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Der Patriarch sitzt in Zipfelmütze, Pantoffeln und verschlissenem Schlafrock, der über dem Bauche nicht schließt, in einem alten Korbstuhl, der zu den Plüsch- und Phantasiemöbeln nicht paßt, raucht aus einer langen Pfeife einen aufdringlichen Tabak und liest das Tropfenhofener Morgenblatt. Die großzügig frisierte Mutter steht in einem Kleide, das über der hinteren Wölbung nicht schließt, und in einer altgedienten Schürze an einer Waschbütte und spült Windeln. Das jüngste der 15 Kinder liegt in der Wiege und schreit, das nächstjüngste sitzt auf einem vase de nuit und beißt von einem Honigkuchen ab, mit dem es sich beschmiert; das dann folgende zerschneidet in ungestörter Muße eine neue Seidenbluse der Schwester; das vierte reißt dem fünften ein starkes Büschel Haare aus und bezahlt sie mit einem Vorderzahn; das sechste schilt, daß es bei solchem Lärm seine Vokabeln nicht lernen könne; das siebente spielt Klavier; das achte brennt sich Locken, daß man's riechen kann; der Rest beschäftigt sich anders, aber ähnlich, und aus der Küche duftet kochender Grünkohl. Wütend fährt der Vater endlich aus dem Korbstuhl empor, holt den etatmäßigen Rohrstock aus bekannter Ecke und haut damit wahllos unter das Getümmel; die Mutter nimmt für die Kinder Partei; es folgt ein heftiger Wortwechsel zwischen den Eltern; der Alte nimmt Rock, Hut und Stock, wirft die Haustür knallend hinter sich ins Schloß und geht zu Biere. Mittags kehrt er reuig zurück, weil es Grünkohl und Speck gibt. Auf ihn kommen drei viertel Pfund Speck, auf die Familie ein viertel Pfund. Er schläft drei Stunden zu Mittag und schnarcht natürlich wie ein übergessener Polyphem. Dann wandert die ganze Familie mit Zylinder, Meerschaumzigarrenspitze, Humpelröcken, Reiherfedern, Pleureusen, Botanisierdosen, Schmetterlingsnetzen, Kinderwagen, Saugflaschen usw. im Gänsemarsch nach dem Bierkeller, wo heute Operettenabend ist. Der pater familias, wie er sich selber nennt, wenn er witzig wird, findet zweie zum Skat; die Damen häkeln Sofadecken oder unterhalten sich mit Nachbarinnen über Moral und Flanell, und um 10 Uhr liegt alles in den Federn. Der Alte schnarcht wie ein verröchelndes Mastodon.
So pflegt der Satiriker die deutsche Familie darzustellen, und das ist sein gutes Recht, weil es wirklich dergleichen Familien gibt. Im Unrecht ist nur der, der die Satire für ein erschöpfendes Bild der Wirklichkeit nimmt und sagt: Das ist die deutsche Familie. Es gibt andere.
Es gibt eine deutsche Familie, deren erste Voraussetzung ist, daß Mann und Weib sich aus reiner Zuneigung und ohne jede Nebenabsicht verbunden haben. In Deutschland gibt es Gott sei Dank noch Leute, und nicht wenige, die getrost darauflos heiraten, wenn beide «nichts haben« als Gesundheit und Mut. (Über andere Nationen gebe ich hier kein Urteil ab; ich habe nur über Deutschland zu reden.) Ich denke bei solcher reinen Zuneigung keineswegs nur an die »Liebe auf den ersten Blick«, an die explosiv entbrannte, große Leidenschaft. Sie ist wenigstens nicht immer die beste Grundlage für eine gute Ehe und Familie. Die langsam gewachsene Zuneigung ist vielleicht echter, kernfester. Das beste Teil der Liebe ist Freundschaft, zwar eine ganz andere Freundschaft als die zwischen Mann und Mann oder Weib und Weib; mit Freundschaft aber hat der Rausch der Flitterwochen eigentlich gar nichts zu tun. Vielleicht starben Romeo und Julia zur rechten Zeit, bevor der Streit, ob Nachtigall oder Lerche, bedenkliche Formen angenommen hatte.
Es gibt dann in Deutschland Männer und Frauen, die bei der Trauung nicht wie Goethes Teufel denken: «Her zu mir!« und »Nun hab' ich dich schon unbedingt«. Es mag beim deutschen Manne noch eine gewisse Neigung sein, den wohlmeinenden Despoten zu spielen, und bei der Frau das reagierende Bestreben, die Herrschaft auf dem Umwege des Pantoffels zu erschleichen; im allgemeinen hält man sich ebenso fern vom Maskulismus des Ostens wie vom Feminismus des Westens, der einen vielgestaltigen Größenwahnsinn des Weibes erzeugt hat. Das schöne Wort »Ich bin dein und du bist mein« versteht man nicht im Sinne der Leibeigenschaft oder Hörigkeit, ebensowenig wie man die Ehe als eine Zusammenkunft »ohne Obligo« betrachtet. Ich glaube (ich drücke mich mit Absicht sehr vorsichtig aus; denn ich liebe es nicht, von hundert bekannten Fällen auf hunderttausend unbekannte zu schließen) – ich glaube also, daß es in Deutschland noch manchen Mann gibt, der da weiß, daß die Frau etwas ganz anderes ist als der Mann, daß ihr ganz andere Aufgaben zufallen als ihm, daß sie aber genau so viel wert ist wie er; ich glaube, daß mancher Mann sich freut, wenn seine Frau auch ein gescheites Wort über Richard Strauß oder Nietzsche zu reden weiß. Ich glaube, daß in Deutschland jene schrecklichen Ehefrauen noch selten sind, die das »Verstehen« ihres Mannes und das »Teilnehmen an seinem Schaffen« so auffassen, daß sie auch über die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori oder über Parallaxenberechnung mitreden müßten, ich glaube, das es deren noch gar viele gibt, die das »Verstehen« und das »Teilnehmen« viel innerlicher und viel tiefer begreifen. Mit einem Wort: eine gute deutsche Ehe ist ein richtiges Gemisch von Gebundenheit und Freiheit, von Festhalten und Gewährenlassen. Ich denke bei dem Gewährenlassen natürlich über den Hausschlüssel hinaus, obwohl die Wichtigkeit des Hausschlüssels nicht zu unterschätzen ist. In jedem guten Haushalt hat die Frau so gut einen Hausschlüssel wie der Mann; man überwacht einander nicht bei Ausgang und Heimkehr, besonders kontrolliert man nicht Ausgang und Heimkehr der Seele. Man kann einen Menschen nicht ganz erwerben wie ein Ding, auch durch Liebe nicht. Daß die Frau den physischen Hausschlüssel anders braucht als der Mann, versteht sich von selbst.
Wenn in einer deutschen Familie Kinder sind, so findet man meistens seine erste und heiligste Pflicht bei den Kindern. Man hält es für unerläßliche Voraussetzung aller Erziehung, daß Vater und Mutter sich in den Erziehungsmaßnahmen einig sind. Sie mögen sich unter sich über Erziehungsfragen so lange streiten, wie sie wollen – wenn sie vor die Kinder treten, müssen sie eins sein. Eine gemeinsame Erziehungstorheit gilt – mit Recht – für minder schlimm als eine zwiespältige Erziehung. Diese Erziehung hält sich in der Regel ebenso fern von patriarchalischer Tyrannei wie von lächerlichem Anarchismus à la mode. Deutsche Eltern gewähren ihren Kindern (wo sie es noch nicht tun, sollten sie sich beeilen) jede Freiheit, die sie ihnen ohne Schaden für sie selbst oder andere gewähren können; sie zwingen ihnen vor allem keinen Beruf auf. Wenn diese Kinder aber eine Pflicht übernommen haben, so verlangen die Eltern mit milder, unerschütterlicher Festigkeit ihre Erfüllung. Sie gewähren ihren Kindern volle Gewissens- und Redefreiheit, und wenn ein Kind ihnen mit Bescheidenheit und Festigkeit und mit guten Gründen widerspricht und sein Recht vertritt, so sagen sie sich mit Stolz und Freude: Aus dem wird was! und sind die ersten, die ihm sein Recht einräumen. Aber da sie so viel länger gelebt, also auch so viel länger gekämpft und gelitten haben als ihre Kinder, so verlangen sie auch den vollen schuldigen Respekt von ihnen, und wenn ihnen ein Söhnchen ohne Ernst und Selbstzucht, ohne Leistung und Willen zur Leistung mit angelesenen Schnöseleien von Persönlichkeits- und Individualitätsrechten kommt, dann setzen sie ihn mit einem kräftigen Ruck auf sein richtiges Niveau.
Auch habe ich manches deutsche Haus gesehen, in dem man heile Schlafröcke oder auch gar keine trug, in dem die Eltern mit den Kindern um die Wette lärmten und der Hausvater sich durch solchen Lärm in seinen Gedanken wundersam beflügelt fühlte, manches Haus, in dem jede Kammer als ein Tempel der äußeren und inneren Reinheit glänzte, und der Hausvater, wenn er allein zu Hause war, ganz langsam durch die schlichten Räume wandelte und sich mit seiner Wohnung unterhielt und in jedem Winkel dachte: Könntest du das malen! Familien habe ich gesehen, die nicht zu den »Operettenschlagern« gingen, sondern zu Beethoven und Mozart, oder zu Goethe und Hebbel, oder an den Fluß und in den Wald, wo dann jeder mit sieben Herzen oder mit vierzehn Herzen empfand, was er sonst nur mit einem Herzen empfinden könnte. Häuser kenne ich, in denen die Hausfrau ganz den Heinzelmännchen gleicht: von ihrer Arbeit spürt man nichts als die Früchte, und die Speisen riecht man erst, wenn sie auf dem schneeweißen Tische stehen, wohlriechend, wohlgeraten, »wohlschmeckend in dem Dufte guter Sitten«. Familien kenne ich, die des Abends um den Tisch sitzen und plaudern vom Tag und von des Tages Werken, daß jeder das Gefühl hat: »Besser kann man sich bei Tisch in Sanssouci auch nicht unterhalten haben, und was das Lustigste ist: Alle, die um den Tisch sitzen, liebst du, und alle lieben sie dich.«
Ich weiß, daß ich mich jetzt von der Durchschnittswirklichkeit ungefähr so weit entfernt habe, wie der übliche Familiensatiriker. Ich wollte auch nur zeigen, wie der typische Deutsche sich die ideale Familie vorstellt, was er in ihr erstrebt und manchmal auch annähernd erreicht. Richtig verstanden, bewahrt die deutsche Familie vor der Banalisierung des Lebens, statt sie zu erzeugen. Wen sie gleichwohl nicht lockt, wer da weiß und fühlt, daß er sein Lebenswerk nur als völlig Unabhängiger, als ganz Alleinstehender durchführen könne, der soll um Gottes willen der Paulinischen Weisheit folgen, und am wenigsten eine deutsche Familie gründen. Den Satz, daß ein Familienleben wie das deutsche den Genius überhaupt ins Joch spanne und ersticke, werde ich erst glauben, wenn man mir bewiesen hat, daß die großen Hagestolze den großen Ehemännern überlegen gewesen sind. Eher mag sich schon der kleine Mann, der sein bißchen Kraft zusammenhalten muß, mit Recht vor der Familie fürchten. Dem vollbegabten Manne, der von seinen Kräften an die Familie abgeben kann und dennoch immer sich selbst behauptet, dem ist die deutsche Familie ein unerschöpflicher Kraftquell, der ihm täglich hundertfach zurückgibt, was er abgegeben hat. Sie ist ihm in allem Hader der Welt ein Stützpunkt, auf den er sich immer wieder zurückziehen kann, eine Festung, die ihn immer wieder aufnimmt, und in der er seine Wunden heilen und sich mit neuer Kraft versorgen kann. Wie ihm seine Vorgesetzten oder seine Untergebenen oder seine Parteigegner oder seine Prozeßgegner oder seine Berufsrivalen auch mitspielen mögen – die Seinen lieben ihn, und da die deutsche Familie Gott sei Dank bis jetzt noch einigermaßen zahlreich zu sein pflegt, so ist das eine Art von Beweis. Er darf sich sagen: Wenn diese sieben oder siebzehn oder siebenundzwanzig Menschen, die mich mit allen meinen Schwächen und Fehlern kennen, mich lieben; wenn mein Fortgang aus diesem Kreise eine ewige Lücke reißen würde, so kann ich des Lebens nicht ganz unwert sein. Und wenn ich Kraft, Mut und Freude nirgend verbreiten könnte als unter den Meinen, so ist es doch schon ein stolzer, erhebender Gedanke, daß ich meine tiefste und reinste Glut ausstrahlen kann auf sieben Kinder, auf hoffentlich mindestens neunundvierzig Enkel, auf hoffentlich mindestens dreihundertunddreiundvierzig Urenkel, und so hoffentlich weiter bis ins Unendliche.