Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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An einem Sonntag wurde Verlobungsfest gefeiert. Die ganze Familie Patruban aus der Andreasgasse war herausgekommen, die ganze Familie Beywald aus der Rittergasse und mehrere Freunde des Hauses Leodolter. Michella hatte die Tafel im großen Salon decken lassen. Das schwere Silber und das schöngeschliffene Glas des Hauses funkelten auf dem damastenen Tischtuch.

Madame Patruban hob die fleischigen Schultern hoch, die ziemlich freigebig entblößt waren: »Süperb! Aber auf dem Lande – mein Gott! ...«

»Sie habens, die Leodolterischen, sie könnens tun,« sagte Prinz Schöps, der neben ihr saß. Er brachte einen Spargel in Augenhöhe und ließ ihn verschwinden, wie ein Taschenspieler eine Kerze verschlingt.

Besonders aufregend wirkte das alte, kostbare Familienporzellan auf Madame Patruban.

»In Bürgerkreisen schließlich! – Einiges können wir uns schon auch leisten, bitte, aber wo käme man hin? Übrigens ist nicht alles Gold was glänzt. Glauben Sie, daß es echt ist?«

»Was?«

»Das Service.«

»Können Teller und Schüsseln auch falsch sein? Davon hab ich noch nie etwas gehört.«

Prinz Schöps verstand sich offenbar nicht darauf. Beim Spargel und beim Wildpret hatte sie noch die Hoffnung genährt, daß das Tafelgeschirr vielleicht doch kein echtes Wiener Porzellan sei. Aber vor dem Geflügel widerstand sie der Versuchung nicht länger, einen Teller umzuwenden – da hatte sies nun. Richtig war es echt! Der eingeprägte kleine Bienenkorb, der eigentlich ein Wappenschild ist, machte jeden Verdacht zuschanden.

Der alte Herr Beywald erhob sich, um den ersten Trinkspruch auszubringen. Ein vornehmer, heiterer Mann mit weißem Kopf, der Scherz und Ernst gut zu mischen verstand. Mit der Heiligkeit der Ehe fing er an und mit der Bedeutung der Familie, die der Grundpfeiler des Staatswesens sei. Und als die Zuhörer sich eben anschicken wollten, feierliche Gesichter aufzusetzen, wechselte er plötzlich den Ton und schilderte launig eine häusliche Kleinkinderwirtschaft mit ihrem Aufgebot an gestrickten Häubchen, Windeln und Wärmflaschen. Da lachten die Zuhörer, nur die beiden Bräute blickten in den Schoß.

»Sie lachen, meine Herrschaften,« sagte Herr Beywald. »Aber glauben Sie mir, die Kinderstube ist wichtiger als die Staatskonferenz. Denn die Staatskonferenz hat den Kopf verkehrt auf und schaut nach rückwärts. Was geht mich aber die Vergangenheit an? Ich halt' es mit den Kindern, die schauen frischweg gradaus und sind neugierig was da kommen wird.«

Aus dem Kleinen schweifte er wieder ins Große, aus der Kinderstube in die Weite und Ferne des wirtschaftlichen und politischen Lebens. Von künftigen Geschlechtern redete er, von Söhnen und Enkeln, die mitberufen wären, eine neue Zeit heraufführen zu helfen. Von einflußreichen Fabriks- und Handelsherren, die keine bloßen Untertanen mehr sein würden, sondern freie Bürger eines freien Landes. Von der großen Aufgabe der Mütter, arbeitsame und tapfere, tüchtige und stolze Menschen zu erziehen ... da hoben die beiden Bräute wieder ihre Köpfe, und ihre Augen glänzten.

Am oberen Ende der Tafel saßen sie nebeneinander, Julie Patruban in himmelblauer Seide, aschblond, von zarter Gesichtsfarbe, mit einem eigentümlich anmutigen Neigen des Kopfes und des ganzen Oberkörpers, das ihren Bewegungen gleichsam etwas Aufhorchendes oder Fragendes gab. Cajetana Leodolter in Blaßrot gekleidet, dunkelhaarig, schlank und sicher, gesund und blühend – beide gleich schön, jede auf ihre Art, beide gleich heiter, liebenswürdig und glücklich. Neben Cajetana saß der junge Beywald, neben ihm die üppige Melanie Patruban als künftige Kranzeljungfer Cajetanas, dann Herr Beywald senior, der aber in diesem Augenblicke nicht saß, sondern stand, weil er eben redete. Neben ihm hatte Madam Patruban ihren Platz, die stattliche »Austria«, die immer »Bohnl« sagte, wie böswillige Leute behaupteten, weil sie gerne den Mund spitzte, um ein Mündchen daraus zu machen. Neben dieser saß Prinz Schöps, und auf der andern Seite neben Julie der Muschir, dann Minna Beywald, die sich erboten hatte, Juliens Kranzeljungfer zu sein, obgleich sie das Heiraten für überflüssig hielt und sich für die neue Bewegung erwärmte, die man Emanzipation der Frauen nannte. Neben ihr der kleine lebendige Herr Patruban, dann Mama Beywald, eine liebenswürdige Matrone, um deren faltigen Mund stets ein beglücktes Lächeln schwebte. Denn ihr Herz war so gütig und mild, daß sie an nichts Böses in der Welt glauben konnte. Neben ihr Herr Mosch-Eskeles, ein feiner, vornehmer Jude, Großhändler aber mit einem kommerziellen Gewissen, so zartempfindlich wie eine Magnetnadel, ein Freund Petz Leodolters und des alten Herrn Beywald. Weiter unten die jüngeren Freunde des Hauses und, mit Leodoltergeschwistern untermischt, die übrigen Patrubane und Beywalde. Am untersten Ende wie ein Steuermann am Achtersteven Michella, den Bräuten gerade gegenüber, und ihr zur Seite rechts und links Poldi und Fred, denen Tante Bethi die Erlaubnis erwirkt hatte, auch mit dabeisein zu dürfen.

Den Damen standen die Augen voll Wasser, als der alte Herr Beywald schloß. Er hatte Worte zu finden gewußt, die zu Herzen gingen, über manches, das er sagte, hätte man sich Gedanken machen können. Aber es blieb wenig Zeit dazu. Die Gläser klangen aneinander, man zog um den Tisch. Cajetana fiel ihrem künftigen Schwiegervater um den Hals, sie war stolz auf ihn und gelobte sichs, während sie ihr Haupt an sein Jabot lehnte und sich übers Haar streichen ließ: er sollte ihn haben, den Enkel, wie er sich ihn wünschte! Was an ihr lag, würde sie dazu tun!

Julie Patruban befiel ein leises Zittern, als sie mit dem Muschir anstieß. Es gab Augenblicke, wo sie sich selbst ein Rätsel war. Wie hatte sie ihn eigentlich erwählen können? Diesen großen, ungeschlachten Mann, der um so vieles älter war als sie? Diesen gewaltsamen Arbeitsmenschen, vor dem sie sich beinahe fürchtete? Etwas wie körperliche Scheu empfand sie vor ihm, und doch liebte sie ihn, fühlte sich geborgen in seiner Nähe. Gerade seine nüchterne, kernige Art zog sie an, diese Art, die nichts von Träumen wußte und eine Lust daran fand, sich mit dem wirklichen Leben zu messen. Da war Kraft und Wille, eine feste Hand und ein sicheres Auge. Nein, einen Jungen, sorgfältig Gescheitelten, der galante Worte drechselte und nichts vorbrachte, was man nicht schon im Voraus wußte, hätte sie nicht wählen mögen! Er war schon der Rechte für sie, dieser »Pascha von drei Roßschweifen,« der nicht gern einen andern Willen neben dem seinigen duldete und sich doch manchmal wie ein großes Kind gebärdete, das einer liebevollen sanften Hand bedarf. O – sie wollte ihm untertan sein und ihn gleichwohl führen und leiten, wie es zu seinem Besten war. Nur dies eine, das sie in sich fühlte, mußte sie zu bezwingen trachten: ihre Mädchenangst! Und zaghaft senkte sie ihren Blick in den seinen, der sie suchte und ergründen wollte, und las darin die unbeholfene Glückseligkeit eines schlichten, wackeren Mannes, der immer nur an sein Tagewerk gedacht hat und jetzt, demütig überrascht, sich der Geliebten mit der reinen Ehrfurcht eines Jünglings nähert. Da gelobte auch sie sichs im Stillen, ihm, wenn Gott es fügte, den Erben zu schenken, von dem sie ahnte, daß er seine Sehnsucht war.

Kaum daß alle auf ihren Platz zurückgefunden, so erhob sich der Muschir um im Namen der Brautleute für das Hoch zu danken, das der alte Herr Beywald auf sie ausgebracht. Er redete unbefangen, einfach, geradeheraus. Freie Bürger in einem freien Lande? Gut! Er habe auch nichts dagegen. Aber das erste sei es nicht, was er kommenden Geschlechtern wünsche. Die Freiheit sei ein Aufputz, ein Spargel, satt könne, niemand davon werden. Der Braten, auf den es ankomme; das sei der Beruf und der Charakter. Und das hoffe er von der Jugend, daß sie sich das Alter zum Beispiel nehme. Das hoffe er von seinen Kindern, wenn Gott ihm welche beschieden habe, und von Poldi und Fred und von seinen sonstigen Neffen, auf die er noch zähle. Tüchtige Fabrikanten und brave Menschen sollten sie werden wie sein seliger Vater und wie der verehrte Herr Beywald und wie sein Schwiegervater, der wackere Herr Patruban. Das seien die Männer nach seinem Herzen, richtige Bürger bei ihrer bürgerlichen Arbeit, und die Zukunft könne sich alle fünf Finger abschlecken, wenn sie sich in dieser Hinsicht mit der Vergangenheit vergleichen lasse ...

Und nachdem er sich noch eine Weile in diesem Sinne ergangen, hob er seinen Kelch und ließ die Väter und Schwiegerväter hoch leben. Wieder klangen die Gläser, und das kräftigste Hoch riefen Poldi und Fred mit ihren hellen Knabenstimmen, indem sie von einem zum andern zogen und anstießen, besonders feierlich mit den alten Herrn, weil sie sich als Vertreter der noch nicht vorhandenen Enkelschar fühlten. Aber kaum hatten die Wogen sich geglättet, so sah man sie wieder sittsam auf ihren Plätzen sitzen und mit den Augen die Schüssel verfolgen, die sich langsam näherte. Denn nun kam das Gericht, auf das ihnen die alte Sabin schon einen ganzen Tag vorher lange Zähne gemacht hatte: Teigdüten mit Schlagsahne gefüllt.

Frau Patruban machte schon seit längerer Zeit ihrem Manne Zeichen mit dem Kopf. Nach ihrer Meinung hätte es sich gehört, daß er jetzt auch etwas redete. Sie wünschte, daß er jetzt auch etwas redete. Sie wünschte, daß das Haus Patruban heute mit Ehren bestünde. Immer war eine kleine Eifersucht in ihr, weil sie fühlte, daß das Patrizierhaus der Leodolter etwas wie eine ältere Überlieferung vor den Patrubanen voraus habe. Das machte sie mißtrauisch, sie paßte auf jedes Wort, ob man ihr und den Ihrigen von der anderen Seite auch die völlige Gleichwertigkeit zubillige, und je netter und harmloser die Leodolterischen sich benahmen, um so mehr spitzte sie die Ohren und lauerte, ob nicht etwas dahinterstecke. Und je weniger sie etwas Greifbares entdecken konnte, das ihren Verdacht gerechtfertigt hätte, und je mehr sie sich im Stillen selbst ihrer Eifersucht schämte, um so deutlicher fühlte sie erst recht einen gewissen Abstand. Und je deutlicher sie ihn fühlte, um so eifriger sagte sie sich, daß die Patrubane ebensoviel wert seien wie die Leodolterischen, daß sie keinen Grund hätten, sich vor ihnen zu verstecken, und daß ihr Mann, um zu zeigen, daß er auch wer sei, ebenfalls eine Tischrede halten müsse, wie der alte Beywald und der Muschir es bereits getan hatten. Es wurmte sie, daß Herr Patruban ewig nichts dergleichen tat und ihre Winke nicht verstand, oder nicht verstehen wollte, und als alles nichts half, sandte sie ihm endlich ein vernehmliches »Patruban?« hinüber, halb mahnend, halb vorwurfsvoll.

Da nahm er sich einen Rand, stand auf und klopfte ans Glas.

Herr Johann Peter Patruban war ein einfacher, lebenslustiger Mann, der sein Herz auf der Zunge trug und gern alle fünfe gerade sein ließ. Aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen, hatte er es durch seine wohlfeilen Glanztafte, die er jahraus jahrein in derselben Qualität fabrizierte, in verhältnismäßig kurzer Zeit zu etwas gebracht. Er war stolz darauf, aus eigener Kraft hinaufgekommen zu sein, und sagte nie: »wir Fabrikanten«, sondern stets: »wir Seidenweber«. Seine Lieblingsspeise waren, auch seit er reich geworden, saure Nierndeln geblieben. Nur über seinen Schneider hatte die Gattin Gewalt gewonnen. Da für die Verlobungsfeier die Losung »gemütlich en famille« ausgegeben war, so trug er Pantalons aus weißem Zwirntuch und einen scharf in die Taille geschnittenen bouteillengrünen Rock mit kurzen, glockenartig abstehenden Schößen von der Form einer kleinen Krinoline. Frau Patruban verlangte es, daß ihr Mann, wenigstens so oft er an ihrer Seite erschien, mit der Mode ging. Sie tat es auch und zeichnete sich neuestens durch eine besonders kunstvolle Koiffüre aus, die einem riesigen, aus Haarflechten aufgebauten Paragraphenzeichen glich. Der Einfluß, den sie auf die äußere Erscheinung ihres Gatten gewonnen hatte, versagte aber, wo es sich um seine sonstige Art und Weise handelte. Darum hatte sie sich angewöhnt, die Verantwortung für alles, was er sprach oder tat, wenn es ihr unpassend erschien, mit einem entrüsteten »Aber Patruban!« abzulehnen.

»Meine hochverehrten Herrschaften«, sagte Herr Patruban, »ich bin kein Redner nicht. Können tu' ichs nicht, und gelernt hab' ichs nicht. Ist auch gar nicht von mir zu verlangen; der eine tut Bücher lesen, der andere tut fabrizieren. Wir Seidenweber vom Brillantengrund sind immer mehr fürs Praktische gewesen ...«

Man nannte in Wien das Schottenfeld, die unter der Dominialgewalt der Benediktinerabtei zu den Schotten stehende Vorstadt, wo alle hier Anwesenden zuhause waren, nicht ohne einen Anflug von Neid den »Brillantengrund«. Denn von den Gattinnen der wohlhabenden Schottenfelder Fabrikanten wurde behauptet, daß sie auf Bällen und im Theater, in privaten und öffentlichen Zirkeln ihre Mitschwestern aus den anderen Vorstädten durch den Glanz ihrer Juwelen überstrahlten. In den langen Friedensjahren, die der Niederwerfung Napoleons folgten, war die früher mehr handwerksmäßig betriebene Seidenweberei, die auf den schottischen Freigründen ihre Heimstatt hatte, zu einer mächtigen Industrie aufgeblüht und hatte aus den Nachkommen der bescheidenen kleinen Webermeister von anno dazumal reiche Fabriksherren, aber freilich auch aus den gemächlichen Handwerksgesellen von damals – Fabriksarbeiter gemacht.

»Ich bin schon als kleiner Bub im Stuhl gesessen«, fuhr Herr Patruban fort. »Aufbäumen und ein Geschirr einrichten kann ich gut, aber schöne Reden drachseln kann ich nicht ...«

»Drachseln!« hauchte Frau Patruban.

»Sintemalen aber meine liebe Theresia durchaus will, daß ich auch was red', und schon alleweil mit ihren Guckfensterln blinzelt ...«

»Aber Patruban!«

»No ja? Bitte! Ist es vielleicht nicht wahr? Übrigens unterbrich mich nicht alleweil, da soll ein Mensch nicht den Faden verlieren! – Also, was ich hab' sagen wollen ... Die andern lieben und hochverehrten Freunde haben so schön und von Herzen geredet, und da kommt mir auch die Courage, und ich denk' mir wie der Kater, der ein Kameel sieht und einen Buckel macht: Probierst es halt auch! So groß und so schön ist mein Buckel freilich nicht wie der von einem Kameel.«

Der alte Beywald schüttelte sich vor Lachen.

»Das gibt er gut! Was? Das gibt er gut! Und dabei steckt er uns alle in den Sack, der Patruban!«

Er stärkte sich durch einen Schluck Schaumwein und begann zu husten. Die urwienerische Art des Freundes fand in ihm stets das dankbarste Publikum.

»Ich sag's halt, wie ich mir's denk'«, fuhr Herr Patruban fort. »Es g'freut mich recht aufrichtig, daß ich und die Meinigen jetzt mit so scharmanten Familien wie die Leodolterischen und die Beywaldischen es sind, in ein verwandtschaftliches Verhältnis treten sollen. Aber, daß Sie es nur wissen, Herr Schwiegersohn, leicht ist es mir nicht geworden, das Jasagen. Ein Kind aus dem Haus verlieren, ist kein Klänkas ...«Streichkäse, soviel wie Kleinigkeit.

»Aber Patruban!«

»Und gar, wenn es ein Mädel ist, die Mädeln sind mir immer die Liebern gewesen. Man hat seine Freud' damit, schon von klein auf, man hat zugeschaut, wie sie größer wird, man hängt an ihr, und jetzt kommt auf einmal einer daher und nimmt sie dir weg ... Gerade die Julie ist immer mein Schmalzerl gewesen.«

»Ich heirate ja nicht nach Amerika, lieber Vater!« sagte Julie Patruban tröstend.

»Das ging' mir gerade noch ab!« rief er ... »Nach Amerika! Ich heirat' ja nicht nach Amerika, sagt sie ganz gemütlich! Ja, sie tät's, wenn der Herr von Leodolter zufällig ein Amerikaner wär'! Sie ging mit ihm auch nach Amerika! Sie ließ' ihren alten Vater da sitzen und ging' mit ihrem Mann nach Amerika! Was ein richtiger Vatter ist« – er sagte im Eifer »Vatter«, um die väterliche Liebe und Hingebung recht deutlich auszudrücken – »der kann an Amerika nicht einmal denken! Aber so ein Kind sagt Amerika! Sie sagt Amerika, geradeso wie man sagt: – Nußdorf!«

Er ereiferte sich und wiederholte ein paar Mal mit wegwerfenden Handbewegungen, so als ob es eine rechte Bagatelle wäre: »Amerika –! Amerika–!«

»So komm doch einmal zu einem End'!« mahnte Frau Patruban.

»Laß mich!« rief er aufgebracht. »Wenn ich fertig bin, nachher kannst du reden. Vorderhand bring' ich einen To–ast aus! – Also, was ich hab' sagen wollen ... Ein paar Jahr' wenigstens hätt' ich halt die Julie noch gern im Haus behalten. Aber so ist es schon einmal in der Welt: Aus Kindern werden Leut', aus Jungfrauen werden Bräut'. Was kann ein armer Vatter dagegen machen? Bleibt einem also schließlich nichts übrig, als Ja und Amen zu sagen. Zum Glück hab' ich das Ja- und Amensagen längst gelernt. An der Seite meiner lieben Theresia nämlich.«

»Aber Patruban!«

»No ja, ich bitte! Fünfundzwanzig Jahr' bin ich jetzt bald mit ihr verheiratet, nächste Portiuncula feiern wir silberne Hochzeit. Da gewöhnt sich einer nach und nach den eigenen Willen ab. Also, es ist eigentlich meiner lieben Theresia zu danken, daß ich schon eine gewisse Übung im Ja- und Amensagen erlangt habe, und so sag' ich halt in Gottsnamen Ja und Amen. Nützen tät's mir eh' nichts, wenn ich's nicht tät'. Denn wenn meine Theresia etwas durchsetzen möcht', dann steht es so: Wehr dich dagegen noch so viel, es geschieht doch, was Gott haben will.«

Frau Patruban seufzte und schlug die Augen zum Himmel, aber sie sagte nichts mehr, aus Furcht, ihn noch zu weiteren Ausführungen zu reizen.

»No, und meine Theresia kann's halt einmal nicht erwarten und möcht' adubri bald Schwiegermutter sein. Jetzt, da wissen die Mütter aber freilich sehr genau, was sie zu tun haben, wenn sie Schwiegermütter werden wollen. Auf die Sachen verstehen sie sich, da sind wir Männer die reinen Bachsimperln dagegen. Darum soll man bei einer Verlobung die Mütter immer zuerst hochleben lassen, und es war eine unverdiente Ehr', daß heut' zuerst wir Väter darangekommen sind. Alles, was recht ist. Ich bedank' mich schön dafür, auch im Namen der andern Herrn Väter und Schwiegerväter, aber es ist höchste Zeit, daß wir jetzt an unsere schöneren Hälften denken ...«

Und indem er sein Glas hob, ließ er die Mütter und Schwiegermütter hochleben, und bei den Müttern machte er eine leichte Verneigung gegen Frau Beywald, und bei den Schwiegermüttern eine solche gegen seine Gattin, als ob nicht jede der beiden Gefeierten Mutter und Schwiegermutter in einer Person gewesen wäre.

Während die Vivats verhallten, benützten die Brautleute die Gelegenheit, nachzutragen, was bis dahin versäumt worden war: Der Muschir schlang mit Julie Patruban die Arme ineinander und Beywald jun. mit Cajetana Leodolter, und so tranken sie auf du und du. Und dann wiederholten sie denselben feierlichen Vorgang kreuzweise untereinander und mit den künftigen Schwiegereltern, Schwägern und Schwägerinnen, soweit sie sich nicht schon von früher duzten. Ein emsiges Küssen folgte darauf, das zum Teil recht gradhinaus, zum Teil aber auch wie Honigseim schmeckte. Und in das plötzlich entstandene und nicht enden wollende Stuhlrücken, Fußscharren und Herumgehen um die Tafel knallten wie Böllerschüsse die Pfropfen der neuen Flaschenbatterie, die Pappelmann, der Kontordiener, unter Aufsicht Michellas entkorkte.

»Du, Cajetana,« sagte der junge Beywald, in der noch ungewohnten traulichen Anredeform schwelgend; »jetzt brauchen wir keinen Fendi mehr, du!«

Frau Patruban bemerkte zu ihrem Nachbar: »Genau genommen gehören die Leodolterischen gar nicht zum Brillantengrund.«

Prinz Schöps zuckte die Achseln. Eigentlich hieß er Ignaz Princeps und war Seidenhändler. Weil ihm sein Name zu ungemütlich klang, schrieb er sich Ignaz Fürst (vulgo); die Leute blieben aber bei Princeps und sprachen es Prinz Schöps aus. Da er in der Lämmelgasse wohnte, gehörte er genau genommen auch nicht zum Schottenfeld und fand Madame Patrubans Patriotismus um einige Gassen zu eng.

»Bitte Sie, Frau von Patruban! Das kleine St. Ulrich in Zaismannsbrunn kann man ganz gut zum Brillantengrund rechnen; ist beides schottisch, und an Brillanten fehlts da und dort nicht, gottlob!«

»O – « sagte Cajetana, »wenn wir auch keinen Fendi mehr brauchen ...«

»Was willst du? Schau meinen Papa an!« sagte er und busselte sie.

»Im Namen der Firma,« hauchte Sephine Leodalter, indem sie den alten Beywald küßte, der darauf bestanden hatte, mit ihr Bruderschaft zu trinken.

»Wer sind die beiden Herren, die neben Susann sitzen?« fragte die alte Frau Beywald ihren Nachbar.

Mosch-Eskeles führte sein goldgestieltes viereckiges Einglas ans Auge. Kahlhäuptig, mit schwarzen Bartkoteletten und einem überaus feingeschnittenen orientalischen Profil, verleugnete er nicht das Gepräge jener erlesenen Judenrasse, von der er mütterlicherseits abstammte, und die von Spanien her, ebenso wie nach England und den Niederlanden, ihre Ausläufer, vielleicht auf dem Wege über Triest, auch nach Österreich entsendet hatte.

»Der eine, der Wildbärtige, das ist Herr Scheichenstuhl, ein wackerer Pädagog, der Lehrer Poldis und Freds. Der andere ein gewisser Mießrigel, Sohn eines kleineren Seidenwebers, eine etwas problematische Existenz, wenn ich nicht irre.«

»Das scheinen keine möglichen Partien?«

»Wünschen Sie eine Heirat zu stiften?«

»Nicht bloß eine. Für Susann suche ich einen Mann, für Sie eine Frau.«

Mosch-Eskeles lächelte schwach

»Sie wissen, gnädige Frau, wie schwer es für mich ist. Ein Jude bleibt ein Jude. Und wenn er nicht gerade eine Jüdin findet ...«

Er hatte Bethi Neigung entgegengebracht, die vielleicht nicht ganz unerwidert geblieben war. Doch wagte er es nie, ein entscheidendes Wort zu sprechen. Er wollte es ihr ersparen, sie durch die Schwierigkeiten zu beunruhigen, die seine Religion und Rasse einer Verbindung entgegensetzen mußten. So blieb er bloß ihr Freund und war entschlossen, als Hagestolz zu sterben.

Susann blickte mit erhitzten Wangen zu Herrn Schinackel auf.

»Jetzt müssen Sie auf mein Wohl auch eins leeren.«

Er war über ihren ausdrücklichen Wunsch aufgefordert worden, ebenso wie Mießrigel. Sie müsse doch auch Herren haben, sagte sie schmollend, als Michella, die die Einladungen spedierte, sich weigern wollte. Und als sie nicht nachgab, hatte Michella ihr endlich willfahrt, obgleich sie den Kopf dazu schüttelte: »Nette Herren, das!«

Bei Tisch saß sie zwischen ihnen, Schinackel rechts, Mießrigel links.

»So bekommt er auch am Sonntag einmal satt zu essen,« dachte sie beständig, während sie Schinackel beobachtete.

Wie sie jetzt neben ihm stand, überkam es sie, daß sie ihm das Glas füllte und sagte: »Sie müssen taumeln!«

Er fürchtete sich buchstäblich vor ihr wie ein kleines Kind vor einer fremden dunklen Stube.

»Sehen Sie mich an!« rief Mießrigel mit glurenden Augen. »Sie Pädagog! Pädagog, Sie!«

Er lachte und konnte sich kaum auf den Füßen halten.

Juliane Patruban blickte wie betäubt in dem weiten, mit kostbaren Gemälden geschmückten Zimmer umher, das von dem heitern Lärm der festlichen Versammlung widerhallte. Der Muschir zog sie an seine Brust, vorsichtig, um ihre Tirebouchons nicht zu verdrücken, und während er seine Hand über ihren Scheitel hielt und es doch nicht wagte, ihr Haar zu berühren, sagte er nichts als: »Du! ... Du! ...«

Indem sie ihr Haupt gegen ihn lehnte, schweiften ihre Blicke durch die offene Tür auf die Fülle blühender Rosen, die den Balkon umrankten, und über die Wipfel der Bäume, die aus dem Garten heraufgrüßten. Und sich wieder aufrichtend, sagte sie leise: »Wie schön werde ich es hier haben!«

»O Liebste, noch weitaus so schön nicht, als du es verdienen würdest!«

Auf einmal hörte man ganz laut vom untern Ende der Tafel Freds Stimme: »Aber Patruban!« – Poldi hatte, indem er mit dem Bruder anstieß, ein paar Tropfen Schaumwein auf Freds Anzug verschüttet. Und Fred, übermütig und ausgelassen, rief ihm, vielleicht lauter als er beabsichtigt hatte, das peinliche Wort zu.

Ein peinliches Verstummen, ein Augenblick atemlosen Schweigens. Da sagte Herr Patruban, indem er sich frohlockend die Hände rieb: »Siehst es, Theresia, jetzt pfeifens schon die Spatzen auf dem Dach!«

Und ein fröhliches Gelächter erfüllte wieder den Saal.

Herr Schinackel trat an Fred heran und bedeutete ihn, daß er strafweise die Gesellschaft zu verlassen habe. Der Knabe setzte sein trotziges Gesicht auf, trat auf den Balkon hinaus und fing an, die Bienen und Hummeln zu zählen, die um die Kletterrosen summten. Er blieb aber nicht lange allein. Sobald es unbemerkt geschehen konnte, stahl Poldi sich aus dem Saale, um ihm Gesellschaft zu leisten und einiges Backwerk vom Nachtisch zuzustecken.

»Dieser Magua!« grollte Fred. »Aber sein Tomahawk hat nur die Adlerfeder gestreift, die Unkas' Haar schmückt. Der Mohikaner selbst ist unverletzt geblieben.«

»Willst du nicht auch einmal ein freier Bürger in einen, freien Lande sein?« sagte Poldi.

»Schwapp!«

Das bedeutete nach dem »Sprachgebrauch« so viel wie »Selbstverständlich.«

»Also, dann mußt du dich aber auch danach benehmen. Denn ich stelle mir vor, wenn alle frei sein wollen, dann ist es nicht anders möglich, als wenn keiner etwas Unziemliches tut und jeder nur das, was sich gehört.«

»Dromedar! Wenn man nicht tun darf, was man mag, so ist man doch nicht frei?«

Mießrigel, der plötzlich hinter ihnen stand, hatte es gehört, rieb sich unter unbändigem Gelächter die Schenkel und schlug Lärm.

»Deididldum, deididldum, o du verflixte Komödie! Frei wie zu Korcyra, spucke jeder, wohin er mag!«

Mehrere Leute traten auf den Balkon heraus, angeregt, plaudernd und aufgeräumt, aber auf Mießrigel hörte niemand Der alte Beywald kam gar mit seinem perlenden Kelchglas und brachte ein zweites mit.

»Heda, das duld' ich nicht! Was schickt man den Jungen in die Verbannung?«

Schinackel wollte etwas erwidern, aber er entzog ihm mit einem schalkhaften Augenzwinkern das Wort.

»Ach was! Keck holt die Braut weg. Wo ist der Exilierte, ich will Bruderschaft mit ihm trinken!«

Ganz in Schwarz gekleidet, sah er mit seinen glattrasierten fleischigen Wangen, die vom Wein gerötet waren, fast wie ein heiterer alter Geistlicher aus. Doch die feingefältete Hemdkrause, die sich im Westenausschnitt blähte, gab seiner Erscheinung etwas vornehm Weltmännisches und nicht minder das kostbare Juwelengefunkel in der schwarzen Atlasbinde, die so hoch war, daß sie nur ein schmales Streifchen der blendend weißen Vatermörder darüber hervorschimmern ließ.

»So – also! Von jetzt ab sagst du »du« und »Onkel« zu mir.«

Fred war rot geworden, er hatte das Gefühl, daß er eine so hohe Ehre doch nicht ganz verdiente. Auch hatte er in seiner Verlegenheit das Kelchglas auf einen Zug geleert. Die ganze Gesellschaft, Damen und Herren, drehte sich vor seinen Augen. Ein verwirrendes Durcheinander von Bewegungen, Farben und Stimmen. Eine himmelblaue Wolke schwebte näher, das war die neue junge Tante; sie stand mit dem wohlwollend lächelnden Mosch-Esteles und dem weißhaarigen Herrn Beywald beisammen, flüsterte mit ihnen und sagte: »Was für ein hübscher Bub! Man muß ihm gut sein.«

Julie Patruban glaubte leise genug gesprochen zu haben und dachte nicht, daß Fred das Wort aufgefangen haben könnte. Und als er jetzt am Balkongeländer stehend das Gesicht trotzig und beschämt in den Aermel versteckte, meinte sie, die erlittene Strafe kränke ihn noch, hob seinen Kopf und küßte ihn zärtlich. Er aber riß sich unwirsch los, drängte durch die Gäste und eilte die Treppe hinab in den Garten. Und sobald er den Kies unter den Füßen spürte, fing er zu laufen an und lief zwischen den Gebüschen hin bis ans unterste Ende des Gartens, wo der stille Mühlbach zwischen den grünbewachsenen Ufern hinglitt. Da stand er jetzt und dachte darüber nach, ob er nicht zu Frau Patruban oder zu Schinackel oder zu beiden gehen und sich entschuldigen sollte? Aber allmählich vergaß er darauf.

Das leise ziehende Wasser und die Sonnenlichter, die sich darin spiegelten, nahmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. So hinfließen und nichts weiter tun und denken brauchen! ... Es bohrte ein Schmerz in ihm ... Man hatte ihn gedemütigt und erhoben ... die neue junge Tante hatte ihn geküßt, sie war wie eine Fee, so blond, sie hatte über ihn geflüstert ... Er erglühte, es traten ihm Tränen in die Augen – o, er haßte sie!

Jetzt hörte er Schritte hinter sich im Gartenkies. Poldi war es, der besorgt und liebevoll nach ihm zu sehen kam.

»Was willst du von mir, was läufst du mir nach?«

»Du sollst dich nicht mehr kränken, Fred! Komm! Ich hab' den Schinackel gebeten, er erlaubts, du darfst wieder zu den andern kommen!«

Da schrie Fred ihm entgegen: »Geh! Laß mich allein! Ich brauch' dich nicht! Niemand brauch' ich! Laßt mich in Frieden und schert Euch zum Kuckuck!«

Und er rannte vor dem Bruder davon und verbarg sich im Dickicht des Gartens. Hinter einem Gebüsch hatte er vorigen Spätherbst braunglänzende Kastanien in die Erde gesteckt, da standen jetzt zarte, hellgraue Stämmchen, zwei Spann hoch ein jedes, und ein jedes trug am Wipfel zwei voll entfaltete fünffingerige Blätter, so groß wie das Blatt eines erwachsenen Kastanienbaumes. Er hatte vergessen, danach zu sehen, und sah sie jetzt, es war wie ein Wunder, daß aus seiner Saat, die über den Winter in der Erde gelegen, diese Bäumchen geworden. Ganz von selbst waren sie gekommen und standen still und friedlich im Verborgenen, ohne daß er sich um sie gekümmert hatte, und wehten leise im Wind, und es machte ihn traurig, sie zu sehen, diese stummen, willenlosen Geschöpfe, die er ins Leben gerufen und an denen er kein Teil mehr hatte ...

Lachen und Plaudern schreckten ihn auf, Stimmen klangen an sein Ohr und das Klimpern gezupfter Saiten. Durch das Blättergewirr seines Verstecks sah er den Kiesweg herab ein helles Kleid blinken. Jetzt das Aufkreischen einer weiblichen Stimme. Eine duftige weiße Wolle wehte an seinem Gebüsch vorüber, ein laufendes Mädchen. Wer wars? Er riet auf Susann. Gleich darauf trabte mit schweren Tritten ein Mann an ihm vorbei, der die Enteilende verfolgte. Er teilte die Zweige und erkannte Mießrigel, der laufend hinter der Biegung des Weges verschwand. Quer über den Rücken seines flaschengrünen Frackes lief ein breites Seidenband mit eingewebten Rosen, an dem er die Gitarre trug.

Fred litt es nicht länger in seinem Versteck, eine gewisse Scheu trieb ihn davon und zurück in die Nähe des Hauses. Unter dem großen Birnbaum am Rosenflöz kam ihm Schinackel entgegen, hastig, mit verschobener Halsbinde. Gut – der suchte ihn und wollte ihm eine Fastenpredigt halten. Fred begriff es sogleich und ergrimmte. Aber nein, diesmal hatte er sich getäuscht. Ob er Fräulein Susann und Mießrigel nirgends gesehen? stieß Schinackel hervor, und sein Atem ging schnell. Und ohne sich weiter um Fred zu kümmern, enteilte er in der Richtung, die der Knabe ihm wies.

Es sah lächerlich aus, wie er in Hast und Verwirrung mit dem linkischen Eifer der Kurzsichtigen davonrannte, und verwundert blickte Fred ihm nach. Aber zum erstenmal hatte er in diesem Augenblick seinen Lehrer lieb; vielleicht, weil er irgend etwas Menschliches, das er doch nicht begriff, in seinem sonderbaren Gehaben ahnte. Schwankend, ob er nicht umkehren und ihm helfen sollte, Tante Susann und Mießrigel zu suchen, stand er still; da fiel es ihm wieder ein, wie ein jäher Schreck, daß er ein hübscher Junge war, die neue junge Tante hatte es gesagt. Man hörte Stimmen und Gelächter der Gäste auf dem Balkon. Es war kein anderer Gedanke mehr in ihm, als aus der Nähe der Menschen zu fliehen.

Oberhalb des Landhauses begann der Gartenpfad anzusteigen, dann kam der weißgestrichene Lattenzaun und jenseits ein Hohlweg, der zwischen Feldern hinführte. Wo der Hohlweg in den Laubwald mündete, hing eine Wegtafel für Ausflügler an einem Buchenstamm: »Auf die Himmelswiese!« Aber Fred bedurfte keines Weisers und hielt sich nicht an den ausgetretenen Pfad.

Weglos klomm er den schwarzerdigen Waldboden hinan, von dem der Duft der Cyklamen aufstieg, und erreichte an einer abgelegenen Stelle, wo die letzten Gräser und Blumen unter den überhängenden Buchenzweigen sich vor den Strahlen der Sommersonne versteckten, den oberen Saum des abschüssigen Wiesengeländes, das sich an der gegen Sonnenaufgang geneigten Seite des Hügels hinanzog und die Himmelswiese genannt wurde. Da warf er sich auf den Boden und lag tiefatmend zwischen Stern- und Glockenblumen und sah über die wehenden Gräserrispen hin auf farbige Inseln, die blau waren von Salbei oder violett von Wiesendisteln mit neugierig auslugenden Köpfen, oder goldgelb von den leuchtenden Sonnenblüten des Bocksbarts. Tief unten schnitten Felder mit hochaufgeschossenen jungen Halmen ins saftige Grün, von denen der nahrhafte Duft des blühenden Korns herüberstrich, und aus der Ferne dämmerte die weite dunstige Ebene, durch die sich die waldreichen Auen des Strombettes wie mit dunklem Moos bewachsene Stellen hinzogen, bis bläuliche Schleier aus Rauch und Nebel sie mit dem zur Erde sich herabsenkenden Himmel verschmolzen. Und näher, wo der Strom beim Austritt ins endlose Flachland sich gabelt, breitete sich die große, herrliche Stadt, deren Basteien deutlich über dem grünen Gürtel der Glacien herübergrüßten.

Friedlich lag sie da und ruhte im Licht des Abends, schweigend hingestreckt am Fuß der letzten, bis knapp an die Donau vorgeschobenen Wald- und Rebenhügel, und mitten über ihr hing wie ein wunderbares Traumgebilde die schlanke Silhouette des Stephansturms vom Firmamente nieder. Die Strahlen der sinkenden Sonne spiegelten sich in seinem Knauf, es war, als sei zuhöchst aus seiner Spitze eine lodernde Fackel aufgesteckt, deren Flamme unruhig gegen Himmel züngelte, einem Notzeichen gleich, das bedrängte und geängstigte Menschen entzünden, wenn sie um Hilfe rufen.

Da gingen Fred die Worte durch den Sinn, die der alte Beywald gesprochen, und er fing an, ihnen nachzudenken. Er hatte sie nur halb verstanden, aber er fühlte, daß nicht alles war, wie es sein sollte da unten, und daß eine bange Spannung in der Luft lag und eine unerfüllte Sehnsucht die Gemüter bewegte. Man erwartete etwas wie eine Erlösung oder Befreiung, man zählte, Herr Beuwald hatte es betont, auf die heranwachsende Jugend, zu der er selbst gehörte, man zählte auch auf ihn, auf seine Tüchtigkeit und auf seinen Mut, wenn er einmal älter wäre. Wie sollte es dann werden? Was konnte er beginnen? Ein bitteres Sehnen überkam ihn, nach heldenmütigen Taten, nach etwas Großem, Unbekanntem, das er dereinst verrichten winde, umjubelt vom Dank der Menschen, sich aufopfernd für das Wohl seiner Vaterstadt, sein Herzblut verspritzend für irgend eine edle, gemeinnützige Sache.

Und Julie Patruban, die schöne junge neue Tante, die würde dann seinen Triumph mit ansehen und würde sich nicht mehr getrauen, seinen Kopf zwischen die Hände zu nehmen und ihn zu küssen! Sondern wie zu einem großen jungen Helden würde sie zu ihm aufblicken, und er würde ihr die Hand vom Pferde reichen und ihr großmütig verzeihen ...

Und er streckte die Hände aus, fortgerissen von seiner leicht entzündeten Einbildungskraft, wie um diese Stadt da unten mit all den Menschen darin, denen er ein Erlöser werden wollte, ans Herz zu ziehen. Und bewegt und erhoben von einem erträumten Heldentum, das noch keinen Inhalt und keine Wirklichkeit hatte, schwur er bei dem Feuer der flammenden Fackel, die nach Kämpfern zu schreien schien, daß es an ihm nicht fehlen sollte, wenn der Augenblick gekommen wäre, an ihm nicht! Ob es nun neuerdings gegen die Türken gehen sollte, von deren räuberischen Ueberfällen und Grausamkeiten alte Geschichten zu melden wußten, oder wider die Franzosen, gegen die noch sein eigener Großvater gefochten hatte, dort drüben in der Ferne, wo das Marchfeld dämmerte, oder gegen sonst einen frechen Eindringling und Bedränger des Landes und der Stadt – an ihm sollte es nicht fehlen, wenn es einmal darauf ankäme, an ihm nicht, an ihm nicht! Und immer feuriger und greller flammte und loderte es von der Spitze des uralten Riesendomes, der auf die Geschicke seiner Eltern, seiner Ureltern, seiner ganzen Familie herabgeblickt hatte – weit zurück. War es nicht wie ein Ruf, der an ihn erging? Brauchte man Hilfe schon jetzt, heute schon, schon in dieser Stunde? O wie brannte er vor Begierde nach leuchtenden Erlösertaten! O wie lang würd' es noch dauern, bis er erwachsen wäre, bis er seinen Mann würde stellen können, und bangte doch so sehnlich danach! Mit erglühenden Wangen, heiß von Liebe und Zorn, die nach ihren Gegenständen suchten, bebte er der unbekannten Zukunft entgegen.

Da sank die Sonne, und die Fackel, die über dem Häusermeer schwebte, erlosch. Grau und verfärbt hüllte die Stadt sich in dichtere Schleier von Rauch und Nebel.

Und Fred warf sich ins Gras und grub sein heißes Antlitz in die feuchte Erde und weinte vor Enttäuschung, Sehnsucht, Mut und Trotz.

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