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XVII.

Der Amerikaner machte einige Schritte auf das Fenster zu, das Fenster, das zum Meer hinausging. Das Fenster war von einem dicken Vorhang bedeckt. Rist aber konnte an dem Geräusch des Wellenschlages gegen den Strand hören, daß das Fenster offen stand. Rist war aufgestanden und berechnete im geheimen den Abstand zwischen sich und dem Fremden, und den Abstand zwischen ihnen beiden und dem Revolver. Der Amerikaner durchschaute ihn und lächelte. Das unheimliche Schreien im Nebenzimmer hatte wieder aufgehört.

»Wie Sie sehen,« sagte der Amerikaner eifrig, »hinterlasse ich alles, was Ihnen gehört, Ihre Wertgegenstände, Ihre Waffe. Ich bin freiwillig zu Ihnen gekommen und wünsche, Sie jetzt wieder zu verlassen. Ich habe Ihnen großes Vertrauen bewiesen, und dennoch suchen Sie nach einem Ausweg, um mein Verschwinden zu verhindern.«

»Sie haben ganz recht,« antwortete Rist. »Seien Sie vorsichtig und unterschätzen Sie mich nicht. Uebrigens möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen. Wollen Sie nicht noch einmal Platz nehmen?«

»Nein. Ich habe Ihnen gesagt, was ich sagen wollte, und es hat keinen Zweck für mich, länger hierzubleiben. Sie haben mir ja auch gar nichts mehr zu sagen, Sie suchen nur einen Vorwand, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht rechnen Sie auf Hilfe, vielleicht erwarten Sie Besuch in wenigen Minuten. Ich weiß es nicht. Jedenfalls aber verlasse ich Sie jetzt. Und Sie dürfen nicht den geringsten Versuch machen, mich darin zu hindern. Sie werden gut daran tun, meinem Rat zu folgen.«

Er maß Rist von oben bis unten.

»Von Ihrem geckenhaften Aeußeren lasse ich mich nicht irreführen,« fuhr er fort, »Sie sehen aus wie ein Geck, wie ein degenerierter Ballheld, aber ich habe gelernt, Menschen zu tarieren. Ohne Zweifel verfügen Sie über bedeutende Kräfte. Aber sehen Sie mich an. Was halten Sie von mir? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Sie bei einem Handgemenge sofort zu Boden schlagen könnte. Darum machen Sie lieber gar nicht den Versuch, sich mir zu nähern. Außerdem liegt der Revolver dort auf dem Tisch. Natürlich wäre es leichter für mich gewesen, das Zimmer mit dem Revolver in der Hand zu verlassen, aber ich möchte Ihnen nichts fortnehmen. Sie müssen zugeben, daß ich anständig handle. Ich berechne, daß Sie sich auf den Revolver stürzen und das Magazin wieder einsetzen werden in dem Augenblick, wo ich aus dem Fenster springe. Es wird Sie eine halbe Minute kosten. Diese halbe Minute aber genügt mir. Ich danke Ihnen für das Beisammensein, das mir ein großes Vergnügen bereitet hat, und bitte Sie, nun auch auf stilvolle Weise von mir zu scheiden und gewaltsames Auftreten zu vermeiden.«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich mich nicht vom Fleck rühre,« sagte Rist.

Der Amerikaner ging noch einige Schritte auf das Fenster zu, so daß er den Vorhang mit der Hand erreichen und beiseiteziehen konnte. Der Wellenschlag klang lauter herein, und der Zigarrenrauch wirbelte bei dem starken Zugwind.

Der Verbrecher stand jetzt dicht neben dem Fensterbrett. Draußen hoben sich die Bäume des Gartens wie kohlschwarze, zackige Palisaden von dem luftigen Sommerhimmel ab.

»Gute Nacht, mein Herr,« sagte der Amerikaner aufgeräumt, »noch eine Frage: Spielen Sie?«

»Gern.«

»Hasard?«

»Am liebsten.«

»Ich auch. Und wenn ich den Gewinn eingestrichen habe, sage ich immer: Das Spiel ist vorbei, auf Wiedersehen.«

»Gewinnen Sie immer?« fragte Rist.

»Immer,« sagte der Amerikaner, »und ich danke Ihnen für diese gewagte und spannende Stunde. Jetzt aber ist das Spiel vorbei ...«

Damit sprang er leicht wie ein Gymnasiast aus dem Fenster, der Kies knirschte unter seinen Füßen, und gleich darauf raschelten die Büsche wie nach einem flüchtenden Tier, und seine lustige Stimme erklang von draußen: »Auf Wiedersehen!«

Darauf wurde alles still.

Ohne sich zu beeilen, trat Rist ans Fenster und blickte hinaus. Es war unmöglich festzustellen, welche Richtung der Flüchtende eingeschlagen hatte. Vielleicht zum Strande hinunter, vielleicht aber auch nach der Landstraße zu. Die dichten Gebüsche standen undurchdringlich um das Haus herum, aber es war nicht zu hören, ob jemand durch das Laub brach. Vielleicht stand er ganz nah und unbeweglich im dunklen Gebüsch und betrachtete ihn, Rist, wie er sich dort ganz offen und deutlich von dem hellen Rahmen des Fensters abhob. Kein menschlicher Laut war zu hören, nichts als die ewigen und langgezogenen Wellenschläge vom Strande. Rist zog hastig die Portiere vors Fenster und trat an den Tisch. Er lud den Revolver und öffnete darauf die Tür zum Nebenzimmer.

Es war das Eßzimmer, das Licht brannte in der Krone. Rist blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und ließ sich Zeit, die Situation zu überblicken. Dort drinnen hatte offenbar ein Kampf stattgefunden. Stühle waren umgeworfen. Glas zerschlagen. Auf der Erde lag ein Bündel in seine Tischdecke eingewickelt. Rist sah gleich, daß es ein Mensch war. Aus dem Seidenmuster der dicken japanischen Decke sah ein behaartes, unrasiertes Verbrechergesicht. Zwei Augen, die fast aus dem Kopf zu treten schienen, sahen ihn wuterfüllt an. Rist zog die Decke zurück und sah, daß der Mann, der dort lag, an Händen und Füßen gebunden war und im Munde einen Knebel hatte, der drauf und dran war, ihn zu ersticken. Rist nahm ihm den Knebel aus dem Munde. Der Mann atmete tief auf, aber er war so erschöpft, daß er sich mehrere Minuten nicht rühren konnte.

Kaum war er etwas zu Kräften gekommen, als er einen derben Fluch ausstieß, der ihm Linderung zu geben schien.

»Haben Sie das teuflische Geheul ausgestoßen?« fragte Rist.

Der Mann schnappte nach Luft, spuckte und fauchte.

»Schreien Sie mal melodisch mit so 'nem Ding im Maul,« antwortete er.

Plötzlich fragte er: »Sind Sie ihn losgeworden?«

»Er ist fort,« antwortete Rist.

Der Mann sah Rist einige Sekunden forschend an und fragte dann: »Wollen wir uns den Raub teilen?«

»Was meinen Sie?«

»Ich meine: haben Sie ihn totgeschlagen?«

»Nein, er ist fortgelaufen.«

»Dann holt er gewiß die Polizei, und Sie müssen sich beeilen.«

»Womit soll ich mich beeilen?«

»Diese verfluchten Stricke durchzuschneiden. Ich kann mich ja gar nicht bewegen. Und legen Sie den Revolver fort. Der ist nicht notwendig zwischen Brüdern.«

Rist behielt den Revolver in der Hand, zerschnitt aber die Stricke, mit denen die Beine des Mannes gebunden waren. Es waren seine Gardinenschnüre.

»Auch die Hände,« brüllte der Mann ungeduldig.

»Immer langsam,« antwortete Rist, »wir werden noch zum Schluß kommen.«

Darauf half er dem Manne auf und ließ ihn auf einem Stuhl niedersitzen. Der Mann legte die gefesselten Hände vor sich auf den Tisch und versuchte den Knoten mit den Zähnen zu durchbeißen.

Rist machte eine drohende Bewegung mit dem Revolver.

»Wofür halten Sie mich eigentlich?« fragte er.

Der Verbrecher sah ihn mißtrauisch von der Seite an.

»Wollen wir uns den Raub teilen?« fragte er noch einmal.

»Ich begreife nicht, was Sie meinen.«

»Können Sie nicht begreifen,« schrie der andere, »daß er jeden Augenblick mit der Polizei hier sein kann!«

»Ich fürchte keine Polizei,« sagte Rist, »ich wohne hier, mir gehört das Haus.«

»Dir?« fragte der andere lachend, indem er sich über seine Hände beugte, »dir gehört das Haus?«

Plötzlich schien er von irgendeiner urkomischen Vorstellung ergriffen zu werden. Er lachte laut und schallend, lachte, daß sein ganzer Körper bebte und er sich mit den gefesselten Händen den Bauch halten mußte. Rist betrachtete ihn schweigend. Es war ein Mann in den mittleren Jahren, der gewöhnliche Vagabundentyp, schlecht gekleidet, das Gesicht von Trunk verschwollen, grobe und schmutzige Hände. Rist meinte, daß er sich seines Gesichtes aus dem Verbrecheralbum entsinnen könne, wußte aber vorläufig nicht, wo er ihn unterbringen sollte. Noch vor Lachen schluckend, sagte der Mann:

»Das hat er gut gemacht. Vermissen Sie nicht etwas, Herr?« fügte er scherzend hinzu.

»Ja, ich vermisse einen Schutzmann,« antwortete Rist und ging zum Telephon. Die Leitung war durchschnitten und diese Entdeckung gab dem Verbrecher von neuem Anlaß zu Munterkeit.

»Unangenehm für Sie,« sagte Rist, »nun müssen Sie die ganze Nacht hier sitzen mit gefesselten Händen.«

»Sie sollten mich lieber befreien und hinter dem anderen herlaufen. Ich habe nichts gestohlen. Das heißt –«

Er schien zu überlegen.

»Das heißt, der andere hat Ihnen weggenommen, was Sie bereits gestohlen hatten?« ergänzte Rist.

Der Mann nickte.

»Richtig, Herr,« antwortete er, »es waren reizende Sachen dazwischen. Ich hatte die Beute bereits auf mindestens fünfhundert Kronen beim Juden in der Bürgergase geschätzt. Da kam er und störte mich.«

Rist forschte in seiner Erinnerung, wo er die Züge des Mannes schon mal gesehen hatte. Und plötzlich erinnerte er sich des Gesichtes von einem Diebstahl vor mehreren Jahren.

»Diesmal werden Sie nicht so gut davonkommen,« sagte er, »das letztemal bekamen Sie ja nur fünfzehn Monate.«


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