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XXXIV.

Der Professor sah gleich, daß etwas Ernstes geschehen sei. Vor der Fassade des Hauptgebäudes stand ein Haufen Menschen in eifrigem Gespräch. Dazwischen sah Arvidson auch Christensen. Das Interesse dieser Menschen war auf etwas Bestimmtes in der Nähe gerichtet. Sie gestikulierten heftig und riefen durcheinander.

»Ist es also wirklich ein lebender Mensch gewesen?« fragte der Professor.

»Ja, ein lebendiger Mensch, ein Dieb höchstwahrscheinlich. Es war keine Augentäuschung.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, als ich mit Christensen kam, war er schon fortgelaufen. Es muß ein verflucht behender Kerl sein.«

Der Förster zeigte auf das mittlere der drei Fenster in dem verschlossenen Flügel. Das Fenster stand offen.

»Durch dieses Fenster ist er herausgekommen,« erklärte der Förster, »er hielt sich am Gesims fest und erreichte von dort die Dachrinne; bevor noch jemand von den Leuten fassen konnte, was vorging, war er unten auf der Erde, lief mit rasender Geschwindigkeit über den Rasen und verschwand im Walde.«

»Und wie sah er aus?« fragte der Professor ungeduldig.

»Wie mir berichtet wurde, war er nicht alt, so in unseren Jahren. Christensen mag recht haben, wenn er ihn auf fünfunddreißig bis vierzig taxiert. Er trug einen dunkelblauen Jackettanzug und graue Gamaschen. Die Knechte beobachteten diese Gamaschen, als er am Gesims baumelte. Der Stallmeister hat ihn in ziemlicher Nähe gesehen. Er versuchte sich ihm in den Weg zu stellen, der Kerl aber war in solcher Fahrt, und aus seinem Gesicht flammte solche Wut, daß er entsetzt zur Seite wich. Er hörte ihn rufen: ›Get away, or go to hell!‹ Und er behauptet, daß er einen Revolver in der Hand hatte. Er war barhäuptig und hatte schwarzes Haar. Und der Stallmeister meint bestimmt, daß er auf der linken Backe eine Narbe hatte.«

»Eine Narbe,« murmelte der Professor.

Er dachte an jenen Amerikaner Stamsund, der bereits mehrfach auf geheimnisvolle Art in dieser Sache aufgetaucht, sich einige Augenblicke gezeigt hatte und wieder verschwunden war. War er es wirklich, der hier im Schlosse aufgetaucht war, dann konnte es nur bedeuten, daß die Lösung des Rätsels mit der Person dieses fremden Mannes eng verknüpft war.

Arvidson blickte zu den drei Fenstern hinauf. Das mittlere stand offen und bildete eine schwarze Schlucht vor dem dahinterliegenden Zimmer. Eine florleichte Gardine wogte im Winde. Der Professor konnte sich seine Stimmung nicht erklären, aber die kohlschwarze Fensteröffnung und die flatternde, weiße Gardine flößten ihm plötzlich eine unbegreifliche Ahnung von Unglück und Feuersnot ein. Er dachte: Was für ein Geheimnis mag sich dort oben verbergen?

Die beiden Freunde näherten sich schweigend dem Haufen an der Hauswand. Da zeigte es sich, daß die Aufmerksamkeit der Leute von einem zerschlagenen Fenster im Erdgeschoß gefesselt wurde.

Der Förster erklärte:

»Nachdem der Verwalter fortgeradelt war, um mich zu verständigen, haben die Leute mit dem Stallmeister an der Spitze eine Untersuchung vorgenommen. Dabei fanden sie dieses Fenster zerschlagen. Der Spitzbube ist also hier hereingekommen. Von hier hat er sich durch die Küche begeben, hat die Kellertür aufgebrochen und ist auf diese Weise in die Korridore gekommen. Wir können seinen Weg genau verfolgen. Als die Leute dies erst entdeckt hatten, begriffen sie, daß sie es mit einem gewöhnlichen Einbrecher zu tun hatten, umzingelten den Hof, und an verschiedenen Stellen wurden Wachen aufgestellt. Leider war niemand von ihnen bewaffnet. Ein Schrotschuß in die Beine hätte Wunder verrichten können.«

»Sind Sie oben in den Zimmern gewesen?«

»Ja.«

»Hat er etwas gestohlen?«

»Soweit ich feststellen kann, nicht das geringste. Keiner der Schränke ist erbrochen, und größere Gegenstände konnte er bei der Kletterpartie nicht gut mit sich führen. Wir werden die örtliche Polizei benachrichtigen. Ein barhäuptiger Mensch mit solch ausgeprägtem Gesicht kann nicht lange unerkannt herumlaufen.«

»Da irren Sie sich aber gewaltig,« sagte der Professor, »dieser Mensch taucht nicht zum erstenmal in der Affäre auf. Er ist ein reiner Zauberer. Die Kopenhagener Polizei sucht seit Wochen nach ihm, bisher aber hat er sie beständig an der Nase herumgeführt.«

»Was sollen wir denn machen?« fragte der Förster unsicher.

»Warten, bis Torben Milde selbst kommt.«

»Vielleicht müssen wir lieber oben in den Zimmern Wache halten, es ist doch nicht unmöglich, daß der Bursche wiederkehrt.«

»Wir wollen nichts unternehmen,« sagte der Professor bestimmt. »Vielleicht wünscht Torben gerade Passivität. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß er seine Wahl getroffen hat und dem Schicksal seinen Lauf lassen will. Du kennst einen Spieler, der plötzlich die Hoffnungslosigkeit seines gefährlichen Spieles einsieht und resigniert die Karten auf den Tisch wirft. Solchen Eindruck machte Torben auf mich.«

»Warum aber ist er hergekommen?« fragte der Förster ratlos. »Und warum taucht er in seinem Vaterhaus auf solch sonderbare Weise auf?«

»Man sollte fast meinen,« sagte der Professor, »daß er den Besuch des Einbrechers erwartet hat und sich in den Zimmern aufhielt, um ihn dort zu empfangen.«

»Dann kann es kein gewöhnlicher Einbrecher gewesen sein.«

»Nein. Vielleicht ist es ein Gast, ein Fremder gewesen, der erwartet wurde.«

»Mit Sehnsucht?«

»Oder mit Furcht und Beben,« antwortete der Professor nachdenklich. »Wenn ich an Torbens seltsames Wesen denke, will mir dies einleuchtender erscheinen.«

Und jetzt geschah das Merkwürdige, daß gerade, als die beiden Freunde von dem heimlichen Gast sprachen, sie in der Ferne ein Auto hörten, das sich näherte. Es fuhr durch die Allee, die zum Schlosse führte.

Das Gesinde drehte sich neugierig um, um zu sehen, wer kam.

Aus dem dichten Laub der Allee tauchte jetzt ein kleiner schwarzlackierter Wagen auf. Es waren keine Passagiere im Wagen, nur der Mann, der am Steuer saß, ein Mensch in braunem Ledermantel und Lederkappe. Der Professor meinte ihn zu kennen.

Das Auto hielt vor dem Haupteingang, und der Mann stieg aus.

Er betrachtete die Anwesenden, und als er des Professors ansichtig wurde, nahm er seine Mütze ab und näherte sich ihm lächelnd.

Jetzt erkannte Arvidson ihn. Es war der Kunsthändler Hengler. Dem Arzt wurde bei dieser Begegnung ganz merkwürdig zumute.

Er dachte: Wir scheinen uns hier alle zu versammeln, einer nach dem anderen. Torben ist hier, ich bin hier, und der Mann mit der Narbe scheint auch da zu sein. Jetzt kommt auch noch Hengler. Wir bewegen uns alle unabhängig voneinander und dennoch scheint ein gemeinsames Streben da zu sein, das uns führt. Seit jenem Morgen, als wir Milde tot in seinem Stuhl fanden, sind wir alle von unsichtbaren Leitfäden einer Entscheidung entgegengeführt worden, die jetzt nicht mehr weit sein kann.

Der Professor wünschte inständig, daß in diesem Augenblick noch einer kommen möchte. Er fühlte sich plötzlich so unsagbar allein. Und er dachte an einen Menschen, der weit fort war: an Rist.

»Sie kommen direkt aus Kopenhagen?« fragte er.

»Ja,« antwortete Hengler, »eine herrliche Fahrt.« Das Auto aber war gar nicht sehr eingestaubt. Es sah nicht aus, als ob es weit gefahren sei.


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