Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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Pappelmann trat bei Frau Brodbeck ein, sagte guten Morgen und bat um sein Frühstück.

»Sie kommen auch, wann es Ihnen ansteht,« eiferte Frau Brodbeck; »seit einer Stunde wärme ich den Kaffee für Ihnen auf.«

Sie verschwand in ihrer kleinen Küche, wo sie lauter, als es nötig gewesen wäre, mit Geschirr und Hafendeckeln klapperte, und brachte ein hohes Glas, in dem Kaffee und Milch zusammengegossen waren und ein Eßlöffel steckte. Er hatte sich am Tische niedergelassen, gähnte und sah übernächtig aus.

»Das wird aber ein Unglück sein, wenn Sie das bissel Kaffee für mich aufwärmen müssen!« murrte er verdrossen.

»Es ist nur wegen dem vielen Holz,« jammerte sie, »was dabei aufgeht, und was alleweil teurer wird. So viel wird man doch noch sagen dürfen?«

»Das bilden auch nur Sie Ihnen ein, daß das Holz teurer wird. Es muß jetzt überhaupt alles billiger werden, wo wir die neue Preßfreiheit haben.«

»Nichts als der Wein!« rief sie überzeugt: »weil jetzt jeder Bauer Wein pressen darf und kostet ihm keine Steuer.«

»Sind Sie aber dumm!« sagte Pappelmann und lachte. »Wegen dem Weinpressen heißt es doch nicht Preßfreiheit?«

»Also wegen was denn sonst?«

»Weil die Verzehrungssteuerbeamten bei den Linien,« klärte er sie auf, »die Leute nicht mehr pressen dürfen. Verstehen Sie? Deswegen müssen jetzt alle Viktualien billiger werden. Sagen Sie es nur dem Greisler und lassen Sie Ihnen nicht überhalten! – Wie geht es Ihrem Neffen, dem jungen Brodbeck? Liegt er noch im Spital?«

»Die nächsten Tag' soll er herauskommen. Es war nur ein DippelBeule »Na, ich bedank' mich! Wenn einer mit einem schweren Schmiedhammer eine DachtelSchlag, Merks. auf den Schädel kriegt! ... Dem sein Köpfel muß schon auch so dick sein wie das von seiner Frau Tant'!«

Er faßte das Glas an, um zu trinken, und verbrannte sich die Finger.

»Wär' eh' nicht notwendig, daß Sie so hitzig aufwärmen!« fuhr er sie an. »Jetzt kann ich wieder blasen, bis er ausgekühlt ist.«

»Wenn der Kaffee kalt wär',« sagte sie, »täten Sie erst recht schimpfen. Warum kommen Sie nicht zu rechter Zeit?«

»Bisgurn!« brummte Pappelmann.

»No ja, weil Sie einen gleich so anschnauzen, daß man sich rein nichts mehr zu sagen traut.«

»Weil Sie tun, als ob ich mein eigener Herr wär,« fuhr er wieder auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Glauben Sie, unsereiner kann frühstücken, wann er möcht'? In meinem Magen pfeift eh' schon der Wind, so leer als wie er ist!«

Der Weber Priesching trat ein und setzte sich zu ihm. Wie es dem gnädigen Herrn gehe? wollte er wissen.

»Eine schlechte Nacht haben wir gehabt,« sagte Pappelmann, den Löffel in der Luft haltend und emsig blasend. »Der große Arbeitssaal auf dem Braunhirschengrund, wenn alle Stühle in Gang waren, hat nicht so viel Lärm gemacht, als wie der gnä' Herr allein. So sauer wie dem das Sterben wird! Und er mag halt durchaus nicht und hat noch so viel überschüssige Kraft in sich, die will er früher noch auslassen. Zu dritt haben wir ihn halten müssen die Nacht, ich, die Frau und der Herr Alfred.«

»Spitzwegerich wär' halt das Beste,« meinte Priesching. »Ich will heut' auf den Galiziberg geh« und schauen, ob ich schon einen find'. Es müssen aber die ganz jungen, frischen Blätter sein, und in dem Moment, wo er aus dem Boden außerspitzt, muß man ihn stechen.«

»Dem hilft auch kein Spitzwegerich mehr!« sagte Pappelmann bekümmert. »Der Patzenhauer ist erst vor einer Viertelstunde weggegangen, er sagt, die nächste Nacht werden wir kaum mehr erleben.«

»A belei!« machte Priesching im Ton jener etwas unsicheren Überzeugung, die sich selbst Mut zusprechen möchte. »Was wissen denn die Dokters? Die haben schon oft einen Lebendigen für tot gehalten! War es nicht geradeso mit dem Kaiser Josef? Den haben sie auch für tot erklärt, und jetzt, wo jeder drucken lassen darf, was er weiß, kommt es erst heraus, daß er heute noch lebt.«

»Der Kaiser Josef? Hören Sie auf!« rief die Brodbeck und stand mit gekreuzten Armen lauschend da. »Der Kaiser Josef lebt noch?«

»Freilich! Im Kloster Melk halten sie ihn gefangen. Über hundert Jahre soll er schon alt sein, aber sonst noch ganz beisammen. Der Metternich hat nicht wollen, daß er ihm etwas dreinredet, weil der Kaiser Josef halt immer mehr für die armen Leut' gewesen ist und die Verzehrungssteuer hat abschaffen wollen. Und deswegen haben sie ihn eingesperrt.«

Er zog ein Blatt aus der Tasche, auf dem unter einem schlechten Holzschnitt des unvergessenen Volkskaisers die Wundermär schwarz auf weiß gedruckt stand.

»Das muß ich doch gleich dem Herrn Alfred sagen,« meinte Pappelmann eifrig. »Der ist jetzt so eine Art Bürgermeister, der wird schon dafür sorgen, daß der Kaiser Josef wieder herauskommt! No ja, wenn wir jetzt alle die Freiheit haben, so können sie doch den Kaiser Josef nicht eingesperrt lassen? Jesus, wenn das unser junger Herr Fred hört ... Der macht ja stantapedi eine neue Revolution!«

An demselben Tage, und noch ehe Pappelmann ihm von der wider göttliches und menschliches Recht verstoßenden Gefangenhaltung Kaiser Josefs Mitteilung machen konnte, stellte Petz im provisorischen Bürgerausschuß den Antrag, es sei eine Abordnung zum Minister Pillersdorf zu senden, mit der Bitte, so rasch als irgend möglich ein vorläufiges Preßgesetz zu erlassen.

»Das ist keine Freiheit,« sagte er, »das ist Anarchie! Jedem gewissenlosen Schreiber, Drucker oder Lithographen steht die Möglichkeit offen, sich Geld zu machen, indem er auf die Dummheit und Leichtgläubigkeit der Menge spekuliert oder ihren niedrigsten Instinkten schmeichelt. Der ehrbarste Privatmann ist nicht mehr sicher davor, seinen Namen durch die Gosse gezogen zu sehen, und ich habe von Fällen gehört, wo wohlhabenden Leuten für die Unterdrückung von Flugblättern und Zeitungsartikeln, die ihre und ihrer Familie Ehre ganz grundlos besudelten, Geld abgenommen wurde! Einen solchen Zustand kann man nicht mehr Preßfreiheit nennen, das ist Erpresserfreiheit! Die Zensur, wie sie bis vor kurzem gehandhabt wurde, war eine törichte und veraltete Einrichtung, sie diente hauptsächlich dazu, die Regierenden in Unwissenheit über die Bedürfnisse und den wahren Zustand der Bevölkerung zu erhalten. Sie mußte fallen und niemand weint ihr eine Träne nach. Daraus folgt aber nicht, daß an ihre Stelle jetzt das Chaos treten soll. Wir brauchen dringend ein vernünftiges Preßgesetz, das die Literaten vor den Übergriffen engherziger Behörden, aber auch das Publikum vor der Gewissenlosigkeit elender Schmieranten schützt!«

In der Versammlung saßen nicht viele Männer, denen solche Worte nicht aus dem Herzen gesprochen waren. Aber die meisten fanden es nicht geraten, in einer so heiklen Angelegenheit offen Stellung zu nehmen. Zur Vernunft zu mahnen, war jetzt ein Wagnis, man lief allzuleicht Gefahr, in den Geruch reaktionärer Gesinnung zu kommen. Die Studenten hatten so oft gehört und gelesen, sie seien die edelsten, die ritterlichsten jungen Leute in der ganzen Welt und hätten sich unvergängliche Lorbeeren um die Geschichte des Vaterlandes errungen, daß es schier nicht ganz ungefährlich war, an dem gegenwärtigen Zustand, den sie ganz allein heraufgeführt zu haben glaubten, irgend etwas nicht in vollster Ordnung zu finden. Eine nächtliche Katzenmusik war noch das Harmloseste, was einem, der es wagte, Bedenken zu äußern, passieren konnte.

Petzens Antrag fand darum nur eine laue Aufnahme. Und einer der Herren sprach es ganz offen aus: Das Wort »Gesetz« habe dermaßen beinahe einen etwas üblen Klang; wer könne wissen, was die »goldenen Jungen« dazu sagen würden, wenn man sich für ein Preßgesetz erwärme, das doch immerhin eine gewisse Einschränkung der Preßfreiheit bedeute.

»Die Gefahr einer Reaktion ist noch immer nicht beseitigt,« sagte er; »man darf die Begeisterung der Aula nicht abkühlen! Lieber beugen wir uns vorderhand ihren Schlagworten und warten ab, ob sich die Schmutzliteratur nicht vielleicht selber umbringt.«

»Da tut einem die Wahl weh,« meinte der alte Herr Beywald, der gleichfalls im Bürgerausschuß saß, »was vorzuziehen sei: der Absolutismus Metternichs, oder die Willkürherrschaft ihrer Heiligkeit der liberalen Phrase!« ...

Auf dem Heimweg traf Beywald auf der Gasse mit Schinackel zusammen, der gerade aus einer Volksversammlung kam und wiederholte ihm seine Bedenken.

»Laßt das Kraut wuchern!« sagte der; »die junge Freiheit muß sich austoben. Das öffentliche Leben gefällt sich in Gegensätzen, und die Völker halten es wie die Weiber mit der Mode: Erst hängen sie sich hinten und vorne Polster hinauf, daß sie sich fast nicht rühren können und aussehen wie die Tonnen; dann ziehen sie sich auf einmal fast bis aufs Hemd aus und gehen antik. Das muß alles überdauert werden, eh' ein vernünftiger Schneider zu Worte kommen kann, der ihnen eine zeitgemäße, praktische und zugleich kleidsame Toilette zurecht schneidert.«

Er suchte jetzt Fühlung mit den breiten Volksschichten und trieb sich viel in Gasthäusern und Spelunken, in Werkstätten und bei kleinen Handwerksmeistern umher, um die Bedürfnisse und Wünsche der Leute recht genau kennen zu lernen. Er wußte gut mit ihnen zu reden, wenn sie am Wirtstisch saßen, oder bei ihrer Arbeit waren, und hatte ein warmes Herz für ihre Sorgen und ihre Sehnsucht. Nur wenn sie in Masse beisammen waren, schätzte er sie gering und scheute sich nicht, ihnen durch die Blume zu verstehen zu geben, daß sie alle zusammengenommen weitaus urteilsloser seien als jeder einzelne von ihnen für sich allein, daß sie aus Eigenem doch nichts Vernünftiges zustande bringen würden, und froh sein müßten, wenn einer sich um ihre Angelegenheiten annähme, der gescheiter sei als sie. Aber gerade das gefiel den meisten, weil sie Wahrheit darin spürten, und wenn auch manchmal gegen ihn gerummelt wurde, so gewann er doch allmählich einen großen Anhang, und gerade die Besseren und Besten befanden sich darunter. Auf dem Schottenfeld, in Mariahilf und Gumpendorf gab es bald eine ganze Anzahl biederer kleiner Leute, die ihn als Freund und Berater verehrten und bereit gewesen wären, für ihn durchs Feuer zu gehen. Und Schinackel war entschlossen, nachdem er das erste Drittel seines Lebens seinen Idealen und das zweite dem Geldverdienen gewidmet hatte, das dritte Drittel seinen Mitbürgern und dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen, falls sie es irgendwie sollten brauchen können. Wenige Tage später trafen Petz und Mosch-Eskeles im Leseverein mit dem Freiherrn von Auenwald zusammen. Der erzählte ihnen, ein neues liberales Preßgesetz sei so gut wie fertig, die Veröffentlichung könne jeden Tag erfolgen.

»Wissen Sie auch, Herr Baron,« sagte Mosch, »daß ängstliche Gemüter eine neue Erregung der Aula durch die Bekanntmachung eines Preßgesetzes befürchten?«

»Nennen Sie mich nicht Baron!« wehrte Auenwald ab; »wir sind alle konstitutionelle Bürger. Übrigens dürfte über die Stimmungen der Aula niemand besser unterrichtet sein als Herr Leodolter?«

»Ich pflege meinen Sohn nicht auszuholen,« erwiderte Petz. »Die Jugend kommt auch manchmal auf Irrwegen ans Ziel. In diesen gärenden Zeiten bin ich schon zufrieden, wenn wenigstens wir Reifen halbwegs das Richtige treffen.«

»Im öffentlichen Leben,« sagte Auenwald, »ist Diplomatie alles. Die Wörter muß man der Menge lassen, die Worte sollen das Gepräge der Einsicht nicht verleugnen. Das liberalste Preßgesetz, das es auf der Welt gibt, wäre der Aula, wie sie heute gestimmt ist, reaktionärer Tobak, wenn es von der Regierung ausgeht. Darum gab ich meinem verehrten Freunde Pillersdorf den Rat, der auch befolgt wurde, den beliebten Professor Hye von der Universität zur Ausarbeitung beizuziehen. So wird die Aula selbst die Vernunft gegen die Unvernunft der Aula in Schutz nehmen.«

»Hoffen wir, daß die Vernunft sich als die Stärkere erweise,« sagte Mosch.

Es war eine eitle Hoffnung. Schon in den Frühstunden des Tages, an dem die ersten gedruckten Exemplare des neuen Gesetzes ausgegeben wurden, fand Fred, als er auf der Universität ankam, die Kollegen in heller Aufregung.

»Man will das Volk in den April schicken!« rief Tauß ihm entgegen (es war der erste April); »das Zensuramt haben sie aufgelöst und das Zuchthaus wollen sie an seine Stelle setzen! Wenn wir uns ein solches Preßgesetz gefallen lassen, dann müssen wir von nun ab schamrot werden, wenn uns noch einmal jemand als Befreier des Vaterlandes feiert!«

Von den Stufen der Jesuitenkirche begann eben ein bewaffneter Student das Gesetz vorzulesen. Alles umdrängte ihn, und bei jedem Punkte, der nicht ein Recht gewährte, sondern Verpflichtungen auferlegte oder gewisse Garantien von Seite der Schriftsteller oder Drucker forderte, erhob sich Geschrei und Tumult.

»Ich protestiere im Namen der Konstitution!« rief Mießrigel, der sich gleichfalls Zutritt auf den Universitätsplatz zu verschaffen gewußt hatte.

»Meinen Sie Ihre Zeitung, oder das Grundgesetz?« fragte Sturz.

»Ich meine beides,« sagte er. »Wenn dieses unkonstitutionelle Preßgesetz Gesetz wird, so geht es der »Konstitution« (mit Gänsefüßchen) an den Kragen. Wenn es aber der »Konstitution« (mit Gänsefüßchen) an den Kragen geht, dann bleibt die Konstitution (ohne Gänsefüßchen) auf dem Papier. Darum muß, wer es mit der Konstitution (ohne Gänsefüßchen) ernst meint, dieses unkonstitutionelle Preßgesetz mit allen konstitutionellen Mitteln bekämpfen!«

Inzwischen erhob sich neuer Lärm. Von Richtern sollten Preßdelikte abgeurteilt werden, nicht von Geschworenen! Nun waren sie alle mit sich im Reinen: Dieses Preßgesetz war unkonstitutionell, die Aula durfte es sich nicht bieten lassen! Ein Feuer wurde angemacht, sie verbrannten alle verfügbaren Exemplare. Es geschah mit demselben feierlichen Ernst, mit dem Luther die päpstliche Bulle verbrannt hatte.

Für den Nachmittag hatte Professor Hye einen Vortrag angekündigt, das Gesetz, das er ausarbeiten geholfen, zu erläutern und zu verteidigen. Aber wenn er mit Engelszungen geredet hätte, eher hätte er einen Tauben überzeugt, als den fanatisierten jungen Leuten das tiefgewurzelte Mißtrauen ausgeredet, das wie eine Krankheit in ihnen fortwütete. Eine so stürmische Versammlung hatte Fred in der Aula noch nicht erlebt. Kuranda und Schuselka sprachen, die seit Jahren verbannten Literaten, die der Sieg der Revolution in die Heimat zurückgeführt hatte. Vor ihren demagogischen Gemeinplätzen zerstoben die Argumente der sachlichen Beredsamkeit wie Herbstlaub im Sturm. Eine Deputation wurde gewählt und an Pillersdorf gesendet: er möge das Preßgesetz zurückziehen!

Auf dem Universitätsplatz in Gruppen beisammenstehend, warteten die Studenten auf die Antwort.

»Bin ich froh, daß ich kein Minister bin!« sagte Mießrigel. »Ich habe mich entschlossen, erst unter der Reaktion ein Portefeuille anzunehmen. Früher hat die Herrlichkeit doch keinen Bestand!«

»Schreiben Sie nicht für die ›Konstitution‹?« fragte Sturz.

»Nur um den Lauf der Weltgeschichte zu beschleunigen. Je radikaler wir es treiben, um so bälder gelangen wir ans Ende. Jeder Federstrich, den wir tun, ich und der Häfner, ist ein Spatenstich zum Grabe des großen Durcheinanders, das dem kreißenden Schoße der Revolution entsprungen ist, während wir auf die Freiheit hofften.«

»Sie müßte man standrechtlich erschießen!« sagte Tauß, »wenn Sie überhaupt ernst zu nehmen wären!«

»Da haben Sie einen guten Gedanken ausgesprochen,« versetzte Mießrigel. »Zur Freiheit gehört unbedingt das Standrecht. Was schicken wir eine Deputation zum Pillersdorf? Wir brauchen keine Gesetze und keinen Minister. Die Freiheit allein tut es auch, und wer nicht in unser Horn stößt, wird standrechtlich hingerichtet. Das erst wäre die wahre Freiheit.«

Tauß wollte ihm an den Leib, und sie wären vielleicht handgemein geworden, hätte Fred sich nicht zwischen sie geworfen und sie getrennt. Um sie abzulenken, brachte er das Gespräch auf die Vorgänge in den Provinzen und fragte, ob neue Nachrichten eingetroffen wären? Jeder erzählte, was er gehört oder gelesen hatte.

»Es gibt zu denken,« sagte Sturz, »daß in allen nichtdeutschen Provinzen nach der ersten Freude über das Ende Metternichs die Bewegung einen nationalen Charakter angenommen hat. In Venedig und Mailand flattert die Trikolore, in Krakau sammeln sich die Begnadigten von 1846, in Prag rühren sich die Tschechen, und in Pest wissen sie überhaupt nichts mehr von Österreich und gründen den magyarischen Einheitsstaat. Wenn wir noch Ehrgefühl im Leibe haben, so muß auch für uns die Losung lauten: Deutschland vor allem, und dann erst Österreich! Wir sind es schon unserem Kaiser schuldig. Der ganze Kontinent steht in Flammen, die Demokraten der meisten deutschen Staaten blicken hoffnungsvoll auf uns! Die Kamarilla aber, die den freiheitlichen Willen Ferdinands zu verheimlichen und zu verfälschen trachtet, ist zu beschränkt, um zu begreifen, daß über kurz oder lang ein demokratisches Reichsparlament in Frankfurt eine Kaiserkrone zu vergeben haben wird. Wenn wir jetzt locker lassen und nur eine Fußbreite den scheinbar wohlwollenden Vorstellungen jener Männer nachgeben, die sich als die Besonnenen und Maßvollen ausspielen, in Wahrheit aber die mit Blindheit Geschlagenen sind, so wird in Zukunft Berlin und nicht mehr Wien die deutsche Kaiserstadt sein!«

Das leuchtete allen ein. Eine alte Vettel ging herum, die in ihrem Korb schwarz-rot-goldene Bänder und Schleifen feil hatte. Fred kaufte eine Kokarde und befestigte sie an seinem Stürmer, auf dem eine große weiße Straußenfeder wehte. Es gab seit wenig Tagen eine akademische Legion, die sich trotz des Einspruchs der Regierung von der Nationalgarde abgezweigt hatte und selbständig organisiert war. Die Verkäuferin wurde ihre Ware geschwind los. Binnen wenigen Minuten hatten die Legionäre ihren Vorrat aufgekauft.

Als die Deputation zurückkehrte, gab es brausenden Jubel. Der Minister hatte klein beigegeben, sein Preßgesetz als einen nur vorläufigen Versuch bezeichnet und seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, einen neuen Entwurf entgegenzunehmen, den die Aula selbst ausarbeiten sollte. Das übertraf die kühnsten Erwartungen und beleuchtete überraschend für die Studentenschaft selbst, den ungeheuren Einfluß, den sie sich in den Märztagen zu erringen gewußt. Ein unbändiges Machtbewußtsein schwellte die Brust der jungen Leute, es war ein stolzes Gefühl, zu wissen, daß sie den Räten der Krone diktieren konnten und, statt sich in Vorlesungen zu langweilen, vor den Augen Europas die Zügel des Kaiserstaates in ihren Händen hielten. Kuranda und Schuselka wurden auf die Schultern gehoben und im Triumph umhergetragen, dann schritt man zur Wahl eines Komitees, das das neue Preßgesetz beraten sollte, und jede Kompagnie der akademischen Legion entsendete einen Vertrauensmann.

Unter den Schriftstellern, deren Eintritt ins Komitee in Vorschlag gebracht wurde, war auch Mießrigel genannt worden, als Mitarbeiter der »Konstitution«. Er hatte aber dankend abgelehnt, und als sie gemeinsam die Aula verließen, wollte Fred wissen weshalb?

»Wenn ich dir einen Rat mitgeben darf auf deine Siegeslaufbahn,« sagte Mießrigel, »so tue desgleichen und laß dich niemals in ein Komitee wählen! Denn in einem Komitee gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es kommt etwas Gescheites heraus, oder etwas Dummes. Im ersten Fall, der sehr selten ist, besteht der höchste Lohn, der dir zu Teil werden kann, darin, daß die übrigen Komiteemitglieder sich zum Dank und zur Anerkennung für deine Tätigkeit von den Sitzen erheben. Was kann dir aber dagegen im zweiten Falle, der der viel häufigere ist, nicht alles passieren! Nicht bloß für deine eigenen Handlungen, auch für jeden Unsinn, den die andern beschließen, wirst du verantwortlich gemacht, und in bewegten Zeiten, wie die jetzigen sind, kann dir die Mitgliedschaft schließlich noch den Kopf kosten. Denn der Seiltänzer tanzt nur solange auf dem Seil, bis er herunterfällt, und die Revolutionen diktieren den Regierungen nur solange ihren Willen, bis diese sich stark genug fühlen, Kanonen auffahren zu lassen.«

»Du glaubst noch immer nicht an den Sieg der guten Sache?« sagte Fred enttäuscht, »Es ist umsonst, dem Blinden eine Fackel vorzutragen! Pillersdorf ist ein durch und durch liberaler Mann, das bekräftigt sein heutiger Entschluß, Er sollte Kanonen gegen das Volk auffahren lassen?«

»Er nicht, aber ein anderer. Pillersdorf ist tot. Daß er heute vor der Aula kapitulierte, genau wie Metternich es tat, das ist der erste Nagel zu seinem Sarg.«

»Du meinst, daß die Kamarilla ihn stürzen wird?«

»Die Kamarilla? – Ihr werdet ihn stürzen! Ihr seid jetzt die liberale Kamarilla des Volkes!«

»Mit dir ist nicht zu reden!« sagte Fred ungeduldig und machte sich los.

Eh' er sich entfernte, zog Sturz ihn beiseite und flüsterte mit ihm und anderen Kommilitonen, die ins Vertrauen gezogen waren. Von Mund zu Mund flog die Losung für den kommenden Tag. Denn es durfte keinen Tag geben, wo sich nicht etwas Besonderes ereignete. Man war im Zuge, es lechzten alle nach neuem Aufsehen, geradeso wie manche Kranke ihren Durst nicht löschen können und nur immer durstiger werden, je mehr sie trinken.

Es dunkelte bereits, als Fred endlich nach Hause eilte. Am Platzel hinter St. Ulrich stand genau wie sonst das Haus »Zum goldenen Stuck« und wußte nichts von den großen, lärmenden Ereignissen da draußen. Ganz finster lag es da, still und schweigsam, nur mit einem schwachen Lichtschein hinter wenigen Fenstern – es war ein seltsamer Gegensatz, diese Abgeschlossenheit und Ruhe für einen, der mitten aus dem Brausen des neu erwachten Lebens kam ...

Poldi lag noch wach, es ging ihm bedeutend besser, die Wunden waren am Verheilen, die Fiebererscheinungen seit einigen Tagen zurückgegangen. Fred setzte sich an sein Bett, die Brüder faßten sich an der Hand und liebten einander, in jedem aber war eine ganz andere Welt ...

»Der Muschir schwebt noch immer zwischen Tod und Leben,« sagte Poldi. »Gebe Gott, daß er es übertaucht! Zur Arbeit wird er auf alle Fälle noch lange nicht zurückkehren können, wenn überhaupt je. Auf Onkel Edi ist nicht zu zählen, und Petz allein richtet es auch nicht. Der mutet sich überhaupt zu viel zu, das politische Leben greift ihn an, er vergißt, daß seine Gesundheit nicht die festeste ist. Wenn wieder ruhigere Zeiten eintreten, werde ich darauf dringen, daß er eine Zeitlang ins Himmelhaus zieht und sich Schonung auferlegt. Der Patzenhauer meint auch, daß es notwendig wäre. Nun muß ich eilen, daß ich mich herausmache. Es ist noch ein Glück für uns, daß der Geschäftsgang stockt. Denn wäre Nachfrage nach unseren Artikeln, so würde uns die Konkurrenz aus dem Felde schlagen. Niemand hat so arg gelitten wie wir, wir müssen einfach von vorne anfangen und das so bald als möglich, sonst gehn uns die besten Kunden verloren.«

»Mach dir jetzt keine Sorgen, Poldi!« mahnte Fred, »Warte nur erst ganz ruhig deine volle Genesung ab. Inzwischen klären sich die politischen Verhältnisse; dann wollen wir gemeinsam bedenken, was zu geschehen hat.«

»Darüber bin ich mit mir langst im Reinen,« sagte Poldi. »Im Hinterhaus werden noch ein paar neue Stühle aufgestellt, man muß halt so knapp zusammenrücken, daß es zur Not gerade noch geht. So werden wir den allerdringendsten Anforderungen entsprechen können, sobald die Ruhe zurückkehrt und der Geschäftsgang sich wieder hebt. Der Seyfried arbeitet schon daran, allerhand altes Gerümpel wieder flott zu machen, das sich noch auf dem Dachboden gefunden hat. Selbstverständlich kehren wir zu unseren alten Modellen zurück, ans Mechanische läßt sich vorderhand nicht denken. Ganz kleinweis von unten müssen wir mit der Handarbeit wieder anfangen. Inzwischen bauen wir das Fabriksgebäude in Braunhirschen draußen von Grund neu auf.«

»Was sagt Tante Sephine dazu?«

»Sie macht sich schwere Sorgen und meint, wir stünden am Ruin. Görgis Tod und des Muschirs Krankheit haben ihre Nerven erschüttert. Es ist wahr, das Kapital, das im Braunhirschengrund steckte, ist verloren und der Schaden, den wir durch die Zerstörung der kostspieligen Kraftstühle erleiden, unberechenbar. Auch hat uns das Unglück nicht auf der Höhe unserer Kraft überrascht; schon durch die letzten schlechten Jahre, die ununterbrochen Zubuße forderten, waren wir bedenklich geschwächt. Die Barmittel, über die wir verfügen, sind auf kaum zehntausend Gulden zu veranschlagen, der Muschir hat alles in den Betrieb investiert, und der ist jetzt vernichtet. Das Schlimmste aber wäre, wollten wir verzagen und die Hände in den Schoß legen. Ich habe bereits mit Ohm Schinackel gesprochen, der ein großdenkender und weitblickender Mann ist. Er hat sich bereit erklärt, sich als stiller Gesellschafter am Geschäft zu beteiligen und die nötigen Kapitalien zur Verfügung zu stellen. Der alte Name und der gute Ruf der Firma Leodolter werden das Übrige tun, uns wieder auf die Beine zu helfen.«

»Und ich will dafür sorgen,« sagte Fred in Bewunderung über des Bruders Umsicht, »daß die Arbeit einen gesunden Boden findet, in dem sie wurzeln kann, und Licht und Luft zum Gedeihen. Erst in einem freien Vaterland wird das bürgerliche Gewerbe sich zu voller Blüte entfalten.«

»Eine Revolution kommt mir immer vor wie ein Hagelsturm,« sagte Poldi traurig. »Er reinigt zwar die Luft, aber wie viele frische Blätter, Blüten und Früchte bedecken den Boden, wenn er vorüber ist! Erinnerst du dich, wie wir manchmal darüber klagten in unserem Garten im Himmelhaus? Hingegen ein milder Regen ohne Schloßen – der befruchtet nur, statt zu zerschlagen, und macht doch auch die Himmelsluft rein und klar. So mein' ich immer, das Gewaltsame und Gesetzwidrige, das ihr treibt, müsse schließlich Schaden stiften, und der Fortschritt des Vaterlandes könne auch durch eine mehr besonnene und stetige Arbeit erreicht werden.«

»Wir begehen keine Gesetzwidrigkeiten!« brauste Fred auf; »wir wehren sie nur ab!«

»Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen,« sagte Poldi; »aber jetzt ist die Reform doch angebahnt! Warum kehrt ihr nicht in eure Hörsäle zurück?«

»Weil wir keine Schuljungen sind, sondern freie Staatsbürger, die die Intelligenz repräsentieren!« sagte Fred, ein Wort wiederholend, das ihm oft genug vorgesagt worden war. »Jedermann weiß, daß die Reaktion nur einen festen Punkt sucht, wo sie den Hebel ansetzen könnte, um alles wieder umzustürzen, was wir seit dem dreizehnten März unter Gefahr unseres eigenen Lebens mühsam aufgebaut haben. Die Augen von ganz Österreich sind auf die Aula gerichtet. Man würde uns der Feigheit zeihen, wenn wir jetzt, auf halbem Wege, die Sache der Freiheit im Stich lassen wollten!«

»Ich habe jetzt, wo ich so krank lag,« sagte Poldi, »oft darüber nachgedacht, was das eigentlich für ein Ding sei, die Freiheit? Aber ich konnte nicht recht dahinter kommen, sie nimmt wie Proteus, der die Robben der Amphitrite weidete (wie uns Pater Cassian immer erzählte), die verschiedensten Gestalten an. Nur eines dünkt mich, daß ein wahrhaft freier Mann nur der sein kann, der sich auf nichts anderes verläßt als auf sich selbst und das, was er leistet. Alles, wozu mehr gehören als einer, oder gar viele, alles Konspirieren und Agitieren macht unfrei, weil es gewisse Kompromisse der eigenen Überzeugung fordert. Hast du das nie empfunden?«

Fred lachte.

»Was weiß ich, ob du recht hast oder nicht? Aber daß ich alles hasse, was mit dem verflossenen System noch irgend zusammenhängt, und daß ich nicht anders kann als meinen letzten Atemzug für ein freies, konstitutionelles Vaterland einzusetzen, das weiß ich bestimmt!«

Bei der Abendmahlzeit, die Fred mit Petz und Bethi einnahm, kam es zum erstenmale zu einer ernstlichen Meinungsverschiedenheit zwischen Vater und Sohn. Denn Petz stand nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die Preßzustände, wie sie jetzt herrschten, unhaltbar seien, und wurde zornig, als er hörte, daß die Aula Schritte gegen das neue Preßgesetz unternommen hätte.

»Schließlich seid ihr doch junge Leute, die noch nichts geleistet haben,« sagte er; »den Staat zu regieren ist Sache einsichtsvoller und gereifter Männer!«

»War es denn nicht zum allgemeinen Besten, was wir taten?« verteidigte sich Fred. »Bisher hat man uns dafür gedankt, sogar der Kaiser hat uns seinen Dank und seine Anerkennung ausgesprochen.«

»Ich bin der letzte, der euer Verdienst schmälern will. Ihr selbst werdet es noch in Vergessenheit bringen, wenn ihr so fortmacht. Ich kann dir nicht verhehlen, daß in der Bürgerschaft, die zu ihrer ruhigen Arbeit zurückkehren möchte, eine arge Verstimmung gegen die Aula Platz zu greifen beginnt. Man ist geneigt, sich mit dem bisher Erreichten zufrieden zu geben, und nennt euch Störenfriede, denen das Lärmschlagen nachgerade zur Gewohnheit geworden sei.«

Das Wort saß wie ein Dorn in Freds Gemüt. Auf der Aula redete man von einem Philistertum, das die Freiheit schon wieder satt habe, weil sie sein Ruhebedürfnis beeinträchtige. Und nun hatte es fast den Anschein, als ob auch der Vater sich dieser Strömung anschlöße!

Als alle sich zu Bett begeben hatten und nur aus des Muschirs Krankenstube noch ein schwacher Lichtschimmer auf die Straße fiel, schlich er sich leise aus dem Hause und schlug den Weg nach der inneren Stadt ein. Es war eine frische, sternklare Nacht, der Wind wimmerte um die steinernen Fialen des Stephansdomes, der inmitten des hochgiebeligen Häusermeeres wie ein der Ewigkeit trotzendes Felsgebirge mit wuchtig finsteren Massen aus dem Boden wuchs. In seinem Schatten tauchten dunkle Gestalten auf, begrüßten sich stumm und drückten sich an den schweren steinernen Streben entlang gegen die Türmerspforte. Der sagenumwobene Turm, der von verflossenen Jahrhunderten träumte, erwachte aus seinem Schlaf – was rumorte in dunkler, nachmitternächtiger Stunde die enge, hochstufige Wendeltreppe hinan? Erwachten die Geister der Toten und gab es noch einmal ein frevelndes Kegelspiel auf der einsamen Insel der Glockenstube? Der Sturm warf eine Tür ins Schloß, hoch oben über den Wohnungen der Menschen ... Auf den Wipfeln des steinernen Waldes wiegten sich waghalsig schlanke jugendliche Gestalten, kühne Kletterer über der abgrundtiefen Finsternis ...

Am nächsten Morgen wehte im hellen Schein der Frühlingssonne das schwarz-rot-goldene Banner von der steilen Pyramide des Stephansturmes ...

Ganz Wien befand sich in freudiger Bewegung an diesem Sonntag Lätare. In feierlichem Zug wallte die akademische Jugend Deutsch-Österreichs von der Aula durch die Bischofgasse auf den Domplatz und brach in brausenden Jubel aus, als sie hoch oben, am ehrwürdigsten Wahrzeichen der Stadt, die heißgeliebten Farben gegen das klare Firmament flattern sah. Die federngeschmückten Stürmer flogen von den entblößten Häuptern, in der jugendlichen Lockenfülle der Legionäre wühlte der Frühlingssturm, der das dreifarbige Flaggentuch hoch emporwirbelte am altersgrauen Turmgemäuer, daß es wie eine lodernde Flamme gegen den tiefblauen Himmel züngelte, eine heilige, dreimal heilige lodernde Flamme! Und in den hochschlagenden Herzen der begeisterten Jünglinge hatte nur ein Gedanke Raum: Schwarz-rot-gold! Du Sinnbild deutscher Einheit, deutscher Freiheit! Weit hinaus kündend dem ganzen Lande, daß hier ein freies, deutsches Volk wohnt! Ein Volk, das einmütig zu diesen verehrten Farben schwört: Unser rotes Blut für die Freiheit! Unser Gold und Gut dem großen deutschen Vaterland! Den Tod aber jedem Verräter der heiligen Konstitution!

Wie verklärt hob Fred den trunkenen Blick gegen Himmel, weit öffnete sich sein Herz an diesem Sonntagsmorgen Lätare dem Glauben an die segnende Kraft der Freiheit, der Freiheit des deutschen Wortes und des deutschen Gedankens: Jetzt mußte der Frühling aus allen Furchen der so lange starr vereisten Erde hervorbrechen!

Aus tausend jugendfrischen Kehlen, aus tausend erglühenden Herzen stieg das deutsche Frühlings-Lerchenlied aus der Zeit der Befreiungskriege auf, das Frühlings-Lerchenlied der deutschen Sehnsucht:

»Was ist des Deutschen Vaterland?
Das ganze Deutschland soll es sein,
O Gott im Himmel steh darein
Und gib uns rechten deutschen Mut,
Daß wir es lieben treu und gut!
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!«

»Gib acht,« sagte Mießrigel zu Fred, »jetzt werden sie gleich die Volkshymne anstimmen! Das geht so durcheinander wie Kraut und Rüben.«

»Gewiß werden wir die Kaiserhymne anstimmen,« versetzte Fred. »Hast du etwas dagegen einzuwenden?«

»Gegen die Kaiserhymne nicht das geringste, aber das ›Deutsche Vaterland‹ geht mir wider den Strich. Ich habe Beziehungen zur tschechischen Nation, der Vetter eines Stiefbruders meines Großonkels hatte eine böhmische Köchin zur Frau. Im Namen meiner lieben, unvergeßlichen Stiefgroßtante, wenn sie auch längst gestorben sein dürfte, protestiere ich gegen die Zurücksetzung der fremdsprachigen Nationen und gegen den Anschluß ans Reich!«

»Es soll niemandem Unrecht geschehen!« entgegnete Fred, dessen reine Begeisterung so hoch über dem Erdboden schwebte, daß kein Spott und Witz sie berühren konnte. »Die Idee, alle Menschen, alle Nationen zu einem großen liebenden Brudergeschlecht zu vereinigen, ist mehr als ein Traum! Das fühl' ich in dieser heiligen Stunde mit der Kraft der Überzeugung!«

Jetzt wurde mitten aus der Schar einer, über den der Geist gekommen war, auf die Schultern gehoben. Die während der letzten Wochen so üppig in die Halme geschossene volkstümliche Beredsamkeit mußte sich in einer Wiederholung der üblichen Schlagworte Luft machen.

»Weißt du, was diesen Sonntag für ein Evangelium ist?« fragte Mießrigel.

Fred verneinte.

»Evangelium Johannis 6. Jesus speist fünftausend Mann. So viele ungefähr mögen auch hier versammelt sein. Es waren nur fünf Gerstenbrote da und zween Fischlein. Aber alle wurden satt. Die Zeit der Wunder ist noch nicht vorbei. Auch die fünftausend, die hier versammelt sind, werden von ein paar altbackenen Redensarten satt, man braucht nicht einmal zween magere Fischlein dazu.«

»Ich bitte dich, schweig!«

»Und als sie satt geworden waren, da sammelten sie die übrig gebliebenen Brocken, und siehe, zwölf Körbe wurden voll davon. Aus diesen zwölf Körben wird uns der nächste Redner speisen. Inzwischen aber, dünkt mich, wär' es an der Zeit, die Volkshymne abzusingen?«

Freds Antwort war deutlich. Er stimmte es selbst an, das »Gott erhalte, Gott beschütze ... « Und begeistert stimmten Studenten und Volk mit ein.

»Wir wollen hin zu unserem Kaiser!« rief ein Student, als das Lied verhallt war, und damit war ausgesprochen, was alle in diesem Augenblicke ersehnten: dem geliebten Monarchen eine friedliche Huldigung darzubringen. Sogleich setzte der Zug sich in Bewegung. Fred hörte, Professor Endlicher habe es übernommen, den Kaiser von der Absicht der Studentenschaft zu unterrichten.

Auf dem Josefsplatz der Hofburg scharten die Studenten sich um das Denkmal des großen Volkskaisers, der die deutsche Kaiserkrone getragen hatte. Tauß, der neben Fred ging, neigte das schwarz-rot-goldene Banner, das er den Kommilitonen vortrug. Da erbrauste das Lied:

»Deutsche Worte hör ich wieder,
Sei gegrüßt mit Herz und Hand,
Land der Freude, Land der Lieder,
Schönes heitres Vaterland!
Alles Guten, alles Schönen
Reiche, selige Heimat du!
Fluch den Fremden, die dich höhnen,
Fluch den Feinden deiner Ruh!
Sei gegrüßt mit Herz und Hand,
Deutschland, Du, mein Vaterland!«

Fred sah den Professor Endlicher aus der Hofburg zurückkehren und eilte ihm entgegen.

»Kinder!« rief der beliebte Hochschullehrer, der mit seiner Brille und dem glattrasierten Gesicht wie das Urbild eines Bureaukraten aussah, aber ein stürmischer Freund der Freiheit und der Jugend war: »Hört, Kinder, was ich für Nachricht bringe! Unser allgeliebter Kaiser Ferdinand, der Gütige, will eure Lieder hören!«

In überwallender Freude faßte er Fred am Ärmel und eilte mit ihm voran durch den Burghof. Die unübersehbare Schar der Stürmer und schwarz-rot-goldenen Kokarden hinter ihnen drein. Auf dem äußeren Burgplatz stellten die Sänger sich in Reih' und Glied. Hinter einem Fenster der kaiserlichen Gemächer glaubte man eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Student rief: »Das ist der gütige Monarch, der uns das neue freie deutsche Vaterland gegeben hat!« Wieder erbrauste das Lied vom deutschen Vaterland:

»Was ist des deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Gewiß, es ist das Österreich,
An Ehren und an Siegen reich?
O nein, o nein!
Das Vaterland muß größer sein, das Vaterland
                   muß größer sein!«

Ein Redner wurde auf die Schultern gehoben. »Eure Majestät!« rief er zu den Fenstern der Hofburg hinauf; »Sie sind der gütigste Kaiser, der je auf Österreichs Thron gesessen! Vertrauen Sie auf uns, wie wir auf Sie vertrauen und auf Ihr Kaiserwort! Frei trete sich Volk und Kaiser gegenüber, die Hyder des Mißtrauens und giftiger Verdächtigung fliehe vor unserer Liebe zu dem tiefsten Abgrund der Hölle! Den Thron unseres guten Kaisers zu schützen, sind wir bereit alles aufzubieten. Hoch Ferdinand! Hoch Ferdinand!«

»Laßt uns dem Kaiser eine deutsche Fahne überreichen!« rief Tauß, und sogleich schlossen sich zwei Burschenschafter ihm an, alle drei begaben sie sich ohne weiteres in die Hofburg.

Die unten sangen inzwischen das »Gott erhalte« ... Und während sie noch sangen, sah Fred, wie oben ein Fenster sich öffnete und die deutsche Fahne an der Hofburg aufgesteckt wurde. Für einen Augenblick zeigte sich, von den Studierenden in Burschentracht umgeben, der Kaiser am Fenster und schwang das schwarz-rot-goldene Banner – oder hatte er nur seine Hand darauf gelegt? An seiner Seite die Kaiserin – auch sie, als ob sie mit der Hand die Fahnenstange berührt hatte ... Ein tausenstimmiges Jubelgeschrei begrüßte das hohe Paar, das sogleich wieder vom Fenster zurückgetreten und den überraschten Blicken der freudetrunkenen Studenten entschwunden war wie eine Erscheinung ...

Ein Rausch des Entzückens war in allen: »Freiheit! Deutschland! Eine deutsche Freiheit! Ein freies Deutschland!«

»Mir scheint, man geruht ein bisserl farbenblind zu sein, an allerhöchster Stelle,« sagte Mießrigel zu Fred, als sie miteinander in die Stadt zurückkehrten.

*


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