Emil Ertl
Freiheit die ich meine
Emil Ertl

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Bestürzt, beinahe verzweifelt war Petz gewesen, als er auf einem Wege durch die innere Stadt ganz unerwartet einen Maueranschlag an einer Straßenecke las, worin das Ministerium mitteilte, der Kaiser habe »aus Gesundheitsrücksichten« die Residenz verlassen und die Route nach Innsbruck eingeschlagen. »Aus Gesundheitsrücksichten«! Zugleich mit allen Mitgliedern des kaiserlichen Hauses!

Das war ja eine Schmach, eine Schmach für Wien! Geradeso und nicht anders, als ob der gütige Monarch sich im Schoße der Hauptstadt seiner Person nicht mehr sicher gefühlt hätte und sich gezwungen sähe, inmitten seiner treuen Tiroler Schutz zu suchen! Dahin also hatte schließlich die Freiheit geführt, die durch die Demagogen, die Aula, das Proletariat mißbraucht und besudelt wurde!

Aufs tiefste erregt suchte er den alten Beywald auf.

»Was sagst du dazu? Du sitzest im Zentralkomitee! Ihr werdet doch Schritte einleiten, den Kaiser zur Rückkehr zu bestimmen?«

»Das werden wir, aber nützen wird es nichts. Du siehst, wie mächtig die Kamarilla noch immer ist. Sie ist es, die den Kaiser entführte, um neues Mißtrauen zwischen dem Volk und seinem angestammten Herrscher zu säen.«

»Verzeih bester Freund! Wir sind in den letzten Wochen nicht immer derselben Meinung gewesen. Es ist eine zu scharfe Tonart angeschlagen worden. Die Vorgänge vom fünfzehnten Mai waren so viel wie eine zweite Revolution.«

Der alte Herr zuckte die Achsel.

»Hätte Pillersdorf – der liberale Pillersdorf! – nicht Militär aufgeboten und die Hofburg nicht in ein Kriegslager verwandelt, so wäre das Volk nie in so gereizte Stimmung geraten.«

»Eine jede Regierung hätte den Versuch machen müssen, das Zentralkomitee zu sprengen. Denn es ist in Wahrheit nichts anderes als eine Neben-, ja, eine Gegenregierung! Eine Art Parlament, aus Bürgern und Legionären zusammengesetzt, das eine ohnedies liberale Regierung zwingen will, allgemeines direktes Wahlrecht ohne Zensus zuzugestehen – in einem Lande wie Österreich, wo die Bevölkerung politisch so unreif ist wie ein Kind, was wir nun doch endlich einsehen lernen müssen!«

»Das waren die Vorschläge der Aula, das Zentralkomitee ist nie so weit gegangen. Übrigens ist nicht zu verkennen, daß die Verfassung vom 25. April den Versprechungen vom 15. März nicht im geringsten entspricht. Das ist die alte Unaufrichtigkeit und Hinterhältigkeit aus der Ära Metternich! Recht hatten die jungen Leute, daß sie sich so etwas nicht bieten ließen! In diesem System der Unaufrichtigkeit und Hinterhältigkeit – dort suche die Quelle des Unglücks, lieber Freund, nicht im Zentralkomitee. Denn daß wir uns jetzt in einer mißlichen Lage befinden, geb' ich ohneweiters zu. Nicht bloß, daß die Flucht des Kaisers der ganzen Bewegung einen äußerst fatalen Anstrich gibt; das viel Schlimmere bleibt, das die Regierung ihre ganze Autorität eingebüßt hat, indem sie sich schließlich von Studenten und Proletariern weit mehr und Bedenklicheres abzwingen ließ, als das Zentralkomitee je gefordert hätte, hätte man es ungestört beraten lassen.«

»Ich war stolz darauf,« sagte Petz bekümmert, »daß mein Fred die Märztage mitgemacht hat. Nun hat er seinen Lorbeer beschmutzt, indem er auch am fünfzehnten Mai mit dabei gewesen ist!«

»Jugend bleibt Jugend. Fred ist ein prächtiger Bursche. Soll er hinter dem Ofen sitzen und Bedenken züchten wie wir Alten? ... Grüß mir die Leute im Himmelhaus, wenn du hinauskommst,« sagte er, Petz ohne eine Spur von Verstimmung die Hand drückend; »und verlier die Courage nicht, die Proletarier werden nach und nach gescheiter und die jungen Leute älter werden!«

»Ich bin gut eine Woche nicht mehr im Himmelhaus gewesen. Man kommt ja rein nicht zu Atem in dem beständigen Aufruhr!«

»Du solltest dir ein paar Tage Schonung gönnen und auf dem Lande bleiben. Die Politik greift dein Nervensystem an!« ...

Petz fühlte sich in der Tat unsäglich matt und angegriffen, aber es gab Beratungen in Gemeindeangelegenheiten und politische Besprechungen im Leseverein. Am übernächsten Nachmittage erst kam er dazu, ins Himmelhaus zu fahren, um wenigstens ein paar Stunden in der Landluft zuzubringen. Erst besichtigte er das kleine Schinäcklein und vergewisserte sich, daß Susann jetzt wieder Gesalzenes zu sich nahm.

»Du mußt sein Pate sein,« sagte sie, »denn er ist auch Revolutionsmann und hat sogar ein rotes Muttermal irgendwo – wir haben es noch nicht gefunden.«

» Auch Revolutionsmann?« fragte Petz.

»Du bist doch immer für die Freiheit gewesen?«

»Das wohl ... das allerdings ... « sagte Petz bekümmert.

Sephine, Michella und Bethi, mit denen er die Jause nahm, fragten ihn aus. Ob es richtig wahr sei, daß der Kaiser fluchtartig Wien verlassen habe? Und weshalb er so lange nicht herausgekommen? Sie verstanden es nicht recht, warum es abermals arge Unruhen gegeben hatte, nachdem die Konstitution doch längst bewilligt und kundgemacht war und noch vor drei Wochen der Festglanz der Stadt bis auf die Himmelswiese geleuchtet hatte.

»Es sind wieder entsetzliche Tage gewesen,« sagte er, »Eine Konstitution haben wir freilich, aber jeder nächstbeste Pöbelhaufen, wenn es ihm gerade paßt, stellt das konstitutionelle Recht des Monarchen, seine verantwortlichen Ratgeber zu wählen, in Frage. So ist erst kürzlich das Palais des Grafen Ficquelmont einfach gestürmt und der Minister zur Demission gezwungen worden, weil die Straße mit seiner Haltung gegenüber dem Polenaufstand in Krakau nicht einverstanden war ... Unfug über Unfug!«

»Am schlimmsten soll es am fünfzehnten zugegangen sein?« fragte Bethi. »Bist du mit dabei gewesen?«

»Nur als Zuschauer ... aber Fred natürlich aktiv. Mitten in der Sturmpetition. Alarmtrommeln durch die ganze Stadt, als gelt' es eine neue Türkennot! Zehntausend Bajonette, Garden und akademische Legion ... So dankt die Aula für das Verfassungsgeschenk!«

»Und vor diesem Aufgebot hat der Kaiser die Flucht ergriffen?« fragte Michella gespannt.

»Nicht unmittelbar. Gegen den Kaiser ging es nicht eigentlich. Der Ministerrat tagte törichter Weise in der Hofburg. Also wieder auf dem Michaelerplatz, der jetzt Konstitutionsplatz heißt, der Krawall! Eine unübersehbare Menschenmenge, obgleich ein Teil der Nationalgarden sich ferne hielt. Es geht jetzt eine Spaltung durch die Bürgerschaft. Die Kompagnien, die man die schwarz-gelben nennt, waren empört über das neuerliche Attentat auf die Hofburg und taten nicht mit. Aber die Aula hatte sich um andere Bundesgenossen umgesehen. Eine Armee von Proletariern mit Spaten und Schaufeln, Arm in Arm mit den Musensöhnen!«

»Ein Tropfen demokratischen Blutes tut uns ganz gut in Österreich,« meinte Sephine.

»Und so mit Lärm und Geschrei bis in die Nacht hinein! Die ganze Stadt illuminiert! Der Pater Füster im federngeschmückten Stürmer, mit schwarz-rot-goldener Kokarde wieder als endloser Redner, natürlich! Da kam schließlich gegen Mitternacht die Nachricht aus der Burg: Alles bewilligt! Um zehn hätte man sich noch mit der Hälfte zufrieden gegeben, um acht mit dem Viertel, um sechs mit dem Zehntel ... Regierungskunst!«

»Da geht es also der Regierung mit dem Volke genau so,« sagte Michella, »wie einer Mama, die ihre ungezogenen Kinder falsch behandelt? Erst weigert sie ihnen das trockene Brot, dann streicht sie noch Butter darauf, wenn die Kleinen raunzen, und fangen sie gar zu heulen an, so bekommen sie noch eine Schnitte Wurst dazu.«

»Ja, genau so geht es her!«

Und worin nun die Wurstschnitte bestehe? wollte Sephine wissen.

Er zählte es her: »Zurückziehung der oktroyierten Aprilverfassung! Besetzung der Stadttore und der Burgwache nur halb durch Militär, halb durch Garden und Legionäre! Eine einzige Kammer zur konstituierenden Reichsversammlung! Allgemeine Wahlen unmittelbar aus dem Volk, ohne Beschränkung auf Einkommen oder Intelligenz! Und so weiter, und so weiter!«

Michella lachte.

»Das ist ja keine Wurstschnitte mehr, das ist ja schon eine ganze Wurst!«

»Da kann also der Götsch Schani, zum Beispiel«, fragte Bethi, »von den Arbeitern in die konstituierende Reichsversammlung gewählt werden?«

»So ist es. Der dreizehnte März war der Sieg des besonnenen Bürgertums. Der fünfzehnte Mai ist der Triumph der maßlosen Demokratie!«

»Mir ist es recht,« versicherte Sephine; »wenigstens probieren soll man es einmal!«

»Ich würd' es lieber auf ein solches Experiment nicht ankommen lassen,« versetzte Petz. »Das konstitutionell sanktionierte Übergewicht der Besitzlosen, Ungebildeten und Halbreifen ist überhaupt keine Freiheit! Das ist die verkehrte Welt! Das ist der Absolutismus des Mobs!«

Er fühlte sich erregt und überreizt und brach das Gespräch ab, um sich Bewegung zu machen. Langsam stieg er den einsamen Waldweg hinan, der zur Himmelswiese führte. Aber schon die kurze, freilich etwas steile Strecke erschöpfte ihn. Er war wie zerschlagen, als er oben ankam, und mußte sich ins Gras werfen und nach Atem ringen.

Immer ging es ihm durch den Sinn: Das war nun die Freiheit! Das war aus ihr geworden!

Über der stillen, weitausschauenden Höhe ruhte der milde Abend. Warum saß er nicht öfter hier oben? Was hatte er sich um die öffentlichen Dinge gekümmert, statt in Zurückgezogenheit sein Herz zu pflegen, wo das reinste Glück wohnte, das es für ihn gab? Die Erinnerung an die Jungverstorbene, die Mutter seiner Kinder, die allzufrüh von ihm geschieden war! Sie hatte ihr Leben mit dem Leben Freds getauscht ...

Er empfand, daß es rasch kühl wurde, wie Frost schüttelte es ihn. Waren es die Sorgen, die sein Blut in die hitzende Stirn trieben, während Füße und Hände zu Eis erstarrten? Was hatte ihm nun die Freiheit gebracht, um die er so heiß gerungen, außer Sorgen? Sorgen ums Vaterland, Sorgen um den Sohn, in dem er zwei Leben zu lieben hatte, Sorgen um die Existenz der ganzen Familie, der eine Pöbelherrschaft den wirtschaftlichen Untergang bringen konnte!

Was hatte die Freiheit ihm gebracht? Uneinigkeit mit sich selbst und anderen, innerliche Zerrissenheit, Zweifel, Enttäuschung! War er nun frei? Was war die Freiheit, diese Buhlerin, die jedem lächelte und alle betrog? Gab es überhaupt etwas wie Freiheit für die Menge? Steckte etwas anderes hinter dem Phantom als die Leidenschaft der Menschen, sich auf die Schultern der anderen Menschen zu schwingen und möglichst viele neben sich hinunterzudrücken und unfrei zu machen? So sollte also Mießrigel recht behalten, der einmal etwas Ähnliches geäußert hatte?

Da stand nun der Mond und war noch blaß wie ein Schleier. Hoch über der Stadt schwebte er hin, die sich in bläuliche Abendnebel hüllte und friedlich aussah, als hätte es nie Kämpfe darin gegeben. Am liebsten hätte er geweint über diese Stadt, die er liebte, ohne zu begreifen, wie man ein Häusermeer lieben konnte; ohne zu begreifen, wie man Menschen lieben konnte, die wie im Taumel des Irrsinns das Verkehrteste taten, alle, oben und unten. Die sich selbst zerfleischten und, gegen Vernunft und Ordnung wütend, unter tausendstimmigem Jubelgeschrei dem Abgrund entgegen trieben ...

War denn nicht Fastnacht da unten? Eine Schellenkappe über die ganze Stadt! Eine Schellenkappe für die Freiheit! Er spürte es plötzlich wie ein Ersticken und einen Krampf in der Brust. Ein Strom roten Blutes ergoß sich aus seinem Munde. Es war ihm zum Sterben elend, und das Fieber schüttelte ihn. Ermattet sank er ins Gras zurück und hörte sein Herz pochen: Freiheit! Freiheit! ...

Und er blieb lauschend liegen, wie verwundet, wie durch die Brust geschossen, während der Mond immer heller wurde und an Kraft gewann. Nach geraumer Zeit erst bemerkte er, daß Poldi neben ihm kniete, und wußte nicht, woher der kam. Da hob er den Kopf auf, um noch einmal nach der Stadt hinunter zu sehen, die würde er vielleicht nie wieder sehen, dachte er, und er wollte sie doch noch einmal sehen! Aber es war rätselhaft, alles rätselhaft, eine Stube rings um ihn ... So war er schon in seiner Stube im Himmelhaus und in seinem Bette ... Immer hämmerte und hämmerte es: Freiheit! Freiheit! ...

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