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Illustration: Theophile Schuler

XVI

Munter sprang der lange Schulz am nächsten Morgen schon um halb neun Uhr Kobus' Treppe hinauf und nahm dabei stets mehrere Stufen auf einmal. Er war von Kopf bis Fuß in Nanking Ein im 19. Jahrhundert populäres weil billiges Tuch aus glattem Baumwollstoff, der aus China importiert wurde und üblicherweise gelb gefärbt war. gekleidet, hatte sein Stöckchen aus Walbein in der Hand und auf dem Kopf seine Jägermütze aus hartgekochtem Leder, die ihm gerade über dem langen, braunen, vom Wein leicht geröteten Gesicht saß.

Langsam und mit der fetten Hand auf dem Geländer folgte Hahn, dessen leichte Schuhe bei jedem Schritt knackten. Er trug einen kurzen grünen Rock, eine schwarze, mit gelben Blümchen verzierte Samtweste, von der lauter Uhrketten hingen, und einen herrlichen Hut aus dickem weißem Biberfell.

Beide sahen gutgelaunt aus und erwarteten wohl, ihren Freund Kobus wie gewohnt in seinem grauen Umhang und seiner rostbraunen Hose vorzufinden.

»Also, Katel«, rief Schulz und schaute durch die halboffene Küchentür, »ist er fertig?«

»Gehen Sie nur hinein, meine Herren«, schmunzelte die alte Magd.

Sie überquerten den Hausflur und machten auf der Schwelle zum großen Zimmer verdutzt halt, als sie dort vor dem Spiegel den Dandy Fritz erblickten. Der himmelblaue Rock machte ihm eine schlanke Taille und die nussbraune Hose zeichnete seine Beine fein nach; sein Kinn war rosig, frisch und glänzend, die Ohren rot, das Haar im Nacken angelegt, und die cremefarbenen Handschuhe waren sorgfältig unter den Manschetten aus dreilagiger Spitze zugeknöpft. Kurz, er glich Cupido Römischer Liebesgott, auch Amor genannt, der als Kind mit Pfeil und Bogen dargestellt wird. Wer von einem Pfeil ins Herz getroffen wird, verliebt sich., der Pfeile verschießt.

»Oho, oho!« rief Hahn, und seine Stimme schwoll vor Verblüffung an, »oho, oho! Kobus... Kobus...«

Schulz sagte nichts, sondern stand da, streckte den Hals vor und stützte sich auf sein Stöckchen. Schließlich sprach er dann:

»Fritz, das ist Verrat. Du willst uns als deine Diener hinstellen. Das geht nicht... ich bin dagegen.«

Da drehte Kobus sich herum, und seine Augen waren etwas wirr vor Erregung, denn er dachte an Susel. Er fragte:

»Findet ihr denn, dass es mir steht?«

»Mit anderen Worten«, sagte Hahn, »du willst uns an die Wand drücken und uns ausstechen? Ich wüsste gern, weshalb du uns diesen Hinterhalt gelegt hast.«

»Na«, sagte Kobus lachend, »wegen der Preußen doch.«

»Wieso – wegen der Preußen?«

»Ganz sicher. Wisst ihr denn nicht, dass Hunderte von Preußen zum Bischheimer Fest gehen? Das sind eitle Leute, die sich nach der neuesten Mode kleiden und von oben herab auf uns Bayern Vgl. Fußnote 122. schauen werden.«

»Mein Gott nein, ich hab's nicht gewusst«, sagte Hahn.

»Wenn ich es gewusst hätte«, rief Schulz, »hätte ich meine Landwehruniform angelegt, denn die steht mir besser als eine Nankingjacke. Damit hätten wir Nationalstolz gezeigt... ein Vertreter des Heeres.«

»Ach was, du siehst gar nicht so übel aus«, sagte Fritz.

Alle drei betrachteten sich im Spiegel, und jeder gefiel sich selbst am besten.

»Wenn man's bedenkt, hat Kobus recht«, rief Hahn, »er hätte uns zwar besser gewarnt, aber wir werden trotzdem eine gute Figur machen.«

Schulz fügte hinzu:

»Ich habe mich salopp gekleidet, weil ich in Bischheim nicht auffallen will. Ich will nur zusehen und mich amüsieren...«

»Und wir?« fragte Hahn.

»Ihr auch, aber ich entspreche den Anlass halt besser. Ein Nankinganzug ist eben einfacher und natürlicher zu so einem Fest als Hemdkrausen und Spitzen.«

Als sie sich umdrehten, sahen sie auf dem Tisch eine Flasche Forstheimer, drei Gläser und einen Teller Kekse.

Fritz warf einen letzten Blick auf sein Halstuch, das Katel kunstvoll gebunden hatte, und fand alles sehr gut.

»Zum Wohl«, sagte er, »der Wagen kommt bestimmt gleich.«

Sie setzten sich, und Schulz sagte zwischen zwei Schlucken Wein nachdenklich:

»Alles schön und gut. Allerdings – ihr seht wohl ein, dass es nicht besonders gut aussehen wird, wenn ihr fein angezogen in einem alten Karren auf Strohbündeln dort ankommt. Das passt nicht zusammen, ist sogar ein wenig vulgär.«

»He«, rief der dicke Steuereinnehmer, »wenn wir's richtig machen wollten, müssten wir im Hemd auf einem Esel hinreiten. Jeder weiß doch, dass die Landedelmänner ihre Ausstattung nicht immer zur Hand haben. Sie besuchen die Feste nebenher. Man muss sich ja auch nicht schämen, wenn man sich amüsieren will.«

Sie sprachen etwa zwanzig Minuten lang. Fritz, der auf der Standuhr sah, dass es allmählich Zeit wurde, horchte hin und wieder auf. Plötzlich sagte er:

»Der Wagen kommt.«

Die beiden anderen lauschten, hörten aber nach ein paar Sekunden nur ein fernes Rollen, das von lautem Peitschenknallen begleitet wurde.

»Das kann er nicht sein«, sagte Hahn, »es ist eine Postkutsche auf der Hauptstraße.«

Das Rollen kam jedoch näher, und Kobus schmunzelte. Schließlich bog der Wagen in die Straße ein, und die Peitschenschläge hallten auf dem Akazienplatz wie Knallfrösche wider, dazu das Hufgetrappel der Pferde und das Dröhnen des Pflasters.

Da standen alle drei auf, beugten sich aus dem Fenster und sahen, dass sich im Trab die Berline näherte, die Kobus gemietet hatte. Der alte Postillion Zimmer trug seine dicke, an den Ohren geflochtene Hanfperücke, eine weiße Weste, eine mit Silber besetzte Jacke, eine Kniehose aus Hirschleder und dicke Stiefel, die ihm bis über die Knie hinaufreichten. Er schaute herauf und knallte weit ausholend mit der Peitsche.

»Einsteigen!« rief Kobus.

Er setzte seinen großen Filzhut auf, während die beiden anderen sich erstaunt ansahen, denn sie konnten nicht glauben, dass die Berline für sie sein sollte. Erst als sie vor der Tür anhielt, brach Hahn in ein gewaltiges Gelächter aus und schrie:

»Das passt genau! Passt genau! Bei Kobus gibt's keine halben Sachen, hahaha! Du alter Angeber!«

Sie gingen hinunter, und die alte Magd kam lächelnd hinterdrein. Zimmer sah ihnen durch den Hausflur entgegen, drehte sich auf seinem Pferd Obwohl die Berline im allgemeinen mit Kutschbock dargestellt wird, soll es Ausführungen gegeben haben, bei denen der Bock fehlte oder entfernt werden konnte, so dass der Kutscher zur besseren Führung der Zugtiere auf einem der Pferde saß. herum und sagte:

»Pünktlich, Herr Kobus, Sie sehen, ich bin pünktlich auf die Minute.«

»Ja gut, Zimmer«, antwortete Kobus und öffnete den Schlag. »Also, hinein mit euch. – Kann man das Verdeck zurückschlagen?«

»Bitte sehr, Herr Kobus, Sie müssen nur am Knopf drehen, dann geht's von selbst.«

Stolz wie Fürsten stiegen sie ein. Fritz setzte sich und drehte das Verdeck zurück. Er saß rechts, Hahn links und Schulz in der Mitte.

Mehr als hundert Leute sahen ihnen von den Türen und Fenstern aus zu, denn Postkutschen fahren normalerweise nicht durch die Akazienstraße, sondern folgen der Hauptstraße. Es war ein ungewohnter Anblick in dieser Gegend.

Das Vergnügen, das Schulz und Hahn empfanden, kann man sich vorstellen.

»Herrje!« rief Schulz und tastete seine Taschen ab, »meine Pfeife liegt noch auf dem Tisch.«

»Wir haben Zigarren«, sagte Fritz und reichte Zigarren herum, die sofort angezündet wurden. Die drei fingen an zu rauchen, lehnten sich zurück, schlugen die Beine übereinander, steckten die Nasen in die Luft und schoben ihre Unterarme hinter die Köpfe.

Katel sah ebenso zufrieden aus wie sie.

»Fertig, Herr Kobus?« fragte Zimmer.

»Ja, wir können abfahren, aber bis zum Hildebrandttor bitte schön langsam«, sagte Fritz.

Da knallte Zimmer mit der Peitsche, zog die Zügel an, und die Pferde fielen in einen langsamen Trab, während der alte Postillion das Horn ansetzte und die Luft mit seinen Signalen erzittern ließ. Katel sah ihnen nach, bis sie um die Straßenecke bogen.

Sie durchquerten Hüneburg von einem Ende zum anderen. Das Pflaster dröhnte weithin, die Fenster füllten sich mit staunenden Gesichtern, und die drei, die sich nonchalant wie Grandseigneurs zurückgelehnt hatten, rauchten, ohne sich umzusehen, und taten, als ob sie ihr Leben lang nur Postkutsche gefahren wären.

Schließlich ging das Dröhnen des Pflasters in das weichere Gerumpel der Landstraße über, denn jetzt kamen sie durch das Hildebrandttor. Zimmer hängte das Horn an seine Halskette, griff wieder zur Peitsche, und zwei Minuten später sausten sie wie der Wind die Landstraße nach Bischheim entlang. Die Pferde sprangen mit wehenden Schweifen, das Klickklack der Peitsche klang wider, und die Pappeln, Felder, Wiesen, Hecken – alles flog vorbei.

Fritz strahlte über das ganze Gesicht. Er ließ seine Augen über den Himmel wandern und dachte an Susel. Vor Sehnsucht füllten seine Augen sich mit Tränen.

»Sie wird sich wundern, mich zu sehen«, dachte er. »Ob sie etwas ahnt? Nein, aber bald wird sie alles wissen... sie soll alles wissen!«

Der dicke Hahn rauchte mit ernster Miene, und Schulz hatte seine Mütze hinter sich in die Falten des Verdecks gesteckt, um sein langes, ergrauendes Haar zu scheiteln, durch das der Fahrtwind strich.

»Also«, sagte Hahn, »nun habe ich das Reisen gelernt. Lasst mich in Ruhe mit den alten Chaisen und den Salatschleudern, die einen kreuzlahm stoßen, ich hab' die Nase voll davon. So zu reisen, das ist etwas anderes. Ob du's glaubst oder nicht, Fritz, ich könnte mich innerhalb von zwei Wochen an diese Art Wagen gewöhnen.«

»Hahaha!« rief Schulz, »ich glaub's dir sofort.«

Fritz träumte vor sich hin.

»Wie lange dauert die Fahrt?« fragte er Zimmer.

»Zwei Stunden, Herr Kobus.«

Da dachte er: »Wenn sie nur dort ist, wenn der alte Christel es sich bloß nicht anders überlegt hat.«

Diese Befürchtung bedrückte ihn, aber nach einer Weile kam seine Zuversicht wieder, und ein Blutstoß färbte seine Wangen.

»Sie ist dort«, dachte er, »ich bin mir ganz sicher, denn's kann doch gar nicht anders sein.«

Während Hahn und Schulz sich wiegen ließen, sich räkelten, vor sich hin lachten und den Rauch genüsslich und langsam über ihre Lippen ziehen ließen, richtete er sich alle Augenblicke auf, schaute sich um und fand, dass ihm die Pferde nicht schnell genug liefen.

In einer Stunde zogen zwei oder drei Dörfer vorbei, dann noch zwei, und schließlich fuhr die Berline ins Altenbrucker Tälchen hinunter. Kobus fiel sofort ein, dass Bischheim auf dem nächsten Hügel lag. Der Anstieg im Schritt kam ihm sehr lang vor, aber schließlich waren sie oben. Zimmer knallte mit der Peitsche und rief:

»Da ist Bischheim!«

Tatsächlich erblickten sie fast im selben Augenblick die alte Ortschaft, die das Tal gegenüber umgab. Sie hatte eine gewundene Hauptstraße, verfallene Fassaden, die von geschnitzten Balken durchzogen waren, hölzerne Galerien, Außentreppen, Hoftore, über denen gerupfte Eulen angenagelt waren, und mit Ziegeln, Schiefer oder Schindeln gedeckte Dächer, die an die Kriege der Markgrafen, der Landgrafen, der Armleder Ein Schankwirt namens Vetter Toms wiegelte im 14. Jahrhundert die Elsässer gegen die Juden auf und brachte eine gewalttätige Bande von Heeresgröße zusammen, die Juden ausplünderte, folterte und tötete, wo immer sie angetroffen wurden. Diese Banditen hießen Armleder, und Vetter Toms nannte sich ihr König. Als das Gesindel im Jahre 1338 die Stadt Kolmar belagerte, weil sie Juden aufnahm und beschützte, organisierte der Bischof von Straßburg ein Bündnis, das die Bande zerstreute ( Encyclopédie de l'Alsace (Vol. 1 Strasbourg 1982: Publitotal), S. 340)., der Schweden Das Rheintal – und damit sowohl die Pfalz als auch das Elsass – wurde im Dreißigjährigen Krieg ab 1632 durch schwedische Truppen verwüstet. oder der Republikaner Damit sind offenbar die französischen Revolutionstruppen gemeint. erinnerten, denn all das war im Lauf der Jahrhunderte wohl zwanzigmal gebaut, niedergebrannt und wiederaufgebaut worden. Rechts stand ein Haus aus der Zeit Hoches Zu Hoche s.u., Fußnote 134., links eins aus der Zeit von Mélac S. Fußnote 118. und weiter hinten eins aus der Zeit Barbarossas Friedrich von Hohenstaufen, genannt Barbarossa (= Rotbart), war 1152-1190 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Das hier angesprochene Gebäude wäre demnach im romanischen Stil errichtet worden..

Große Dreispitze, zweiteilige Nackenhäubchen, rote Westen und Trägerkorsetts gingen, kamen, drehten sich um und schauten. Hunde liefen herbei, und die Gänse und Hühner rannten mit unendlichem Geschrei durcheinander, während die Berline im scharfen Galopp die Hauptstraße hinabfuhr und Zimmer mit abgespreiztem Ellenbogen ein Fanfarensignal blies, das Tote auferweckt hätte.

Hahn und Schulz besahen alles und genossen die allgemeine Verwunderung. Um eine Straßenecke herum erblickten sie auf dem Zweibockplatz den alten Springbrunnen, das Frauenzimmer aus Tannenholzbrettern, die Buden der Händler und das Gewühl der Menschenmenge. Blitzschnell zog alles vorbei. Weiter die Straße entlang sahen sie die alte Kirche St. Ulrich Der Heilige Ulrich von Zell (1029-1093), auch Udalrich, Ulrich von Regensburg oder Ulrich von Cluny genannt, wirkte in der Umgebung von Freiburg im Breisgau, wo er noch heute verehrt wird ( Wimmer / Melzer / Gelmi (s.o., Fußnote 52), S. 809). mit den beiden viereckigen Türmen, den schiefergedeckten Helmen darüber und den karolingischen Torbögen. Alle Glocken läuteten, die Messe ging eben zu Ende. Die Leute, die die Treppe vor dem Säulengang herabstiegen, schauten erstaunt herüber. Auch das war im Nu vorbei.

Fritz hatte nur einen Gedanken: »Wo ist sie?«

Er lehnte sich zu jedem Haus hinaus, als ob Susel dort im selben Moment erscheinen müsste. Auf jeden Balkon, jede Treppe, jedes Fenster und jede Tür, egal ob rund, eckig oder mit Weinlaub umrankt, heftete er den Blick und dachte: »Ist sie wohl dort?«

Hätte sich das Gesicht eines Mädchens im Schatten eines Hausgangs, hinter einer Fensterscheibe oder hinten in einer Stube abgezeichnet – er hätte es gesehen! Jedes Band an Susel hätte er aus voller Fahrt erkannt. Er sah sie jedoch nirgends, und schließlich hielt die Berline auf den Alten Metzgerplatz vor dem Goldenen Schaf.

Fritz erinnerte sich sofort an das alte Gasthaus, denn dort war vor fünfundzwanzig Jahren sein Vater abgestiegen. Er erkannte das große Tor zum Hof mit dem geborstenen Pflaster, die hölzerne Galerie mit den massiven Pfeilern, die zwölf Fenster mit den grünen Läden, das Türlein unter dem Bogen und die ausgetretenen Stufen davor.

Einige Minuten früher hätte dieser Anblick in ihm tausend herzbewegende Erinnerungen hervorgerufen, aber jetzt befürchtete er, dass er Susel nicht treffen könnte, und das machte ihm Sorgen.

Das Gasthaus musste gesteckt voll mit Gästen sein, denn kaum war der Wagen auf dem Platz erschienen, da zeigten sich lauter Gesichter in den Fenstern, vor allem Preußen mit flachen Mützen und dicken Schnauzbärten. Zwei Pferde waren an den Ringen bei der Tür angebunden, und ihre Herren schauten aus dem Hausgang herüber.

Als die Berline hielt, kam groß, ruhig und würdig der alte Wirt Lörich mit der Baumwollhaube auf dem weißhaarigen Kopf herbei, klappte feierlich das Treppchen heraus und sagte:

»Wenn die Herren sich bemühen und aussteigen wollen...«

Da rief Fritz:

»Kennen Sie mich denn nicht mehr, Vater Lörich?«

Der Alte sah ihn überrascht an.

»Ach, mein lieber Herr Kobus«, sagte er nach einem Augenblick, »wie Sie Ihrem Vater ähneln! Bitte um Verzeihung, ich hätte Sie erkennen müssen.«

Fritz stieg lachend aus und sagte:

»Nicht schlimm, Vater Lörich, zwanzig Jahre können einen Menschen verändern. Ich stelle Ihnen meinen Feldmarschall Schulz und meinen Ministerpräsidenten Hahn vor. Wir reisen inkognito.«

In den Fenstern konnte man das Grinsen nicht zurückhalten, vor allem nicht die Preußen. Das ärgerte Schulz.

»Den Feldmarschall«, sagte er, »kann ich genauso gut wie viele andere. Ich würde Angriff oder Schlacht befehlen und von fern in Ruhe zusehen.«

Hahn war zu gut gelaunt, um sich zu ärgern.

»Wann gibt's Mittagessen?« fragte er.

»Um zwölf Uhr, mein Herr.«

Sie traten in den Vorraum, während Zimmer die Pferde ausschirrte und zum Stall führte. Der Vorraum lief nach hinten zum Garten hinaus. Links war die Küche, und man konnte das Tick-tack des Bratenwenders, das Knistern des Feuers und das Geklapper der Töpfe hören. Die Dienstmädchen eilten im Laufschritt über den Flur, eine mit Tellern, die andere mit Gläsern. Der Kellner stieg mit einem Korb voller Weinflaschen aus dem Keller herauf.

»Wir brauchen ein Zimmer«, sagte Fritz zum Wirt, »ich möchte das von Hoche.«

»Unmöglich, Herr Kobus, es ist belegt. Die Preußen haben's sich reservieren lassen.«

»Gut, dann bitte das Nachbarzimmer.«

Vater Lörich ging ihnen voran die große Treppe hinauf. Als Schulz von der Stube des Generals Hoche Lazare Hoche (1768-1797) befehligte als General der französischen Revolutionstruppen die sogenannte Moselarmee, die am 22.12.1793 bei Frœschwiller im Nordelsaß und wenige Tage später bei Wissembourg das Reichsheer schlug (vgl. P. de Pardiellan: Récits Militaires d'Alsace (Strasbourg 1905), S. 113 ff). Hoche galt als führendes militärisches Genie der französischen Revolution. Sein früher Tod beugte einer möglichen Rivalität mit Napoleon Bonaparte vor. hörte, wollte er wissen, was es damit auf sich habe.

»Bitte hier, mein Herr«, sagte der Wirt und öffnete die Tür zu einem großen Raum auf der ersten Etage. »Hier haben die republikanischen Generale am 23. Dezember 1793 Kriegsrat gehalten, drei Tage vor dem Angriff auf die Weißenburger Linien Der Führungsstab der französischen Moselarmee plante tatsächlich kurz vor Weihnachten 1793 den Angriff auf die sog. Weißenburger Linien, allerdings nicht in einem Ort namens Bischem, sondern vermutlich in Wœrth im Nordelsaß, das in Deutschland vor allem als Schauplatz einer Schlacht des deutsch-französischen Kriegs bekannt ist.. Schauen Sie, Hoche war dort drüben.«

Er zeigte auf den gusseisernen Ofen, der rechts in einer ovalen Nische stand.

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Ja, mein Herr, ich erinnere mich daran, als ob's gestern gewesen wäre. Ich war damals fünfzehn. Die Franzosen lagerten rund ums Dorf, und die Generale schliefen weder tags noch nachts.

Mein Vater schickte mich eines Abends hier herauf und sagte: ›Sieh dich gut um.‹ In dieser Stube gingen die französischen Generale auf und ab. Sie hatten Schärpen in den Farben der Trikolore um die Hüften, trugen ihre großen Zweispitze quer und schleppten Säbel hinter sich her.

Alle Augenblicke kamen schneebedeckte Offiziere, um Befehle abzuholen. Da alle Leute von Hoche sprachen, hätte ich ihn gern kennengelernt, schob mich daher mit der Nase in der Luft die Wand entlang und besah mir die großen Männer, die solchen Lärm im Haus machten.

Dann kam mein Vater dazu und war blass im Gesicht. Er zog mich am Ärmel und sagte mir ins Ohr: ›Er ist ganz nah.‹ Ich drehte mich um und sah Hoche, der mit den Händen auf dem Rücken und vornüber geneigtem Kopf vor dem Ofen stand. Gegen die anderen Generale war er unscheinbar in seinem blauen Rock mit den aufgeschlagenen breiten Revers und den Stiefeln mit den eisernen Sporen. Ich sehe ihn da noch stehen. Er war mittelgroß und braun, mit einem schmalen Gesicht. Sein langes Haar war über der Stirn gescheitelt und hing ihm auf die Wangen herab. Inmitten dieses Spektakels war er in Gedanken vertieft, und nichts konnte ihn ablenken.

In derselben Nacht gegen elf Uhr zogen die Franzosen ab, und am nächsten Morgen sah man keinen einzigen mehr im Dorf oder in der Umgebung. Fünf oder sechs Tage später hieß es, es habe ein Gefecht stattgefunden, und die Reichstruppen seien auf dem Rückzug. Wahrscheinlich hat Hoche dort drüben den Schlachtplan geschmiedet.«

Vater Lörich erzählte dies in aller Bescheidenheit, und die anderen hörten staunend zu. Dann führte er sie in die Stube nebenan und fragte, ob sie dort essen wollten, aber sie zogen es vor, am Tisch in der Gaststube zu tafeln.

Also stiegen sie wieder hinab.

Die Gaststube war vollbesetzt. Drei oder vier Reisende hatten ihre Koffer auf Stühle gestellt und warteten auf die Linienkutsche nach Landau. Preußische Offiziere gingen paarweise auf und ab. Ein paar Markthändler aßen im Nebenzimmer, und einige Bürger saßen am Tisch, der bereits mit dem Tischtuch, den funkelnden Karaffen und sauber aufgereihten Tellern gedeckt war.

Jeden Augenblick erschienen Neuankömmlinge auf der Türschwelle, warfen einen Blick in die Runde und gingen dann wieder oder traten näher.

Fritz ließ eine Flasche Rüdesheimer bringen, bis das Essen kam. Gelangweilt betrachtete er die hübsche indigoblaue und ockergelbe Tapete, auf der die Schweiz und ihre Gletscher dargestellt waren. Wilhelm Tell zielte hier nach dem Apfel auf dem Kopf seines Sohns, und dort stieß er mit dem Fuß Geßlers Boot in den See zurück.

Fritz dachte nur an Susel, während Hahn und Schulz sich den Wein schmecken ließen.

Da erklang draußen Gesang, und fast zugleich fiel der dunkle Schatten eines großen, dann eines zweiten Wagens in die Stube. Alles sprang zu den Fenstern.

Draußen zogen Bauern auf der Ausreise nach Amerika vorbei. Ihre Wagen waren mit alten Schränken, Bettladen, Matratzen, Stühlen und Kommoden bepackt und mit großen Segeltüchern überdacht, die man auf Fassreifen gespannt hatte. Unter diesen Planen saßen kleine Kinder auf Strohbündeln, und ein paar arme, altersschwache Großmütterlein mit schlohweißem Haar schauten ihnen still zu, während fünf oder sechs Klepper mit Hundefelldecken auf den Kruppen langsam anzogen. Dahinter kamen Männer, Frauen und drei auf Stöcke gestützte Greise mit krummem Rücken und bloßem Kopf. Alle sangen im Chor:

Was ist das deutsche Vaterland? Der Text dieses Lieds stammt von Ernst Moritz Arndt und erschien erstmals in Ludwig Jahn (Hrsg.): Deutsche Wehrlieder für das Königlich Preußische Frey-Corps (Berlin 1813). Die Melodie schrieb Reichardt (1825). Während der Restaurationszeit wurde das Lied von der deutschen Freiheitsbewegung übernommen und daher durch die Obrigkeiten verboten. Wahrscheinlich erklärt das die Reaktion der preußischen Offiziere. Übrigens heißt der Text richtig weiter: ...Ist Bayernland? Ist Preußenland? ...

Was ist das deutsche Vaterland?

Die Alten antworteten:

Amerika! Amerika!

Die preußischen Offiziere sagten zueinander: »Man sollte diese Leute verhaften.«

Hahn hörte diesen Vorschlag und konnte es nicht lassen, bissig zu antworten:

»Sie meinen, dass Preußen das deutsche Vaterland ist. Der Hals gehört ihnen umgedreht.«

Die preußischen Offiziere schauten ihn schief an, aber Hahn hatte keine Angst, und Schulz zog würdevoll die Stirn glatt.

Fritz hatte sich still erhoben und ging hinaus, als ob er in der Küche etwas erfragen wollte. Als er nach einer Viertelstunde noch nicht zurück war, wunderten Hahn und Schulz sich sehr, zumal nun Suppenterrinen aufgetragen wurden und alles sich zu Tisch setzte.

Fritz war eingefallen, dass hinter Bischheim am Ende der Gänsegasse zwei oder drei Mennonitenfamilien wohnten, vor deren Tür sein Vater früher auf dem Rückweg nach Hüneburg stets angehalten hatte, um einen Sack Backpflaumen aufzuladen. Da er Susel dort vermutete, war er stillschweigend in den Garten des Goldenen Schafs gegangen und von dort aus weiter ins Stechpalmengässchen, das dem Dorfrand folgt.

Er rannte durch dieses Gässchen wie ein Hase, denn das Verlangen, Susel wiederzusehen, trieb ihn an. Was wäre er drei Monate früher verdutzt gewesen, wenn er sich so gesehen hätte!

Als er schließlich das große, mit grauen Ziegeln gedeckte Dach der Mennoniten über die Obstgärten hinweg erblickte, schlich er leise die Hecken entlang weiter, bis er vor dem Hof stand. Zu seiner Befriedigung entdeckte er dort zwischen dem großen, eingefassten Misthaufen und der verwitterten, mit Efeu bewachsenen Hauswand Vater Christels Wagen, und sein Herz schwoll vor Glück.

»Sie ist hier«, sagte er zu sich, »gut... schön! Ich muss sie sehen, koste es, was es wolle. Selbst wenn ich drei Tage hier bleiben muss – ganz egal!«

Seine Augen konnten vom Anblick des Wagens nicht genug bekommen. Plötzlich sprang Mopsel aus dem Hausgang und bellte wie es Hunde tun, wenn sie einen alten Bekannten treffen. Da hatte Fritz gerade noch Zeit, sich in das Gässchen zu retten. Mit gebeugtem Rücken schlich er wie ein Dieb die Hecke entlang zurück, denn trotz seiner Seligkeit schämte er sich irgendwie über seinen Vorstoß. Er war glücklich und verwirrt zugleich.

»Wenn man dich entdecken würde«, sagte er zu sich, »und wenn die wüssten, was du da treibst, um Gottes Willen, was würden sie dich auslachen, Fritz! Na egal, alles läuft glatt. Du hast wirklich Glück.«

Er kehrte ins Goldene Schaf auf denselben Schleichpfaden zurück, die er auf dem Hinweg benutzt hatte. Als er in die Gaststube trat, wurde gerade der zweite Gang aufgetragen. Hahn und Schulz hatten den Platz zwischen sich für Fritz freigehalten.

»Wo zum Teufel warst du denn?« fragte Hahn.

»Ich wollte den Doktor Rübeneck besuchen, der ein Bekannter meines Vaters war«, sagte er und heftete sich die Serviette vor. »Eben hörte ich, dass er vor zwei Jahren gestorben ist.«

Dann aß er mit großem Appetit drauflos, und da soeben ein leckerer Aal in Senfsoße aufgetragen wurde, zog der dicke Hahn es vor, keine weiteren Fragen zu stellen.

Während des ganzen Essens saß Fritz mit strahlendem Gesicht da und hatte nur den einen Gedanken: »Sie ist hier«.

Manchmal schloss er sachte seine großen, hoch erhobenen Augen und öffnete sie dann wieder wie ein Kater, der vor sich hin träumt und dabei eine Mücke belauert, die in der Sonne tanzt.

Er aß und trank mit Genuss, ohne dass es ihm bewusst wurde.

Draußen war das Wetter unübertrefflich. Von fern hörte man die Hauptstraße entlang heitere Lieder, näselnde Flötentöne und Gelächter. Leute in festlicher Kleidung, mit Blumen am Hut und Hauben, deren Bänderschmuck nur so flimmerte, gingen Arm in Arm zum Zweibockplatz. Hin und wieder stand ein Tischgast auf, warf die Serviette auf die Rückenlehne seines Stuhls und ging hinaus, um sich unters Volk zu mischen.

Um zwei Uhr waren nur noch Hahn, Schulz, Kobus und zwei oder drei preußische Offiziere am Tisch, vor sich den Dessert und leere Flaschen.

Die durchdringenden Töne einer Trompete und eines Horns riefen zum Tanz. Das riss Fritz aus seinen Träumen.

»Ob Susel schon dort ist?« dachte er.

Er schlug mit dem Griff seines Messers auf den Tisch und rief laut:

»Vater Lörich! Vater Lörich!«

Der alte Wirt kam herbei. Fritz fragte mit listigem Lächeln:

»Haben Sie noch dieses Weißweinchen, Sie wissen doch, das prickelnde Weinchen, das der Herr Amtsrichter Kobus so sehr mochte?«

»Ja, das gibt's noch«, antwortete der Wirt im selben heiteren Tonfall.

»Schön, dann bringen Sie uns bitte zwei Flaschen«, sagte Kobus und zwinkerte mit den Augen. »Den Wein mag ich sehr, und ich hätte nichts dagegen, wenn meine Freunde ihn probierten.«

Vater Lörich ging hinaus und kam kurz darauf mit einer Flasche unter jedem Arm zurück. Die Flaschen waren fest verkapselt und mit Messingdraht zugebunden. Lörich hatte auch ein Zänglein, um den Draht aufzubiegen, und drei dünne, funkelnde, tütenförmige Gläser auf einem Tablett.

Da merkten Hahn und Schulz, um welches Weinchen es sich handelte, und lachten sich an.

»Hihihi«, sagte Hahn, »dieser Kobus macht mitunter gute Witze. Sowas nennt er ein Weinchen.«

Schulz schielte zu den Preußen hinüber und fügte hinzu:

»Ja, ein Weinchen aus Frankreich. Das trinken wir nicht zum erstenmal. Bloß haben wir damals in der Champagne die Flaschenhälse mit dem Säbel abgeschlagen.«

Während er das sagte, strich er die ergrauenden Spitzen seines Schnurrbärtchens nach oben und schob sich die Mütze aufs Ohr.

Der Korken knallte wie aus der Pistole geschossen unter die Decke, und die Gläser wurden mit dem himmlischen Tau gefüllt.

»Auf deine Gesundheit, lieber Fritz!« rief Schulz und hob sein Glas.

In einem Zug ließ er den himmlischen Tau seinen langen Storchenhals hinablaufen.

Hahn und Fritz machten es ebenso, wiederholten das Manöver noch dreimal und entzückten sich über das Bukett des Weinchens.

Die Preußen standen würdevoll auf und gingen hinaus.

Kobus hakelte die zweite Flasche auf und sagte:

»Schulz, manchmal übertreibst du deine Angeberei. Sag mir doch mal, ob dein Landwehrbataillon überhaupt über die kleine Festung Pfalzburg Emile Erckmann konnte es offenbar nicht lassen, seinen Geburtsort auch ausdrücklich zu erwähnen. in Lothringen hinausgekommen ist und ob ihr damals etwas anderes als Elsässer Weißwein getrunken habt?«

»Ach, lass mich doch«, rief Schulz, »Muss man sich denn vor diesen Preußen genieren? Als Vertreter des bayerischen Heeres kann ich dir nur sagen, dass ich meinen guten Teil Champagner getrunken hätte, wenn unterwegs welcher zu finden gewesen wäre. Was kann ich denn dafür, dass ich in die Wildnis geraten bin? Das hat doch der Feldmarschall Schwarzenberg Der Österreichische Feldmarschall Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg (1771-1820) befehligte die Truppen der Koalition gegen Kaiser Napoleon I. in der Völkerschlacht von Leipzig (1813) und auch beim anschließenden Einmarsch in Frankreich, auf den hier angespielt wird. ausgeheckt, der uns drangab, damit seine Österreicher sich mästen konnten. Lass uns von etwas anderem sprechen, Kobus, denn ich zittere heute noch, wenn ich nur daran denke. Zwei Tagesmärsche lang gab's nur Tannen und schließlich einen Haufen Lumpen, nackte Wilde, die uns von den Felsen herab mit Steinen totwarfen Benoit-Guyod (Fußnote 4 zum Vorwort, S. 152) erwähnt den französischen Patrioten Wolff, der 1813 in den Nordvogesen mit einer aus den Bauern der Gegend gebildeten Guerillatruppe die einmarschierenden Koalitionsheere bekämpft habe. Diese Tat habe Erckmann mehrfach in seinen Werken verarbeitet und während des deutsch-französischen Krieges den Aufbau eines maquis in den Vogesen vorgeschlagen. Der Plan wurde allerdings nicht ausgeführt.. Ich sage dir, es wäre bestimmt schöner gewesen, in der Champagne guten Wein zu saufen, als sich in den Vogesen mit den wildgewordenen Hinterwäldlern herumzuschlagen!«

»Beruhige dich doch«, sagte Hahn lachend, »wir glauben dir ja. Allerdings – von den Österreichern und Preußen haben Tausende Kaiser Napoleon I. gab sich nach seiner Niederlage in der Völkerschlacht von Leipzig nicht geschlagen und verteidigte bis in den April 1814 hinein die Umgebung von Paris zwar sinnlos, aber umso hartnäckiger und blutiger. ihre Knochen in der Champagne lassen müssen.«

»Wer weiß, vielleicht trinken wir gerade den Lebenssaft eines prügelnden Unteroffiziers Im Originaltext caporal schlague. Der Hinweis auf die militärische Prügelstrafe trifft nicht zu, denn am napoleonischen Rußlandfeldzug von 1812 hatten alle verfügbaren Truppen aus Deutschland teilgenommen und waren mitsamt der grande armée umgekommen. Insbesondere Preußen stellte 1813 ein völlig neues Heer auf, in dem nicht mehr geprügelt wurde. Daher waren bei den preußischen Truppen, die 1813/14 in Frankreich einmarschierten, nur noch wenige Unteroffiziere aus der Prügelzeit.!« rief Fritz.

Alle drei brachen in ein übermütiges, albernes Gelächter aus. Sie waren beschwipst.

»Hahaha, nun gehen wir tanzen«, sagte Kobus und stand auf.

»Auf zum Tanz!« echoten die anderen.

Sie leerten ihre Gläser im Stehen und gingen hinaus, schwankten aber dabei und lachten so laut, dass alle Leute auf der Straße sich nach ihnen umdrehten.

Schulz hob seine langen Grillenbeine bis zum Kinn, warf die Arme in die Luft und schrie im Hanswurstton:

»Preußen kann mich, und alle Preußen können mich auch, vom prügelnden Unteroffizier bis hinauf zum Feldmarschall!«

Hahns Nase war rot wie Klatschmohn, und seine Wangen glühten. Mit Tränchen in den Augen lallte er:

»Um Gottes Willen, Schulz, Schulz, mäßige deine Kampfeslust, sonst bringst du uns noch Friedrich Wilhelms Heer an den Hals! Schließlich sind wir friedliche und ordentliche Leute, hab doch Achtung vor der Eintracht in unserem alten Deutschland.«

»Nein, nein, sie können mich alle!« brüllte Schulz, »sie sollen nur herkommen, dann werden wir ja sehen, was ein alter bayerischer Landwehrfeldwebel kann. Hoch das deutsche Vaterland!«

Einige Preußen lachten in ihre langen Schnauzbärte, als sie vorbeikamen.

Fritz dachte daran, dass er nun Susel wiedersehen würde, und schwelgte in Glückseligkeit.

»Alle Mädchen sind im Frauenzimmer«, dachte er, »vor allem am ersten Tag des Fests Vgl. die Fußnoten 113 und 114.. Also ist Susel auch da.«

Dieser Gedanke entrückte ihn in den siebten Himmel. Er war voller Erwartung und begrüßte beschwingt die Leute. Dann stand er auf dem Zweibockplatz, sah die Fahne über der Holzbaracke wehen – und erkannte an den letzten Tönen eines Hopsers den Bogenstrich seines Freundes Josef. Da geriet er in einen regelrechten Glückstaumel, zog seine Kumpane vorwärts und rief:

»Das ist Josefs Kapelle!... Das ist Josef mit seinen Musikanten!... Jetzt gibt's keinen Zweifel mehr – wir stehen in der Gunst des Herrn!«

Als sie am Eingang des Frauenzimmers ankamen, ging der Hopser gerade zu Ende, und Leute kamen heraus. Die Posaune, die Klarinette und die Querpfeife wurden für den nächsten Tanz gestimmt, und die dicke Pauke schickte einen letzten dröhnenden Rumser durch die widerhallende Baracke.

Sie gingen hinein und ließen die Blicke über die erhöhten Balustraden gehen, die dicht mit Mädchen, Papas und Großmüttern besetzt waren, und über die Girlanden aus Eichen- und Buchenlaub und Moos, die ringsherum von den Pfeilern hingen.

Alles war in Bewegung, denn die Tänzer führten eben ihre Tänzerinnen zurück. Fritz erkannte von fern das dicke Haarfell seines Freundes Josef inmitten der schmutziggrünen Musikkapelle und geriet außer sich vor Aufregung. Er warf beide Arme in die Luft, schwenkte seinen Filzhut und rief laut:

»Josef! Josef!«

Links und rechts richteten sich die Leute auf und beugten sich vor, um zu sehen, welcher Übermütige da schrie. Als sie Hahn, Schulz und Kobus vortreten sahen – lachend, jubelnd, rotgesichtig und jeder am Arm des anderen schwankend, wie's so kommt, wenn man getrunken hat –, wogte ein gewaltiges Gelächter durch die Baracke, denn jeder dachte:

»Da kommen ein paar rechte Kerle, die bestens getafelt haben.«

Josef hatte sich indessen umgedreht und Kobus von fern erkannt. Mit weit ausgebreiteten Armen, die Fiedel in der einen und den Bogen in der anderen Hand, stieg er vom Podium herab, und Fritz kam ihm entgegen. Sie fielen sich auf halbem Weg in die Arme, und alles war verblüfft.

»Wer zum Teufel kann das sein?« hieß es. »Da lässt sich ein feiner Herr von einem Zigeuner umarmen...«

Bockel, Andres und die gesamte Kapelle beugte sich auf dem Podium vor und applaudierte diesem Schauspiel.

Schließlich richtete Josef sich wieder auf, hob den Bogen und rief:

»Herhören! Hier ist mein Freund Herr Kobus aus Hüneburg, der mit seinen Freunden den Dreierleins Im Originaltext treieleins genannt. Gemeint ist offenbar ein Tanz, an dem drei Paare teilnehmen. tanzen möchte. Ist jemand dagegen?«

»Nein, nein, er soll tanzen«, rief's aus allen Ecken.

»Also«, sagte Josef, »dann werde ich einen Walzer spielen, den Josef Almani-Walzer, den ich komponiert habe, während ich an jemanden dachte, der mich einmal aus großer Not gerettet hat. Kobus, außer Bockel, Andres und den Bäumen im Tannewald hat bisher niemand diesen Walzer gehört. Such dir also eine hübsche Tänzerin nach deinem Geschmack aus, und ihr, Hahn und Schulz, wählt auch. Außer euch soll niemand den Almani-Walzer tanzen.«

Fritz hatte sich auf der Treppe zum Podium umgedreht, ließ den Blick durch den Saal gehen und befürchtete einen Augenblick lang, dass er Susel nicht finden könnte.

An schönen Mädchen fehlte es nicht. Schwarzhaarige und Brünette, Rothaarige und Blonde richteten sich auf, schauten Kobus an und erröteten, wenn sein Blick bei ihnen stehenblieb, denn es ist eine große Ehre, von einem gutaussehenden Mann ausgewählt zu werden, vor allem wenn ein Dreierleins getanzt werden soll. Doch Fritz sah weder, dass sie erröteten und sich aufrichteten wie Friedrich Wilhelms Husaren bei der Parade, noch dass sie die Schultern einzogen und die Lippen spitzten. Er übersah diese strahlende Blüte der Jugend, die sich unter seinen Blicken entfaltete, denn er suchte nur ein kleines Vergissmeinnicht, das blaue Blümchen, das als Liebesandenken gilt.

Lange musste er nach ihr suchen und wurde dabei allmählich unruhig. Endlich entdeckte er sie ganz hinten, hinter einer Girlande aus Eichenlaub, die vom Pfeiler rechts neben der Tür herabhing. Zugleich furchtsam und begierig, gesehen zu werden, streckte Susel ihren Kopf unter den dicken grünen Blättern hervor, die sie halb verdeckten.

Ihr einziger Schmuck war ihr schönes blondes Haar, das in langen Zöpfen über ihre Schultern fiel. Ein blaues Seidentüchlein verhüllte ihre entstehende Brust, und ein Samtkorsettchen mit weißen Trägern hob ihre Taille hervor. Neben ihr stand gerade wie ein I die Großmutter Anna, die ihre grauen Haare unter eine Nonnenhaube gesteckt hatte und die Arme schlicht herabhängen ließ. Diese Leute waren nicht zum Tanzen, sondern zum Zuschauen hergekommen und hielten sich daher in der hintersten Ecke.

Fritz' Wangen wurden warm. Er ging die Treppe hinunter und durchschritt die Baracke inmitten der allgemeinen Aufmerksamkeit. Susel sah ihn kommen, erblasste und drückte sich an den Pfeiler. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Fritz stieg vier Stufen hinauf, schob die Girlande beiseite, nahm Susel bei der Hand und sagte leise:

»Susel, möchtest du beim Dreierleins mit mir tanzen?«

Da hob sie ihre großen blauen Augen wie im Traum, und ihre Blässe ging in Röte über.

»Oh ja, Herr Kobus«, sagte sie und sah zu ihrer Großmutter hinüber.

Nach einem Augenblick neigte die Alte den Kopf und sprach: »Es ist gut... du darfst tanzen.« Sie kannte Fritz von früher, als er mit seinem Vater in Bischheim gewesen war.

Sie stiegen in den Saal hinab. Die Tanzordner mit ihren Strohhüten voller bunter Bänder umkreisten die Tanzfläche außen und schwenkten frohgestimmt ihre Peitschen mit den bunten Bändern, um die Menge zurückzudrängen. Hahn und Schulz waren noch unterwegs auf der Suche nach ihren Tänzerinnen. Josef wartete vor seinem Stehpult; Bockel mit dem Kontrabass vor dem gestreckten Bein und Andres mit der Fiedel unter dem Arm hielten sich neben ihm. Nur sie sollten ihn begleiten.

Susel stand an Fritz' Arm inmitten dieser Menge und warf heimliche Blicke ringsum, in denen Entzücken und Verwirrung lagen. Alle bewunderten die langen Zöpfe, die ihren Rücken hinab bis zum unteren Saum des hellblauen, in Samt gefassten Röckchens fielen, ihre runden Schuhchen, deren schwarze Seidenbänder kreuzweise geflochten die erstaunlich weißen Strümpfe empor liefen, ihre rosa Lippen, das runde Kinn und den weichen, anmutigen Hals.

Einige Mädchen schauten streng drein und suchten etwas auszusetzen, während ihr hübscher Arm, der nach der örtlichen Mode bis zum Ellenbogen hinauf bloß war, mit naiver Anmut auf Fritz' Arm lag. Nur zwei oder drei Alte kniffen die Augen zusammen, lachten in ihre Runzeln hinein und sagten ohne Scheu: »Er hat gut gewählt.«

Kobus hörte dies und drehte sich zufrieden zu ihnen um. Gern hätte er Susel ein Kompliment gemacht, aber ihm fiel nichts ein. Er war zu glücklich.

Schließlich zog Hahn aus der dritten Bank links eine sechs Fuß große, schwarzhaarige Frau mit einer Adlernase und durchdringenden Augen. Sie erhob sich kerzengerade und trat in majestätischer Haltung vor, denn sie war die Tochter des Bürgermeisters. Hahn sah glücklich über seine Wahl aus, denn er mochte solche Frauen. Er stand stramm, rückte seine Hemdkrause zurecht, und man hatte den Eindruck, als ob das große Mädchen, das ihn um einen halben Kopf überragte, ihn führte.

Zugleich brachte Schulz ein rundliches Frauchen mit wunderschönem rotem Haar herbei. Sie lächelte froh und sprang mit einem Ruck zu Schulz, als ob sie ihn an der Flucht hindern wollte.

Sie nahmen Aufstellung für einen Rundgang durch den Saal, wie der Brauch es wollte. Kaum hatten sie die erste Runde vollendet, da rief Josef:

»Bist du soweit, Kobus?«

Als Antwort umfasste Fritz mit dem linken Arm Susels Taille, hielt ihre Hand nach der feinen Mode des achtzehnten Jahrhunderts hoch und führte sie wie eine Feder.

Als Josef seinen Walzer, den Walzer der Luftgeister, mit drei Bogenstrichen anstimmte, merkte man sofort, dass nun etwas Besonderes kam. Denn abends, wenn der Horizont in der Ebene als goldene Linie zu sehen ist, wenn die Blätter schweigen und die Insekten sich niederlassen, schlägt die Nachtigall ihr Lied mit drei Tönen an. Der erste ist ernst, der zweite sanft und der dritte so voll Drang, dass die Stille sich überall ausbreitet, um zuzuhören. So begann auch Josef, der in seinem unsteten Leben oft den Ellenbogen ins Moos und das Ohr auf die Hand gestützt hatte, um der Nachtigall eine Lektion abzulauschen, bei der er die Augen geschlossen hatte und in himmlischer Seligkeit versunken war.

Dann lebte der Walzer auf, empor getragen von den Flügeln des nächtlichen Meistersingers, der jeden Abend am Nest seiner Geliebten mehr Wohlklänge verbreitet als der Tau Perlen auf dem Gras im Tal. Schnell, verrückt und funkelnd schwirrten die Luftgeister umher und versetzten Fritz und Susel, Hahn und die Tochter des Bürgermeisters, Schulz und seine Tänzerin in endlose, wirbelnde Drehungen. Bockel ließ den fernen Bass der Wildbäche ertönen, und der große Andres schlug den Takt der schnellen und heiteren Läufe, die wie Schwalbenrufe die Luft spalten. Denn wenn die Eingebung vom Himmel kommt und sich mit Phantasie vereinigt, herrschen Ordnung und Maß auf Erden!

Stellt Euch vor, dass sich jetzt die Liebeskreise des Walzers verflechten, die Füße sich drehen, Kleider wehen und sich zu Fächern ausbreiten. Stellt Euch Fritz vor mit Susel im Arm, der ihre Hand anmutig hochhält, sie wie berauscht ansieht, sich erst wie der Wirbelwind dreht und dann wieder im Takt wiegt, lacht, sie immer noch schwärmerisch ansieht und dann mit neuem Eifer Schwung holt, während sie ihre runden Hüften wiegt, ihre zwei langen Zöpfe wie Flügel schwingen, ihr zauberhaftes Köpfchen, das sie in den Nacken geworfen hat, ihn hingerissen anschaut, und ihre Füße den Boden kaum streifen.

Der dicke Hahn hatte in vollem Galopp seiner Tänzerin beide Hände auf die Schultern gelegt, wiegte sich hin und her, klappte mit den Hacken und betrachtete die Frau mit der großen Nase bewundernd von oben bis unten, während sie sich wie eine Wetterfahne drehte.

Schulz hatte sich halb gebückt und war mit seinen langen Beinen etwas in die Knie gegangen. Er hielt seine kleine Rothaarige unter dem Arm und drehte, drehte, drehte sich unaufhörlich mit erstaunlichem Gleichmaß wie eine Spule um die Haspel. So genau hielt er den Takt, dass es alle hinriss.

Die allgemeine Bewunderung galt jedoch Fritz und Susel, weil sie so anmutig und glücklich aussahen. Sie waren nicht mehr auf der Erde, sondern wiegten sich im Himmel. Diese singende und lachende Musik, die das Glück, die Freude und die Liebe hochleben ließ, war für sie geschaffen. Der ganze Saal sah ihnen zu, und sie sahen nur noch einander. Alle fanden sie so schön, dass gelegentlich ein bewunderndes Raunen durch das Frauenzimmer lief. Man hätte jeden Augenblick einen Ausbruch von Applaus erwartet, aber der Bann des Walzers hielt die Leute ruhig. Erst als Hahn, den der Schwung und der Anblick der großen Tochter des Bürgermeisters toll gemacht hatten, sich auf die Zehenspitzen stellte, die Frau zwei Pirouetten drehen ließ, dabei dröhnend »Juh!« brüllte und vor Anstrengung aus dem Gleichgewicht geriet; als Schulz daraufhin das rechte Bein hob und es über den Kopf seiner Rothaarigen hinwegschwang, ohne dabei aus dem Takt zu geraten, dazu ein heiseres »Juh! Juh! Juh! Juh! Juh! Juh!« schrie und besessen weiterwalzte, erst da brach die Begeisterung der Zuschauer in ein Stampfen und Rufen aus, dass die Baracke zitterte.

Niemals, niemals hatte es einen so schönen Tanz gegeben. Der Beifall dauerte länger als fünf Minuten, und als es schließlich ruhiger wurde, hörte man gern, dass der Luftgeistwalzer von vorn einsetzte wie das Lied der Nachtigall, nachdem ein Windstoß durch den Wald gegangen ist.

Schulz und Hahn konnten nicht mehr. Schweiß lief ihnen über die Wangen, und sie legten eine Polonaise ein. Der eine hatte die Hand auf der Schulter seiner Tänzerin, während dem anderen die Dame irgendwie am Arm hing.

Susel und Fritz drehten sich weiter, unbeeindruckt vom Schreien und Stampfen der Menge. Erst als Josef erschöpft den letzten Liebesseufzer auf der Fiedel erklingen ließ, blieben sie stehen – gerade vor Vater Christel und einem anderen alten Mennoniten, die eben in den Saal gekommen waren und sie verwundert anstarrten.

»Hallo, Sie sind's, Vater Christel«, rief Fritz beschwingt, »wie Sie sehen, tanzen Susel und ich gerade.«

»Das ist eine sehr große Ehre für uns, Herr Kobus«, antwortete der Bauer lächelnd, »aber kann Susel das denn? Ich habe gedacht, sie hätte niemals auch nur eine Walzerdrehung gemacht.«

»Vater Christel, Susel ist ein Schmetterling, eine wahre kleine Fee. Sie hat Flügel!«

Gutgelaunt sah Christel seine Susel an, die sich mit niedergeschlagenen Augen und roten Wangen an Fritz' Arm festhielt, und fragte:

»Ja Susel, wer hat dir denn das Tanzen beigebracht? Du erstaunst mich!«

»Ich habe hin und wieder mit Majel in der Küche zum Spaß zwei oder drei Drehungen gemacht.«

Die Leute, die sich um sie drängten, lachten, und der andere Mennonit rief:

»Ja, Christel, was glaubst du denn?... Mädchen müssen doch gar nicht erst tanzen lernen... es kommt von allein! Hahaha!«

Fritz wusste nun, dass Susel nie mit jemand außer ihm getanzt hatte, und ihm war, als ob ihm betörende Düfte in die Nase stiegen. Er hätte singen mögen, hielt sich aber zurück.

»Jetzt geht das Fest erst richtig los«, sagte er, »wir kommen gerade in Schwung! Bleiben Sie bitte bei uns, Vater Christel. Hahn und Schulz sind auch hier. Wir tanzen bis zum Abend und essen dann gemeinsam im Goldenen Schaf

»Herr Kobus«, sagte Christel, »bei allem Respekt vor Ihnen, und obwohl ich mich gewiss gut amüsieren würde, wenn ich bliebe – ich kann's nicht annehmen. Ich muss fort... und wollte eben Susel abholen.«

»Susel abholen?«

»Ja, Herr Kobus.«

»Warum denn?«

»Weil zu Hause dringende Arbeit wartet. Die Erntezeit hat begonnen... der Wind kann von einem Tag auf den anderen drehen. Wir haben bereits zwei Erntetage verloren, und das ist viel, obwohl ich mir deswegen keinen Vorwurf mache, denn es steht geschrieben: ›Ehre Vater und Mutter!‹, und es ist nicht übertrieben, wenn man seine Mutter zwei- oder dreimal im Jahr besucht. Doch jetzt müssen wir fort. Übrigens haben Sie mich letzte Woche in Hüneburg derart ausgehalten, dass ich erst gegen zehn Uhr heimgekommen bin. Wenn ich wieder länger ausbleibe, wird meine Frau glauben, dass ich Unsitten annehme, und das würde sie beunruhigen.«

Fritz war fassungslos. Da ihm keine Antwort einfiel, nahm er Christel beim Arm und führte ihn und Susel hinaus. Der andere Mennonit folgte ihnen.

»Vater Christel«, sagte er und hielt ihn an einer Spange seines Kittels, »Sie haben sicher nicht völlig unrecht, soweit es Sie selbst betrifft, aber wozu wollen Sie Susel mitnehmen? Sie können sie doch mir anvertrauen, schließlich hat sie nicht oft Gelegenheit, sich zu amüsieren, zum Teufel!«

»Ach mein Gott, mit Freuden würde ich sie Ihnen anvertrauen!« rief der Bauer und hob die Hände. »Bei Ihnen wäre sie so gut aufgehoben wie bei ihrem eigenen Vater, Herr Kobus. Fehlen würde sie uns aber doch, denn man kann die Arbeiter nicht allein lassen... meine Frau bekocht uns, ich fahre den Wagen... wenn das Wetter umschlägt, wie sollen wir dann die Ernte einbringen? Schließlich ist da noch eine wichtige Familienangelegenheit zu regeln.«

Während er sprach, sah er den anderen Mennoniten an, der ernst mit dem Kopf nickte.

»Herr Kobus, ich bitte Sie, halten Sie uns nicht fest, es wäre wirklich nicht recht, nicht wahr, Susel?«

Susel antwortete nicht, sondern schaute zu Boden, und man sah ihr an, dass sie lieber bleiben wollte.

Fritz sah ein, dass er sich verdächtig machen würde, wenn er weiter insistierte. Daher gab er sich einen Ruck und rief plötzlich heiter:

»Also gut, wenn's nicht geht, dann sprechen wir nicht mehr davon. Sie trinken doch bestimmt noch ein Glas Wein im Goldenen Schaf mit uns?«

»Oh, das kann ich nicht ablehnen, Herr Kobus. Susel und ich werden uns sofort von der Großmutter verabschieden, und in einer Viertelstunde steht mein Wagen vor dem Gasthof.«

»Na, dann los.«

Fritz drückte Susel, die etwas traurig dreinschaute, sanft die Hand, sah ihnen nach, während sie den Platz überquerten, und ging dann ins Frauenzimmer zurück.

Hahn und Schulz hatten ihre Tänzerinnen zu ihren Plätzen geführt und waren wieder auf das Podium gestiegen. Fritz kam dazu.

»Sag Andres, dass er deine Kapelle leiten soll«, sprach er zu Josef, »und komm mit uns auf ein gutes Glas Wein.«

Mehr konnte der Zigeuner nicht verlangen. Andres übernahm das Stehpult, und die vier gingen untergehakt hinaus.

Im Gasthaus zum Goldenen Schaf ließ Kobus in der großen, menschenleeren Gaststube Süßigkeiten auftragen, und Vater Lörich stieg in den Keller hinab, um drei Flaschen Champagner zu holen, die man zum Kühlen in einen Bottich mit Quellwasser legte. Dann gingen alle zu den Fenstern, und alsbald erschien der Wagen des Mennoniten am Ende der Straße. Christel saß vorn und Susel dahinter auf einem Strohbündel, inmitten der Gugelhupfe und Torten aller Art, wie man sie von einem Fest heimbringt.

Als Fritz Susel sah, beeilte er sich, den Draht einer Flasche zu brechen, und während der Wagen eben anhielt, baute er sich vor dem Fenster auf, ließ den Korken wie einen Knallfrosch abgehen und rief dazu:

»Auf die schönste Tänzerin beim Dreierleins

Man kann sich denken, dass Susel glücklich war. Es kam ihr vor, als ob jemand zur Feier ihrer Hochzeit einen Pistolenschuss abgefeuert hätte. Christel lachte aus vollem Herzen dazu und dachte:

»Der gute Herr Kobus! Er ist ein wenig angeheitert, aber auf einem Fest ist das wohl nichts Besonderes.«

Als er in die Stube trat, hob er seinen Filzhut und sagte:

»Das muss Champagner sein, von dem ich oft gehört habe, der Wein aus Frankreich, der diesem kämpferischen Volk zu Kopf steigt und es zum Krieg gegen alle Welt treibt. Oder irre ich mich?«

»Nein, Vater Christel, nein, bitte nehmen Sie Platz«, antwortete Fritz. »Susel, dein Stuhl ist hier, neben mir. Nimm dir ein Glas. – Auf das Wohl meiner Tänzerin!«

Alle klopften auf den Tisch und riefen: »Das soll gelten! Dieser Satz ist im Originaltext – wohl zur Hervorhebung – auf deutsch wiedergegeben: Das soll gülden!«

Sie hoben die Ellenbogen und schnalzten mit den Zungen wie ein Schwarm Drosseln beim Blaubeerenpicken.

Susel tauchte ihre rosa Lippen in den Schaum, hob ihre großen Augen zu Kobus und sagte leise:

»Ach, ist das gut! Das ist kein Wein, es ist viel besser!«

Sie wurde rot wie eine Himbeere, und Fritz freute sich wie ein Schneekönig. Er rückte seinen Stuhl zurecht.

»Hm, hm«, sagte er wichtigtuerisch, »ja, ja, schlecht ist er nicht.«

Alle Weine von Frankreich und Deutschland hätte er hergegeben, um noch einmal Dreierleins tanzen zu dürfen. Wie sich ein Mensch doch in drei Monaten ändern kann!

Christel saß vor dem Fenster und hatte den großen Hut in den Nacken geschoben. Sein Gesicht strahlte, er hatte den Ellenbogen auf den Tisch und die Peitsche zwischen die Beine gestellt, schaute dem herrlichen Sonnenschein zu, dachte an seine Ernte und sagte:

»Ja... ja... das ist ein guter Wein!«

Er achtete nicht auf Kobus und Susel, die sich wortlos und glücklich wie zwei Kinder anlächelten. Nur Josef betrachtete sie nachdenklich.

Schulz füllte die Gläser auf und rief:

»Man kann wohl sagen, dass die Franzosen's gut haben! Schade, dass ihre Champagne, ihr Burgund und das Bordeaux nicht auf dem rechten Rheinufer liegen!«

»Schulz«, sagte Hahn ernst, »du weißt nicht, was du da verlangst. Bedenke bitte, dass die Franzosen kommen und diese Länder nehmen würden, wenn wir sie hätten. Das gäbe aber ein ganz anderes Massaker als wegen der Freiheit und der Gleichheit, es wäre das Ende der Welt! Denn der Wein ist etwas Anständiges, und die Franzosen, die andauernd von großen Prinzipien, erhabenen Gedanken und edlen Gefühlen sprechen, neigen sehr zum Anstand. Die Engländer mögen stets darauf aus sein, die Menschheit zu beschützen, und scheinen sich über ihren Zucker, ihren Pfeffer oder ihre Baumwolle nicht zu ängstigen, die Franzosen aber haben immer eine bestimmte Linie gezogen. Manchmal geht sie zu weit nach rechts, dann wieder zu sehr nach links. Sie nennen das ihre natürlichen Grenzen.

Um die fetten Weiden, Weinberge, Felder und Wälder, die innerhalb dieser Linie liegen, machen sie sich die geringsten Sorgen und wenden nur ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Geometrie darauf an. Doch Gott bewahre, dass wir ein Stück Champagne in Sachsen oder Mecklenburg hätten, denn dann würden ihre natürlichen Grenzen dort hindurchgehen! Lasst uns ihnen lieber ein paar Flaschen Wein abkaufen und unser Gleichgewicht hüten. Das alte Deutschland liebt seine Ruhe und hat daher den Ausgleich erfunden. Im Namen des Himmels, Schulz, bitte keine kühnen Wünsche!«

So sprach Hahn mit Ernst, aber Schulz trank sein Glas ruckartig aus und antwortete:

»Du redest wie ein Pazifist und ich wie ein Krieger. Jeder nach seinem Geschmack und seiner Berufung.«

Er zog die Augenbrauen zusammen, während er eine zweite Flasche öffnete.

Christel, Josef, Fritz und Susel hatten nicht zugehört.

»Ein herrliches Wetter!« rief Christel aus, als ob er zu sich selbst spräche. »Seit einem Monat hat's nicht geregnet, aber jeden Abend gibt's Tau in Fülle. Das ist ein wahrer Segen des Himmels.«

Josef schenkte nach.

»Seit dem Jahr 22«, sagte der alte Bauer weiter, »erinnere ich mich an kein so gutes Erntewetter. Damals war der Wein auch gut, ein milder Wein. Es gab eine volle Ernte und eine gute Weinlese Nach einer Tabelle von Bernadette Burn und Gilles Schmidt: Alsace / clos et grands crus (Paris 1989: Jacques Legrand), S. 174 ff, fiel im Elsass die Weinlese in den Jahren 1822 und 1847 tatsächlich nach Menge und Qualität ausgezeichnet aus. Mindestens ebenso gut und reichlich waren dazwischen allerdings der 1834er und der 1846er.

»Hat's dir gefallen, Susel?« fragte Fritz.

»Oh ja, Herr Kobus«, sagte sie, »ich habe mich nie so amüsiert... ich werde lange an heute denken!«

Sie schaute Fritz in die verwirrten Augen.

»Noch einen Schluck«, sagte er.

Beim Einschenken berührte er ihre Hand, und das ließ sie von Kopf bis Fuß erbeben.

»Magst du den Dreierleins, Susel?«

»Das ist der allerschönste Tanz, Herr Kobus, wie sollte ich ihn nicht mögen! Wenn die Musik so schön ist... ach, was war die Musik schön!«

»Hörst du das, Josef?« flüsterte Fritz.

»Ja, ja, Kobus«, antwortete der Zigeuner leise, »ich hör's und freue mich darüber.«

Er schaute Kobus bis auf den Grund der Seele, und Kobus war sprachlos vor Glück.

Die drei Flaschen waren nun allerdings leer. Fritz drehte sich zum Wirt herum und sagte:

»Vater Lörich, bitte noch zwei!«

Da fuhr Christel hoch und rief:

»Herr Kobus, Herr Kobus, wo denken Sie hin? Ich werde noch den Wagen umwerfen! Nein... nein... es ist schon halb sechs und höchste Zeit für die Heimfahrt.«

»Wie Sie wollen, Vater Christel, dann eben ein andermal. Schmeckt Ihnen der Wein nicht?«

»Im Gegenteil, Herr Kobus, er schmeckt mir ausgezeichnet, aber seine Süße hat's in sich. Ich werde noch den Weg verfehlen, hähähä! – Susel, lass uns gehen!«

Susel stand traurig auf, aber Fritz hielt sie am Arm fest und steckte ihr die Makronen, die Mandeln, einfach alles in die Schürzentasche.

»Oh, Herr Kobus«, sagte sie mit ihrem feinen Stimmchen, »nicht so viel!«

»Beiß nur hinein«, sagte er zu ihr, »du hast schöne Zähne, Susel, die sind für alle die guten Sachen, die der Herr geschaffen hat. Und da dir dieses weiße Weinchen schmeckt, werden wir's später wieder trinken.«

»Oh mein Gott! Woher soll ich's denn nehmen, es ist doch so teuer!« sprach sie.

»Schon gut... schon gut... ich weiß, was ich sage«, flüsterte er, »du wirst sehen, wir trinken's wieder.«

Vater Christel, der etwas besäuselt war, sah ihnen zu und sagte zu sich:

»Was für ein braver Mann, der gute Herr Kobus! Ach, der Herr hat recht, über solchen Leuten seinen Segen zu verbreiten! Er ist wie der Tau vom Himmel, jeder erhält seinen Teil davon.«

Schließlich gingen alle hinaus, voran Fritz mit Susel am Arm. Er sagte:

»Ich muss doch meine Tänzerin heimbringen.«

Beim Wagen fasste er Susel unter die Arme und setzte sie mit dem Ruf »hopp, Susel!« wie eine Feder aufs Stroh, das er um sie herum anhäufte.

»Steck deine Füßchen tief hinein«, sagte er, »abends wird's kühl.«

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern ging zu Christel und schüttelte ihm heftig die Hand.

»Gute Reise, Vater Christel«, sagte er, »gute Fahrt!«

»Viel Vergnügen noch für Sie, meine Herren«, antwortete der alte Bauer und setzte sich auf den Bock.

Susel war blass geworden. Fritz nahm ihre Hand und hob den Finger.

»Wir werden wieder das Weißweinchen trinken!« sagte er. Da lächelte sie.

Christel knallte laut mit der Peitsche, und die Pferde sprangen im Galopp los.

Hahn und Schulz waren ins Gasthaus zurückgegangen. Fritz und Josef sahen von der Türschwelle her dem Wagen nach; vor allem Fritz ließ ihn nicht aus den Augen. Kurz bevor der Wagen um die Ecke der Hauptstraße verschwand, drehte Susel heftig den Kopf zurück.

Da fiel Fritz mit beiden Armen Josef um den Hals, und die Tränen liefen ihm über das Gesicht.

»Ja... ja...« sagte der Zigeuner sanft und tief, »es ist schön, einen alten Freund zu umarmen! Doch diejenige, die man liebt und die einen liebt... ja, Fritz, das ist schon etwas anderes!«

Josef hatte alles erraten! Gern hätte Kobus noch mehr geweint, aber plötzlich hüpfte er auf und nieder und rief:

»Na los, Alter, los, lass uns munter sein... uns amüsieren... Hinein ins Frauenzimmer! Ach, ist die Sonne schön!«

Dem Postillion Zimmer, der mit hochrotem Gesicht im Hoftor stand, gab Kobus zwei Taler und sagte:

»Trinken Sie einen kräftigen Schluck, Zimmer, und feiern Sie anständig mit! Wir fahren nach dem Abendessen heim, gegen neun Uhr.«

»Ist recht, Herr Kobus, der Wagen wird bereitstehen, und dann sausen wir wie der Blitz nach Hause.«

Der alte Postillion sah ihnen nach, wie sie untergehakt davongingen, lächelte gutmütig und ging über die Straße ins Wirtshaus zum Schwarzen Bären.


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