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Sehr geehrter Herr Kollege!
Sie wünschen von mir, daß ich aus den Erlebnissen und Erfahrungen meiner Vortragsreisen berichte. Es soll geschehen, obwohl ich mir die Schwierigkeiten der Aufgabe nicht verhehle. Die Schwierigkeit ist immer da: Ist man ein Stümper, so ist für das genügende Quantum Lächerlichkeit von vornherein gesorgt; ist man ein Könner, so ist es fast unmöglich, den Schein der Prahlerei zu vermeiden. Man möchte nicht in den Komödianten- und Virtuosenton verfallen: »Die Leute waren ja rein aus dem Häuschen, als ich gesungen hatte!«, und doch ist es, auch bei der größten kollegialen Rücksicht, nicht immer möglich, den Eindruck zu vermeiden, daß man Erfolge gehabt habe. Übrigens ist ja begründete Ruhmredigkeit immer noch verzeihlicher als verlogene Bescheidenheit, die aus tausend wohlangebrachten Schlitzen den roten Samt der Eitelkeit hervorlugen läßt. »Aus den Löchern deines Mantels schaut deine Eitelkeit hervor,« sagte Sokrates zum Antisthenes. Versuchen wir also, »stolzbescheiden« zu sein wie Nathan der Weise.
Wie bin ich eigentlich dazu gekommen, durch die Lande zu reisen und vor den Leuten zu reden? Ich muß schon sagen: wie das Mädel zum Kind, d. h. nicht wie irgendein beliebiges Mädel, sondern etwa wie Goethes Gretchen, will sagen: in aller Unschuld. Man hat es mir nicht an der Wiege gesungen, daß ich einmal dergleichen tun würde. Meine Eltern haben mich auch nicht Besuchern vorgeführt mit dem Bemerken: »Er muß Ihnen mal ein Gedicht aufsagen; er trägt so reizend vor!« – o nein! So war man bei uns nicht.
»O sag, woher kommt Liebe?
Sie kommt nicht, sie ist da« –
So ist es wohl auch mit aller Kunst. Sie kommt nicht, sie ist da.
Ein braver Mann, der mir als 15jährigem Buben aus reiner Menschenfreundlichkeit Privatstunden gab, ließ mich eines Tages die ersten Szenen der »Räuber« lesen.
»Warum mir gerade dieses Mohrenmaul, diese Hottentottenaugen?!« zischte ich. »Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin!« pfauchte ich, usw.
Als ich wieder vom Buche aufblickte, machte mein lieber Schulmeister die allergrößten Augen. Er hat es mir später erklärt: er hatte sich gewundert, wie aus diesem schüchternen Dreikäsehoch, der vor Verlegenheit immer nicht wußte, wohin er seine Mütze legen sollte, und darum sich draufsetzte, plötzlich ein so ausgewachsener Galgenstrick wie dieser Franz hervorkroch. Er hatte damals besorgt gemeint, ich hätte mich wohl sehr aufgeregt. Davon war mir nichts bewußt. Ich hatte gelesen, wie ein Nachtwandler wandelt. Ich wußte nur: dieser Franz ist ein Schurke. Und einen Schurken muß man wie einen Schurken lesen, das ist doch klar.
Als Sechzehnjähriger besuchte ich das Präparandeum in Hamburg. Einmal, in der Literatur-Stunde, kam der Direktor herein, der gefürchtete und dennoch geliebte Direktor, und wollte sich den Unterricht anhören. Der Mann sah immer aus wie ein kampfgerüsteter Igel, in einem Kranz von Stacheldraht serviert; aber er hielt zum Recht nach oben und nach unten; darum liebten wir ihn. Der Lehrer rief mich auf und wünschte, daß ich den »Erlkönig« vortrüge. Ich tat es, wie ich's gewohnt war, und als der Direktor gegangen und die Stunde zuende war, meinte einer meiner Mitschüler:
»Na, von heut an hast du aber einen Stein im Brett beim Direktor.«
»Wieso?« fragte ich verständnislos.
»Na – dein ›Erlkönig‹?!« rief er.
Er hatte offenbar etwas Besonderes in meinem Vortrag gefunden; ich kann noch heute schwören, daß mir davon nichts bewußt war. Immerhin ist es möglich, daß ich in meinem rasenden Lampenfieber den sterbenden Knaben ziemlich echt gesprochen habe, da sozusagen mein Lehrer der Vater, der Direktor der Erlkönig und ich das ächzende Kind war.
Ich war also entdeckt wie die Insel Guanahani, die auch nicht ahnte, daß sie für Columbus irgendwelches Interesse habe. Und jener Mitschüler stand offenbar nicht allein; denn als die nächste Klassenkneipe vorbereitet wurde, eine Sache, auf die wir uns immer gewissenhaft vorbereiteten, während wir uns auf unsere Stunden zwar auch gewissenhaft vorbereiteten, aber nicht immer – trat der Präside an mich heran mit dem Ersuchen, den Abend durch einen Vortrag zu »verschönen«. Ich war mir auch dann noch nicht bewußt, daß eine Verschönerung dabei herauskommen müsse; aber nach jungfräulich-verschämtem Zaudern sagte ich zu. Das ist für einen so norddeutschen Menschen wie mich ein großer Entschluß. Ich habe unzählige Norddeutsche kennen gelernt, die durch keine Macht der Erde, ja: »nicht ums Verrecken«, wie man zu sagen pflegt, dazu zu bewegen sein würden, aus der Reihe hervorzutreten und »etwas vorzutragen«. Sie erblicken darin, auch wenn andere es tun, eine Art Schamlosigkeit; ein Mädchen vollends, das sich sprechend oder singend vor andern produziert, gilt ihnen für annähernd entjungfert. Das ist natürlich haarsträubend spießig; aber es ist mir immer noch erfreulicher als die Schamlosigkeit der Talentlosen, wie denn übertriebene Schamhaftigkeit immer noch viel besser ist als Frechheit. (Fingerzeig für Zeitgenossen!) In dem Lampenfieber, das gerade die besten und tiefsten Künstler niemals ganz verläßt, ist wohl immer auch ein gut Teil solcher Scham verborgen. Ich machte mich zuhause über die Faustmonologe her, und während ich sie mir laut sprechend einprägte, schien es mir plötzlich, als wenn das gut klänge. Ich entdeckte mich selbst, wenigstens meine Stimme; ich hörte zum ersten Mal meine Stimme. War somit von meiner Künstlerseele die äußerste Hülle kindlicher Unbewußtheit abgestreift, so kann ich doch zwingende Beweise für meine künstlerische Unschuld vorbringen. Ich hielt es nämlich für undenkbar, daß man den zweiten Faustmonolog ohne Requisiten sprechen könne. Diese Requisiten bestanden in einem schalenförmigen Weinglas und einer kleinen Karaffe mit Bier. Wenn nun die Stelle kam:
»Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht!
Mit brauner Flut erfüllt er deine Höhle;
Den ich bereitet, den ich wähle,
Der letzte Trunk sei nun mit ganzer Seele
Als festlich hoher Gruß dem Morgen zugebracht!«
dann führte ich die »kristallne reine« Bierschale zum Munde und zog sie erstaunt und erschüttert zurück, wenn ich angeblich ein »tiefes Summen« und einen »hellen Ton« vernahm. Und es spricht gewiß für die Lauterkeit der Kunstbegeisterung bei meinen Genossen und bei mir, daß keiner von uns die außerordentliche Komik dieser Situation empfand. Wenigstens ich nicht. Und hörbar oder sichtbar hat auch keiner von den andern gelacht.
Sonst kommt es zuweilen vor, daß Zuhörer lachen, wenn es dem Vortragenden bitter ernst ist. Die kleinen Mädchen sind darin bekanntlich am tüchtigsten. Sie machen sich keine Sorgen, weder um das europäische Gleichgewicht noch um das Problem der Willensfreiheit noch um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Ich habe sie kichern sehen, während Josef Kainz den Fluch der Erinnyen in Schillers »Kranichen« sprach. Sie meinen es gewöhnlich nicht böse. Oft handelt es sich um eine Überspannung der Nerven, die dann auf den geringsten Anstoß reagieren. Und wehe, wenn solch ein Anstoß erfolgt! Die Pest ist minder ansteckend als solch ein Lachen. Es ergreift die Ernstesten wider ihren Willen wie eine nervöse Epidemie. Es kommt vor, daß ernsteste Menschen bei Begräbnissen ohne merkbaren Anlaß plötzlich lachen müssen, auch wenn sich durchaus nichts Lächerliches begibt. Dies Lachen ist dann ein verkehrtes Schluchzen.
Ganz echt, bewußt und intrigant ist die Munterkeit der kleinen Mädchen aber dann, wenn sie nachher tanzen wollen. Kein Kainz und kein Possart, kein Schillerscher oder Goethescher Rhythmus vermag den Rhythmus der weißbestrumpften Füßchen aufzuheben. Seitdem ich in der Lage war, mir mein Publikum auszusuchen, habe ich es standhaft abgelehnt, für Leute »mit nachfolgendem Ball« zu lesen. Selbst wenn zufällig lauter wohlerzogene Damen anwesend sein sollten: innerlich zucken die Füße doch, und in den Köpfen kreist es:
»Und schauerlich gedreht im Kreise,
Hopsasa tralala
Beginnen Sie des Hymnus Weise
Heidideldum dallala ...«
und Hebbels Holofernes gaukelt durch ihren Sinn als flotter Tänzer.
Vor solch einem Publikum sollt' ich einmal in jungen Tagen Chamissos »Salas y Gomez« vortragen, weil der Ruf von dieser meiner Leistung seltsamerweise auch in diese Kreise gedrungen war. Ich erkannte sehr bald, daß es vollkommen aussichtslos war, die jungen Leute, insonderheit die Damen, für einen armen Schiffbrüchigen zu erwärmen, der nicht tanzte. Chamissosche Terzinen vor diesem Publikum sprechen, das hieß Diamanten vor die Schäfchen werfen. Bekanntlich hat der Verschlagene die Qualen seiner mehr als 50jährigen Einsamkeit in drei Schiefertafeln gegraben, die man nach seinem Tode bei ihm findet. Ich zog also diese drei Tafeln in eine zusammen, kürzte solchermaßen die Leiden des unglückseligsten aller Robinsone auf ein Drittel und erlöste ihn durch einen frühen Tod. Woher ich damals die Frechheit genommen, weiß ich noch heute nicht; die Verzweiflung eines Künstlerherzens oder ein tiefes Mitleid mit Chamisso muß sie mir eingegeben haben; noch heute, wenn ich daran denke, werde ich schamrot und komme auf den Gedanken, Regisseur zu werden. Gleichwohl liegt zur Reue kein eigentlicher Grund vor; die Tänzerinnen und Tänzer haben damals lebhaft geklatscht, weil es schon aus war, und gemerkt hat keiner etwas, eine einzige Dame ausgenommen, mit der ich zum Glück verlobt war.
Trotzdem habe ich dergleichen »Sprünge« nicht wieder gemacht, vielmehr, wenn ich so etwas wie ein fühlloses oder widerstrebendes Publikum fühlte, mit ihm gerungen nach der Weise Jakobs auf der Stätte Pniel:»Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Manchmal ist mir dies auch gelungen, mitunter auch nicht.
Der Inhaber eines großen Varietés, der auf Grund irgend einer Verordnung Theodorichs des Großen in der Zeit vor Weihnachten nicht spielen durfte, kam auf den rührenden Einfall, mich zu einer Vorlesung einzuladen. Ich nahm an; der Mann mußte ja sein Publikum kennen. Beim ersten Blick ins Auditorium wußte ich bescheid; die Sachlage war sehr schwierig. Ich erschien nicht im Trikot; kolossale Muskelballen habe ich auch nicht; ich warf mein Buch nicht in die Luft und fing es nicht mit der Nase auf; ich trug keine gewürfelte Hose und keinen gestreiften Zylinder, und für einen Damenkomiker habe ich eine zu tiefe Stimme und kein passendes Korsett. Was tun? Die Leute saßen da, sahen einen grünen Tisch, einen Mann im Frack und dachten: Was will denn der? Daß ich deutsche Dichtung vorlesen wolle, darauf konnten sie doch unmöglich verfallen...
Keiner unterschätze oder überschätze die Gefühle eines Vorlesers in solcher Lage. Für einen Tenor liegt die Sache anders; ein Tenor nimmt es mit jedem Akrobaten auf. Aber ein Dichter? Wenn man für gewöhnlich mit 39 Grad Fieber vor die Lampen tritt und einem diese Lampen viel zu hell scheinen, so ist es in solchem Falle, als brennten sie alle trübe und blakten. Eine Parabel erzählt von einem frommen Manne, der in die Wüste ging und den Steinen das Evangelium predigte und es erreichte, daß sie schließlich »Amen« sprachen. Das muß ihm nicht leicht geworden sein. Ich las eine Viertelstunde lang ohne sichtbaren, hörbaren oder fühlbaren Erfolg. Ein Mann, der heftig zu klatschen begann, stellte, erschreckt durch das schaurige Echo der Einsamkeit, seine Arbeit wieder ein. Ich las eine weitere Viertelstunde mit demselben »Erfolg«. Natürlich liest man in solchem Falle nicht unbefangen; denn vor jedem Satze denkt man: Paß auf, das verstehen sie auch wieder nicht! – Paß auf, das macht schon wieder keinen Eindruck! – Indessen ich biß die Zähne zusammen und konzentrierte mich. Und siehe da – obwohl ich keine »Konzessionen« las, im Gegenteil –: die Lampen wurden mählich heller; der Saal wurde wärmer: ich fand in der Menge immer mehr lebendige Augenpaare, und schließlich muß ich so steinerweichend gelesen haben, daß sie Amen riefen und klatschten und mehr verlangten. Hier war's also geglückt. An solchen Abenden streckt man sich natürlich in seinem Bette mit stark erwärmtem Selbstgefühl.
In einem andern Falle hatte mich ein schwerreicher Verein von schwerreichen Industriellen nach einer schwerreichen Fabrikstadt im Osten geladen. Auch hier hatte ich, ehe ich ein Wort gesprochen hatte, das Gefühl, ohne Schlüssel und Dietrich, ohne jegliches Einbruchsmaterial vor einem diebes- und feuerfesten Geldschrank zu stehen. In Räders prächtiger Posse »Robert und Bertram« kommt ein Bankier Ippelmeyer vor, der einmal entrüstet ausruft: »Beweisen? Beweisen? Sie woll'n mir was beweisen? Mir will er was beweisen! Dem reichen Ippelmeyer will er was beweisen!« Dieser Mann ist also so reich, daß man ihm nichts beweisen kann, auch den pythagoreischen Lehrsatz nicht. So reich waren diese meine Zuhörer auch, noch reicher. Sie waren so »blödsinnig begütert«, daß man sie nicht rühren und nicht erheitern konnte. Wenn in dem, was ich vorlas, etwas von »Banausen« oder »Spießern« oder »Kaffern« vorkam, so sprach ich das mit besonders kräftiger Betonung und mit einem leuchtenden Rundblick übers Publikum; aber das verstanden sie auch nicht. Der Vorstand versicherte mir zwar am Schluß mit Entschiedenheit, es sei sehr schön gewesen; aber er hat mich nicht überzeugt.
Ja, ja, das Publikum! Und nun, glauben Sie, mein Verehrter, werde eine lange oder doch laute Scheltrede gegen das Publikum folgen. Ganz im Gegenteil. Wenn das Publikum an mir so viel Freude erlebt hat, wie ich an ihm, dann können wir beide mehr als zufrieden sein. Ja, wenn das Publikum nichts anderes wäre als eine bloße Ansammlung der Müller, Meyer Schulze und Lehmann, dann stünd' es übel drum; denn wir einzelnen Meyer Müller, Schmidt usw. sind allerdings eine traurige Sorte. Aber Sie kennen doch Schwefel, nicht wahr? Und Sie kennen Quecksilber, nicht wahr? Nun, verbinden Sie die beiden chemisch miteinander, und es entsteht Zinnober, ein Körper mit ganz anderen Eigenschaften als Schwefel oder Quecksilber. Tun Sie Müller und Meyer zusammen, und es entsteht ein Zinnober, genannt Publikum. Es entsteht eine Masse, die dümmer ist als das Vieh und gescheit bis zur Genialität. Ja, ein Beweis dafür, daß das Publikum eine chemische Verbindung von ihr selbst verschiedener Elemente ist, ist darin gegeben, daß jede andere Ansammlung eine andere Verbindung darstellt, daß das Publikum von heute niemals das von gestern oder morgen ist. Jeder Bühnenkünstler weiß das; es müßte ihm ganz unerträglich sein, dieselbe Rolle fünfzigmal zu spielen, wenn er sie nicht jedesmal auf einem anderen Instrument, mit anderer Resonanz spielte. Die Auditorien von hundert Abenden und in hundert Städten haben eine Reihe gemeinsamer Züge: sicherlich. Und doch gibt es hier eine eigentümliche Erfahrung, die keinem vielbewanderten Vortragskünstler fremd ist. Jeder Künstler dieser Art hat in seinem Vortragsschatze Stücke und in diesen Stücken Stellen, von denen er sich sagt: »Das zündet überall; das wirkt auf jedes Publikum.« Es wirkt auch 99mal; aber eines Tages, an einem hundertsten Abend, in einer hundertsten Stadt geht die Kraft- und Glanzstelle ohne spürbare Wirkung vorüber! Und doch braucht es sich keineswegs um ein stumpfes Publikum zu handeln; denn plötzlich reagiert dieses selbe Publikum lebhaft auf eine andere Stelle, auf ein anderes Werk, das anderswo nicht erfaßt wurde. Da haben wir sozusagen den mathematischen Beweis dafür, daß jedes Publikum ein Individuum ist.
Wie vor ein Individuum bin ich denn auch vor jedes Publikum hingetreten, und nie habe ich mich als ein Grammophon mit Platten aufgefaßt, die man auflegt und sich abdrehen läßt. Ich habe meine Vortragsstoffe deshalb, von meinen früheren Versuchen abgesehen, niemals auswendig gelernt, obwohl es mir ein Leichtes gewesen wäre. Was man auswendig gelernt hat, mechanisiert sich, nicht nur im Hirn, sondern auch im Herzen. Musik haftet außerordentlich leicht in meinem Gedächtnis; aber ich sträube mich mit aller Gewalt dagegen, den »Figaro«, den »Fidelio«, den »Don Juan«, die Symphonien Beethovens, die Matthäus-Passion und dergl. Herrlichkeiten auswendig zu lernen; ich will jedesmal wieder, wenn ich sie höre, von ihren Schönheiten überrascht, hinterrücks überfallen, überwältigt werden. So will ich jedesmal wieder selbst erleben, was ich lese. Die Gedächtnis-Akrobatik der langen Rezitationen »frei aus dem Gedächtnis« ist für mich als Zuhörer jedesmal eine Angstsache; unaufhörlich muß ich denken: »Jetzt bleibt er hängen« – denn auch das beste Gedächtnis hat seine Tücken – und dann ist von Genuß natürlich nicht mehr die Rede.
Wenn man solchermaßen jede Leistung als eine neue Geburt auffaßt, dann entsteht aus dieser Auffassung und einer gewissen Gewissenhaftigkeit jenes ein bißl sehr anstrengende Gefühl des Lampenfiebers. Es ist aber wohl zu bedenken, daß dieses Gefühl sehr oft noch durch äußere Schwierigkeiten kompliziert wird. Es braucht nicht gerade ein wackelnder Zahn zu sein, wie er Liliencron peinigte. »Ich habe,« erzählte er mir, »hier vorn einen künstlichen Zahn, der natürlich nicht festsitzt; wenn ich nun vorlese, z. B. »Teure Thinka!« dann habe ich immer eine Höllenangst, daß der Zahn hinausspringt und mit Donnergepolter ins Publikum kollert!« Es braucht, wie gesagt, nicht das zu sein; ein wackelndes Pult, auf dem man bei jeder stärkeren Erregung Schaukelbewegungen macht, genügt vollkommen, um das Lampenfieber mit Seekrankheit zu komplizieren, und ein Pult, das man nicht vorher untersucht hat, wackelt gewiß.
Das Trinkwasser, das man bestellt hat, fehlt in der Regel; aber es kommt! Spät kommt es; doch es kommt. Mitten im schwierigsten lyrischen Gedicht kommt es, von einem Saaldiener mit klirrender Behutsamkeit durch die ganze Länge des Saales getragen, und mit dem Ausdruck pflichtbewußter Tüchtigkeit stellt er es Ihnen vor die Nase. Wenn er sehr tüchtig ist, bringt er Selterwasser, entstöpselt es vor aller Ohren und löst die Spannung der glücklich vereinten Nerven durch einen kräftigen Knall.
Unsere Vortragssäle sind in der Regel so eingerichtet, daß es überall hell ist, nur nicht am Pult des Vorlesers. Aber der wahre Teufel der Finsternis sitzt in den Bogenlampen. Sie lesen:
»Ach, aus dieses Tales Gründen,
Die der kalte Nebel drückt,
Könnt ich ...«
Die Bogenlampe erlischt.
»Könnt ich doch den Ausgang finden,
Ach wie fühlt' ich ...«
S–s–s–s–s–s–bumm! Die Lampe glüht wieder.
»Ach wie fühlt' ich mich beglückt!
Dort erblick ich schöne Hügel ...«
Die Lampe geht wieder aus.
»Ewig jung und ewig grün!
Hätt' ich Schwingen, hätt' ich Flügel,
Nach den Hügeln zög ich hin.
Harmonien hör ich klingen ...«
Siiiiiiii – pst pst pst – ks ks ks – puff! Jetzt brennt sie wieder. Das macht Stimmung.
Mit manchen Vortragslokalen ist hinterrücks eine Kegelbahn verbunden. Der Wirt kann keine Rücksicht auf Sophokles nehmen; er muß seine Kegelbahn vermieten. Sie sprechen die namenlosen Qualen des Gatten und Sohnes der Jokaste, und dazwischen hören Sie alle Neune fallen. Auch Tanzlokalitäten schmiegen sich gern an Vortragsräume. Sie sprechen den Fluch des alten Lear, und aus der Nachbarschaft tönt – nicht einmal übermäßig zurückhaltend – der Walzer:
»Nur die Ruhe kann es machen!«
Ich hörte einmal Emanuel Reicher Gedichte von Hölderlin sprechen. Es war mitten im steinigsten Hamburg, wo man gewiß keinen Hühnerhof vermuten konnte. Aber als Reicher begann:
»Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!''
da schrie ein Hahn mit prachtvollem Organ »Kükerüküüüh!« Reichers Mundwinkel zuckten.
»Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht ...«
»Kükerüküüüh!« machte der Hahn. Reichers Schultern bebten,
»– wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten«
»Kükerüküküüüh!« Reicher konnte nicht mehr.
Solchen und anderen Anfechtungen ist der Vortragskünstler ausgesetzt auf Schritt und Tritt, und mit der Zeit fallen sie auf die Nerven. Dazu muß er reisen, fast jede Nacht in einem andern Bette schlafen und jeden Tag dieselbe Hotelküche genießen. Manchmal ist das Reisen schön; manchmal auch nicht. Ich vergesse nie den frühen Wintermorgen, da ich unter Mond und Sternenschein aus einem kleinen mecklenburgischen Nest, wo ich den Abend zuvor gelesen, von sorgenden Händen wohlig eingewickelt, auf einem Wagen stundenweit durch klingenden Frost zur Bahn fuhr, um am Mittag desselben Tages noch in unserer damals glänzenden Reichshauptstadt sprechen zu können. Ein Wechsel von wunderbarem Reiz. Die Leute haben mich oft gefragt, ob es mir denn Vergnügen mache, auch in kleinen Nestern zu lesen, und ich habe ihnen immer mit Ehrlichkeit antworten können: »Erst recht.« Die großen Städte leiden keinen Mangel an geistigen Dingen, oder wenn sie ihn leiden, so ist es der Mangel im Überfluß; nach Dorf und Kleinstadt kommt wenig, oder es kommt der Abhub von der Tafel der Großstädte. Wenn man in solchem Städtchen am Hotelfenster steht und auf Markt und Gassen schaut und alles in allem eine Gemüsefrau sieht, so denkt man wohl zuweilen: »Du lieber Himmel, woher sollen in diesem verlassenen Erdenwinkel die Leute kommen, die dir zuhören mögen?!« Aber am Abend kommen sie dann aus allen Gäßchen und Winkeln, die oft monatelang, jahrelang nach einer Labe aus dem Kelche der Kunst gedürstet haben, und erstaunt, entzückt, ergriffen fühlt man sich plötzlich warm umschlossen von einem feinhörigen, tiefherzigen Zuhörerkreis.
Und Berlin? Ich habe soeben diese Stadt genannt und argwöhne bei Ihnen eine ungünstige Meinung über ihr Publikum. Sie ist unberechtigt. Das Berliner Publikum, von dem allein Nachrichten ins weite Reich dringen, jenes Publikum gewisser Premieren, das mit jeder hohlköpfigen Mode läuft, vor keiner Schweinerei erschrickt, aber für jeden Angriff auf den letzten Rest eines reinen Empfindens freudig einen blauen oder auch braunen Schein bezahlt: dieses Publikum ist eine Zucht- oder Irrenhausgemeinde; es ist nicht das »Berliner Publikum«. Wenn man jene Sorte von den etwa 3 Millionen Berlinern abzieht, dann bleiben immer noch etwa 3 Millionen Berliner nach, und die sind ein überaus empfängliches, dankbares und warmblütiges Publikum. Ja, warmblütig. »Der kalte Norden«, nicht wahr? In Süddeutschland ist eine merkwürdige Fabel verbreitet, die vom »kalten Norden«. Sie ist so wahr wie jener mittelalterliche Bericht von dem Gänsebaum, aus dessen riesigen Knospen, wenn sie platzten, Gänse herausflögen. Ich habe Künstler jeglicher Art nirgends wärmer feiern sehen als in Berlin, Hamburg, Bremen, Königsberg u. a. O. Dagegen sagte man mir in einer süddeutschen Hauptstadt vor meinem Auftreten: »Wundern Sie sich nicht über unser Publikum; wenn es dreimal in die Hände klappt, ist es enthusiastisch.« Das war nun freilich auch eine ungerechte Hyperbel; ich fand die Leute nicht kälter als im Norden. Ich habe die deutschredende Welt durchfahren von Petersburg bis Bern, von Wien bis Paris und Amsterdam; die offensten Herzen hab ich gefunden in Paris, im deutschen Rußland und bei den Saupreußen in Berlin.
Doch darf ich meine Schweizer Freunde nicht vergessen. Man hat dort die liebe Art, einem Gast, den man erfreuen will, die heimischen Lieder in wohlgeübtem mehrstimmigen Gesange zwanglos vorzusingen, und das haben sie fleißig getan. Aber sie haben auch konkretere Weisen der Huldigung. Als ich einmal nach getaner Arbeit mein Abendessen einnehmen wollte und vom Kellner Wurst verlangte, war keine da. Eh ich's hindern konnte, sprangen drei hübsche Mädchen hinaus, und nach einer Viertelstunde kamen sie zurück mit einer Wurst.
»O, laßt mich zögern!«
rief ich mit Tasso,
»Seh ich doch nicht ein,
Wie ich nach dieser Stunde leben soll.«
Und ein schlagfertiger Alfons, ein Schauspieler, versetzte:
»In dem Genuß des herrlichen Besitzes,
Der dich im ersten Augenblick erschreckt.«
Prall und rundlich lag sie vor mir auf dem Teller, die Dichterkrone. Ich hätte sie mir in die Locken gedrückt, wenn ich nicht so hungrig gewesen wäre.
O ja, solch ein geselliges Beisammensein nach der Vorlesung kann sehr erheiternd sein. So rief einmal ein Mann, als ich an einem regnerischen Maiabend gelesen hatte:
»Wie war es voll! Knüppelhagelvoll! Kein Stuhl war mehr zu haben! Das macht das schlechte Wetter.«
»Nur!« versetzte ich.
Ein Medizinalrat aber in einer kleinen Stadt versicherte, als ich aus meinen Romanen und aus meinen Kinderstudien vorgelesen hatte:
»Romane schreiben ist gar keine Kunst, wenn man bloß seine Kinder beobachtet. Meine Jüngste fragte mich mal: ›Vater, brüten die Schweine auch?‹ Ist doch großartig, was? ›Vater, brüten die Schweine auch?‹,«
»Großartig,« stimmte ich bei. »Wenn Sie daraus einen Roman machen, verdienen Sie ein Schweinegeld.«
Sogar die Autogrammschnorrer können einem Vergnügen machen. Als ich einmal mit einem berühmten Geiger zusammen wirkte, schrieb ich auf die dargereichten Blätter immer seinen Namen und er den meinen. Ein junges Mädchen mit graphologischer Begabung fand die Schriftzüge sehr charakteristisch.
Weniger lustig sind die Menschen, die nach dem Grundsatz handeln: Nun hab' ich dich 1½ Stunden lang angehört – jetzt komm' aber ich dran! Vierzehn Sonette hat mir mal einer flüsternd in die Ohren gebrüllt; er umklammerte dabei meinen Oberarm, und jedesmal, wenn ich besonders begeistert sein sollte, kniff er. Erst als ich nachdrücklich versicherte: »Verzeihen Sie; ich muß mal hinaus!« gab er mich ernüchtert frei. Aber ich trug einen violetten Arm davon.
Eine ebenso anmutige Spezies sind die, die in der Fünfminutenpause mit einem Manuskript ins Künstlerzimmer kommen und die Frage entschieden wünschen, ob sie Dichter seien.
Niemand aber möge glauben, daß solche Erfahrungen die Regel seien. Öfter als das hört man ein paar leise Worte, die vieles sagen, fühlt man einen stummen Druck der Hand, sieht man ein Paar junger oder alter Augen, die wie Schwester- oder Bruderaugen in die unsern blicken. Darum bin ich denn auch mehr als dreißig Jahre lang mit frohem Herzen durch die Lande gefahren.
»In raschen Jahren geht's wohl an,
So um und um frei durch die Welt zu streifen«,
aus dem D-Zug ins Vortragshemd zu stürzen, vom Vortragspult zum Abendessen und vom Abendessen an den Frühzug zu gehen – heute treffe ich spätestens 12 Stunden vor der Vorlesung am Platze ein und schärfe dem Pförtner des Gasthauses ein: »Wenn mich jemand besuchen will: ich bin tot; wenn er den Verblichenen sehen will: ich bin schon begraben. Nur über Ihre Leiche geht der Weg in mein Zimmer. Nach der Vorlesung bin ich noch immer zu allen Schandtaten bereit.«
Das letzte ist etwas Renommage eines alternden Herrn; solche Sprünge wie z. B. in Zürich und am Rhein mache ich jedenfalls nicht mehr mit der alten Eleganz. In Zürich feierten mich Studenten an den Morgenzug nach Straßburg; Studenten sind in solchen Fällen sehr lieb und sehr anstrengend. Schlimmer war es in jener Stadt am Rhein.
»An den Rhein, an den Rhein, zieh nicht an den Rhein;
Mein Sohn, ich rate dir gut.«
Dort sollte ich am Mittag lesen; am Abend vorher gab man ein Stück von mir, und das anschließende Abendessen schloß gerade noch zeitig genug, daß ich zur Vorlesung kommen konnte. Die Weine von Mosel und Rhein – so schön sie sind – sie haben bei fortgesetzter Anwendung die Eigentümlichkeit, daß sie das menschliche Organ zusammenziehen wie den oberen Rand eines Strumpfes und den menschlichen Kehlkopf sozusagen in eine Gänsegurgel verwandeln. Durch stimmlichen Wohlklang bin ich an jenem Mittag sicher nicht aufgefallen. Die Kegelbahn und der Tanzsaal, die sonst nebenan zu liegen pflegten, waren in meinen Kopf verlegt, die Bogenlampe auch. Aus weiter Ferne drang gelegentlich ein Lachen oder ein Klatschen herüber; daraus schloß ich, daß ich das Lesepult wirklich erreicht hätte und öffentlich etwas vorläse. Wie die Leute lachen konnten, begriff ich nicht; die Welt war doch sehr, sehr traurig; namentlich hatte sie furchtbare Kopfschmerzen. Aus dem Umstande, daß ich heute hier in meinem Hause sitze, schließe ich auch, daß meine Vorlesung einmal aufgehört hat; damals schien es mir nicht so. Aber das Publikum hat nichts gemerkt; Haltung muß ich also glänzend bewahrt haben. Und ich will gleich hinzufügen, daß dies in mehr als dreißig Jahren der einzige Fall dieser Art geblieben ist; sonst kommen meine lauteren und reinen Feinde auf die Idee, ich sei ein Säufer, und schließen womöglich gar aus solcher Verkommenheit bei mir auf Genie.
Der müßte ja auch ein Narr und ein schlechter Rechner sein, der das Glück eines Weinrausches vertauschen möchte mit dem Rausch des schaffenden Künstlers. Ein guter Vorleser ist ein feiner Brückenbauer; er baut die luftig goldne Brücke vom Dichter zum Volke. Um einen Dichter voll zu erfassen, muß man, wie jedermann weiß, selbst ein Dichter sein, wenn auch ein stumm geborener; wer das Wort eines Dichters innerlichst erfühlt, der ist in solchem Augenblick selbst ein Dichter. Der Vorleser nun macht sie alle zu Dichtern, die da vor ihm sitzen, oder doch die besten unter ihnen; er ist ein Gott: er kann Dichter machen. Er verbreitet um sich die goldene Lust der Kunst; er ist wie alle wahren Künstler im Besitz der höchsten Macht: er kann glücklich machen.