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Fünfzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 37 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 15):

Thrice happy she that is so well assured
Unto herself and settled so in heart
That neither will for better be allured
Ne fears to worse with any chance to start,
But like a steddy ship doth strongly part
The raging waves and keeps her course aright;
Ne aught for tempest doth from it depart,
Ne aught for fairer weather's false delight.
Such self-assurance need not fear the spight
Of grudging foes; ne favour seek of friends;
But in the stay of her own stedfast might
Neither to one herself nor other bends.
   Most happy she that most assured doth rest,
   But he most happy who such one loves best.

Edmund Spenser: Amoretti


Der von Herrn Vincy angedeutete Zweifel, ob nur eine Neuwahl des Parlaments oder das Ende der Welt bevorstehe, war nur eine schwache Aeußerung der Unsicherheit, in welcher sich die öffentliche Meinung der Provinz in jenen Tagen befand, wo Georg der Vierte eben gestorben 26. Juni 1830. – Anm.d.Hrsg., das Parlament aufgelöst war, Wellington und Peel in Mißcredit gerathen waren und der neue König Wilhelm IV. (Regierungszeit 1830 bis 1837); auf ihn folgte Victoria, die bis 1901 lebte und regierte. – Anm.d.Hrsg. noch zaghaft auftrat.

Wie sollten auch die Leute in der Glühwurmhelle der Anschauungen, welche damals auf dem Lande herrschte, zur Klarheit über ihre eigenen Gedanken kommen – bei so verwirrten Zuständen, wie sie durch ein Toryministerium, welches liberale Maßregeln ergriff, durch toryistische Adelige und Wähler, welche ängstlich darauf bedacht waren, nicht Freunde der abtrünnigen Minister, sondern Liberale gewählt zu sehen, und durch das laute Verlangen nach Mitteln der Abhülfe, welche in einem geheimnißvoll entfernten Zusammenhange mit Privatinteressen zu stehen schienen und deren Befürwortung von Seiten unangenehmer Nachbarn dieselben verdächtig machten, hervorgerufen werden mußten!

Die Käufer der Middlemarcher Zeitungen befanden sich in einer perplexen Lage. Während der durch die Frage der Katholikenemancipation hervorgerufenen Aufregung hatten viele den »Pionier,« welcher ein Wort von Charles James Fox Charles James Fox (1749-1806), britischer Staatsmann und einer der bedeutendsten Redner des englischen Parlamentarismus; legendär waren die Wortgefechte mit seinem Kontrahenten William Pitt (siehe das Lustspiel »Pitt und Fox« (1854) von Rudolf Gottschall). – Anm.d.Hrsg. als Motto führte und dem Fortschritte huldigte, aufgegeben, weil derselbe sich in Betreff der Papisten auf Peel's Seite gestellt und so seinen Liberalismus durch die gegen Jesuitismus und Baal geübte Toleranz befleckt hatte; nun aber waren dieselben Leute auch sehr unzufrieden mit der Haltung der »Trompete,« welche, nachdem sie so gewaltig gegen Rom geblasen hatte, jetzt bei der allgemeinen Schlaffheit der öffentlichen Meinung, wo niemand mehr wußte, wer wen unterstützen würde, sehr flau zu blasen angefangen hatte.

Es war, wie es in einem bemerkenswerthen Artikel des »Pionier« hieß, eine Zeit, wo die so laut nach Abhülfe verlangenden Bedürfnisse des Landes wohl geeignet waren, der Abneigung gegen öffentliches Auftreten bei Männern entgegenzuwirken, die sich durch lange Erfahrung sowohl Weite als Tiefe des Geistes, sowohl Schärfe als Milde des Urtheils, sowohl ruhige Ueberlegung als Energie – kurz, alle die Eigenschaften angeeignet hatten, welche nach den traurigen Erfahrungen der Menschheit am seltensten bei einander zu wohnen pflegten.

Herr Hackbutt, dessen Beredtsamkeit sich um jene Zeit in einem noch gewaltigeren Strome als gewöhnlich ergoß, ohne daß man recht wußte, wo dieser Strom schließlich ausmünden würde, behauptete auf Herrn Hawley's Büreau, der fragliche Artikel rühre von Brooke von Tipton her, und Brooke habe vor einigen Monaten im Geheimen den »Pionier« käuflich an sich gebracht.

»Das bedeutet nichts Gutes, wie?« sagte Herr Hawley. »Er hat plötzlich den Einfall bekommen, ein populärer Mann zu werden, nachdem er bis dahin wie eine verirrte Schildkröte herumgekrochen war. Desto schlimmer für ihn. Ich beobachte ihn schon seit einiger Zeit. Wir wollen ihm schon gehörig zu Leibe gehen. Er ist ein verflucht schlechter Gutsherr. Was hat ein alter Grafschaftsmann sich um die Gunst des niedrigen Packs von obscuren kleinen Freibauern zu bewerben? Was seine Zeitung anlangt, so hoffe ich nur, er wird sie selber schreiben. Da würden wir für unser Geld noch etwas haben.«

»Wie ich höre, hat er für die Redaction einen sehr talentvollen jungen Menschen engagirt, der im Stande sein soll, die brillantesten Leitartikel zu schreiben, die es mit jedem Artikel in den Londoner Blättern aufnehmen können. Und er will sehr entschieden für die Reform eintreten.«

»Laß Brooke nur sein Pachtbuch reformiren. Er ist ein verfluchter alter Geizhals. Und die Baulichkeiten auf seinem Gut sind alle ganz verfallen. Der junge Mensch wird wohl so ein loser Vogel aus London sein.«

»Er heißt Ladislaw. Er soll von ausländischer Herkunft sein.«

»Ich kenne die Sorte,« sagte Herr Hawley; »so ein geheimer Emissär. Er wird damit anfangen, schöne Phrasen über die Menschenrechte zu machen, und wird damit aufhören, ein Weibsbild zu ermorden. So treiben es diese Leute.«

»Sie müssen doch zugeben, Hawley, daß Mißbräuche bei uns herrschen,« sagte Herr Hackbutt, der voraussah, daß er und sein Familienadvokat in ihren politischen Ansichten nicht übereinstimmen würden. »Ich selbst würde mich nie für maßlose Ansichten erklären, – ich stehe auf der Seite Huskisson's William Huskisson (1770-1830), britischer Abgeordneter und Minister; gehörte zum liberalen Flügel der Tories, der für eine moderate Parlamentsreform und die Emanzipation der Katholiken eintrat. – Anm.d.Hrsg. –, ich kann mich aber nicht der Erwägung verschließen, daß die Nichtvertretung großer Städte …«

»Hol' der Henker die großen Städte,« unterbrach ihn Herr Hawley, der keine Lust hatte, noch mehr von Herrn Hackbutt's Ansichten zu hören. »Ich weiß ein bischen zu genau, wie es bei den Middlemarcher Wahlen hergeht. Wenn sie morgen allen alten Burgflecken Die » rotten boroughs« waren Wahlkreise im Königreich England, die so wenige Einwohner hatten, dass sie im Parlament als überrepräsentiert galten. Dies kam zustande, weil Wahlkreise jahrhundertelang nicht der Bevölkerungsentwicklung angepasst wurden. Durch die geringe Anzahl von Wählern war es auch leicht, alle Stimmen für die Wahl der Parlamentsabgeordneten zu kaufen oder die Wähler entsprechend einzuschüchtern (die Wahl war öffentlich). – Zum anderen geht es dabei um die » pocket boroughs« (›Westentaschenbezirke‹), Wahlkreise, die so klein waren, dass ein mächtiger Grundbesitzer den Sitz im Parlament kontrollieren konnte. Mit dem Reform Act 1832 verschwanden 57 rotten boroughs. Das Gewicht verschob sich vom übervertretenen ländlichen Süden in die Industriestädte des Nordens. Erst im Reform Act von 1867 wurde (im Zuge der Aufhebung der pocket boroughs) beschlossen wurde, die Sitze grundsätzlich gemäß der Bevölkerungszahl zu verteilen. Und schließlich machte es die Einführung des Wahlgeheimnisses im Jahr 1872 unmöglich, die Stimme eines einzelnen Wählers zu kontrollieren. Zum ersten Mal überhaupt konnten die Wähler frei entscheiden und mussten nicht auf die Wünsche des Land- oder Hausbesitzers Rücksicht nehmen. – Anm.d.Hrsg. das Wahlrecht nehmen und jede über Nacht aufgeschossene Stadt einen Vertreter ins Parlament schicken lassen, so werden sie damit nur die Kosten einer Parlamentswahl vergrößern. Ich urtheile nach Thatsachen.«

Herrn Hawley's Widerwille gegen die Idee, daß der »Pionier« von einem geheimen Emissär redigirt werden solle und daß Herr Brooke eine politische Rolle spielen wolle, – wie wenn eine unstät umherkriechende Schildkröte ihren kleinen Kopf recken und sich plötzlich aufrichten wollte, – war doch kaum so groß wie das Mißbehagen, welches einige Mitglieder der Familie des Herrn Brooke über diese Dinge empfanden. Die Sache war allmälig herausgekommen, etwa wie wir die Entdeckung machen, daß unser Nachbar einen Fabrikationsbetrieb eröffnet hat, welcher unserer Nase eine dauernde Belästigung in Aussicht stellt, ohne daß es eine gesetzliche Abhülfe dagegen gäbe.

Schon vor Will Ladislaw's Ankunft hatte Herr Brooke den »Pionier« im Geheimen gekauft, als sich die von ihm lange herbeigewünschte Gelegenheit endlich darbot, indem sich der Eigenthümer bereit finden ließ, sich von einem werthvollen Eigenthum, das ihm aber keinen Ertrag lieferte, zu trennen; inzwischen aber war, seit Herr Brooke seine Einladung an Will hatte ergehen lassen, jener Gedanke, seinen Geist für die Welt nutzbar zu machen, der schon seit seinen jungen Jahren in ihm gekeimt hatte, bisher aber nicht zum Durchbruch hatte gelangen können, im Stillen aufgesproßt.

Die weitere Entwickelung dieses Gedankens wurde durch das Gefallen an seinem Gast, welches noch viel größer war, als es Herr Brooke vorausgesehen hatte, sehr gefördert. Denn es schien, daß Will nicht nur in allen jenen künstlerischen und literarischen Fragen zu Hause sei, mit welchen sich Herr Brooke seiner Zeit eingehend beschäftigt hatte, sondern daß er auch die politische Situation mit raschem Ueberblick und jenem weiten Geist zu erfassen verstehe, welcher von einem entsprechenden Gedächtnisse unterstützt, eine durch Citate gewürzte wirksame publicistische Behandlung verbürgt.

»Er scheint mir eine Art Shelley Percy Bysshe Shelley (1792-1822), britischer Schriftsteller der englischen Romantik; Verfechter des Atheismus; politisch verfolgte er in seinen Schriften radikale Positionen. – Anm.d.Hrsg., wissen Sie,« sagte Herr Brooke bei sich darbietender Gelegenheit zu Herrn Casaubon, wie er meinte zu dessen Genugthuung. »Ich meine damit durchaus nichts Verwerfliches – Frivolität, Atheismus oder irgend etwas derart, wissen Sie – Ladislaw's Gesinnungen sind nach jeder Richtung hin gut, davon bin ich überzeugt – wir haben uns erst gestern Abend über sehr viele Dinge unterhalten. Aber er hat denselben Enthusiasmus für Freiheit, Recht, Emancipation – eine schöne Sache, wissen Sie, wenn sie richtig geleitet wird, – wenn sie richtig geleitet wird, wissen Sie. Ich denke, ich werde ihn dahin bringen können, den rechten Cours zu steuern, und die Sache freut mich um so mehr, weil er Ihr Verwandter ist Casaubon.«

Wenn mit dem »rechten Cours« ein präciserer Begriff zu verbinden war, als mit dem, was Herr Brooke sonst vorbrachte, so hoffte Casaubon im Stillen, daß es sich dabei um eine, in weiter Entfernung von Lowick zu übernehmende Beschäftigung handele. Er hatte Will nicht leiden können, schon als er ihn noch unterstützte; jetzt aber, wo Will seine Unterstützung abgelehnt hatte, konnte er ihn noch weniger leiden.

So pflegt es uns zu gehen, wenn wir zu kleinlicher Eifersucht geneigt sind; wenn unsere Begabung wesentlich maulwurfsartiger Natur ist, vermuthen wir leicht, daß unser an jeder Blume nippender Vetter, an dem wir mit gutem Grunde sehr viel auszusetzen haben, uns im Geheimen geringschätzt, und Jeder, der ihn bewundert, übt damit eine indirecte Kritik gegen uns. Wohnt dabei eine strenge Rechtschaffenheit in unserer Seele, so werden wir uns nicht der niedrigen Handlungsweise einer Kränkung jenes Vetters schuldig machen, vielmehr allen seinen Ansprüchen an uns durch Wohlthaten begegnen; die Anweisungen, die wir für ihn ausstellen, geben uns dann eine Ueberlegenheit über ihn, die er anerkennen muß, und wirken wie ein mildernder Aufguß auf unsere Gefühle.

Jetzt war Casaubon, wie wir gesehen haben, seiner Ueberlegenheit, – sofern er sich nicht mit der Erinnerung an dieselbe begnügen wollte –, plötzlich durch eine bloße Laune Will's beraubt worden. Seine Antipathie gegen Will entsprang nicht aus der gemeinen Eifersucht eines alten Ehemanns, sie hatte tiefere Gründe und zog ihre Nahrung aus seinen unbefriedigten Ansprüchen und seiner unablässigen Verstimmung; aber die Anwesenheit Dorotheas als eines jungen Weibes, das selbst bereits eine beleidigende kritische Fähigkeit an den Tag gelegt hatte, gab der Unbehaglichkeit Casaubon's in Betreff Will's, die bisher nur ein unbestimmtes Gefühl gewesen war, nothwendig eine festere Gestalt.

Will Ladislaw seinerseits fühlte, daß seine Abneigung gegen Casaubon auf Kosten seiner Dankbarkeit zunehme, und suchte diese Abneigung mit einem bedeutenden Aufwande von Dialektik vor sich selbst zu rechtfertigen. Casaubon haßte ihn – das wußte er sehr gut; bei seiner ersten Begegnung mit ihm hatte er bei Casaubon einen so bittern Zug um den Mund und einen so giftigen Blick bemerkt, daß ihm ein offener Krieg trotz vergangener Wohlthaten fast gerechtfertigt erscheinen mußte.

Er war zwar Casaubon für das, was er für ihn gethan hatte, zu großem Danke verpflichtet, aber die Heirath mit dieser Frau machte doch fürwahr jene Verpflichtung wett. Es war die Frage, ob nicht die Dankbarkeit, die sich auf das bezieht, was uns selbst geschehen ist, der Entrüstung über das, was gegen einen Andern geschehen ist, weichen muß.

Und Casaubon hatte sich eines Unrechts gegen Dorothea dadurch schuldig gemacht, daß er sie geheirathet hatte. Als Mann hätte er sich selbst besser kennen sollen, und wenn er seine alten Tage damit hinbringen wollte, in einer Höhle an Knochen zu nagen, so durfte er es sich doch nicht einfallen lassen, ein Mädchen zu verlocken, ihm dabei Gesellschaft zu leisten.

»Es ist das schrecklichste jungfräuliche Opfer,« sagte sich Will und malte sich dabei die innern Leiden Dorotheas aus, als wolle er die Wehklagen eines antiken Chors schreiben. Aber er wollte sie nie aus dem Auge verlieren, er wollte über sie wachen, und wenn er alles andere in der Welt aufgeben sollte! er wollte über sie wachen und sie sollte wissen, daß sie wenigstens über einen Sklaven gebieten könne.

Will liebte es, stets mit einem leidenschaftlichen Aufwande von Gründen, Alles vor sich selbst und vor Andern zu motiviren; die einfache Wahrheit war, daß es jetzt keine stärkere Anziehung für ihn gab, als die Gegenwart Dorothea's.

Indessen hatte es an förmlichen Aufforderungen, sie zu sehen, bisher gefehlt; denn Will war noch nicht ein einziges Mal nach Lowick eingeladen worden. Aber Herr Brooke, der es sich angelegen sein ließ, jederzeit das Angemessene zu thun, wenn der arme in seine Studien vertiefte Casaubon nicht daran dachte, hatte Ladislaw mehrere Male nach Lowick mitgebracht, während er gleichzeitig beflissen gewesen war, ihn auch überall anderswo als »einen jungen Verwandten Casaubon's« vorzustellen.

Obgleich daher Will Dorothea noch nicht allein gesprochen hatte, waren doch ihre bisherigen Begegnungen bereits genügend gewesen, um bei Dorotheen das frühere angenehme Gefühl des Beisammenseins mit einem Altersgenossen, der gescheidter als sie und doch bereit war, sich von ihr beherrschen zu lassen, wieder zu erwecken.

Die arme Dorothea hatte vor ihrer Heirath nie in dem Geiste Anderer Raum für das gefunden, was ihr auszusprechen zumeist am Herzen lag, und auch die höhere Bildung ihres Gatten hatte ihr, wie wir wissen, nicht die Befriedigung gewährt, die sie davon erwartet hatte. Wenn sie sich gegen Casaubon über eine ihrer Ideen mit Lebhaftigkeit äußerte, hörte er ihr mit einer geduldigen Miene zu, als ob sie einen Satz aus dem ihm seit seiner frühesten Jugend vertrauten Elementarbuche der alten Sprachen citirt hätte, und bemerkte kurz, welche alte Secten oder Personen ähnliche Ideen gehabt hätten, wie wenn es bereits zu viel davon gebe; zu andern Malen setzte er einem von ihr geäußerten Bedenken lediglich eine erneute Aufstellung Dessen, was sie eben in Zweifel gezogen hatte entgegen. Will Ladislaw aber schien in dem, was sie sagte, immer noch mehr zu finden, als woran sie selbst gedacht hatte.

Dorothea hatte wenig Eitelkeit, aber sie empfand das glühende weibliche Verlangen, über eine andere Seele beglückend zu herrschen. Daher war für sie die bloße Aussicht, Will gelegentlich zu sehen, wie eine Spalte in der Mauer ihres Gefängnisses, durch welche sie eines Schimmers des sonnigen Himmels theilhaftig werden könnte, und diese Freude fing an, ihre ursprüngliche Besorgniß, was ihr Gatte von der Einführung Will's als Gast ihres Onkels denken würde, zum Schweigen zu bringen. Casaubon hatte sich über diese Angelegenheit bisher noch mit keiner Silbe geäußert.

Aber Will verlangte es danach, Dorothea allein zu sprechen; es machte ihn ungeduldig, daß sich die Gelegenheit dazu noch immer nicht darbieten wollte. Wie gering auch der irdische Verkehr Dante's mit Beatrice und Petrarca's mit Laura gewesen sein mochte – mit der Zeit ändern sich die Vorstellungen von der Proportion der Dinge, und in spätern Tagen erscheint es wünschenswerther, weniger Sonnette und mehr Conversation zu haben.

Die Nothwendigkeit ließ eine Kriegslist entschuldbar erscheinen, aber das Feld der Kriegslisten war durch die Besorgniß, Dorothea zu verletzen, beschränkt, Will fand endlich, daß er eine besondere Skizze in Lowick aufnehmen müsse, und eines Morgens bat er Herrn Brooke, der auf seinem Wege nach der Hauptstadt der Grafschaft die Lowicker Landstraße passiren mußte, ihn mit seinem Skizzenbuch und Feldstuhl in Lowick abzusetzen; hier aber etablirte er sich, ohne sich im Hause anzumelden, an einer Stelle, wo er Dorothea's, wenn sie aus dem Hause trat, um auszugehen, – und er wußte, ' daß sie gewöhnlich Morgens eine Stunde spazieren ging –, ansichtig werden mußte.

Aber die Kriegslist wurde durch das Wetter vereitelt; die Wolken zogen sich mit verrätherischer Geschwindigkeit am Himmel zusammen, es fing an zu regnen, und Will war genöthigt, im Hause Schutz zu suchen. Er wollte, wie er es als Verwandter wohl thun konnte, in den Salon gehen, um dort, ohne sich melden zu lassen, zu warten, und sagte daher, als er dem Butler, seinem alten Bekannten, in der Vorhalle begegnete, zu diesem:

»Sagen Sie nichts davon, daß ich hier bin, Pratt; ich will bis zum zweiten Frühstück warten; ich weiß, Herr Casaubon läßt sich nicht gern stören, wenn er in seiner Bibliothek ist.«

»Der Herr ist aus, Herr Ladislaw; nur die gnädige Frau ist in der Bibliothek. Ich will ihr lieber sagen, daß Sie hier sind,« sagte der rothwangige Pratt, der sich lebhaft mit Tantripp zu unterhalten und oft mit ihr darin übereinzustimmen pflegte, daß es hier doch recht langweilig für die gnädige Frau sein müsse.

»O, schön; der verwünschte Regen hat mich am Skizziren verhindert,« antwortete Will, der sich so glücklich fühlte, daß er mit entzückendem Behagen Gleichgültigkeit affectirte.

Wenige Augenblicke später war er in der Bibliothek, wo Dorothea ihm mit einem lieblichen ungezwungenen Lächeln entgegentrat.

»Casaubon ist zum Erzdechanten gegangen,« sagte sie sofort. »Ich weiß nicht, ob er nicht erst zu Tisch wieder nach Hause kommen wird. Er war unsicher, wie lange ihn sein Besuch aufhalten würde. Wünschten Sie ihn in einer besondern Angelegenheit zu sprechen?«

»Nein, ich bin nur gekommen, um zu skizziren, aber der Regen hat mich ins Haus getrieben. Sonst würde ich Sie nicht so früh gestört haben. Ich glaubte, Herr Casaubon sei hier, und ich weiß, daß er sich um diese Tageszeit nicht gern unterbrechen läßt.«

»Ich muß also dem Regen dankbar sein! Es freut mich so sehr, Sie zu sehen.«

Dorothea äußerte diese gewöhnlichen Worte mit der einfach aufrichtigen Art eines Kindes, das in seiner Pension, wo es sich unglücklich fühlt, Besuch erhält.

»In Wahrheit bin ich in der Hoffnung gekommen, Sie allein sprechen zu können,« sagte Will, den eine geheimnißvolle Gewalt zwang, ihrer Offenheit mit gleicher Offenheit zu begegnen. Er hatte keine Zeit, sich zu fragen, ob er vielleicht lieber nicht so offen hätte sein sollen. »Ich wollte mich gern mit Ihnen über verschiedene Dinge unterhalten, wie wir es in Rom gethan haben. Es macht immer einen Unterschied, wenn dabei Andere zugegen sind.«

»Ja,« sagte Dorothea in ihrem klaren vollen Ton der Zustimmung. »Nehmen Sie Platz.«

Sie setzte sich selbst auf ein dunkles, vor einem Büchergestell stehendes Sofa, und sah in ihrem einfachen weißen Kleide von dünnem Wollenstoff, ohne irgend einen Schmuck außer ihrem Hochzeitsring, aus, als sei sie durch ein Gelübde gebunden, anders zu erscheinen als alle übrigen Frauen; Will setzte sich in einer Entfernung von wenigen Schritten ihr so gegenüber, daß das Licht auf seine hellen Locken und sein feines, aber etwas unruhiges Profil mit seinen trotzigen Zügen um Lippen und Kinn fiel.

Beide blickten einander an wie Blumen, deren Kelche sich eben in diesem Momente geöffnet hätten. Dorothea vergaß für den Augenblick die unerklärliche Gereiztheit ihres Gatten gegen Will; es war ihr wie ein frischer Trunk für ihre durstigen Lippen, ohne Furcht mit dem einzigen Menschen sprechen zu können, den sie empfänglich für ihre Worte gefunden hatte; denn in der trüben Stimmung, in welcher sie auf vergangene Tage zurückblickte, übertrieb sie sich die Kraft eines ihr früher gewordenen Trostes.

»Ich habe oft daran gedacht, daß ich mich gern wieder mit Ihnen unterhalten möchte,« erwiderte sie ohne Zögern. »Es kommt mir selbst sonderbar vor, was ich Ihnen Alles gesagt habe.«

»Ich erinnere mich jeder Ihrer Aeußerungen,« sagte Will in einem Tone unaussprechlicher Befriedigung, wie sie ihm das Gefühl gewährte, sich einem Wesen gegenüber zu finden, das werth war, innigst geliebt zu werden. Ich glaube, seine Gefühle in jenem Augenblick waren vollkommen rein; denn wir Sterblichen haben unsere göttlichen Momente, wenn unsere Liebe sich einmal ganz an der Vollkommenheit des geliebten Gegenstandes genügen läßt.

»Ich habe Vieles zu lernen versucht, seit wir in Rom waren,« sagte Dorothea. »Ich verstehe einigermaßen lateinisch und fange eben an, auch ein wenig griechisch zu verstehen. Ich kann Casaubon jetzt besser bei seinen Arbeiten helfen. Ich kann für ihn nachschlagen und seine Augen vielfältig schonen. Aber die Gelehrsamkeit scheint eine schwere Last zu sein, es ist, als ob die Gelehrten auf dem Wege zu großen Ideen ihre Kräfte erschöpften und vor Ermüdung nie zum Genuß derselben gelangen könnten.«

»Wenn Jemand die Fähigkeit hat, große Gedanken zu fassen, so wird er ihnen schwerlich nachzujagen brauchen, bis er alt und schwach geworden ist,« sagte Will, der diese rasche treffende Bemerkung nicht zurückzudrängen vermochte. Aber eine nur zu erklärliche Empfindlichkeit ließ Dorothea den wahren Sinn dieser Bemerkung ebenso rasch erfassen. Als Will sah, daß sie die Farbe wechselte, fügte er hinzu: »Aber es ist vollkommen wahr, daß die besten Geister sich oft bei der Ausarbeitung ihrer Gedanken überarbeitet haben.«

»Sie verbessern mich,« sagte Dorothea. »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich hätte sagen sollen, daß die Männer, welche große Gedanken haben, sich bei der Ausarbeitung derselben sehr erschöpfen. Ich habe das schon annähernd empfunden, als ich noch ein kleines Mädchen war, und es schien mir immer, daß ich mein Leben am liebsten dazu anwenden möchte, Jemandem, der große Werke zu vollbringen hätte, zu helfen, ihm seine Bürde zu erleichtern.«

Dorothea fand sich durch den Gang des Gesprächs zu diesem Stückchen Selbstbiographie veranlaßt, ohne daß sie dabei im mindesten das Gefühl gehabt hätte, als mache sie eine Enthüllung. Aber sie hatte noch nie etwas zu Will gesagt, was für ihn ein so scharfes Licht auf ihre Heirath geworfen hätte. Er zuckte nicht mit den Achseln und dachte in Ermangelung dieser befreienden Muskelbewegung nur mit einer um so reizbareren Empfindung an schöne Lippen, welche heilige Schädel und andere kirchlich geweihte Nichtigkeiten küssen. Er hatte sich aber zu hüten, diesen Gedanken auch in seinen Aeußerungen zu verrathen.

»Sie können aber leicht Ihre Dienstfertigkeit zu weit treiben,« sagte er, »und sich selbst überarbeiten. Sperren Sie sich nicht zuviel ein? Sie sehen schon blässer aus. Herr Casaubon thäte besser, sich einen Sekretär zu nehmen; er würde leicht einen Mann finden können, der ihm seine halbe Arbeit abnähme. Dadurch würde ihm eine wirksamere Hülfe geleistet werden, und Sie würden ihm nur in leichteren Dingen behülflich zu sein brauchen.«

»Wie können Sie nur daran denken!« entgegnete Dorothea in einem vorwurfsvollen Tone. »Ich würde mich alles Glücks berauben, wenn ich ihm nicht bei seinem Werke helfen könnte. Was sollte ich sonst wohl anfangen? Es giebt nichts Gutes in Lowick zu thun. Ich wünschte nur, ich könnte ihm noch mehr helfen. Und er mag nichts von einem Sekretär hören; bitte, reden Sie nie wieder davon.«

»Gewiß nicht, da ich jetzt weiß, wie Sie darüber denken. Aber ich habe Herrn Brooke und Sir James Chettam Beide dieselbe Ansicht äußern hören.«

»Ja,« sagte Dorothea, »aber sie verstehen die Sache nicht – nach ihrer Meinung müßte ich viel reiten, mich mit Gartenanlagen und der Errichtung neuer Treibhäuser beschäftigen, um meine Zeit auszufüllen. Ich glaubte, Sie würden begreifen können, daß man andere geistige Bedürfnisse hat,« fügte sie etwas ungeduldig hinzu, »überdies ist Casaubon, wie gesagt, der Gedanke, einen Sekretär zu nehmen, unerträglich.«

»Mein Irrthum ist entschuldbar,« sagte Will, »Herr Casaubon hat früher wiederholt gegen mich die Absicht geäußert, einen Sekretär zu engagiren. Ja, er hat mir sogar dieses Amt in Aussicht gestellt. Aber es zeigte sich – daß ich nicht gut genug dazu war.«

Dorothea versuchte es hier, eine Entschuldigung für die offenbare Abneigung ihres Gatten gegen Will zu finden, und sagte mit einem scherzenden Lächeln: »Sie waren nicht ausdauernd genug bei der Arbeit.«

»Nein,« erwiderte Will, indem er den Kopf wie ein munteres Pferd in den Nacken warf. »Und« fuhr er fort, als sein leicht erregbarer Dämon plötzlich wieder über ihn kam und ihn trieb, den armen Casaubon an den Mottenflügeln seines Ruhmes zu zupfen, »ich habe seitdem bemerkt, daß Herr Casaubon es nicht liebt, wenn man seine Arbeiten ganz übersieht und genau weiß, was er thut. Er ist zu zaghaft – hat zu wenig Vertrauen zu sich selbst. Ich bin vielleicht nicht viel nütze; aber er mag mich nicht, weil ich nicht seine Ansichten theile.«

Es fehlte Will nicht an der guten Absicht, immer großmüthig zu sein; aber unsere Zungen sind kleine Gewehrhähne, welche gewöhnlich losgehen, noch ehe allgemeine gute Absichten sich haben geltend machen können. Und es wäre doch nicht zu ertragen gewesen, Dorothea über den wahren Grund der Abneigung Casaubon's gegen ihn unaufgeklärt zu lassen. Kaum hatte er jedoch die Aeußerung gethan, als er auch schon die Wirkung derselben auf Dorothea fürchtete.

Diese aber blieb merkwürdig ruhig – durchaus nicht sofort entrüstet, wie sie es bei einer ähnlichen Gelegenheit in Rom gewesen war. Und der Grund dieser Verschiedenheit ihres Benehmens lag tief. Sie hatte es aufgegeben, sich gegen Thatsachen zu wehren, war vielmehr bestrebt, ihr Verhalten der klarsten Einsicht in diese Thatsachen gemäß einzurichten, und schien jetzt, wo sie das Verfehlte in dem Streben ihres Gatten und die Möglichkeit seines Bewußtseins davon fest ins Auge faßte, nur den einen Pfad, auf welchem die Pflichterfüllung zur Zärtlichkeit wird, wandeln zu wollen.

Will's Mangel an Zurückhaltung hätte jedoch vielleicht eine strengere Aufnahme von ihrer Seite gefunden, wenn ihm nicht schon die Abneigung ihres Gatten, welche ihr hart erscheinen mußte, so lange sie sie nicht besser begründet sah, einen Anspruch auf ihre schonende Theilnahme gegeben hätte.

Sie antwortete nicht sogleich, sondern blickte erst eine Weile nachdenklich vor sich hin und sagte dann sehr ernst:

»Casaubon muß doch seine Abneigung gegen Sie, soweit seine Handlungsweise in Betracht kam, völlig überwunden haben, und das ist bewunderungswürdig.«

»Jawohl; er hat einen Sinn für Gerechtigkeit in Familienangelegenheiten bewiesen. Es war abscheulich, daß meine Großmutter enterbt worden war, weil sie, wie ihre Familie es nannte, eine Mesalliance geschlossen hatte, obgleich sich gegen ihren Mann nichts sagen ließ, als daß er ein polnischer Flüchtling war, der sich seinen Unterhalt durch Stundengeben erwarb.«

»Ich wüßte gern mehr von Ihrer Großmutter!« sagte Dorothea, »ich möchte wissen, wie sie den Wechsel von Reichthum zu Armuth ertrug und ob sie glücklich mit ihrem Manne war! Wissen Sie etwas Näheres darüber?«

»Nein, nur daß mein Großvater ein Patriot war und ein aufgeweckter Kopf, daß er viele Sprachen sprechen konnte, musikalisch war und sich mit Unterrichten sein Brot verdiente. Sie starben beide früh. Auch von meinem Vater weiß ich nicht viel mehr, als was mir meine Mutter von ihm erzählt hat; aber er hatte das musikalische Talent von meinem Großvater geerbt. Ich erinnere mich seines langsamen Ganges und seiner langen dünnen Hände, und unvergeßlich bleibt mir ein Tag, wo er krank lag und ich sehr hungerig war und nichts zu essen hatte als ein kleines Stückchen Brot.«

»O wie verschieden von meinem Leben,« sagte Dorothea mit dem lebhaftesten Antheil, indem sie ihre Hände auf dem Schooße faltete. »Ich habe immer nur zu viel von Allem gehabt. Aber erzählen Sie mir doch, wie das kam – Casaubon kann doch unmöglich etwas von Ihnen gewußt haben.«

»Nein, aber mein Vater setzte dann Herrn Casaubon von unserer Lage in Kenntniß, und das war der letzte Tag, an dem ich Hunger litt. Mein Vater starb bald nachher, und für meine Mutter und mich wurde gut gesorgt. Herr Casaubon erkannte es immer, in Rücksicht auf die gegen die Schwester seiner Mutter geübte harte Ungerechtigkeit, ausdrücklich als seine Pflicht an, für uns zu sorgen. Aber ich erzähle Ihnen da nichts Neues.«

In seinem tiefsten Innern war sich Will des Wunsches bewußt, Dorothea etwas mitzutheilen, was ihm selbst in seiner Auffassung der Verhältnisse einigermaßen neu war, daß nämlich Casaubon nie mehr gethan habe, als eine Schuld gegen ihn abtragen. Will war ein viel zu gutartiger Mensch, als daß er sich in dem Bewußtsein der Undankbarkeit hätte behaglich fühlen können. Wenn man aber einmal über eine Pflicht der Dankbarkeit nachzudenken angefangen hat, so giebt es viele Wege, sich ihrer Fesseln zu entledigen.

»Nein,« antwortete Dorothea, »Casaubon hat es immer vermieden, seiner eigenen ehrenhaften Handlungen eingehender zu gedenken.«

Sie fühlte es nicht, daß das Benehmen ihres Gatten durch die Darstellungsweise Will's herabgesetzt werde. Die Idee aber, daß es sich bei den Beziehungen Casaubon's zu Will Ladislaw nur um die Erfüllung einer Pflicht der Gerechtigkeit gehandelt habe, bemächtigte sich ihrer ganz und gar.

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er hat mir nie gesagt, daß er auch Ihre Mutter unterstützt hat. Lebt sie noch?«

»Nein, sie starb in Folge eines unglücklichen Falls vor vier Jahren. Sonderbar genug hatte auch meine Mutter ihre Familie heimlich verlassen, aber nicht um ihres Gatten willen. Sie hat mir nie etwas von ihrer Familie erzählen wollen, außer daß sie dieselbe verlassen habe, um sich selbst ihr Brod zu verdienen; sie ging auf die Bühne. Sie hatte dunkle Augen, einen Lockenkopf und schien nie älter zu werden. Sie sehen, ich habe von väterlicher wie mütterlicher Seite sehr aufrührerisches Blut in meinen Adern.«

Will lächelte, als er schloß, Dorotheen freundlich zu, sie aber blickte noch immer ernst sinnend vor sich hin. Gleich darauf aber lächelte auch sie wieder und sagte:

»Das ist wohl Ihre Entschuldigung dafür, daß Sie sich aufgelehnt haben; – ich meine gegen Casaubon's Wünsche. Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie das, was er als das Beste erkannt hatte, nicht gethan haben. Und wenn er eine Abneigung gegen Sie hat – so haben Sie es selbst vorhin genannt, aber richtiger wäre es wohl zu sagen, wenn er Ihnen gegenüber eine gewisse Empfindlichkeit zu erkennen gegeben hat, so müssen Sie bedenken, wie reizbar seine Nerven durch seine anstrengenden Studien geworden sind. Vielleicht,« fuhr sie in einem entschuldigenden Tone fort, »vielleicht hat mein Onkel Ihnen nicht gesagt, wie ernst Casaubon's Krankheit war. Es wäre sehr kleinlich von uns, die wir wohl sind und Widerstandskraft besitzen, wenn wir auf kleine Kränkungen von Seiten derer, die schwer geprüft sind, achten wollten.«

»Sie haben Recht,« erwiderte Will. »Ich werde nie wieder über diese Angelegenheit murren.«

Er sagte das in einem sanften Tone, der seinen Grund in der unaussprechlichen Befriedigung hatte, welche ihm die Wahrnehmung gewährte, daß Dorothea, vielleicht ohne sich selbst dessen bewußt zu sein, sich auf den weitabliegenden Boden reinen Mitleids und treuer Ergebenheit für ihren Gatten stellte. Will war ganz bereit, ihr Mitleid und ihre treue Ergebenheit zu verehren, wenn sie ihm nur gestatten wollte, diese Gefühle in Gemeinschaft mit ihr kund zu geben.

»Ich bin wirklich bisweilen ein schlechter Kerl gewesen,« fuhr er fort, »ich will aber von nun an, wenn ich es irgend vermeiden kann, nie etwas thun oder sagen, was Sie mißbilligen könnten.«

»Das ist sehr brav von Ihnen,« sagte Dorothea, deren Lippen bei diesen Worten wieder ein offenes Lächeln umspielte. »Da würde ich dann über ein kleines Königthum herrschen, das nach meinen Gesetzen leben müßte. Aber Sie werden sich vermuthlich bald meiner Herrschaft entziehen. Sie werden des Aufenthalts in Tipton-Hof bald überdrüssig werden.«

»Da berühren Sie einen Punkt, über den ich gerade gern mit Ihnen reden möchte, einen der Gründe, aus welchen ich Sie allein sprechen wollte. Herr Brooke proponirt mir hier zu bleiben. Er hat eine Middlemarcher Zeitung gekauft und wünscht, daß ich dieselbe redigire und ihm auch in anderer Weise zur Hand gehe.«

»Würden Sie nicht dabei bessere Aussichten opfern müssen?« fragte Dorothea.

»Vielleicht; aber ich bin so oft dafür getadelt worden, daß ich nur an Aussichten gedacht und nichts dauernd unternommen habe. Und nun bietet sich mir hier eine bestimmte Beschäftigung. Wenn Sie nicht möchten, daß ich es annehme, so will ich es aufgeben; sonst würde ich lieber in dieser Gegend bleiben, als anderswo hingehen. Ich habe nirgends sonst Angehörige.«

»Ich möchte sehr gern, daß Sie hierblieben,« sagte Dorothea, ohne zu zögern, so einfach und ungezwungen, wie sie in Rom mit ihm gesprochen hatte. Sie sah in diesem Augenblick auch nicht den entferntesten Grund, warum sie es nicht hätte sagen sollen.

»So will ich bleiben,« sagte Ladislaw, indem er den Kopf wieder in den Nacken warf, aufstand und ans Fenster trat, wie um zu sehen, ob der Regen nachgelassen habe.

Aber schon im nächsten Augenblick machte sich bei Dorotheen die jetzt fast schon zur Gewohnheit gewordene Reflexion geltend, daß ihr Mann anders gesonnen sei als sie, und sie erröthete tief in dem Gefühl der doppelten Verlegenheit, etwas gesagt zu haben, was vielleicht den Empfindungen ihres Gatten entgegen sei, und Will darauf aufmerksam machen zu müssen, daß dem so sei.

Sein Gesicht war ihr in diesem Augenblick nicht zugewandt und es wurde ihr daher leichter zu sagen:

»Aber auf meine Ansicht kommt bei einer solchen Angelegenheit wenig an. Sie sollten sich, glaube ich, dabei von Casaubon leiten lassen. Ich sprach ohne an irgend etwas anderes als an meine eigenen Gefühle zu denken, die doch nichts mit der eigentlichen Frage zu thun haben. Jetzt aber fällt es mir ein, daß Casaubon den Vorschlag meines Onkels vielleicht nicht billigen würde. Können Sie nicht auf ihn warten und mit ihm darüber reden?«

»Ich kann jetzt nicht länger warten,« sagte Will, den der Gedanke an die Möglichkeit, daß Casaubon eintreten könnte innerlich erschreckte. »Der Regen hat ganz nachgelassen. Ich habe Herrn Brooke gebeten, mich nicht abzuholen. Ich möchte die fünf Meilen lieber gehen. Ich werde den Richtweg über die Felder bei Hallsell einschlagen und den Effect der Sonne auf das feuchte Gras beobachten. Ich liebe das.«

Er ging rasch auf sie zu, um ihr die Hand zu reichen, und hätte ihr gern gesagt: »Sagen Sie Herrn Casaubon nichts von der Sache,« aber das wagte er nicht, das konnte er nicht sagen. Sie bitten, weniger einfach und offen zu sein, wäre gewesen, als ob man den Krystall, durch den man die Lichtstrahlen beobachten will, anhauchen wollte. Und dazu gesellte sich bei ihm immer die Furcht, sein Bild möchte in ihren Augen getrübt und seines Glanzes beraubt erscheinen.

»Ich wollte, Sie hätten noch bleiben können,« sagte Dorothea mit einem Anflug von Traurigkeit, während sie aufstand und ihm die Hand entgegenstreckte.

Auch sie dachte etwas, was sie nicht aussprechen mochte. Will durfte nach ihrer Meinung keine Zeit verlieren, Casaubon's Wünsche in Betreff seiner Pläne kennen zu lernen; von ihr aber hätte es, wenn sie Will dazu hätte drängen wollen, wie eine ungebührliche Bevormundung erscheinen können. So sagten sie einander nur Adieu und Will schlug, nachdem er das Haus verlassen hatte, den Weg durch die Felder ein, um jeder Gefahr, Casaubon's Wagen zu begegnen, zu entgehen.

Dieser kehrte jedoch erst um vier Uhr nach Hause zurück. Das war eine ungünstige Stunde zum Nachhausekommen: es war noch zu früh, um sich bei der langweiligen Toilette vor Tisch wieder moralisch in Positur zu setzen, und zu spät, um seinen Geist der frivolen Förmlichkeiten und geschäftlichen Preoccupationen, wie sie der Tag mit sich gebracht hatte, zu entkleiden und sich noch wieder in die Arbeit des Studirens zu versenken.

Bei solchen Gelegenheiten pflegte er sich in einen Lehnstuhl in der Bibliothek zu werfen und Dorotheen zu erlauben, ihm die Londoner Zeitungen vorzulesen, während er die Augen schloß. Heute aber dankte er für dieses Zeitungsvorlesen, weil er, wie er sagte, schon zu viel über öffentliche Angelegenheiten habe hören müssen; er sprach jedoch heiterer als gewöhnlich, als Dorothea sich nach seinem Befinden erkundigte, und fügte mit jener Miene gespannter Förmlichkeit, die ihn nie verließ, auch wenn er nicht in weißer Weste und Cravatte sprach, hinzu:

»Ich habe die Genugthuung gehabt, meinen frühern Bekannten Dr. Spanning zu treffen und ein Lob aus dem Munde eines Mannes zu erhalten, der selbst des Lobes in hohem Grade würdig ist. Er sprach sehr anerkennend von meiner neuesten Abhandlung über die Egyptischen Mysterien und that das in Ausdrücken, die zu wiederholen sich für mich nicht schicken würde.«

Bei diesen letzten Worten bog sich Casaubon über die Lehne seines Stuhles und wiegte seinen Kopf auf und ab, offenbar um durch diese Muskelbewegung die Wiederholung zu ersetzen, die sich nicht für ihn geschickt haben würde.

»Wie schön, daß Du diese Freude gehabt hast,« sagte Dorothea, die entzückt war, ihren Gatten weniger ermüdet zu finden, als er es gewöhnlich um diese Tageszeit war. »Vorhin habe ich es bedauert, daß Du heute zufällig nicht zu Hause warst.«

»Wieso das, liebes Kind?« fragte Casaubon, indem er sich wieder in seinen Sessel zurücklehnte.

»Weil Herr Ladislaw hier war und mir von einem ihm von meinem Onkel gemachten Vorschlage sprach, über den ich gern Deine Ansicht wüßte.«

Sie fühlte, daß ihr Gatte wirklich bei dieser Angelegenheit interessirt sei. Trotz ihrer Unkenntniß der Welt hatte sie doch eine unbestimmte Vorstellung davon, daß die Will angebotene Stellung eine seinen Familienbeziehungen nicht angemessene sei, und sicherlich hatte Casaubon ein Recht darauf, dabei um Rath gefragt zu werden.

Casaubon sagte nichts, sondern verneigte sich nur.

»Du weißt der gute Onkel trägt sich immer mit einer Menge von Projecten. Er scheint eine der Middlemarcher Zeitungen gekauft zu haben und hat Herrn Ladislaw aufgefordert, hier in der Gegend zu bleiben, die Zeitung für ihn zu redigiren und ihm außerdem auch auf andere Weise an die Hand zu gehen.«

Dorothea sah ihren Gatten an, während sie sprach; aber er hatte seine Augen, nachdem er zuerst etwas geblinzelt hatte, wie um sie zu schonen, geschlossen, während er die Lippen nur noch fester zusammenkniff.

»Was ist Deine Ansicht?« fragte sie nach einer kleinen Pause in einem etwas schüchternen Ton.

»Ist Herr Ladislaw eigens zu dem Zwecke hergekommen, um mich um meine Meinung zu fragen?« fragte Casaubon, indem er die Augen ein wenig öffnete, mit einem scharfen Blick auf Dorothea.

Diese Frage war ihr wirklich unbehaglich; aber ohne Casaubon's Blick auszuweichen und nur in einem etwas ernsteren Tone antwortete sie sofort:

»Nein, er sagte nicht, daß er gekommen sei, Dich um Deine Meinung zu fragen; aber natürlich rechnete er, als er der Offerte meines Onkels gegen mich Erwähnung that, darauf, daß ich es Dir mittheilen würde.«

Casaubon schwieg.

»Ich fürchtete, Du möchtest etwas dagegen einzuwenden haben. Aber ein so talentvoller junger Mann könnte meinem Onkel gewiß sehr nützlich, könnte ihm behülflich sein, in wirksamerer Weise Gutes zu thun. Und Ladislaw wünscht eine feste Beschäftigung Er ist, wie er sagt, oft dafür getadelt worden, daß er sich nicht nach etwas derart umgesehen hat, und er würde gern hier in der Gegend bleiben, weil er nirgend anderswo Menschen kennt, die sich für ihn interessiren.«

Dorothea glaubte, daß die Erwägung dieses letzteren Umstandes geeignet sein werde, ihren Gatten milder zu stimmen. Er schwieg aber beharrlich, und sie suchte alsbald die Unterhaltung auf Dr. Spanning und das Frühstück bei dem Erzdechanten zurückzulenken. Aber auch diese Gegenstände vermochten Casaubon's gute Laune nicht wieder herzustellen.

Am nächsten Morgen schickte Casaubon ohne Dorothea's Wissen das folgende Schreiben ab, dessen Anrede »Werther Herr Ladislaw« lautete, während er ihn bis jetzt immer mit »Will« angeredet hatte:

 

»Meine Frau theilt mir mit, daß Ihnen ein Anerbieten gemacht und – wie sie gewiß nicht unberechtigter Weise schließt – von Ihnen einigermaßen gut aufgenommen worden ist, welches Ihren Aufenthalt in dieser Gegend in einer Eigenschaft mit sich bringen würde, die, wie ich zu sagen berechtigt bin, meine eigene Stellung in einer Weise berühren würde, welche es nicht nur bei einer Beurtheilung meines Antheils an dieser Angelegenheit aus dem Gesichtspunkte berechtigter Gefühle natürlich und zulässig, sondern bei einer Betrachtung derselben aus dem Gesichtspunkte meiner Verantwortlichkeit als meine Pflicht erscheinen läßt, Ihnen sofort zu erklären, daß Ihre Annahme der oben angedeuteten Offerte mir im höchsten Grade anstößig sein würde. Daß ich in diesem Falle einigen Anspruch auf die Ausübung eines Veto habe, würde schwerlich von einem billig Denkenden in Abrede gestellt werden, welcher mit den zwischen uns bestehenden Beziehungen bekannt wäre – Beziehungen, welche, wenn auch durch Ihr neuestes Vorgehen der Vergangenheit zugewiesen, dadurch doch keineswegs ihres Charakters entscheidender Antecedentien haben entkleidet werden können. Ich habe mich hier nicht in Erörterungen über das Urtheil irgend welcher Personen zu ergehen. Es genügt mir, Sie selbst darauf aufmerksam zu machen, daß es gewisse sociale Rücksichten und Schicklichkeiten giebt, welche einen einigermaßen nahen Verwandten von mir davon abhalten sollten, sich in dieser Gegend auf irgend eine Weise in einer Stellung bemerklich zu machen, die nicht nur weit unter der meinigen ist, sondern welcher im besten Falle die oberflächliche Halbwisserei literarischer und politischer Abenteurer anhaftet. Unter allen Umständen würde ein entgegengesetztes Verhalten von Ihrer Seite es mir unmöglich machen, Sie ferner in meinem Hause zu empfangen.

Ihr ergebener

Edward Casaubon.«

 

Inzwischen brütete Dorothea's ahnungsloses Gemüth über etwas, was zu noch größerer Erbitterung ihres Gatten führen sollte, indem sie sich das, was ihr Will über seine Eltern und Großeltern erzählt hatte, immer wieder vergegenwärtigte, bis sich der sympathetische Antheil, mit welchem sie diese Mittheilungen erfüllt hatten, zu leidenschaftlicher Aufregung steigerte.

Ihre Mußestunden pflegte sie in ihrem blaugrünen Boudoir zuzubringen, dessen abgeblaßte Zierlichkeit sie allmälig sehr lieb gewonnen hatte. Aeußerlich war in demselben nichts verändert, aber wie draußen die Felder jenseits der Ulmenallee nach und nach ein sommerliches Gewand angelegt hatten, so hatten sich auch in dem kahlen Zimmer die Erinnerungen eines inneren Lebens, welche die Luft wie mit einer Wolke guter oder böser Engel, den unsichtbaren und doch lebendigen Gestalten unserer geistigen Siege oder Niederlagen erfüllen, angesammelt.

Dorothea hatte sich so sehr daran gewöhnt, bei dem Blick auf den westlichen Himmel nach Entschlüssen zu ringen und sie zu finden, daß schon dieser bloße Anblick eine belebende Wirkung auf sie übte. Selbst der bleiche Hirsch schien ihr verständnißinnige Blicke zuzuwerfen und stumm zu sagen: »O wir wissen schon!« Und die Gruppe der feinen Miniaturen war für sie zu einer Zuhörerschaft von Wesen geworden, die, nicht mehr durch ihr eigenes irdisches Loos beirrt, doch noch ein menschliches Interesse empfanden, namentlich die geheimnißvolle »Tante Julia,« über welche Dorothea ihren Gatten nie recht hatte befragen können.

Und jetzt seit ihrer Unterhaltung mit Will tauchte bei dem Anblick des Portrait dieser Tante Julia, der Großmutter Will's, eine Fülle frischer Bilder vor ihr auf, und die Gegenwart dieses zarten Portraits, das einem ihr bekannten lebenden Gesichte so ähnlich sah, half ihr ihre Gefühle zu concentriren.

Welches Unrecht, dem Mädchen den Schutz ihrer Familie und ihre Erbschaft zu entziehen, nur weil sie einen armen Mann gewählt hatte! Dorothea, welche früh angefangen hatte, sich über das, was um sie her vorging, durch Fragen zu unterrichten, hatte sich zu einer gewissen unabhängigen Klarheit über die historischen und politischen Gründe der Vorzugsrechte der ältesten Söhne und des Instituts der Majorate heraufgearbeitet.

Vielleicht maß sie diesen Gründen, die sie mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllten, ein größeres Gewicht bei, als ihr selbst bewußt war. Aber hier handelte es sich um eine Frage der Familienbande, welche von jenen Gründen gar nicht berührt wurde, hier handelte es sich um eine Tochter, deren Kind unter allen Umständen, – ungeachtet der allgemeinen Nachäfferei aristokratischer Institutionen selbst von Seiten solcher Leute, die nicht mehr Anspruch auf den Namen von Aristokraten haben, als von Geschäften zurückgezogene Gewürzkrämer, und deren ganzer zu conservirender Landbesitz in einen Grasplatze und einem Kartoffelfelde besteht –, einen unbestreitbaren Erbanspruch haben würde.

War Vererbung eines Vermögens eine Frage der Neigung oder eine Frage der Verantwortlichkeit? Dorothea schlug sich mit der ganzen Energie ihres Wesens auf die Seite der Verantwortlichkeit, der Befriedigung von Ansprüchen, die sich auf unsere eigenen Handlungen wie Heirathen und die daraus entspringenden Verwandtschaften gründen. Bei näherem Nachdenken fand sie es begründet, daß Casaubon eine Schuld an die Ladislaws abzutragen, daß er ihnen dasjenige, was ihnen unrechtmäßiger Weise vorenthalten sei, zurückzuzahlen habe.

Und nun gedachte sie des Testaments ihres Gatten, welches er zur Zeit ihrer Verheirathung gemacht und in welchem er sie unter gewissem Vorbehalten für den Fall, daß sie Kinder habe, zur Universalerbin eingesetzt hatte. Dieses Testament, fand sie jetzt, müsse und zwar ungesäumt, geändert werden. Gerade die eben aufgetauchte Frage in Betreff der Beschäftigung Will Ladislaw's schien ihr eine passende Veranlassung, neue und gerechtere Anordnungen zu treffen. Sie war überzeugt, daß ihr Gatte, in Uebereinstimmung mit seinem ganzen bisherigen Benehmen, bereit sein werde, das Recht zur Anerkennung zu bringen, wenn sie selbst es proponire – sie, in deren Interesse die unbillige Vereinigung des Vermögens auf ein Haupt stattgefunden hatte. Sein Rechtssinn sei bisher stärker gewesen und werde sich auch künftig stärker erweisen als irgend welche antipathische Gefühle.

Sie argwöhnte, daß Casaubon den Plan ihres Onkels mißbillige, und das ließ es ihr nur um so gelegener erscheinen, jetzt ein Abkommen zu treffen, vermöge dessen Will, anstatt mittellos dazustehen und genöthigt zu sein, die erste sich ihm darbietende Beschäftigung zu ergreifen, sich im Besitze eines ihm rechtlich gesicherten Einkommens befinden müßte, welches Casaubon ihm während seiner Lebenszeit auszuzahlen hätte und dessen Fortbezug nach Casaubon's Tode ihm durch eine sofortige desfallsige Veränderung des Testaments zu sichern wäre.

Die Vorstellung von diesem Allen, was nach ihrer Meinung geschehen müßte, erschien ihr wie das plötzlich hereinbrechende Tageslicht, das sie aus ihrer bisherigen Stumpfheit und ihrer sorglosen Unwissenheit über die Beziehungen zu Andern erweckt hätte. Will Ladislaw hatte die künftige Unterstützung Casaubon's aus einem Grunde abgelehnt, der ihr nicht mehr berechtigt erschien, und Casaubon selbst hatte nie die an ihn geltend zu machenden Ansprüche in ihrem vollen Umfange erkannt.

»Aber er wird es thun,« sagte sich Dorothea, »darin liegt gerade die große Stärke seines Charakters. Was thun wir mit unserm Gelde? Wir verbrauchen nicht die Hälfte unseres Einkommens. Mein Geld verhilft mir zu nichts als zu einem unbehaglichen Bewußtsein.«

Es lag ein eigener Reiz für Dorothea in dieser Theilung eines Vermögens, das ihr zugedacht war und das sie immer für viel zu groß gehalten hatte. Man sieht, sie war blind für viele Dinge, die Andern auf den ersten Blick klar sein würden – und, wie schon Celia ihr warnend gesagt hatte, sehr geneigt, falsche Wege einzuschlagen. Und doch geleitete ihre Blindheit gegen Alles, was nicht zu ihren eigenen reinen Zwecken gehörte, sie sicher an Abgründen vorüber, welche anderen weniger ahnungslosen und weniger furchtlosen Gemüthern gefährlich geworden wären.

Der Gedanke, der in der Einsamkeit ihres Boudoirs in ihr lebendig geworden war, beschäftigte sie an jenem Tage, an welchem Casaubon seinen Brief an Will geschickt hatte, unaufhörlich. Alles schien ihr hinderlich im Wege zu stehen, bis sie eine Gelegenheit würde finden können, ihrem Gatten ihr Herz zu öffnen. Bei seinem reizbar preoccupirten Wesen mußte ihm Alles sanft und sachte vorgebracht werden, und sie war seit seiner Krankheit der Besorgniß, ihn aufzuregen, nie uneingedenk gewesen.

Aber wenn jugendlicher Feuereifer über der raschen Ausführung einer Handlung brütet, dann scheint diese Handlung selbst wie ein unabhängiges Wesen nach Gestaltung zu ringen und aller nur in der Idee liegender Hindernisse Herr zu werden.

Der Tag verfloß trübselig – nichts Ungewöhnliches, wenn auch Casaubon vielleicht ungewöhnlich schweigsam war; aber es gab Nachtstunden, welche zu einer Unterhaltung Gelegenheit bieten konnten; denn Dorothea hatte sich, seit sie die Schlaflosigkeit ihres Mannes beobachtet hatte, gewöhnt, Nachts aufzustehen, Licht anzuzünden und ihm vorzulesen, bis er wieder einschlief. Und diese Nacht verbrachte sie selbst, durch ihren Entschluß aufgeregt, schlaflos.

Er schlief wie gewöhnlich einige Stunden, sie aber war leise aufgestanden und hatte schon fast eine Stunde im Dunkeln gesessen, als er sagte: »Dorothea, wenn Du doch auf bist, willst Du Licht anzünden?«

»Fühlst Du Dich unwohl, lieber Mann?« fragte sie.

»Nein, durchaus nicht; aber da Du einmal aufgestanden bist, würde ich Dir dankbar sein, wenn Du mir ein Paar Seiten aus Lowth Robert Lowth (1710-1787), Bischof der englischen Hochkirche, Literaturprofessor in Oxford und Verfasser eines der einflussreichsten englischen Grammatikbücher ( A Short Introduction to English Grammar, with critical notes, 1762). – Anm.d.Hrsg. vorlesen wolltest.«

»Darf ich statt dessen ein wenig mit Dir reden?« fragte Dorothea.

»Gewiß.«

»Ich habe gestern den ganzen Tag über Geld nach gedacht – daß ich immer zu viel gehabt habe und namentlich daß ich künftig zu viel haben werde.«

»Das, meine liebe Dorothea, sind Fügungen der Vorsehung.«

»Wenn wir aber in Folge einer Beeinträchtigung Anderer zu viel haben, dann scheint mir, müßten wir der göttlichen Stimme, die uns mahnt, das geschehene Unrecht wieder gut zu machen, Gehör leihen.«

»Worauf willst Du mit dieser Bemerkung hinaus, liebes Kind?«

»Daß Du zu liberal in Deinen Vorkehrungen für mich gewesen bist – ich meine in Betreff Deines Vermögens – und das macht mich unglücklich.«

»Wie das? Ich habe ja nur ziemlich entfernte Verwandte.«

»Ich habe Veranlassung gehabt, über Deine Tante Julia nachzudenken, – wie man sie in Armuth verkommen ließ, nur weil sie einen armen Mann geheirathet hatte, eine Handlung, die ihr doch keine Schande machte, da sie keinen Unwürdigen gewählt hatte. Ich weiß, daß Du deshalb den jungen Ladislaw erziehen ließest und für seine Mutter sorgtest.«

Dorothea wartete einige Augenblicke auf eine Antwort, die ihr weiter hätte helfen können. Aber es erfolgte keine Antwort, und was sie nun sagte, schien ihr um so eindringlicher, als sie ihre Worte in der Stille der Nacht sprach.

»Aber wir sollten ihm sicherlich einen viel größeren, vielleicht gar einen Anspruch auf die Hälfte jenes Vermögens, welches Du, wie ich weiß, für mich bestimmt hast, zuerkennen. Und ich meine, es müßte auf Grund dieses Anspruchs hin sofort für ihn gesorgt werden. Es ist nicht Recht, daß er arm und abhängig sei, während wir reich sind. Und wenn sich gegen die ihm gemachte Proposition, von der er gesprochen hat, Einwendungen erheben lassen, so würde man ihm ja dadurch, daß man ihm seine berechtigte Stellung und seinen berechtigten Antheil wiedergäbe, jeden Grund zur Annahme jener Proposition benehmen.«

»Ladislaw hat vermuthlich mit Dir über diese Angelegenheit gesprochen?« sagte Casaubon in einem, bei ihm nicht gewöhnlichen, raschen, etwas beißenden Tone.

»Nein, durchaus nicht!« entgegnete Dorothea nachdrücklich. »Wie kannst Du das nur glauben, da er erst so kürzlich jede Unterstützung von Dir abgelehnt hat. Ich fürchte, Du urtheilst zu hart über ihn, lieber Mann. Er erzählte mir nur ein wenig von seinen Eltern und Großeltern und fast Alles in Antwort auf meine Fragen. Du bist so gut, so gerecht, Du hast Alles gethan, was Du als recht erkanntest. Aber es scheint mir klar, daß mehr als das recht ist, und ich muß darüber reden, weil ich die Person bin, welche daraus, daß jenes Mehr nicht geschehen ist, einen sogenannten Vortheil ziehen würde.«

Es dauerte eine ziemliche Weile, bis Casaubon, nicht in so raschem Tempo wie vorher, aber mit einer noch beißenderen Schärfe antwortete:

»Dorothea, mein liebes Kind, dies ist nicht die erste, es wäre aber gut, wenn es die letzte Gelegenheit wäre, bei welcher Du Dir ein Urtheil über Gegenstände gestattest, welche über Deinen Gesichtskreis hinausliegen. Ich will hier auf die Frage, inwieweit persönliches Benehmen namentlich in Bezug auf eheliche Verbindungen ein Verwirken von Familienansprüchen begründen kann, nicht näher eingehen. Es genüge, daß Du nicht im Stande bist, hier die nöthigen Unterscheidungen zu machen. Was ich aber gleich jetzt klar von Dir verstanden wissen möchte, ist, daß ich mir keine Revisionen, geschweige eine Vorschrift in Betreff derjenigen Angelegenheiten gefallen lassen kann, über welche ich als mir allein obliegende reiflich nachgedacht habe. Es kommt Dir nicht zu, Dich in meine Beziehungen zu Herrn Ladislaw einzumischen, und noch weniger, ihn zu Mittheilungen an Dich zu ermuntern, welche eine Kritik meines Verfahrens enthalten.«

Die arme Dorothea barg in diesem Augenblick eine Welt widersprechender Gefühle in ihrem Busen. Die Besorgniß vor der Wirkung des so entschieden kund gegebenen Zornes ihres Gatten auf seinen Gesundheitszustand würde sie von jeder Aeußerung der Empfindlichkeit zurückgehalten haben, selbst wenn sie nicht mit einigen Zweifeln und einer Anwandlung von Reue in dem Bewußtsein zu kämpfen gehabt hätte, daß Casaubon's letzte Andeutungen nicht ganz unberechtigt seien.

Als sie ihn jetzt rasch athmen hörte, saß sie geängstigt, elend horchend da, mit einem stummen innern Aufschrei, daß ihr Hülfe werde, dieses wie ein Alp auf ihr lastende Leben zu tragen, in welchem jede Regung von Energie durch Furcht gehemmt wurde. Aber es erfolgte nichts weiter, als daß Beide, ohne ein Wort mehr mit einander zu reden, noch lange schlaflos blieben.

Am nächsten Tage erhielt Casaubon die folgende Antwort von Will Ladislaw:

 

»Werther Herr Casaubon!

Ich habe Ihrem gestrigen Schreiben die ernsteste Erwägung angedeihen lassen, sehe mich aber außer Stande, Ihre Auffassung unseres Verhältnisses ganz zu verstehen. Bei vollster Anerkennung Ihres bisherigen großmüthigen Benehmens gegen mich kann ich doch nicht zugeben, daß eine derartige Verpflichtung mir in der Weise Fesseln anlegen könne, wie Sie anzunehmen scheinen. Wenn ich auch den Wünschen eines Wohlthäters bereitwilligst Berücksichtigung einräume, so kann doch diese Rücksicht nicht bis zu einem völligen Verzicht auf die Prüfung der Natur dieser Wünsche gehen. Diese können möglicherweise mit Erwägungen von noch gebieterischerer Natur collidiren, vor welchen sie zurückstehen müssen. Sonst könnte das Veto eines Wohlthäters das Leben eines Menschen so sehr seines Inhalts berauben, daß die dadurch entstehende Leer grausamer wäre, als die Wohlthat großmüthig war. Ich denke hier an sehr extreme Fälle; im vorliegenden Falle vermag ich Ihre Ansicht von dem Einfluß nicht zu theilen, welchen meine, zwar nichts weniger als einträgliche, aber nicht unehrenhafte Beschäftigung auf Ihre Stellung üben soll, die mir viel zu fest gegründet scheint, als daß sie durch etwas so Wesenloses berührt werden könnte. Und obgleich ich nicht glauben kann, daß unsere Beziehungen irgend eine Veränderung erleiden werden, (sicherlich haben Sie es bis jetzt noch nicht gethan) welche die mir durch die Vergangenheit auferlegten Verpflichtungen aufheben würden, so müssen Sie doch verzeihen, wenn ich nicht einsehen kann, wie diese Verpflichtungen mich der gewöhnlichen Freiheit zu leben, wo es mir gut scheint, und mir meinen Unterhalt durch irgend eine erlaubte Beschäftigung zu verschaffen, wie es mir gut scheint, berauben können. Indem ich bedaure, daß diese Meinungsverschiedenheit zwischen uns in Betreff eines Verhältnisses obwaltet, in welchem Sie ausschließlich der Wohlthaten erweisende Theil gewesen sind, verbleibe ich mit fortdauernder Dankbarkeit

Ihr ganz ergebener

Will Ladislaw.«

 

Der arme Casaubon war überzeugt, – und müssen wir nicht, wenn wir unparteiisch sein wollen, ein wenig mit ihm fühlen –, daß kein Mensch gerechtere Ursache zu Abscheu und Argwohn habe als er. Er hielt es für ausgemacht, daß der junge Ladislaw ihm trotzen und ihm Verdruß bereiten, Dorothea gewinnen und eine Saat des Mißtrauens und der Abneigung gegen ihren Gatten in ihrem Gemüthe ausstreuen, werde. Die plötzliche Veränderung in Will's Verhalten, seine Zurückweisung der Unterstützung Casaubon's und sein Verzicht auf fernere Reisen ließ sich nur durch sein tiefer liegendes Motiv erklären. Und dieser trotzige Entschluß, sich hier in der Gegend zu fixiren und eine mit seinen frühern Neigungen so wenig in Einklang stehende Beschäftigung, wie das Eingehen auf Herrn Brooke's Middlemarcher Pläne, zu unternehmen, ließ keinen Zweifel darüber, daß das unausgesprochene Motiv zu Dorothea in Beziehung stehe.

Keinen Augenblick hegte Casaubon gegen Dorothea den Verdacht einer Doppelzüngigkeit; er hatte keine Art von Argwohn gegen sie, wohl aber (was ihn nicht viel weniger unbehaglich stimmte) die positive Erfahrung, daß ihre Tendenz, sich Urtheile über das Verhalten ihres Gatten zu bilden, von der Neigung begleitet sei, gut von Will Ladislaw zu denken und sich von dem, was er sagte, beeinflussen zu lassen.

Sein eigenes stolzes Schweigen hatte ihn verhindert, sich von der Ungerechtigkeit seiner Annahme, daß Dorothea ursprünglich ihren Onkel gebeten habe, Will zu sich einzuladen, zu überzeugen. Jetzt aber nach Empfang von Will's Brief hatte Casaubon zunächst zu überlegen, was seine Pflicht ihm gebiete. Er würde sich nie leicht dazu entschlossen haben, seine Handlungen anders denn als Pflichterfüllung zu bezeichnen; im vorliegenden Falle aber ließen ihn widerstreitende Motive in Unthätigkeit verharren.

Sollte er sich direkt an Herrn Brooke wenden und von diesem unruhigen Herrn eine Zurücknahme seiner Proposition verlangen? Oder sollte er Sir James Chettam consultiren und seine Mitwirkung zur Bekämpfung eines Schrittes in Anspruch nehmen, welcher die ganze Familie so nahe berührte?

Casaubon war sich wohl bewußt, daß in beiden Fällen der Erfolg sehr zweifelhaft sein würde. Unmöglich konnte er Dorothea's Namen in dieser Angelegenheit nennen; wenn er aber darauf verzichtete, bei Herrn Brooke eine Besorgniß erregende Vorstellung zu erwecken, so mußte er darauf gefaßt sein, daß derselbe, nachdem er allen ihm gemachten Einwürfen scheinbar zugestimmt hätte, doch schließlich sagen würde: »Seien Sie unbesorgt, Casaubon! Verlassen Sie sich darauf, der junge Ladislaw wird Ihnen Ehre machen; glauben Sie mir, ich habe eine gute Wahl getroffen.«

Andererseits hatte Casaubon eine nervöse Scheu davor, Sir James Chettam, mit welchem er nie ein herzliches Verhältniß gehabt hatte und der sofort, auch wenn ihr Name nicht genannt würde, an Dorothea denken würde, irgend etwas über die Angelegenheit mitzutheilen.

Der arme Casaubon war mißtrauisch gegen die Gefühle aller Menschen für ihn, namentlich soweit es sich um seine Eigenschaft als Ehemann handelte. Jemanden merken lassen, daß er eifersüchtig sei, würde der von ihm geargwohnten Ansicht der Leute, daß er in der Ehe im Nachtheil sei, eine Berechtigung zuerkennen heißen; den Menschen zeigen, daß er keine besondere Glückseligkeit in der Ehe gefunden habe, würde einer Bekehrung zu ihrer, wahrscheinlich schon früher vorhandenen Mißbilligung seines Schrittes gleichkommen. Das wäre gerade so schlimm als wenn er Carp und ganz Brazenose merken ließe, wie weit er noch mit der Anordnung des Materials zu seinem »Schlüssel zu allen Mythologien« im Rückstande sei.

Sein Lebelang hatte Casaubon daran gearbeitet, Niemandem, nicht einmal sich selbst die inneren Qualen des Mißtrauens in seine eigenen Kräfte und der Eifersucht auf Andere zuzugestehen, und mehr als je mußte sich jetzt bei der delicatesten aller persönlichen Angelegenheiten die Gewohnheit einer stolzen Schweigsamkeit geltend machen.

So verharrte Casaubon in seinem stolzen, bittern Schweigen; aber er hatte Will sein Haus verboten und bereitete im Geiste noch andere Maßregeln zur Vereitelung dessen, was er fürchtete, vor.



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