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Viel zu wenig wird nämlich geredet. Es sind ja schwache Anläufe zum Besseren da; aber es fehlt noch viel, daß man befriedigt sein dürfte. Die Verbreitung des Klavierspieles – soviel auch sie noch immer zu wünschen übrig lassen mag – kann immerhin schon als Vorbild dienen. Es gibt doch heutigentages zum Glück kaum noch eine kleine Beamten- oder Handwerkerwohnung, in der nicht mindestens ein Klavier von mindestens drei Personen gespielt würde; aber wie himmelweit sind wir noch davon entfernt, daß jede bessere Familie auch ihren eigenen Redner oder gar ihrer mehrere aufzuweisen hätte?! Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, warum eigentlich in unseren Parlamenten, Gerichten, Volksversammlungen, Vereinssitzungen, bei Festakten und Festmählern so bitter wenig geredet werde, und bin zu merkwürdigen Vermutungen gelangt. Da gibt es z. B. Leute, die sich allen Ernstes fürchten, Unsinn zu reden. Ich gebe zu: Die Befürchtung, Unsinn zu schreiben, hat eine gewisse Berechtigung; denn was man schreibt, das bleibt und kann allenfalls durch Pedanten einer genaueren Prüfung unterzogen werden; das gesprochene Wort aber fließt, wofern der Redner nur mit der erforderlichen Geschwindigkeit spricht, so rasch vorüber, daß der Hörer in den seltensten Fällen etwas merkt und eher glaubt, er habe nicht recht gehört, als daß der mutige Redner etwas Törichtes gesprochen habe. Und sollte ihm wirklich ein Unsinn unterlaufen, und sollte dieser Unsinn zufällig bemerkt werden, so darf der Sprecher nur nicht den – leider allzuhäufigen – Fehler begehen, daß er zu kurz redet. Eine Parlamentsrede von fünf, eine Festrede von drei Stunden – bei Trinksprüchen nach der Suppe kann man sich auf eine Stunde beschränken – wird so gut wie immer auch etwas enthalten, was kein Unsinn ist. Und was heißt schließlich Unsinn! Wenn man einen Unsinn mit ernster oder, noch besser, mit finsterer Miene vorträgt, so ist es noch sehr die Frage, ob er nicht ein Tiefsinn ist. Wir haben eine ganze Literatur, die von diesem Zweifel lebt.
Sodann fand ich Leute, die sich scheuten, Gemeinplätze und Trivialitäten zu reden, Gedanken vorzutragen, die schon hunderttausend andere millionenmal zum Ausdruck gebracht hätten – eine Befürchtung, die mindestens so unangebracht ist wie jene erste. Schon Mephisto hat, um solche zaghaften Redner zu ermutigen, die Worte gebraucht:
»Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht!«
Also neues kann man doch nicht denken – da macht es denn auch nichts aus, ob ein Gedanke etwas älter oder jünger ist. Vielmehr: es ist ein Vorteil für den Redner, wenn der Gedanke recht alt ist, weil sich dann der uralte Herr Schulze sagen kann: Ganz meine Meinung. Überdies: wenn der Redner einen Gedanken, sagen wir: von Lessing, wiederholt, so darf er doch fast immer gewiß sein, daß er in der Form von Lessing abweichen wird, ja, vielleicht so sehr von ihm abweichen wird, daß der Hörer den alten Gedanken gar nicht wiedererkennt. Und endlich: ein Gedanke mag noch so oft ausgesprochen und gedruckt sein – es gibt immer noch Leute, die nichts von ihm vernommen haben. Man kennt doch die Geschichte von dem Seemann, der, von langer Reise heimgekehrt, einem Juden begegnete und ihn schalt, weil die Juden Jesum Christum gekreuzigt hätten. »Aber das ist doch schon so lange her!« rief der Jude. »Ja,« versetzte jener, »ich habe es aber erst heute gehört, als ich an Land kam!«
Genau so geht es mit vielen, vielen Gedanken. Also die Angst, man könnte die Gedanken anderer wiederholen, braucht wahrhaftig keinen vom Reden abzuhalten; die Zuhörer werden nicht alle.
Es gibt aber sogar verschrobene Käuze, die eine Heidenangst davor haben, daß sie sich selbst wiederholen könnten! Sie meinen, wenn ein Gedanke einmal ausgegeben sei, so dürfe er wenigstens in derselben Rede nicht wiederkehren, es sei denn etwa als Refrain, als ceterum censeo, zu dem andere Gedankenreihen immer wieder hinführen. Nichts ist törichter als eine solche Meinung. Das gerade Gegenteil ist richtig. Empfindet man es schon in einem Buche als eine Aufdringlichkeit des Verfassers, wenn er in jedem Satze etwas anderes sagt, so wirkt dergleichen Völlerei in einer Rede vollends peinlich und verstimmend. Eine gute Rede muß sein wie eines jener großen, vielgängigen Diners, die ein mir bekannter Sonderling zuweilen gibt und deren sämtliche Gänge aus demselben Stoffe bereitet sind, z. B. aus Schweinefleisch oder (für Vegetarier) aus Kartoffeln. Dieselbe Idee muß in immer wechselnder Zubereitung immer wiederkehren. Decies repetita placebit, zehnmal wiederholt, wird sie gefallen, sagt Horaz.
Ein Redner, der das begriffen hat, wird etwa so sprechen: »Einigkeit, meine Herren, macht stark; Uneinigkeit dagegen macht schwach. Wo man sich einig ist, da wird man siegen, wo Zwietracht herrscht, muß man unterliegen. (Bravo!) Wo zweie sich in den Haaren liegen, meine Herren, da freut sich der dritte, das ist ja ganz klar; wo aber zwei zusammenhalten, da sind sie gegen jeden Feind gewappnet. (Sehr richtig!) Es ist bekanntlich eine Kleinigkeit, einen einzelnen Stab zu zerbrechen; binden Sie aber einmal viele Stäbe zusammen, dann kann der größte Riese kommen, er wird seine Kraft vergeblich aufwenden, das liegt auf der Hand. (Sehr gut!) Wo Eintracht die Menschen verbindet, da können sie jeder drohenden Gefahr mit Ruhe ins Antlitz schauen; wo aber Zank und Hader Platz greifen, da müssen sie früher oder später jedem Angreifer zum Opfer fallen, das sieht ein Kind ein. Friede, meine Herren, ernährt; Unfriede hingegen, meine Herren, verzehrt!« (Stürmischer, minutenlanger Beifall. ) Usw. Ich kannte einen Professor, der viele Stunden lang so konnte, und den viele als einen wundervollen Redner mit Recht bewunderten. Er starb an allgemeiner Lähmung der Schließmuskeln.
Man beachte in dem Musterbeispiel, das ich soeben gegeben habe, u.a. den letzten Satz. Der talentlose Sprecher würde sagen: »Unfriede verzehrt!« Punktum. Der gottbegnadete Redner aber sagt: »Unfriede hingegen, meine Herren, verzehrt.« Damit ist der Satz ohne Mühe und Unkosten um 150 Prozent verlängert. Der Anfänger sagt vielleicht: »Das ist möglich«, oder »Das kann sein«; der »große Orator« (wie einmal ein politischer Redner genannt wurde) wird sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, zu sagen: »Das, meine sehr geehrten Herren – ich will es gern zugeben – kann jawohl allenfalls vielleicht möglich sein«, und hat damit den Satz nicht nur um genau 800 Prozent verlängert, sondern auch das, was er sagen wollte, gleich fünfmal gesagt!
Man denke sich auch den Fall (der doch gar nicht so selten ist), daß der Redner nur einen Gedanken hat: soll er da etwa aufstehen und sagen: »Einigkeit macht stark, meine Herren!« und sich wieder hinsetzen? Die Leute würden ihn mit Recht auslachen. »Welch ein Tölpel!« würden sie rufen, »welch ein Dummkopf! Und der will in den Landtag!«
Es ist mit dem Gedanken wie mit dem Hering: wo er sich zu häufig macht, wird er nicht geschätzt. Timon von Athen verfiel in Elend und Raserei, weil er seinen Reichtum unsinnig verschwendet hatte. Ein Timon des Gedankens erleidet dasselbe Schicksal.
Die lächerlichste aller Ängste unerfahrener, lampenfiebernder Redner aber fand ich bei Leuten, die – man sollte es nicht glauben – sich einbildeten, sie dürften nicht aus der Konstruktion fallen, dürften keine »unlogischen«, »unschönen« Satzgebilde formen, müßten sich vor Pleonasmen, Tautologien, Widersprüchen im Beiwort, Synonymenhäufung usw. usw. hüten. Gewiß: wenn jemand sagt: »Wir müssen den Strom der Zeit bei der Stirnlocke fassen«, oder wenn er seinem Gegner »bodenlose Oberflächlichkeit« vorwirft, oder wenn ein moderner Schriftsteller behauptet: »Schillers Hand hielt bis zu seinem Tode des Lichtes Himmelsfackel in der Hand«, so ist ja nicht ausgeschlossen, daß es jemand merke, aber von Tausenden noch keine zwei!
Es gibt ja Sonderlinge, die die Meinung verbreiten möchten, die Sprache sei ein mindestens so edles Material wie der Marmor und bedürfe zu ihrer Formung genau so sehr der Meisterhand wie jener, und ihre vollendeten Gebilde seien ebensowohl Kunstwerke wie die Venus von Milo und was dergleichen Verstiegenheiten mehr sind, die nur dazu führen, dem Versammlungs- und Tafelredner das Leben schwer zu machen. Solche Phantasten wollen in einer Rede Rhythmus, Melodie, Architektur, Unterschiede der Dynamik, der Schattierungen wahrnehmen – verrückt! Dergleichen Forderungen mögen ja in der Poesie eine gewisse Berechtigung haben – in der Prosa gilt Freiheit und Gleichheit zwischen Cäsar und Piepenbrink. Kaum sind wir froh, daß uns in der Prosa Reim und Metrum nichts zu befehlen haben, so kommen Schulfüchse daher, um uns alle erdenklichen Schwierigkeiten zu machen! Warum heißt denn die Prosa »ungebundene Rede«, wenn man sich in ihr nicht räkeln soll? »Werden Sie Redner!« das ist der Imperativ, dem wir folgen sollen; alles andere ist unwesentlich.
Ist doch sogar schon im schriftlichen Gebrauch unserer Muttersprache eine herzerquickende Ungeniertheit zum Durchbruch gekommen! »Der Garten der Villa Carlotta ist eins der schönsten, die man sehen kann« – »Caruso ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Sänger, den wir haben« – »Die Lage Konstantinopels dürfte schwerlich irgendwo in der Welt seinesgleichen haben« – solche Dinge kann man jetzt schon fast täglich lesen. Auch dem albernen Genitiv-s geht es endlich energisch zu Leibe. »Des Conventgarten«, »des Oratorium«, »des Theater«, »des Ausschuß«, das ist schon erreicht; nun wird man auch bald »des Klavier«, »des Fenster« und »des Deutschverderber« sagen. Nur keine falsche Scham bitte; die deutsche Sprache ist keine juristische Person, die klagen könnte.
Nun sollte man meinen, daß wenigstens ich diesem Imperativ immer fleißig gehorsamt hätte und ein »fortlaufender Redner« sei. Weit davon entfernt! Man spricht am meisten von den Idealen, die man nicht erreicht hat und nie erreichen wird, und in der Tat bin ich im Reden einer der größten Feiglinge der Welt. Von Reden, die ich überhaupt gehalten habe, waren 99 Prozent vorher sorgfältigst vorbereitet; wenn ich einmal unvorbereitet sprechen muß, so bin ich krank zum Sterben und denke in einem fort: Wie hübsch wär es, wenn jetzt ein Erdbeben käme! Wenn ich toasten soll, »maikäfere« ich von der Vorspeise bis zum Nachtisch, werfe zwei Gabeln und drei Messer auf den Fußboden, zertrampele meine Serviette, stoße meine Nachbarinnen mit dem Ellbogen, daß sie erschrocken aufschreien, und wenn ich dann endlich ans Glas schlagen will, wird die Tafel aufgehoben. Wenn ich vor Gericht einen Streit habe, sage ich mir: Wozu willst du reden? Was du sagen willst, das sagt sich der Richter, der doch ein intelligenter und gebildeter Mann ist, schon selbst, oder: das ist so selbstverständlich, daß es dein Anwalt natürlich vorbringt, du willst doch das Gericht nicht durch Banalitäten ermüden – aber merkwürdig: sie sagen es sich nicht, und sie bringen es nicht vor; diese Richter und Anwälte sind wie der liebe Gott, der von sich sagt: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. Sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Gedanken höher denn eure Gedanken und meine Wege denn eure Wege.« Und dann verliere ich den Prozeß.
Ein wahrer lepus timidus aber bin ich in Vortragsversammlungen mit anschließender Diskussion. Da hat z. B. ein Mann, der auf seinem Gebiet zu Hause ist, nach sorgfältiger Vorbereitung einen ausgezeichneten Vortrag gehalten – was läge näher als der Wunsch, zu zeigen, daß man auch über denselben Gegenstand mitreden könne? Aber nein: wenn ich an dem Vortrag nichts Wesentliches zu ergänzen oder zu widerlegen habe und mein Gewissen mich nicht geradezu zwingt, das Wort zu ergreifen, dann sitze ich da wie Trumpf-Sechs. Mit welcher Frische besteigen dagegen beherzte Männer und in neuerer Zeit auch Frauen in unabsehbarer Reihe das Rednerpult und widerlegen den Vortragenden, indem sie seine Ausführungen wiederholen, oder stellen sich mutig auf seine Seite, indem sie das Gegenteil von dem sagen, was er gesagt hat, oder wenn der Vortragende über antike Plastik gesprochen hat, so tritt ein einfacher Lohgerber auf und beweist, daß wir es niemals zu einer antiken Plastik bringen werden, solange der Impfzwang nicht aufgehoben ist usw. Immer häufiger liest man jetzt in den Zeitungen: »Die Diskussion dehnte sich bis weit über die Mitternachtstunde aus«, und dann lacht mir jedesmal das Herz. Es ist doch wenigstens ein Anfang.
So las ich denn auch vor kurzem mit lebhafter Genugtuung in einer großen Zeitung von einem Schiff, das eine Einweihungs- und Eröffnungsfahrt auf einem neuen Kanal gemacht hatte und erst lange nach der festgesetzten Zeit anlegen konnte, weil die an Bord gehaltenen Tischreden nicht früher beendigt waren. Ein sehr intimer Bekannter von mir meinte dazu, daraus ersehe man wieder einmal, daß die Zahl der Rettungsboote gar nicht groß genug sein könne. Ich denke, dergleichen frivole Witzeleien richten sich selbst. Wir wollen uns freuen, wenn bei der Einweihung des Panamakanals in entsprechendem Maße geredet wird, und sollte sich die Freigabe dieses neuen Verkehrsweges für die allgemeine Schiffahrt wirklich um einige Monate verzögern! Und wenn Kanäle keinen genügenden Raum für die Entfaltung unseres Bedürfnisses bieten – wozu haben wir die fünf großen Weltmeere?! Zum Seefahren? Lächerlich. Verba facere necesse est, navigare non necesse est. Reden ist die Hauptsache; Seefahren ist Blech.