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Elftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 33 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 11):

Close up his eyes and draw the curtain close;
And let us all to meditation.

Shakespeare: Henry VI, Part 2.


In der nächsten Nacht nach Mitternacht kam Mary Garth, um die Wärterin im Krankenzimmer abzulösen, und saß hier während der folgenden Nachtstunden allein auf. Sie erbot sich öfter zu diesem Dienst, den sie ungeachtet der Verdrießlichkeit des Alten, so oft er etwas von ihr verlangte, gern leistete. Es gab doch immer Pausen, während deren sie in der Stille der Nacht bei dem matten Lichte vollkommen ruhig dasitzen konnte. Das rothe Kaminfeuer mit seinem leisen Geknister erschien ihr dann wie ein geweihtes Wesen, unberührt von den kleinlichen Leidenschaften, dem thörichten Begehren und dem Trachten nach ebenso unsicheren wie werthlosen Dingen, welche täglich ihre Verachtung erregten.

Mary liebte es, ihren Gedanken nachzuhängen, und saß gern im Zwielicht, die Hände in den Schooß gelegt, da; denn da sie früh einsehen gelernt hatte, daß die Dinge sich nicht grade nach ihren besonderen Wünschen gestalten würden, vergeudete sie keine Zeit mit Verwunderung und Aerger über diese Thatsache; sie war vielmehr schon dahin gelangt, das Leben wie eine große Komödie zu betrachten, und hatte den stolzen, ja großherzigen Entschluß gefaßt, nicht eine gemeine oder verrätherische Rolle in dieser Komödie zu übernehmen.

Mary hätte vielleicht zu cynischen Anschauungen kommen können, hätte sie nicht Eltern gehabt, die sie verehrte, und hätte sie nicht einen Quell inniger Dankbarkeit in sich getragen, der nur um so reicher floß, je mehr sie gelernt hatte, keine unbilligen Ansprüche zu machen.

Auch in dieser Nacht ließ sie, wie es ihre Gewohnheit war, die Scenen des Tages wieder an ihrem innern Auge vorüber ziehen, und ihre Lippen umspielte oft ein Lächeln des Ergötzens, wenn sie an die komischen Momente dachte, welche ihre lebhafte Einbildungskraft noch komischer zu gestalten wußte. Die Menschen waren so lächerlich mit ihren Illusionen, trugen ihre Narrenkappe so ahnungslos, bildeten sich ein, ihre eigenen Lügen seien undurchsichtig, während sie die Lügen aller Anderen zu durchschauen meinten, hielten sich für Ausnahmen von der allgemeinen Regel, als ob, wenn alle mit ihnen bei derselben Lampe Sitzenden gelb aussähen, sie allein ein rosiges Colorit behalten würden.

Aber unter diesen Illusionen, welche Mary fortwährend zu beobachten Gelegenheit hatte, gab es einige, die ihr durchaus nicht komisch erschienen. Sie war bei sich überzeugt, wiewohl sie keinen andern Anhaltspunkt dafür hatte, als ihre genaue Beobachtung der Natur des alten Featherstone, daß trotz seiner Vorliebe für die Gesellschaft der Vincy's, die Wahrscheinlichkeit, sich getäuscht zu sehen, für diese reichlich so groß sei, wie für irgend einen der Blutsverwandten, die sich der Alte vom Leibe hielt.

Sie empfand zwar eine gründliche Verachtung für Frau Vincy's offenbare Angst, Fred und sie je mit einander allein zu lassen, das hinderte sie aber nicht, mit Sorge daran zu denken, wie Fred es wohl aufnehmen würde, wenn es sich ergeben sollte, daß sein Onkel ihm nichts hinterlassen habe. Sie konnte Fred zum Stichblatt ihrer Witze machen, wenn er mit ihr zusammen war; aber wenn sie allein war, freute sie sich seiner Thorheiten keineswegs.

Aber sie liebte es, ihren Gedanken nachzuhängen: ein kräftiger, nicht durch Leidenschaften aus seinem Gleichgewichte gebrachter junger Geist findet seine Freude daran, das Leben kennen zu lernen, und beobachtet seine eigenen Kräfte mit Interesse; Mary war innerlich heiter.

Auch der Gedanke an den auf seinem Krankenbette liegenden Alten vermochte sie weder wehmüthig noch feierlich zu stimmen. Es ist leichter, solche Gefühle zu affectiren als sie wirklich zu hegen, wenn es sich um einen alten Menschen handelt, dessen Leben, soweit man sehen kann, nichts als der Ueberrest einer sündhaften Vergangenheit ist. Sie hatte den alten Featherstone immer nur von seiner unangenehmsten Seite gesehen; er war nicht stolz auf sie und betrachtete sie lediglich als ein ihm nützliches Geschöpf.

Um das Seelenheil eines Menschen zu sorgen, der immer nur harte Worte für uns gehabt hat, muß den Heiligen dieser Erde überlassen bleiben; zu ihnen aber gehörte Mary nicht. Sie hatte ihm nie mit einem heftigen Worte geantwortet und hatte ihn treu gepflegt; mehr aber vermochte sie nicht. Der alte Featherstone selbst war nicht im Mindesten für sein Seelenheil besorgt und hatte sich geweigert, Herrn Tucker vorzulassen.

Heute Nacht hatte er Mary noch nicht ein einziges Mal bissig angelassen und lag während der ersten Stunden ihrer Wache merkwürdig ruhig da, bis Mary ihn endlich mit seinem Schlüsselbunde gegen den Blechkasten rasseln hörte, den er immer im Bette bei sich hatte.

Es war etwa drei Uhr Morgens, als er mit auffallend klarer Stimme sagte:

»Mädchen, komm her!«

Mary gehorchte und fand, daß er den Blechkasten, den sie gewöhnlich für ihn unter der Decke hervorziehen mußte, bereits selbst herausgeholt und den richtigen Schlüssel aufgesteckt hatte. Jetzt schloß er den Kasten auf, nahm einen andern Schlüssel aus demselben heraus und sagte zu Mary, indem er seine Augen, welche ihre ganze Schärfe wieder erlangt zu haben schienen, auf sie heftete:

»Wie Viele sind ihrer im Hause?«

»Meinen Sie Ihre Blutsverwandten, Herr Featherstone?« fragte Mary, die sich auf die eigenthümliche Ausdrucksweise des Alten verstand.

Er nickte leicht mit dem Kopfe und sie fuhr fort:

»Herr Jonah Featherstone und der junge Cranch übernachten hier.«

»O! wie? die sind jetzt immer hier, wie? und die Uebrigen? – ich wette, die kommen alle Tage – Salomon und Jane, und alle die Jungen? die kommen, um zu gucken und zu zählen und zu rechnen?«

»Nicht alle kommen täglich. Ihr Herr Bruder Salomon und Frau Waule sind alle Tage hier und die Uebrigen oft.«

Der Alte machte bei dieser Antwort Grimassen und sagte dann, indem er sein Gesicht wieder in die gehörigen Falten brachte:

»Desto schlimmer für alle die Narren. Jetzt höre mich an, Mädchen. Es ist drei Uhr Morgens und ich bin so gut bei Verstande wie je in meinem Leben. Ich weiß genau Bescheid von meinem ganzen Vermögen, wo alles Geld angelegt ist, kurz Alles. Und ich habe Alles so eingerichtet, daß ich meinen Sinn ändern und zu guterletzt thun kann, was mir beliebt. Hörst Du Mädchen? ich bin bei vollem Verstande.«

»Ja wohl, Herr Featherstone,« sagte Mary ruhig.

Jetzt fing er mit einer Miene noch abgefeimterer Schlauheit noch leiser zu sprechen an.

»Ich habe zwei Testamente gemacht und ich will das eine verbrennen. Thue jetzt, was ich Dir sage. Hier ist der Schlüssel zu meiner eisernen Kiste in dem Cabinet da. Du drückst an der Seite des messingenen Schildes oben auf, bis Du es wie einen Riegel schieben kannst, dann kannst Du den Schlüssel in das vordere Schloß stecken und ihn umdrehen. Thue das und dann nimm das oberste Papier heraus – ›Letzter Wille und Testament‹ in großen gedruckten Lettern.«

»Nein, Herr Featherstone,« sagte Mary mit fester Stimme, »das kann ich nicht.«

»Nein, das willst Du nicht thun? ich sage Dir Du mußt,« sagte der Alte, dessen Stimme vor Schreck über diesen unerwarteten Widerstand zu zittern anfing.

»Ich kann nicht an Ihre eiserne Kiste und an Ihr Testament rühren. Ich muß es ablehnen, irgend etwas zu thun, was mich einem Verdachte aussetzen könnte.«

»Ich sage Dir, ich bin bei vollem Verstande. Soll ich nicht noch zu guterletzt thun können, was mir beliebt? Ich habe absichtlich zwei Testamente gemacht. Nimm den Schlüssel, sage ich Dir.«

»Nein, Herr Featherstone, das werde ich nicht thun,« sagte Mary in noch entschlossenerem Tone. Ihr Widerwille gegen das ihr Zugemuthete wurde immer stärker.

»Ich sage Dir, es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Das ist nicht meine Schuld, Herr Featherstone. Das Ende Ihres Lebens soll nicht den Beginn des meinigen beflecken. Ich werde nicht an Ihre eiserne Kiste und an Ihr Testament rühren.«

Dabei trat sie einige Schritte vom Bette zurück.

Der Alte schwieg eine Weile, starr vor sich hinblickend, während er den Schlüssel zur eisernen Kiste am Schlüsselringe aufrecht in die Höhe hielt; dann plötzlich raffte er sich krampfhaft auf und fing mit seiner knochigen linken Hand in dem Blechkasten zu kramen an.

»Mädchen,« sagte er hastig, »sieh her! – nimm das Geld – die Banknoten und das Gold – sieh her – nimm es – es soll Alles Dein sein – thue, was ich Dir sage!«

Bei diesen Worten strengte er sich an, ihr den Schlüssel so weit wie möglich entgegen zu reichen, aber Mary trat noch weiter zurück.

»Ich will weder Ihren Schlüssel noch Ihr Geld anrühren, Herr Featherstone; bitte, verlangen Sie es nicht noch einmal von mir. Sonst muß ich Ihren Bruder rufen.«

Er ließ die Hand sinken, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah Mary den alten Peter Featherstone weinen wie ein Kind. So sanft wie möglich sagte sie: »Bitte, nehmen Sie Ihr Geld wieder zu sich, Herr Featherstone,« und dann ging sie wieder nach ihrem Platz am Kamin, in der Hoffnung, daß das genügen werde, ihn zu überzeugen, daß es ihm nichts nützen würde, mehr zu sagen.

Im nächsten Augenblick kam er wieder zu sich und sagte eifrig »Höre mal. Rufe den jungen Burschen. Rufe Fred Vincy.«

Mary's Herz fing rascher zu klopfen an. Verschiedene Gedanken in Betreff dessen, was die Folgen der Verbrennung eines zweiten Testamentes sein möchten, fuhren ihr durch den Kopf. Sie sollte im Moment einen schweren Entschluß fassen.

»Ich will ihn rufen, wenn Sie mich auch Ihren Bruder Jonah und Andere zugleich mit ihm rufen lassen wollen.«

»Niemand Anderes, sage ich, den jungen Burschen – ich will thun, was ich Lust habe.«

»Warten Sie, bis es heller Tag und alles im Hause auf ist, Herr Featherstone. Oder lassen Sie mich jetzt gleich Simmons rufen, daß er hingehe und den Advokaten hole. Er kann in weniger als zwei Stunden hier sein.«

»Advokaten? Wozu brauche ich einen Advokaten? Niemand soll etwas davon wissen – hörst Du, Niemand soll etwas davon wissen, ich will thun, was ich Lust habe.«

»Lassen Sie mich sonst jemanden rufen,« sagte Mary in einem zuredenden Tone. Ihre Situation war ihr peinlich. – Ganz allein mit dem alten Manne, dem ein unheimliches Aufflackern seiner Energie die Kraft zu verleihen schien, wieder und wieder zu reden, ohne in seinen gewöhnlichen Husten zu verfallen; aber doch wollte sie den Widerspruch, der ihn in eine solche Aufregung versetzte, nicht gern unnöthiger Weise weiter treiben.

»Bitte, lassen Sie mich jemanden rufen.«

»Laß mich in Ruhe, sage ich. Sieh her, Mädchen, nimm das Geld. Ein solches Glück bietet sich Dir nicht zum zweiten Male. Es sind beinahe zweihundert Pfund – und in dem Kasten ist noch mehr und Niemand weiß, wieviel darin gewesen ist. Nimm es und thue, was ich Dir sage.«

Mary, die am Kamine stand, sah den alten Mann von dem rothen Feuerscheine beleuchtet, wie er in seinem Bette in seinen Kissen aufrecht sitzend, mit seiner knochigen Hand den Schlüssel empor hielt, während das Geld auf der Bettdecke vor ihm lag. In ihrem ganzen Leben vergaß sie nicht wieder dieses Bild eines Menschen, der in seinen letzten Augenblicken thun wollte, was ihm beliebte. Aber die Art, wie er ihr das Geld angeboten hatte, trieb sie, ihren Entschluß noch entschiedener zu erkennen zu geben als bisher.

»Es nützt Ihnen nichts, Herr Featherstone, ich werde es nicht thun, nehmen Sie Ihr Geld wieder zu sich. Ich werde Ihr Geld nicht anrühren. Ich will sonst gern Alles thun, was ich kann, um Ihnen zu Willen zu sein; aber ich werde weder Ihre Schlüssel noch Ihr Geld anrühren.«

»Sonst gern Alles – sonst gern Alles!« sagte der alte Featherstone mit einer vor Wuth heiseren Stimme, welche, als würde er im Traume von einem Alp geplagt, laut zu klingen versuchte und doch kaum hörbar war. »Ich will nichts Anderes. Komm her – komm her.«

Mary näherte sich ihm vorsichtig, da sie ihn nur zu gut kannte. Sie sah, wie er seine Schlüssel fallen ließ und es versuchte, seinen Stock zu packen, während er sie ansah wie eine alte Hyäne, – die Anstrengung seiner Hand bewirkte eine Verzerrung seiner Gesichtszüge. Sie blieb in einer sicheren Entfernung stehn.

»Lassen Sie mich Ihnen etwas von der stärkenden Medizin geben,« sagte sie gelassen, »und versuchen Sie es, sich zu beruhigen. Vielleicht schlafen Sie ein. Und morgen bei Tageslicht können Sie thun, was Sie wollen.«

Er erhob den Stock und warf, obgleich sie in einer für ihn unerreichbaren Entfernung stand, nach ihr, mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft, die aber nur noch völlige Kraftlosigkeit war. Der Stock glitt über das Bettende hinweg auf den Boden.

Mary ließ ihn ruhig liegen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl am Kamin. Nach einer kleinen Weile dachte sie mit der stärkenden Medizin an's Bett zu treten, die Ermattung würde ihn bis dahin zur Ruhe gebracht haben.

Die Kälte der Morgendämmerung fing an sich im Zimmer zu verbreiten, das Feuer im Kamin war niedergebrannt, und Mary konnte durch den Spalt der zusammengezogenen Fenstervorhänge hindurch das von den Rouleaux weiß reflectirte Licht eindringen sehen. Nachdem sie etwas Holz ins Kamin gelegt und sich in einen Shawl gehüllt hatte, setzte sie sich wieder hin in der Hoffnung, daß der Alte jetzt einschlafen werde.

Wenn sie jetzt an's Bett träte, würde ihn das vielleicht wieder aufregen. Nachdem er mit dem Stock geworfen, hatte er nichts mehr gesagt; aber sie hatte gesehen, wie er die Schlüssel wieder in die Hand genommen und seine rechte Hand wieder auf das Geld gelegt hatte. Er nahm es jedoch nicht wieder zusammen, und sie dachte, er sei im Begriff einzuschlummern.

Aber Mary selbst fing an, bei der Erinnerung an das, was sie eben durchgemacht hatte, aufgeregter zu werden, als sie es bei dem Vorgange selbst gewesen war, indem sie erst jetzt über ihr Handeln nachdenken konnte, welches ihr im entscheidenden Momente so gebieterisch aufgedrängt worden, daß jedes Nachdenken dabei unmöglich gewesen war.

Plötzlich loderte aus dem trocknen Holze eine Flamme auf, welche Alles im Zimmer scharf beleuchtete und Mary sah, daß der Alte mit etwas auf die Seite geneigtem Kopfe ruhig dalag. Mit leisen Schritten trat sie an das Bett und fand, daß sein Gesicht sonderbar regungslos aussah; aber im nächsten Augenblick ließ das Flackern der Flamme, welches allen Gegenständen im Zimmer den Schein einer Bewegung verlieh, sie wieder zweifeln; das heftige Klopfen ihres Herzens machte ihre Wahrnehmungen so unsicher, daß sie, selbst nachdem sie ihn berührt und auf seinen Athem gehorcht hatte, sich noch nicht traute.

Sie ging an's Fenster und schob Vorhänge und Rouleaux sachte ein wenig bei Seite, so daß das ruhige Licht des Morgens auf das Bett fiel. Im nächsten Moment stürzte sie auf die Glocke zu und zog heftig an derselben. Gleich darauf bestand kein Zweifel mehr darüber, daß Peter Featherstone, der mit der rechten Hand seine Schlüssel umklammert hatte, während die linke auf dem Haufen Banknoten und Gold lag, todt sei.



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