritik hatte das Werk für tendenzlos gehalten; dem ist aber nicht so: Ssaltykow wollte zeigen, daß nicht nur die neue, unter den Reformen aufgewachsene Generation, sondern auch die vielgerühmte patriarchalische ›gute alte Zeit‹ nichts tauge. Den Herren Golowljew stehen Die alten Zeiten von Poschechonien würdig zur Seite – eine Reihe düsterer Bilder aus der Leibeigenschaftsperiode; eines von ihnen, die Geschichte von der Tante Anfissa Porfirjewna, die in ihrer Jugend von ihrem Mann mit sadistischer Grausamkeit behandelt wird und sich später dadurch rächt, daß sie ihn zu ihrem Leibeigenen macht (er hat nämlich etwas angestellt, wofür er ins Zuchthaus gekommen wäre, wenn ihn seine Frau nicht als ›gestorben‹ gemeldet und unter falschem Namen unter die Leibeigenen gesteckt hätte) – diese Geschichte gehört zum Grausigsten, was es auf diesem Gebiete überhaupt gibt.
Die Vaterländischen Annalen, die Ssaltykow bis zum Tode Nekrassows (1878) gemeinsam mit diesem redigierte und deren Hauptredakteur er später war, wurden 1884 von der Regierung verboten. Das bedeutete für Ssaltykow, der auch sonst ewig unter dem Damoklesschwert der Zensur gelebt hatte, einen harten Schlag. Seine Hand erlahmte, und das einzige bedeutende Werk, das er nach dieser Katastrophe schrieb, ist der Zyklus von einunddreißig Märchen – fast lauter Meisterleistungen. Das Märchen vom Armen Wolf ist die Tragödie dieses Tieres, das nicht nach eigenem Willen ›schlecht‹, sondern von der Natur so geschaffen ist, daß es ohne Fleischnahrung, also ohne Mord nicht leben kann. Von allen verflucht, ist der Wolf auch selbst seines Lebens nicht froh, muß aber, vom Hunger gepeinigt, immer weiter morden. Und zuletzt ruft er den Tod: »Tod, Tod, befreie mich du wenigstens von den Tieren, Bauern und Vögeln! Befreie mich du wenigstens von mir selbst!« Köstlich ist die Geschichte Vom Bauern, der zwei Generäle aushielt. Zwei Märchen: Osternacht und Weihnachtsmärchen fallen aus dem Rahmen heraus und zeigen, daß Ssaltykow auf seiner pessimistischen Leier auch andere Saiten hatte und daß ihm der Glaube in die ewige göttliche Liebe und Allverzeihung nicht fremd war. – An Leib und Seele gebrochen, überlebte Ssaltykow seine Zeitschrift nur fünf Jahre und starb 1889 an der Schwindsucht. In seinem Testament äußerte er den Wunsch, möglichst in der Nähe Turgenjews beerdigt zu werden.
Einer der größten russischen Erzähler ist der von der Kritik und vom Publikum gleich stiefmütterlich behandelte Nikolai Ssemjonowitsch Ljesskow (der auch unter dem Pseudonym Stebnizkij schrieb). Eines sei hier gesagt: Tolstoi stellte ihn (in einem Gespräch mit Gorkij) sogar über Dostojewskij. Was ihn vor allen andern auszeichnet, ist die unerschöpfliche Erfindungsgabe, die »Lust am Fabulieren«, die Fähigkeit, jede Bagatelle zu einem atemraubenden Drama zu machen. Das russische Wort, und zwar das wirklich gesprochene und nicht geschriebene, gebrauchte und liebte er nicht nur als Mittel, seine Gedanken auszusprechen, sondern als etwas Primäres und Autonomes; er läßt es Purzelbäume schießen und jongliert damit, z.B. in der unübersetzbaren Erzählung Der stählerne Floh, wie ein Christian Morgenstern.
Ljesskow wurde 1831 im Herzen Rußlands, im Orjolschen Gouvernement geboren, genoß keine höhere Bildung und war schon mit achtzehn Jahren Beamter in Kiew, wo er viel mit Studenten und auch Professoren verkehrte. Später quittierte er den Staatsdienst, wurde Agent einer großen englischen Firma, bereiste als solcher zehn Jahre lang das ganze russische Reich und lernte das Land und die Angehörigen verschiedenster Stände so gründlich kennen wie kaum ein anderer russischer Dichter. Er fing verhältnismäßig spät – erst mit dreißig Jahren – zu schreiben an und veröffentlichte in liberalen Zeitungen eine Reihe publizistischer Aufsätze über allerlei Tagesfragen. Im Jahre 1862 beging er die Unvorsichtigkeit, in einem Artikel die Brände, die damals in Petersburg wüteten, mit der nihilistischen Bewegung unter den Studenten in Verbindung zu bringen. Dies entfesselte einen Sturm der Entrüstung, und Ljesskow wurde von den Liberalen zum Verräter erklärt. Er ging nun tatsächlich aus Wut ins Lager der Konservativen über und ließ (1864) den Roman Ohne Ausweg los, der ihn in Rußland für immer unmöglich machte. Dieser literarisch nicht sehr wertvolle Roman ist ein gehässiges Pamphlet gegen die ›neuen Menschen‹ – Sozialisten, Nihilisten usw., voller Anspielungen auf wirklich existierende Personen. Sechs Jahre später schrieb er den vom gleichen Geist erfüllten Roman Bis aufs Messer, der an Gehässigkeit den ersten sogar übertrifft: es gibt keine Schandtaten, die er darin den ›neuen Menschen‹ nicht zuschriebe, und das Werk macht durchaus den Eindruck eines blutrünstigen Verbrecherromans. Nun war Ljesskow endgültig verfemt. Der maßgebendste Kritiker der Zeit und Abgott der Jugend, Pissarew, fragte, ob sich noch eine anständige Zeitschrift finden würde, die es ›wagte‹, Ljesskows Werke abzudrucken. Damit war über ihn das Todesurteil gesprochen. Er mußte alle seine Werke in rechtsstehenden Zeitschriften veröffentlichen, und das war für die liberalen Kreise Grund genug, alle seine späteren, künstlerisch und auch sittlich wertvollen Werke vollkommen zu ignorieren. Einem Dostojewskij wurde die ›konterrevolutionäre‹ Gesinnung und die Mitarbeiterschaft an rechtsstehenden Organen verziehen, Ljesskow aber nie: ihm fehlte das innere Feuer, das in Dostojewskij beständig loderte, und was seine hohe Kunst des Erzählens und seine Lust am Fabulieren betrifft, so hatte man für derlei Dinge in Rußland um jene Zeit ebensowenig Interesse und Verständnis wie für die reine Lyrik.
Ljesskow schrieb außer den beiden erwähnten noch eine Reihe von Romanen, die gleich unwesentlich sind. Seine Meisterschaft zeigte er eben nicht im Roman, sondern in der längeren und kürzeren Novelle, in der breit gemalten, genial erzählten Anekdote. An erster Stelle sind hier die Geschichten aus dem Leben russischer Geistlicher zu nennen (sein Großvater war Geistlicher, er verkehrte viel mit dem Klerus und kannte dieses Milieu wie kein anderer); vor allem die weitläufige Chronik Die Klerisei (1872). Die Hauptpersonen dieses Werkes sind: der Protopope Tuberosow, ein Mann von tiefer, echt christlicher Religiosität, dessen ganzes Leben tätige Nächstenliebe ist; der Diakon Achilla, ein Gewaltmensch und Hüne, der aus Versehen Geistlicher geworden ist; der zweite Pfarrer Sacharia, die personifizierte Demut. Diese glänzend geschriebene Chronik voll amüsanter Anekdoten ist übrigens das einzige Werk Ljesskows, das, wenigstens in kirchlichen Kreisen, viel gelesen wurde. Das gleiche Milieu behandelt Ljesskow in den um 1880 erschienenen Kleinigkeiten aus dem bischöflichen Leben. In diesem Werke berührt er auch die Schattenseiten des geistlichen Standes, und das hatte zur Folge, daß er von rechts zum Abtrünnigen erklärt, sogar nihilistischer Tendenzen angeklagt wurde und (1883) seinen Posten am Ministerium für Volksaufklärung verlor. Den Schilderungen aus dem Leben der orthodoxen Geistlichkeit stehen die aus dem Milieu der ›Raskolniki‹ (Sektierer) würdig zur Seite. In dieses Gebiet gehört Der versiegelte Engel, wohl die vollkommenste Erzählung Ljesskows. Erpresserische Beamte beschlagnahmen bei einer Genossenschaft ›altgläubiger‹ Arbeiter deren größtes Heiligtum – ein wundertätiges Bild – und verunstalten, um die Sektierer noch mehr zu demütigen, das Antlitz des dargestellten Engels durch ein Amtssiegel. Das ›versiegelte‹ Bild wird in der Sakristei der Stadtkirche deponiert. Die Arbeiter stehlen nun, von einem mit ihnen sympathisierenden Engländer unterstützt, während der Ostermesse das Bild aus der Kirche und vertauschen es mit einer zu diesem Zweck angefertigten Kopie, die sie gleichfalls mit einem Siegel versehen haben. Als das gefälschte Bild an die Stelle des echten kommt, verschwindet plötzlich das Siegel vom ersteren (dies findet später eine höchst natürliche Aufklärung). Das mit dem gefälschten Bild geschehene ›Wunder‹ erscheint den Sektierern als Triumph der Staatskirche, zu der sie nun auch sämtlich übertreten. Diese an sich gar nicht aufregende Anekdote ist so erzählt, daß uns buchstäblich der Atem stockt; nebenbei erfahren wir eine Menge wunderbarer Details über das Leben der Raskolniki und die Technik der Ikonenmalerei.
Eine Reihe auf Jugenderinnerungen beruhender Geschichten hat das elende Los der Leibeigenen zum Thema; daß sie alle auf einen außerordentlich humanen Ton gestimmt sind, hatte die liberale, Ljesskow feindliche Kritik einfach übersehen. Erschütternd ist die Geschichte des leibeigenen Toupetkünstlers, der eine gleichfalls leibeigene Schauspielerin liebt, auf die der grausame Gutsherr ein Auge geworfen hat. Das Liebespaar flieht, wird eingefangen, das unglückliche Mädchen muß hören, wie ihr Geliebter eine ganze Nacht unter ihrem Zimmer gefoltert wird, und wird zuletzt auf den Viehhof verbannt. Andere Erzählungen handeln von ›Gerechten‹, die Ljesskow dort findet, wo man sie am wenigstens vermutet, z.B. unter der russischen Beamtenschaft. Eine der schönsten Novellen Das Tier, handelt von einem Bären und ist Turgenjews Hundegeschichte Mumu mindestens ebenbürtig. Die Lieblingshelden Ljesskows sind aber die sogenannten ›breiten Naturen‹ beiderlei Geschlechts, an denen Rußland wahrlich keinen Mangel hat. Ein weibliches Exemplar ist z.B. die Lady Macbeth des Mzensker Landkreises, eine Kaufmannsfrau, die ihren Mann mit Hilfe ihres Geliebten ermordet, mit diesem nach Sibirien verschickt wird und, als sie sich von ihm verschmäht sieht, Selbstmord begeht. Die Teufelsaustreibung ist eine beinahe homerische Beschreibung eines von einem echten Moskauer Kaufmann von altem Schrot und Korn veranstalteten nächtlichen Gelages und der unmittelbar darauf folgenden Läuterung in einer Klosterkirche.
In seinen letzten Lebensjahren (er starb 1895) wandte sich Ljesskow, wohl unter dem Einflusse Tolstois, religiösen Problemen zu und schrieb eine Reihe geistlicher Legenden, deren Stoffe zum Teil dem Prologos entnommen sind und die an Schönheit mit den um die gleiche Zeit entstandenen Legenden Tolstois wetteifern. Der protestantisierende Tolstoi reizte jedoch den Stockrussen Ljesskow bald zum Widerspruch, und in einem seiner letzten Werke – der Skizze Wintertag – verspottet er die Tolstoianer genauso, wie er einst die Nihilisten verspottet hatte.
Ljesskow war wohl der russischste unter allen russischen Dichtern, sogar russischer als Dostojewskij; westeuropäische Einflüsse und Interessen (wie bei Dostojewskij für Balzac, Schiller, Hoffmann) waren ihm völlig fremd. Er wurzelt ganz in der russischen Scholle, und der Ausländer lernt das eigentliche Antlitz des alten Rußland aus seinen Erzählungen viel besser kennen als aus den Werken Gogols, Dostojewskijs oder Tolstois. In Rußland haben seine Werke erst in der jüngsten Zeit das ihnen gebührende Interesse errungen, und Ljesskows Einfluß auf die neuere und neueste russische Literatur ist größer als der irgendeines seiner Zeitgenossen, die ganz großen nicht ausgenommen.