Otto Ernst
Frieden und Freude
Otto Ernst

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Bescheidenheit ziert den Jüngling

Ich habe merkwürdigerweise nicht mit rein lyrischen Ergüssen angefangen, sondern mit »Balladen«, z. B. mit einem »Fischer«, der bei dem Versuch, seinen tollkühnen Sohn zu retten, mit diesem zusammen ertrank, wonach sich beide noch lange nachher durch einen aus den Fluten heraufklingenden »Grabgesang« bemerkbar machten; ferner mit einer »Burgruine«, in der es ebenfalls unheimlich herging, obwohl ich eigentlich selbst nicht recht wußte, warum und wieso. Ich kann das auch jetzt nicht mehr feststellen; denn diese »Schöpfungen« sind der Nachwelt nicht erhalten geblieben. Was ich aber auch damals, mit meinen 16, 17, 18 Jahren, an Versen hervorbrachte – für die Augen anderer war es nicht bestimmt, am wenigsten für die meiner Angehörigen; denn vor den nächsten Angehörigen schämt man sich immer am meisten. Schließlich mußte ich aber doch einen Verdacht auf mich gelenkt haben; ich befaßte mich viel mit schöner Literatur, und unkundige Leute folgern gern, daß, wer fleißig Verse lese, auch wohl Verse mache. Jedenfalls entwendete mir eines Tages ein in seiner stürmischen Freundschaft etwas unzarter Altersgenosse mein Taschenbuch und las meine »Balladen« zwei jungen Damen vor. Wie ich dann nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem voreiligen Apostel erfuhr, hatten die Damen nicht mit Spott, sondern mit Anerkennung zurückgewirkt. Ich schloß daraus nicht etwa, daß meine Gedichte gut seien, sondern daß die jungen Damen sehr mäßige Ansprüche stellen müßten. Nun war es heraus, daß ich »dichtete«, und bei einer fröhlichen Abendunterhaltung des Kollegiums, dem ich als jüngster »Hospitant« angehörte, half kein Sperren und kein Sträuben; ich mußte den unsterblichen »Fischer« vorlesen. Ich tat es mit Angstschweiß und Herzklopfen und äußerst ungern; aber die Ehrerbietung eines halben Jungen gegenüber so vielen älteren Damen und Herren ließ mir eine hartnäckige Weigerung als Ungezogenheit erscheinen. Das Urteil fiel wieder sehr freundlich aus; aber ich kann es beschwören, daß ich von der Richtigkeit dieses Urteils nicht überzeugt war und mich keineswegs als Dichter fühlte. Es hat auch noch lange gedauert, bis dieses Gefühl langsam in mir erwachte. Es ist gewiß wahr, daß sich, wo eine wirkliche Begabung vorhanden ist, mit der Zeit auch das Bewußtsein der Begabung einstellt; aber es ist ein großer Unterschied, ob man in diesem Bewußtsein sich sagt: »Du bist etwas« oder »Du kannst etwas werden«. Mit dem langsamen, von mir selbst empfundenen Fortschritt meiner Leistungen erwachte wohl auch mehr und mehr das selige Gefühl: »Du kannst etwas werden«; das Gefühl: »Du bist etwas« hat es bei mir niemals zu voller und dauernder Sicherheit gebracht. Jeder Könner, der von böswilligen Verkleinerern angegriffen wird, weiß in solchen Augenblicken mit festem Selbstbewußtsein, daß er viel mehr bedeutet als sie; gerade Unwahrheit und Ungerechtigkeit bringen es ihm zum Bewußtsein; das schließt aber nicht aus, daß er sich vor der höchsten, maßgebenden und unbestechlichen Gerichtsstelle seiner Kunst zeitweilig und immer wieder recht bedrückt fühlt. In meiner Jugend – und auf diese Zeit kommt es mir hier an – habe ich jedenfalls – ich schreibe es mit schamvioletten Wangen; aber die Sache verlangt es – für sehr bescheiden gegolten. Es hat lange gewährt, bis ich gewagt habe, einer Zeitschrift ein paar Verse einzusenden, und ich tat es endlich ohne jede Hoffnung, wie man in einer Augenblickslaune in einen nietenreichen Lostopf greift. Und es war ein blitzhelles Erschrecken, als ich dann im Briefkasten der Zeitschrift (»Vom Fels zum Meer«) las, daß meine Verse angenommen seien. Es war bis dahin die größte Überraschung meines Lebens, und als ich in meinem Taumel einem Bruder die Notiz zeigte und ihm erklärte, sie gelte mir, da sagte er wörtlich und ohne jede vermittelnde Vorbereitung: »Du bist wohl verrückt!« So unfaßbar erschien es ihm; man ersieht daraus, daß ich auch von meiner Umgebung nicht als Wunderjüngling empfunden und gefeiert wurde. Und wie bei der ersten Annahme meiner Gedichte, so ist es mir bei der ersten Annahme eines Artikels, einer Novelle, eines Dramas ergangen; ich bin immer überrascht gewesen; ich bin es noch heute bei jedem Erfolg, handle es sich nun um einen Erfolg beim Publikum oder bei Kennern und Fachgrößen; ich bescheide mich schnell bei jedem Mißerfolg; ich erblicke in jedem Erfolg nicht einen Lohn, den ich von Gottes und Rechts wegen verlangen durfte, sondern ein Geschenk, und so fest ich davon überzeugt bin, daß kein Schafskopf das Recht hat, mich zu rezensieren, so klar bin ich mir bewußt, daß nichts, was ich leiste, an das heranreicht, was ich leisten möchte und sollte.

Ich will natürlich nicht behaupten, daß zu meiner Jugendzeit alle jungen Dichter und Künstler ohne Ausnahme so empfunden hätten wie ich; aber das meine ich doch zweifellos beobachtet zu haben, daß fast alle jungen Dichter und Künstler, mit denen ich in Berührung kam, von dem Gefühl geleitet wurden: »Ich muß noch viel, viel arbeiten, um etwas Rechtes zu werden; meine eigentliche Aufgabe liegt noch vor mir; auf den Lorbeer habe ich noch keinen Anspruch.«

Jetzt scheint eine andere Jugend aufgekommen zu sein – oder irre ich mich?

Fast meine gesamte Tätigkeit auf dem Gebiet der pädagogischen Literatur galt dem Recht des Kindes wie der Jugend überhaupt auf Freiheit und Freude: über allem, was ich in dieser Beziehung geschrieben und geredet habe, stand als Leitstern der Gedanke Juvenals

Maxima debetur puero reverentia

Die größte Ehrfurcht gebührt dem Kinde (dem Knaben).

Was heißt das? Das kann nur heißen: Ehrfurcht gebührt dem Kinde als der Knospe des Mannes oder Weibes, als dem Keime, aus dem der Mensch werden soll. Werden soll; jede andere Auffassung wäre doch Unsinn. Aber Unsinnigkeit ist für manche Leute bekanntlich kein Denkhindernis. Sie tun so, als brauchten Kind, Jüngling oder Jungfrau nicht erst etwas zu werden, sondern als wären sie schon etwas, als wäre jung sein, Kind sein an sich ein Verdienst, eine Leistung. Sie fallen in den unseligen Rosseauschen Wahn zurück, daß »alles gut sei, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht« und daß die Erziehung darin bestehe, nichts zu tun, d. h. Kindheit und Jugend in allem gewähren zu lassen, was ihnen beliebt; dann werde sich Herrliches entfalten. Ich habe reichlich Gelegenheit gehabt, zu beobachten, welch »Herrliches« sich da entfaltet.

Unter der heutigen Jugend, besonders auch der literarischen, scheint die Meinung stark verbreitet zu sein, daß es eine ehrfurchtgebietende Leistung sei, jung zu sein. Bei einem deutschen Theater beschwerte sich jüngst ein junger Dichter (wenigstens galt er bei sich dafür), daß man die Jungen nicht zu Worte kommen lasse und immer nur die »Alten« spiele. Als man ihn fragte, welche Alten er denn meine, da nannte er Walter Hasenclever, der nach dem Literaturkalender etwa 29 ist. Bei den Indianern werden die Greise doch erst getötet, wenn sie hinfällig sind; heute empfinden die 28jährigen die 29jährigen als lästige Generation. Sie »stehen ihnen im Wege«; denn die Jüngeren sind überzeugt, daß ihnen der Ehrenplatz gebühre, weil sie – jung sind. Ich habe es sonst immer für viel schwieriger und darum verdienstlicher gehalten, in Kraft und Ehren alt zu sein; aber das ist dann wohl senile Beschränktheit oder Bosheit. Soweit ich die Literaturgeschichte kenne, haben auch Dichter und Künstler zwar oft schon in jungen Jahren Erhebliches geleistet, ihre großen Leistungen aber gewöhnlich erst im reifen Alter, ja, manche gar im Greisenalter vollbracht. Das wird in Zukunft anders, weil man dann nicht erst wird, sondern, wenn man vom Geburtshelfer dem Vater überreicht wird, schon etwas ist.

In meinem Garten kenn ich keinen traurigeren Anblick als eine Blüte, die schon in der Knospe verwelkt. Eine Jugend, der man einredet, sie sei schon etwas, sie sei das Maß der Welt und habe der Menschheit Gesetze zu geben, eine Jugend, die nicht begreift, daß alle Pflicht, alle Arbeit, aller Kampf noch vor ihr liegt, daß erst der Kampf bis ans Ende die Krone des Lebens bringt, eine solche Jugend ist gar keine Jugend mehr; sie ist jugendliches Greisentum und wird immer in der Knospe verdorren. Gott schütze unser Vaterland vor solcher Jugend; denn seine Jugend ist ja seine einzige Rettung.

Sollten meine Betrachtungen etwa die griesgrämige Grauseherei des Greises sein? Das sollte mich wundern: ich lebe so gern mit der Jugend und habe mich mit ihr immer glänzend vertragen. Es wäre auch grenzenlos dumm, der Jugend etwa das Wort abschneiden zu wollen; sie wird nur böse darüber und redet doch. Aber es ist auch dumm, den Älteren und Alten das Wort abzuschneiden. Dem Jüngling, der den 29jährigen Hasenclever absägen wollte, erzähle ich hier die ganz alte Geschichte von der Roßdecke. Ein Mann duldete seinen alten, hinfälligen Vater nicht in seiner Wohnung, sondern ließ ihn, in eine Roßdecke gehüllt, im Stalle schlafen. Eines Tages war der Alte gestorben, und der Sohn bemerkte, wie das eigene Söhnchen emsig die Roßdecke zusammenlegte und forttrug. »Was willst du mit der Decke?« fragte der Mann. »Die will ich für dich aufheben, bis du alt bist,« sagte das Söhnchen.

Der junge Dramatiker stelle sich vor, wie man ihn mit 29 Jahren in die Roßdecke wickelt!


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